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Die Gartenlaube (1894)/Heft 33

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[549]

Nr. 33.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Brüder.

Roman von Klaus Zehren.
(6. Fortsetzung.)


Hermann stand seinem Bruder stumm und finster gegenüber. Bruno löschte die Kerzen aus, riß ein Fenster auf und stellte sich tief aufatmend in den kalten Luftzug, der den Dunst des Zimmers nach oben drängte. Auf der Straße ging pfeifend ein Bäckerjunge vorüber, ferne wurde die Riesenstadt wieder lebendig. Durch die blattlosen Bäume des Tiergartens fielen aus einer trüben Dunstwolke die ersten grauen Lichter des Tages; weder Schatten noch Licht, alle Farbenunterschiede waren ausgeglichen zu einem fahlen endlosen Grau.

„Bruno!“

Dieser fuhr zusammen, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Seine Hand krallte sich fest um den Fenstergriff, bis die Fingerspitzen sich weiß färbten.

„Bruno, hast Du mir nichts zu sagen?“ Es lag eine unendliche Hoffnungslosigkeit im Klang dieser Stimme, die aus dem Hintergrunde des Zimmers kam.

„Nein, ich wüßte nichts.“

Die Insel Philä in Oberägypten.

[550] „Gar nichts?“

„Nein. Oder doch! Dieser verdammte Russe!“ Erleichtert atmete er auf, daß ihm diese Ausflucht gekommen war.

„Was ist mit ihm?“

„Ach, nichts! Aber hast Du ihn und die Lore heut’ abend zusammen gesehen? Ein Skandal! Man wird es nächstens in den Zeitungen lesen.“

Gott sei Dank! Hier wenigstens war er zu fassen! dachte Hermann. „Und weshalb spielst Du, Lores Gatte, diese Dulderrolle?“

Bruno lachte schrill auf. „Frage doch Lore selbst! Sie hat ihn ja herangezogen.“

Hermann schüttelte den Kopf. „Wirf keinen Stein auf Dein Weib! Ihre Seele ist noch rein.“

„Noch?“ rief Bruno schneidend.

„Ja, noch!“

„O, wenn ich handeln könnte, wie ich wollte!“

„Was hindert Dich?“

Brunos Gesicht wechselte rasch die Farbe, dann ließ er die Faust dröhnend auf einen Tisch fallen. „Mir sind diesem Prinzen gegenüber die Hände gebunden!“ Und Hermanns Erschrecken bemerkend, fuhr er gereizt fort. „Nun ja, was starrst Du mich so an? Der Russe hat mir oft aus einer Geldklemme geholfen. Doch Unsinn – er ist ein Ehrenmann durch und durch!“

Es wurde totenstill. Dann schwere, langsam sich entfernende Schritte, das Geräusch der sich schließenden Thür – Bruno war allein. Ihm war zu Sinn wie jemand, der vor der Vernichtung steht. Er wagte sich kaum zu rühren. Erst nach einer Weile wandte er scheu den Kopf und starrte mit glanzlosen Augen in das trostlose Grau. Plötzlich hörte er auf dem Flur Kindergeschrei, die helle fröhliche Stimme seines Knaben. Er stürzte hinaus, preßte Edgar an sich, tollte mit ihm herum und trieb tausenderlei Unsinn, nur in dem Drange, sich von dem Jauchzen des Kindes die inneren Stimmen übertönen zu lassen, nur um den alten Leichtsinn wiederzufinden. Und es gelang ihm. Nicht einmal mehr körperlich unbehaglich fühlte er sich, als er nach einiger Zeit das Haus verließ, um sein Bureau aufzusuchen.


Nun ist alles vorbei, hatte Hermann gedacht, als er auf der Straße war. Zu Hause fand er seinen Burschen schon wach und schämte sich fast vor ihm, nicht weil er erst im Morgengrauen zurückkam – er hatte das Gefühl, als müsse er sich von heute an vor jedem Menschen schämen.

Finstere Gedanken durchwühlten sein Gehirn, auch während der Vortragsstunde in der Akademie, wo er noch schweigsamer und stiller auf seinem Platze saß, als ihn seine Kameraden sonst zu sehen gewohnt waren.

Ein unbesieglicher Zorn gegen den Bruder arbeitete in seinem Innern, gegen diesen Menschen, der nicht nur seine eigene Ehre, sondern auch die seiner Frau und seines Hauses durch den Kot zog, der dank seinem jämmerlichen Leichtsinn nicht mehr das Recht besaß, einem zudringlichen Versucher die Thür zu weisen. Und dann dies Unerträgliche, das gar nicht auszudenken war – Brunos Benehmen beim Spiel! War es soweit mit dem Bruder gekommen? Oder hatte er selbst sich am Ende doch getäuscht? Aber nein, nein, er hatte zu deutlich gesehen. Und sagten nicht Brunos Verwirrung und das eigentümliche Eingreifen des Prinzen genug? Fluch diesem Russen, der offenbar alles durchschaute, der jeden Augenblick die Schande der Familie Weßnitz ausposaunen konnte, wenn er wollte! Wenn er wollte – ja. Aber gab es denn kein Mittel, diesen Menschen unschädlich zu machen? Konnte man seine Geldansprüche an Bruno nicht befriedigen, ihn dann dazu bringen, sich aus Berlin zu entfernen? Wenn die Schuld Brunos nicht allzu groß war – das ließ sich ordnen. Er konnte dem Bruder die nötige Summe aus dem Erbteil der Mutter zur Verfügung stellen. Ja, das war der allein richtige Weg! Es war zwar seine letzte Hilfsquelle, aber lieber hungern, als stets die Schande über seinem makellosen Namen lauern sehen! Indessen – würde Bruno darauf eingehen? Würde er, nach allem, was vorgefallen war, den Mut finden, dem Russen das Geld vor die Füße zu werfen und ihm sein Haus zu verbieten? Und mußte Lore dann nicht alles erfahren? Würde sie nicht außer sich sein vor Scham, den eigenen Gatten hassen, verabscheuen? Würde ihr der Prinz nicht als das Muster eines vornehmen Mannes erscheinen? Er, der so großmütig das Geld gab und nie etwas dafür forderte! Nein, nein! Ein Dritter, er selbst konnte besser alles ordnen. Lore durfte nichts erfahren. An ihm selbst war es, den Prinzen nach der Höhe der Schuld zu fragen und ihn zu zwingen, unauffällig den Verkehr abzubrechen und Berlin zu verlassen.

*  *  *

Prinz Sissi befand sich zu Hause in seinem Hotel, als ihm Hermanns Besuch gemeldet wurde. Zuvorkommend trat er dem Gast entgegen und lud ihn zum Sitzen ein.

„Ah, was verschafft mir die Ehre, Herr von Weßnitz? – Ein wenig Kater von der vergangenen Nacht? Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaviar und einen russischen Liqueur?“

„Ich danke, Durchlaucht! Mich führt etwas Ernstes zu Ihnen, eine heikle Angelegenheit. Sind wir hier allein?“

„Bitte sehr, ich stehe zur Verfügung,“ sagte der Prinz, erstaunt die Thür zum Nebenzimmer schließend.

Hermann legte langsam Mütze und Handschuhe auf den Tisch.

„Ich will keine große Einleitung machen. Ich erfuhr zufällig von meinem Bruder, daß er in Ihrer Schuld steht, und bitte Sie, mir die Höhe der Summe zu nennen.“

„Kommen Sie im Auftrage des Herrn Legationsrats?“ fragte der Prinz mit unbewegtem Gesicht, jedoch Hermann scharf betrachtend. Er fühlte unwillkürlich, daß dieser Mann ihm feindlich gegenüberstand.

Weßnitz war einen Augenblick verwirrt. „Nein, das nicht.“

„Nun, dann bleibt diese Sache wohl Kavaliergeheimnis zwischen Ihrem Herrn Bruder und mir.“

Hermann drückte beide Hände fest auf die Seitenlehnen seines Sessels. „Verzeihen Sie, ich bin anderer Ansicht. Ich stehe hier als Vertreter der Familie, verantwortlich für die Handlungen ihrer Mitglieder.“

„Das verstehe ich nicht,“ erwiderte der Prinz trocken. „Weshalb kommt Ihr Herr Bruder nicht selbst?“

„Er weiß nichts von meinem Besuch hier.“

„Nun, dann –“ meinte jener unglaublich hochmütig und zuckte die Schultern.

Hermann fühlte, wie es in ihm kochte, aber er zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Durch Heftigkeit konnte er die Partie nur verlieren.

„Durchlaucht belieben, sehr lakonisch zu sein. Gut, so will ich Ihnen den Grund meiner Handlungsweise auf andere Art klarlegen. Sie verkehren seit langer Zeit im Hause meines Bruders, sehr häufig, sehr intim; Sie suchen überall die Gesellschaft meiner Schwägerin – wir sprachen gleich am ersten Tag unserer Bekanntschaft darüber.“

Der Prinz zuckte unmerklich zusammen, doch unterbrach er die Rede Hermanns nicht.

„Ich weiß,“ fuhr dieser fort, „daß der Ruf meiner Schwägerin darunter leidet, ich weiß auch, daß meines Bruders Finanzen in Unordnung sind, daß er nicht imstande ist, aus eigenen Mitteln seine Schuld zu tilgen. Ich könnte ihm nun das Kapital geben, um ihn moralisch frei von Ihnen zu machen, in der Hoffnung, daß er Sie dann ersuchen würde, Ihre Besuche in seinem Hause einzustellen oder wenigstens einzuschränken – bitte, ich bin noch nicht fertig!“

Prinz Sissi war aufgesprungen.

„Bis hierher wäre alles korrekt. Aber die Rolle des beleidigten Ehemanns ist schwer durchzuführen, wenn man dem Liebhaber seiner Frau gegenüber Verpflichtungen hat, ja das ist unmöglich, ohne daß der Frau selbst alles klargelegt wird, und diese Frau, die mit mir wie eine Schwester aufgewachsen ist, diese Frau Durchlaucht, muß geschont werden!“

Es war totenstill zwischen den beiden. Auch Hermann hatte sich erhoben.

„Und wenn ich Ihnen das Recht Ihrer Beschützerrolle nicht zugestehe, Herr von Weßnitz?“

„Sie müssen es als Ehrenmann!“

Dem Prinzen entfuhr ein russischer Fluch. „Ich muß? Ich will nicht müssen! Ich habe nie gemußt in meinem Leben.“

„Aber ich will es, Durchlaucht!“

Hermann sprach ruhig; seine grauen Augen hafteten durchdringend, eiskalt auf dem Prinzen, und dieser fühlte mit Unbehagen die rücksichtslose Willenskraft seines Gegners.

„Ich frage noch einmal, wie hoch ist die Summe?“

[551] „Ich weiß es nicht,“ antwortete der Prinz, mit dem Benehmen eines eigensinnigen Kindes ihm den Rücken zuwendend.

„Ich bitte um die in unsern Kreisen als anständig anerkannten Formen,“ tönte es scharf an sein Ohr.

Der Russe fühlte, wie er die Herrschaft über sich verlor.

„Ich verweigere jede Auskunft!“

„Gut. Dann fordere ich von Ihnen, daß Sie unauffällig den Verkehr im Hause meines Bruders abbrechen und Berlin sobald als möglich verlassen.“

„Mit welchem Rechte?“ fragte der Russe höhnisch.

„Mit dem Recht eines Ehrenmannes, der den guten Rnf einer Dame verteidigt!“

Prinz Sissi ward bleich; dann plötzlich vollständig wechselnd, selbst aus seinen Zügen jede Spur der Wut verwischend, die noch soeben unter den Beleidigungen Hermanns in ihm kochte, sagte er langsam. „Sie sind der beste Mensch, der mir je vorgekommen ist!“

Hermann verbeugte sich, spöttisch lächelnd und doch einen Augenblick fassungslos. „Ich danke Ihnen für Ihre günstige Meinnug! Was ist Ihre Antwort auf meine Frage? Ja oder Nein?“

„Und wenn ich Nein sage?“

„Dann werde ich Sie zwingen, mir zu willfahren.“

„Wie in aller Welt?“

„Wenn Ihnen das noch nicht genügt, was ich Ihnen ins Gesicht gesagt habe, so werde ich es vor Zeugen wiederholen und Sie unmöglich machen, falls Sie dem keine Folge geben. Ich werde vor nichts zurückschrecken!“

„Ach, Sie wollen sich mit mir schießen oder mich totstechen? Sehr gut! Aber ich werde mich nicht mit Ihnen schlagen!“

„Durchlaucht! Die Faust zu brauchen ist gemein aber –“

Nicht mehr Herr seiner Sinne, stand Hermann vor dem Fürsten. Dieser sah ihn noch immer so ruhig an wie vorher, ohne eine Spur von Erregung im Gesicht. Eine Sekunde lang glaubte Hermann, einem Verrückten gegenüber zu stehen.

Der Russe betrachtete die Nägel seiner rechten Hand und meinte dann. „Sie können thun, was Sie wollen. Ich lasse mir nie Vorschriften machen, am wenigsten von Personen, die nicht dazu befugt sind. Aber die eine Versicherung gebe ich Ihnen: ich werde mich durch nichts in der Welt zu einem Duell mit Ihnen zwingen lassen, weil – nun, weil Sie mir zu gut zum Totschießen sind und ich mir selbst zu nichtig.“

Hermann hatte entwaffnet den Kopf gesenkt.

„Uebrigens – halten Sie mich für niedrig genug,“ begann der Prinz wieder, „daß ich für einige tausend Thaler mir gegen eine Frau wie Ihre Schwägerin unziemliche Freiheiten herausnehme?“

Hermann antwortete nicht. Er griff langsam, wie im Traum, nach Mütze und Handschuhen und verließ ohne Gruß das Zimmer. In dumpfem Brüten, das keinen klaren Gedanken aufkommen ließ, gelangte er in seine Wohnung. Dort raffte er sich endlich soweit auf, um an seinen Bruder schreiben zu können. Er teilte diesem die Unterredung mit, bot ihm die Summe zur Tilgung der Schuld an und beschwor ihn bei seiner Ehre, Lore ein volles Geständnis abzulegen. Dann könne noch alles gut werden.


„Eine Dame wünscht Ew. Durchlaucht zu sprechen,“ meldete der Zimmerkellner.

Prinz Sissi sprang auf. Es war dämmerig im Zimmer, in dem er träumend gesessen hatte.

„Wer ist es?“ fragte er kurz.

„Die Dame wollte ihren Namen nicht nennen.“

Im Halbdunkel sah der Prinz eine schwarze Frauengestalt ins Zimmer treten. „Ich bitte um Verzeihung! Entschuldigen Sie einen Augenblick, bis ich Licht angezündet habe.“ Während er das Streichholz anbrannte, zerbrach er sich den Kopf, wer das wohl sein könnte.

„So, ich bitte nochmals um Entschuldigung! Mit wem habe ich die Ehre?“

Er näherte sich mit einer Verbeugung der noch immer an der Thür Stehenden, deren Gesicht ein dichter Schleier verdeckte. Der ganzen Haltung und Kleidung nach mußte es eine Dame der Gesellschaft sein.

„Sie werden erstaunt sein, Durchlaucht, mich in diesen Ihren Räumen zu sehen!“

„Frau von Weßnitz!“ preßte er in maßlosem Erstaunen hervor, Lore groß anstarrend, während sie langsam den Schleier zurückschlug.

„Sie können sich denken, daß mich nur ganz ungewöhnliche Vorkommnisse zu diesem Schritt veranlassen konnten.“

Lores Antlitz war ernst und bleich; um den sonst so weichen feinen Mund zogen sich zwei tiefe Falten.

„Bitte, wollen Sie Platz nehmen, gnädige Frau!“

„Nein, ich danke. Was ich zu sagen habe, spricht sich besser stehend. Mein Schwager war heute bei Ihnen?“

Jetzt wußte der Prinz alles. Dieser Tollkopf wollte also um jeden Preis seinen Entschluß durchsetzen!

„Mein Schwager hat den Inhalt Ihrer heutigen Unterredung meinem Mann mitgeteilt und dieser hat es für seine Pflicht gehalten, mir alles zu gestehen.“

„Ich habe nicht das Recht, seine Handlungsweise mit dem Namen zu bezeichnen, den diese verdient.“

Lore lächelte schmerzlich. „Wenn mein Mann nicht unmittelbar nach diesen Mitteilungen auf geheimen Befehl unverzüglich nach Paris hätte reisen müssen, so würde ich natürlich nicht an seiner Stelle hier stehen,“ sagte Lore mit tiefer Stimme, durch die merkbar die Erregung ihres Inneren hindurchklang.

Der Prinz verbeugte sich. Wie schön sie war!

„Was in meinem Innern vorgegangen ist nach jenem Geständnis meines Mannes, das geht niemand etwas an. In mir stand sofort der Entschluß fest, daß ich keine Minute ungenutzt verstreichen lassen dürfe, die Schmach dieses ganzen Verhältnisses von meiner Person und dem Namen meines Mannes fortzuwaschen. Meinen edelmütigen Schwager zu Hilfe zu rufen, verbot mir mein Stolz. Er hat, bei Gott, genug gethan!“

„Frau von Weßnitz!“ tönte es an ihr Ohr mit weicher, fast demütiger Kinderstimme.

„Bitte, lassen Sie den gerührten Ton, Prinz! Bleiben wir sachlich! Wie hoch beläuft sich die Schuld meines Mannes?“

„Das sagen Sie mir?“ rief der Prinz und warf sich empört in einen Stuhl.

„Nun ja! Ich will Ihnen übrigens keinen Vorwurf machen – ich selbst habe gefehlt. Aber mir stand niemand zur Seite, und jede Frau kann schwach sein, wo sie glaubt, eine selbstlose Verehrung zu finden.“

„Und daran glauben Sie nicht mehr, Lore?“

Sie antwortete nicht. Eine Weile war es unheimlich still zwischen den beiden.

„Ich weiß es nicht,“ preßte sie endlich hervor, während sie die Hand, wie nach einer Stütze suchend, gegen den Thürpfosten stemmte.

Plötzlich stand er dicht vor ihr und ihre Hand nehmend, diese kalte zitternde Frauenhand, führte er sie zu einem Sessel.

„Bitte, setzen Sie sich!“

„O, es ist so viel, was ich in den letzten Stunden durchlebt habe!“ Wie gebrochen sank sie auf den Stuhl. Dann, mit einmal sich hoch aufrichtend, sagte sie mit harter Stimme. „Bitte, Prinz, die Höhe der Summe!“

Dieser ging langsam zum Schreibtisch, schloß ein Schubfach auf, blätterte in einigen Papieren, und dann mehrere Zettel zusammenfassend, trat er auf Lore zu.

„Hier sind die Schuldscheine Ihres Mannes, die er mir gegen meinen Willen aufgedrungen hat!“

Lore streckte die Hand aus. Da knisterte es in seinen Fingern – mit einer schnellen Bewegung riß er die Papiere in Fetzen, langsam fielen die Schnitzel über den Teppich.

Zuerst verstand Lore gar nicht die Bedeutung dieser Handlungsweise, ihre Blicke hafteten irr auf seinem Gesichte, in dessen Zügen ein wilder Kampf zu toben schien. Aber nur ein Augenblick, dann hatte sie begriffen.

„O, das ist häßlich!“ schrie sie auf, die Hände wie zur Abwehr ausstreckend.

Als habe den Prinzen ein Blitzstrahl getroffen, so knickte er zusammen und warf sich auf die Knie. „Lore, bei Gott, das ist zuviel!“ stöhnte er. „Hab’ Mitleid mit mir, mit meiner Seele, die Dir gehört! Habe ich jemals mehr gewollt, als Deine Gegenwart genießen, Deine Stimme hören, Dein Antlitz sehen? Ist ein Wort über meine Lippen gekommen, das Dir gesagt hätte, wie ich Dich liebe, seit Jahren, bis zum Wahnsinn? Und nun – was habe ich nun Häßliches gethan?“

[552] „Um Gotteswillen, stehen Sie auf!“

„Nein, nein, hier will ich liegen zu Deinen Füßen, zufrieden, wenn ich nur den Saum Deines Gewandes küssen darf! Sieh, so ist meine Liebe! O, ich will Dich mit Reichtum überschütten, will mein Leben lang zu Dir aufschauen wie zu einer Heiligen! Was fesselt Dich an Deinen Mann? Welches Band verbindet Dich innerlich mit ihm? Giebt er Dir, was ich Dir geben kann, ein ganzes Leben voll sklavischer Liebe? Dieser Mann, der Dein Glück, Deine Seele zerstört hat, der Dir verächtlich sein muß! Lore, um Deines eigenen Glückes, um meiner unendlichen Liebe willen zerreiße Deine Fessel und werde mein Weib!“

„Halten Sie ein!“ rief sie, sich zurückwerfend.

Was dieser Mann alles in ihr aufrührte! Wie ein berauschendes Märchen schlugen seine leidenschaftlichen Worte an ihr Ohr. Ihre Nerven begannen zu erschlaffen nach den Erschütterungen der letzten Stunden, sie fühlte eine ohnmachtähnliche Mattigkeit durch ihre Adern rinnen. Da berührte etwas ihre Knie, ein Mund flüsterte dicht an ihrem Ohr: „Erhöre mich, Geliebte! Nur einmal sieh mir in die Augen, ob das nicht die Liebe ist, die zum Wahnsinn führt oder bis zum Tode währt! O, sieh mich doch an!“

Sie fühlte seine Lippen auf den ihrigen, sein heißer Atem vermischte sich mit dem ihren – ein eisiger Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Ein unnennbarer Ekel ergriff sie, sie stieß ihn mit beiden Händen von sich.

„Zurück! Sie sind betrunken!“ rief sie und sprang auf. Indem sie sich von seinen Händen losriß, die ihr Kleid umklammerten, erreichte sie mit einem Sprung die Thüre und stürzte hinaus. – –

Der Prinz lag am Boden, mit dem Gesicht auf dem Teppich, als wollte er ihn mit den Zähnen fassen. Ein heiseres Aechzen drang aus seiner Brust. So kauerte er eine Weile, dann hob er mit fast irrsinnigem Ausdruck den Blick und ließ ihn durch das Zimmer schweifen, langsam, wie jemand, der sich nach einem wüsten Traume der Wirklichkeit seiner Umgebung versichern will. Dann begann er zu lachen. Kein Wort kam über seine fahlen Lippen, er wankte in eine Ecke, dort klirrten unter seinen zitternden Fingern Flaschen aneinander. Zwei, drei faßte er mit den Händen und stellte sie auf den Tisch.

„Also trunken bin ich!“ murmelte er, sich ein Glas einschenkend. „Trunken! Richtig, ich weiß nicht einmal mehr, was ich gesagt habe! Es muß wohl so sein!“ Und er stürzte ein Glas hinunter.

Die Gasflamme zitterte, von der Straße tönte das Geräusch des Lebens herauf.

„Dein Wohl, Leonore!“ Er hielt den Inhalt des Glases gegen das Licht, das sich in dem geschliffenen Kelche brach und gespensterhaft über sein bleiches verstörtes Gesicht huschte.

Stunden verrannen – immer wieder füllte er das Glas, bis sein Kopf schwer aufs Sofa zurücksank. – 0000

Als der Kellner am andern Morgen das Zimmer betrat, fand er den Prinzen tot auf dem Sofa. Ein herbeigerufener Arzt stellte als Todesursache Herzschlag fest, veranlaßt durch übermäßigen Genuß von Alkohol.

Der Fall erregte in allen Kreisen, die den Fürsten gekannt hatten, das größte Aufsehen. Allerlei unklare Gerüchte schwirrten umher, in Verbindung mit dem Namen der Frau von Weßnitz. Diese selbst rang in schwerem Nervenfieber mit dem Tode.

Sobald Hermann die erschütternde Kunde vom Ende des Prinzen erhalten hatte, war er zu Lore geeilt.

„Es darf niemand zur gnädigen Frau,“ berichtete der Diener.

Wer denn bei ihr sei?

Der Hausarzt und als Pflegerin Fräulein Helm.

Noch während Hermann mit dem Diener verhandelte, erschien Eddas dunkler Kopf in einer vorsichtig geöffneten Thür. Sie winkte ihm mit den Augen, einzutreten.

„Was ist mit Lore^“' fragte er hastig.

„Man kann noch nichts sagen, Herr von Weßnitz. Heute, morgen und übermorgen noch nichts; doch denke ich, daß ihre gesunde Natur die Nervenkrisis überstehen wird. Ich weiß ja selbst nicht, was alles vorgefallen ist. Nur den unnatürlich schnellen Tod des Russen erfuhr ich und eilte sofort hierher. Mir sagte eine Ahnung, daß ich vielleicht hier nötig sein würde, wenngleich ich diesen Zustand Ihrer Schwägerin nicht voraussetzen konnte. Können Sie mir irgend welche Aufschlüsse geben?“

Hermann senkte finster den Kopf. „Nichts von Bedeutung,“ sagte er trotzig.

„Sie sehen selbst krank aus, Herr von Weßnitz.“

Er hob rasch den Blick und schaute in ihre ernsten forschend auf ihn gehefteten Augen. Wie wohl ihm der weiche mitleidige Ton ihrer Stimme that!

„Ist an Bruno telegraphiert worden?“ fragte er, sich mühsam auf die Lehne eines Stuhles stützend.

„Es hatte keinen Zweck, da er so wie so morgen wieder zurückkehren muß.“

„So? Und kann ich nicht irgend etwas thun für Lore? Soll ich bis zur Rückkehr meines Bruders nicht hier bleiben?“

„Nein, Sie könnten doch nichts helfen. Je weniger Menschen im Hause sind, desto besser. Ich werde hier bleiben.“

„Halten Sie einen ernsten Ausgang der Krankheit für möglich?“ fragte er leise, wie jemand, der sich vor der Antwort fürchtet.

„Möglich, ja – soweit ich den Fall beurteilen kann. Aber es giebt etwas Schlimmeres als den körperlichen Dod - den geistigen.“

„Entsetzlich!“ stöhnte Hermann.

„Wir wollen den Mut nicht verlieren, Herr von Weßnitz!“

Sie streckte ihm herzlich die schmale Hand hin und begab sich wieder zu der Kranken.


Wochen waren vergangen. Die Berliner Gesellschaft hatte schon wieder wichtigere Sachen zu thun, als den Tod des russischen Prinzen und die unmittelbar darauf folgende Versetzung des Legationsrats von Weßnitz nach Brüssel zu besprechen. Der Frühling war gekommen – Wettrennen, Ausflüge, Vorbereitungen für Badereisen nahmen alles Interesse in Anspruch.

Lore hatte die Krankheit überwunden, obgleich es schien, als hätte ihre Natur, die Thatkraft ihres Wesens eine unheilbare Wunde empfangen. Jetzt war sie mit ihrem Knaben einige Monate am Gardasee. Was zwischen ihr und Bruno besprochen worden war, nachdem sie das Krankenlager verlassen hatte, wußte niemand, nicht einmal Hermann. Immerhin konnte dieser aufatmen, denn die Familientragödie, die er für unausbleiblich gehalten hatte, war vermieden worden. Als er Bruno zum erstenmal nach jenen Ereignissen wiedersah, schien dieser ein anderer denn sonst; er war weich, duldsam wie ein Kind – vielleicht führten ihn die Erlebnisse der letzten Zeit auf den richtigen Weg zurück, das Leben ernst zu nehmen. Damit er überhaupt imstande war, seine Verpflichtungen in Berlin einzulösen und den Haushalt in Brüssel zu beginnen, mußte Hermann fast sein ganzes mütterliches Erbteil opfern. Er hatte beabsichtigt, den Bruder zu veranlassen, seiner diplomatischen Laufbahn zu entsagen und nach Weßnitz überzusiedeln, aber er mußte diesen Gedanken aufgeben. Bruno wäre nie imstande gewesen, als praktischer Landwirt die ohnehin etwas in Unordnung geratene Gutsverwaltung in die Hand zu nehmen.

Merkwürdig, wie dieser Bruno trotz all seiner Fehler von oben begünstigt wurde! Jedem anderen hätte der Skandal den Hals gebrochen – er wurde nur versetzt, und zwar auf einen Posten, der ihm wenig Repräsentationspflicht auferlegte und es ihm möglich machte, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen.

Es war Hermann gelungen, dem Vater all diese Vorgänge zu verheimlichen, was um so leichter war, als der alte Mann augenscheinlich nur noch wenig Interesse und Verständnis für die Außenwelt zeigte.

Jetzt war nun Hermann ganz zu seinem Berufe zurückgekehrt, verschlossener, wortkarger denn je, fast menschenscheu in der großen Stadt lebend. Manches, was er früher für wertvoll und groß gehalten hatte, schien ihm jetzt nichtig und lächerlich. In seinem Innern ging eine Umwandlung vor, seine ganze Lebensanschauung kam ins Wanken. In dieser Stimmung erinnerte er sich eines Tages, daß er dem Doktor Helm versprochen habe, ihn zu besuchen; der Verkehr mit dem geistvollen alten Herrn erschien ihm plötzlich als ein Bedürfnis, und am nächsten Abend entschloß er sich, zu ihm zu gehen.

„Ist der Herr Doktor zu Hause?“ fragte er die Aufwartefrau, die ihm die Thür öffnete.

„Bitte, treten Sie näher!“

„Aber das ist hübsch, lieber Weßnitz, daß Sie endlich einmal Ihre Schritte zu uns lenken!“ begrüßte der Doktor seinen Gast.

[553]

Assuan am Nil.
Nach einer Originalzeichnung von E. Körner.

[554] „Ich habe seit Wochen nichts mehr von Ihnen gehört und gesehen. Aber was ist mit Ihnen? Sie sehen ja recht elend aus! Abgearbeitet? Uebertreiben Sie’s nicht! Das rächt sich. He, Edda, Frau Lores Schwager ist da!“

„Ja, ich komme gleich!“ tönte ihre Stimme aus dem Nebenzimmer.

„Na, nehmen Sie Platz! Was giebt es Neues in Ihrer Welt da draußen?“

„Nichts, Herr Doktor. Und wie geht es Ihnen?“ „Danke, recht gut. Ich überarbeite mich nicht eben und suche mich auf leichte Weise zu beschäftigen, wie Sie sehen. Sie gestatten doch, daß ich fortfahre? Ich fertige da gerade ein Modell für ein nach allen Regeln der Hygieine gebautes Krankenhaus an. Sehen Sie, hier – dies ist die chirurgische Abteilung, dies die für innere Krankheiten, dort das kleine Gebäude ist für Geisteskranke, die zur Beobachtung eingeliefert sind. Haha! eigentlich fehlt noch eine Abteilung für die Verrückten, die in der Welt umherlaufen und im allgemeinen doch für vernünftig gehalten werden – oder für solche, die mit ihren Ansichten nicht mehr in die heutige Welt passen, eine Art Asyl für verbrauchtes Menschenvolk!“

„Wollen Sie mir einen Platz darin ausbedingen?“ fragte Hermann, sarkastisch lächelnd.

„Machen Sie keine schlechten Witze!“ Der Alte blickte ihn aus den mächtigen grauen Augen gutmütig an. „Wissen Sie, einen kleinen Vogel hat jeder Mensch, man darf ihn nur nicht zu groß wachsen lassen. Ah, da ist meine Tochter!“

Er nickte dieser freundlich zu, ohne zu bemerken, daß sie in der Eile den Anzug gewechselt hatte. „Ich habe Hunger, Edda, und denke, wir könnten zu Abend essen.“

Edda begrüßte Hermann einfach mit einem Händeschütteln. Dieser blickte sie mit unverhohlenem Erstaunen an. Fast ungläubig folgte er mit den Augen ihrer Gestalt, die sich eilig, aber still und geräuschlos hin und herbewegte, während sie den Theetisch ordnete. Sie hatte ein helles modernes Kleid angelegt mit weit offenen Aermeln und Halsausschnitt, das ihre eigenartige Schönheit zur vollen Geltung kommen ließ.

Sie bemerkte seinen bewundernden Blick, heißes Rot stieg ihr in die Wangen. Sie hatte sich umgezogen, ihm zu lieb, ihr schwarzes Werktagskleid schien ihr so abscheulich häßlich und düster. Und nun schämte sie sich über diese Anwandlung von Eitelkeit, wie sie es innerlich nannte, und war doch zugleich froh, als sie das Wohlgefallen, die angenehme Ueberraschung in seinen Augen las.

In Hermann stieg, wie er sie so beobachtete, der Gedanke auf, wie schlicht und pflichtgetreu dieses Mädchen wochenlang Tag und Nacht an dem Krankenlager Lores gewacht hatte, mit welch einfacher Herzlichkeit sie hier ihres Amtes als Hausfrau waltete, und er ertappte sich plötzlich über der Empfindung, wie gut es sein müsse, sein Leben, sein Glück in so fester treuer Hand zu wissen.

Der Doktor riß ihn aus seinem Sinnen. „Was ist das für eine Geschichte mit dem Lieutenant, der sich erschossen hat?“ fragte der alte Herr, behaglich ein Butterbrot mit kaltem Braten belegend. „Ich las davon in der Zeitung. Wieder so ein Schwächling, der die Flinte ins Korn wirft!“

Hermann schüttelte den Kopf. „Nein, er that seine Pflicht. Ich kannte ihn oberflächlich und verstehe die Beweggründe seiner That.“

Er hatte selbst in der Ehrensache jenes jungen Kameraden mit aburteilen müssen und, wie er glaubte, streng sachlich seine Stimme abgegeben, sich nur als Offizier fühlend, der die Ehre seines Standes zu wahren und zu schützen habe. Es war eine Spielgeschichte gewesen, und die Angelegenheit hatte in ihm die bittere Erinnerung an jene Nacht im Hause seines Bruders wieder neu belebt.

„So, er that seine Pflicht?“ Helm schaute scharf in das ernste Gesicht seines Gastes. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr von Weßnitz – seine Pflicht thun, wenn man sich eine Kugel durch sein zwanzigjähriges Hirn schießt? Das will in meinen fünfzigjährigen Kopf nicht hinein.“

„Und doch, Herr Doktor, giebt es Umstände, welche es einem gebieten, so zu handeln. Denken Sie an einen Offizier, der seine eigene Ehre und damit die seines Standes und seiner Familie preisgegeben hat!“

„Und das alles wird durch das Totschießen wiederhergestellt?“

„Teilweise, ja. Und vor allen Dingen wird ein Zweig der menschlichen Gesellschaft aus der Welt geschafft, der mißraten war.“

„Was wird die Mutter eines solchen Selbstmörders empfinden?“ fragte Edda, den klugen Kopf aufrichtend.

Hermanns Züge wurden hart. „Kleine persönliche Gefühle spielen in diesen Fragen keine Rolle.“

„Das nennen Sie kleine persönliche Gefühle, Herr Lieutenant! Ist das Ihr Ernst?“

Fast verwirrte ihn der feste Blick ihrer Augen. „Ja, gewiß! Kann ein Mensch auf irgend eine andere Art als durch freiwilligen Tod eine untilgbare Befleckung seiner Ehre sühnen? In dem vorliegenden Fall hat der Offizier das gesellschaftliche Vertrauen, die Zuverlässigkeit der ehrenhaften Gesinnung verletzt, die man von jedem einzelnen fordern muß, denn auf dieser Grundlage beruht das innere Zusammenleben einer Gemeinschaft von Menschen. Deshalb mußte er gehen.“

„Ich komme von der gleichen Voraussetzung aus zu einem ganz anderen Schluß,“ entgegnete der Doktor. „Die Menschen haben ein Recht, ehrlose Handlungen vor dem Gesetz gerichtet zu sehen, und niemand ist befugt, sich dieser Forderung durch den selbstgewählten Tod zu entziehen.“

„Es ist schließlich nichts als Feigheit vor den Folgen des eigenen Handelns,“ meinte Edda und sah Hermann ruhig an.

„Nein, das ist es nicht!“ Seine Stirn rötete sich leicht. Aber trotz seines energischen Widerspruchs fühlte er sich plötzlich dem klaren Blick dieser Augen gegenüber unsicher. Das Recht seiner Ansicht schien ihm mit einmal nicht mehr so zweifellos. Er schwieg.

In die entstandene Stille hinein ertönte das Klingeln der Hausglocke. Jemand fragte nach dem Doktor.

„Es thut mir leid, gerade heute abend zu einem Kranken zu müssen,“ sagte Helm, als er von draußen zurückkehrte, zu Hermann, während er Hut und Stock nahm. „Vielleicht sind Sie noch da, wenn ich wiederkomme. Doch kann es spät werden.“

„Wir wollen ins Nebenzimmer gehen,“ sagte Edda, als ihr Vater sich entfernt hatte. Sie ergriff die auf dem Eßtisch brennende Lampe und schritt Hermann voraus.

Es war augenscheinlich das Arbeitszimmer des alten Helm, das sie betraten, ein einfaches, fast dürftiges Gemach. An den Wänden große Regale, mit Büchern und allerhand Gläsern angefüllt, in denen seltsame Präparate ruhten. In einer Ecke das Gerippe eines Menschen, auf einem Tisch eine Anzabl von Totenköpfen, augenscheinlich Abnormitäten.

Hermann beschlich ein seltsames Gefühl. Allein mit diesem Mädchen in der fremdartigen fast unheimlichen Umgebung!

„Bitte, nehmen Sie Platz! – Haben Sie etwas von Ihrer Schwägerin gehört?“

„Nein, nichts! Sie hat mir noch nicht einmal geschrieben seit jener unglücklichen Geschichte, mein Bruder auch nicht, und vom Vater erhalte ich nur sehr selten eine kurze Nachricht. Wer kümmert sich noch um mich? Ich bin überflüssig.“

Er sagte das scharf, finster in das Licht der Lampe blickend.

„Sie sind verbittert, Herr von Weßnitz! Weshalb? Sie wissen, wie hoch alle Ihre näheren Bekonnten Sie stellen!“

Er zuckte die Achseln. „Ja, hoch stellen, hoch schätzen! Was ist das alles? Man friert dabei. Ich brauche mehr als das, brauche zuweilen einen teilnehmenden Menschen, ein gutes herzliches Wort!“

Sie sah ihn aufmerksam an, während eine feine Röte ihre Wangen überzog. Und dann, einer unwillkürlichen Regung folgend, streckte sie ihm die Hand hin.

„Wenn Sie Teilnahme, Verständnis suchen, Herr von Weßnitz – hier bei meinem Vater und mir werden Sie das finden. Sie leben zu einsam, ich kann das nachfühlen, aber Sie dürfen nicht verbittert werden, gerade Sie nicht!“

Welch eigentümlicher Ton in Ihrer Stimme zitterte! Hermann beugte lauschend das Ohr. Alles in seinem Innern ward weich, alles, was er in den letzten Jahren still, ohne Aussprache niedergerungen, quoll in ihm empor bei der Berührung dieser schlanken warmen Mädchenhand.

„O, wenn meine Mutter noch lebte!“ preßte er hervor.

Es war eine Weile still, dann sagte Edda: „Es muß etwas Wunderbares um den Besitz einer Mutter sein. Ich habe nie den Segen einer Mutterhand gefühlt, selbst nicht in meinen ersten Kindertagen. Erzählen Sie mir, bitte, von Ihrer Mutter!“

(Fortsetzung folgt.)


[555]

Die Tempelinsel Philä.

(Zu den Bildern S. 549 und 553.)
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

[W]elche Fülle von gewaltigen Baudenkmälern wurde im Laufe der Jahrtausende in dem schmalen Thale des heiligen Nilstromes errichtet und wie groß sind die Schätze des Wissens, die aus uralten Gräbern, aus dem Schutt der Ruinen in den Papyrusrollen ans Tageslicht gebracht werden! Fürwahr, die Denkmäler der Kunst und des Wissens, welche die alten Aegypter uns vermacht haben, die Pyramiden, Obelisken und Tempel sind ein hehres Eigentum der gesamten gesitteten Menschheit, und diese hat die Pflicht, das pietätvoll zu erhalten, was Fluten barbarischer Völker geschont und was Naturgewalten im Laufe von Jahrtausenden zu zerstören nicht vermocht haben.

Und doch droht einem Teil dieser Denkmäler, den herrlichsten Tempeln ein jäher Untergang. Durch ein geplantes großes Kulturwerk sollen sie unter Wasser gesetzt – weggeschwemmt werden!

Wer heute eine Reise den Nil hinauf unternimmt, der pflegt die Stromfahrt zu beendigen bei dem Städtchen Assuan, das mit seinen schmucken Häusern, umrahmt von grünen Palmen, einen recht freundlichen Anblick gewährt. Man sieht noch die braunen Fellahs Aegyptens, die phlegmatischen Türken und bedächtigen Kopten; aber die Mehrzahl bilden hier bereits die Nubier, Beduinen und Neger aus dem Sudan.

„Syene“ hieß diese Stadt im Altertum. Das Wort stammt von dem ägyptischen „Sun“, d. h. Eingang in das Land, denn Syene war ursprünglich eine Festung und in ihm lagen die streitbaren Männer, welche die vorgeschobenen Posten der ägyptischen Kultur vor den räuberischen Nubiern schützen sollten. Rings glüht in der heißen Sonne der dunkelrote Granit, der „Syenit“, aus dem die berühmtesten Bauten Altägyptens, alle großen Obelisken errichtet wurden. Aber die eigentliche Hauptstadt dieses Gaues war nicht die Festung Syene, sondern die benachbarte Stadt Abu, die auf einer Insel im Nile lag, auf unserem Bilde von Assuan S. 553 zum Teil noch sichtbar. Abu bedeutet so viel wie Elfenbeinstadt und wurde darum von den Griechen „Elephantine“ genannt. Es hatte vor Jahrtausenden etwa dieselbe Bedeutung wie Chartum vor dem Aufstande des Mahdi in unserem Jahrhundert; es war der Marktplatz, an welchem zwei Welten sich berührten. Hierher kamen die Wilden des Sudan, um Elfenbein und andere Schätze Innerafrikas gegen Erzeugnisse der ägyptischen Kultur auszutauschen. Von Abu aus gingen jene merkwürdigen civilisierenden Einflüsse in das Herz des Dunklen Weltteils, die noch heute nicht verwischt sind, da Geräte, Waffen und Schmuck vieler innerafrikanischer Stämme in ihrer Gestaltung so sehr an ägyptische Formen erinnern.

Oberhalb von Elephantine verändert sich der Charakter des bisher ruhigen Stromes. Riesenmassen von Granit durchsetzen sein Bett und erscheinen von weitem als schwarze in der Sonne schimmernde Hügel. Hier schäumt und braust der nördlichste oder erste Nilkatarakt. Die ältesten Aegypter wußten nicht, was hinter jenen schäumenden Wasserwirbeln lag, und so entstand die Sage, daß an jener Stelle der Nil aus der Unterwelt an das Tageslicht trete, um Aegypten seiner Segnungen teilhaftig werden zu lassen. Kein Wunder also, daß diese Stätte zum Sitz einer besonderen Götterverehrung wurde. Jenseits von diesen Stromschnellen liegen einige Felseneilande, die mit Tempeln bedeckt wurden. In dieser Gegend soll ja die milde Göttin Isis gewohnt haben. Als der finstere Typhon ihren Bruder und Gemahl, den lichten Osiris, getötet und seinen Leib in vierzehn Stücke geteilt und zerstreut hatte, soll Isis diese teuren Reste gesammelt und auf den Inseln bei der ersten Stromschnelle bestattet haben. Hier trauerte sie um ihren Gatten und Bruder, und die Thränen, die sie vergoß, fielen in den Nil und wuchsen zu der überschwemmenden Flut an, welche sich befruchtend über das Thal von Aegypten ergoß. Das Andenken der Isis und des Osiris wurde also schon in altersgrauer Zeit an diesen Stätten verherrlicht und düstere Tempelruinen stehen noch heute auf den Felseneilanden Bige und Konosso. Am berühmtesten ist jedoch die Insel Philä. Hier, in einer wunderbaren landschaftlichen Umgebung, ließ einer der letzten Pharaonen, Nectanebus I., im 4. Jahrhundert v. Chr. der Isis Tempel und Altäre errichten. Die Ptolemäer, die nach dem Tode Alexanders des Großen das Land beherrschten, setzten diese Arbeiten fort, führten die mächtigen Thortürme oder Pylonen auf und errichteten die herrlichen Säulenhallen. Auch die römischen Kaiser haben sich noch durch Bauten verewigt. Unsere Abbildung S. 549 zeigt links im Vordergrund die Ruinen des mächtigen Isistempels, im Hintergrund rechts die des sogenannten „Kiosks“, eines ebenfalls der Isis geweihten Tempelpavillons aus der römischen Kaiserzeit. Viele von diesen Herrlichkeiten sind in Schutt und Staub gesunken; was aber erhalten blieb, ist immer noch von unbeschreiblicher Wirkung, denn hier vereinen sich wunderbare Schönheit der erhabenen Natur und menschliche Kunst zu einem harmonischen Ganzen. Noch viele farbige Gemälde bergen sich in den Ruinen, viele Inschriften und vermutlich auch Papyrusrollen, die noch erforscht werden sollen … aber wird dies wohl möglich sein? Diese Wunderwelt soll ja der zerstörenden Gewalt des Wassers preisgegeben werden!

Nützlichkeitsgründe sind [e]s, die Philä mit jähem Untergang bedrohen. Es ist allgemein bekannt, daß Aegypten den Ueberschwemmungen des Nils seine Fruchtbarkeit verdankt. Aber die weitverbreitete Ansicht, daß der Nil von selbst das ganze Land unter Wasser setze und es zu einem See umgestalte, aus dem nur Dorfhügel wie Inseln hervorragen, entspricht, wie Adolf Erman treffend bemerkt, nicht der Wahrheit, wenigstens nicht für Ueberschwemmungen durchschnittlicher Höhe. Vielmehr muß Menschenhand ernstlich daran arbeiten, wenn das Wasser alle Felder erreichen soll. Es müssen vom Strom aus große Kanäle gezogen werden, aus denen dann wieder kleine Rinnsale das Wasser auf die Felder führen. Und da es nicht an Aeckern fehlt, die zu hoch gelegen sind, als daß die Flut sie erreichen könnte, so müssen diese durch Schöpfapparate künstlich bewässert werden. Die Bewässerung bildet somit für Aegypten die zweifellos wichtigste Lebensfrage.

Sechzehn Ellen forderte das Aegypten der griechischen Zeit als Höhe einer gesegneten Ueberschwemmung, und auf einer alexandrinischen Münze ist ein „Genius der sechzehnten Elle“ dargestellt, wie er seinem Vater Nil sein Füllhorn überreicht. Heute, nachdem sich der Boden Aegyptens durch die jährliche Schlammablagerung erhöht hat, ist ein bedeutend stärkeres Steigen erforderlich, wenn das Land eine volle Ernte genießen soll. Andererseits ist die Verwaltung auf Grund eingehender Studien zu der Ueberzeugung gelangt, daß die gegenwärtigen Bewässerungsanlagen nicht genügen. So ist der Gedanke reif geworden, die Wasserverhältnisse von neuem zu regeln und dabei die Ueberschwemmungen vom Zufall unabhängig zu machen. Zu diesem Zwecke will man in Nubien die Nilwasser durch riesige Dämme stauen und so ein gewaltiges Reservoir, einen neuen See oberhalb Aegyptens schaffen, von dem das Wasser durch Schleusen nach Belieben abgelassen werden könnte. Das wäre allerdings eine Kulturarbeit ersten Ranges und der Vorteil für Aegypten unberechenbar.

Gegenwärtig schwillt der Strom erst in der zweiten Hälfte des Juli mächtiger an; vom Ende September bis Ende Oktober bleibt dann der Wasserstand im wesentlichen gleichmäßig auf seiner höchsten Stufe, um dann schneller und schneller zurückzugehen.

Im Januar ist der Strom bereits ganz in seinem alten Bett, aber auch in diesem nimmt er noch bis in den Sommer hinein ab. Steigt das Wasser nur um ein Zehntel zu wenig, so vermag es die Kanäle nicht mehr zu füllen, die es nach den höher gelegenen Aeckern führen sollen, und Mißwachs und Hungersnot sind die Folge. Alle diese Uebelstände könnten durch das geplante Nilreservoir wohl beseitigt werden, man könnte das Wasser zu jeder Zeit verteilen. Es wurde berechnet, daß in der Provinz Giseh allein gegenwärtig 2000 Hektar Land Sommerernten ergeben, nach der Schaffung des Reservoirs würden es 24 000 Hektar thun!

Die Ingenieure der ägyptischen Regierung arbeiteten nun im Laufe der letzten Jahre verschiedene Pläne aus, die dann einer internationalen Kommission, in welcher Vertreter Englands, Frankreichs und Italiens sich befanden, zur Begutachtung unterbreitet wurden. Der erste Vorschlag ging dahin, die Wüste bei Wadi Raiyyan in einen See zu verwandeln, er mußte aber wegen technischer Schwierigkeiten verworfen werden. Ebenso mußte die Errichtung eines Dammes bei Selsele als unausführbar bezeichnet werden, und es blieb die engere Wahl zwischen der Errichtung eines Dammes bei Kalabsche, etwa 30 km oberhalb Philä, oder bei Assuan. Wegen der Weite und Tiefe des Stromes bei Kalabsche erschien den Mitgliedern der Kommission die Ausführung des Planes an jener Stelle zu schwierig und zu kostspielig und die Mehrzahl entschloß sich, die Errichtung des Nildammes bei Assuan zu empfehlen. Würde dieser Plan zur Ausführung gelangen, so würden die Tempelruinen von Debot, Kersassi, Tafe, Kalabsche, Dakke, Ofedina und Philä durch die Stauung monatelang unter Wasser gesetzt und in kürzester Zeit zerstört werden. Man hat dabei Philä derart retten wollen, daß man vorschlug, die Tempel abzutragen und auf einem anderen trocken gebliebenen Orte wieder aufzustellen. Daß dadurch der geschichtliche Wert der Ruinen, der an die eigenartige Ortschaft gebunden ist, gänzlich verloren gehen würde, dürfte wohl keinem Zweifel unterliegen. Aus diesem Grunde erklärte sich der französische Kommissar Boulé gegen den Nildamm von Assuan, da Philä nicht preisgegeben werden dürfe. In Deutschland erhob Georg Ebers seine Stimme für die Erhaltung der denkwürdigen Stätte. Auch in England machte sich eine starke Bewegung in demselben Sinne geltend und in einer an den ägyptischen Premierminister gerichteten Adresse wird dieser ersucht, dahin zu wirken, daß der Damm bei Kalabsche errichtet und Philä erhalten werde. Man hat dabei berechnet, daß die Ausgaben nicht wesentlich größer und der Nutzen gleich groß sein würde wie bei der Errichtung des Dammes bei Assuan. Und wenn größere technische Schwierigkeiten vorhanden sein sollten, so ließen sie sich gewiß überwinden: soll doch der Technik der Neuzeit das Wort „unmöglich“ nicht bekannt sein! – Hoffen wir, daß diese Vorstellungen Gehör finden und die Wunderblume der Wildnis, die Tempelinsel Philä, der Nachwelt erhalten bleiben wird. St.     




[556]
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Vom VIII. deutschen Turnfest in Breslau.

Skizze von G. A. Weiß.0 Mit Zeichnungen von F. Müller-Münster.

Ueberreichung des von Breslaus Frauen gestifteten Fahnenbandes.

Die Breslauer Turnvereine, die städtischen Behörden und die Bürgerschaft hatten sich schon seit langer Zeit mit erfreulicher Einmütigkeit zu umfassenden Vorbereitungen für das deutsche Turnfest in Breslaus Mauern zusammengefunden. Galt es doch, zu zeigen, was die Hauptstadt Schlesieus vermag! Eine schöne Begeisterung durchglühte die hundertfältige Arbeit, und als alles fertig war, da leistete man sich zur „Generalprobe“ eine ganze Breslauer Vorfestwoche; und siehe, es klappte alles!

Der am Südende der Stadt, am Ausgange der prächtigen Kaiser Wilhelmstraße sehr glücklich gelegene Festplatz mit der dahinter improvisierten „Vogelwiese“ bot schon mehrere Tage vor dem Beginn des eigentlichen Festes ein eindrucksvolles und fesselndes Bild turnerischen Lebens und heiteren Treibens. In der geschmackvollen und geräumigen Festhalle wogte Abend für Abend eine überaus fröhliche Menge und lauschte den Festspielen. Die den Festplatz als schöner architektonischer Kranz umgebenden Tempel des Bier- und des Weingottes waren Zeugen der altangestammten Breslauer Lebenslust.

Ringkämpfer.

Der 21. Juli, welcher die fremden Turner unter schmetternder Marschmusik mit wehenden Bannern einrücken sah, fand die Wratislavia in froher Hast bei der Toilette. Mit tausend Händen ward gehämmert und gerichtet, vorbereitet und geschmückt. Breslaus Bewohner waren so ganz bei der Sache, daß sie für anderes kaum noch Sinn hatten, und die Breslauer Gemütlichkeit eroberte sich im Sturm die Herzen der fremden Gäste.

Die Eröffnungsfeier am Abend in der Festhalle gab dem Oberbürgermeister Bender, dem kommandierenden General v. Lewinski, dem Oberpräsidenten v. Seydewitz und Prof. Dr. Böthke-Thorn Gelegenheit, schöne und wahre Worte über die nationale Bedeutung der deutschen Turnfeste zu sprechen. Der Jubel der Versammelten und allgemeine Lieder bildeten gewissermaßen den Chor des rhetorischen Stückes, das sich auf der Bühne abspielte. Erhebende Augenblicke bildeten die brausenden Hochrufe auf die beiden Kaiser Wilhelm und Franz Josef, die Uebergabe des Bundesbanners durch Wenzel-München an die Stadt Breslau und die Ueberreichung des von den Breslauer Frauen und Jungfrauen gestifteten prachtvollen Fahnenbandes, das ein Stadtratstöchterlein mit poetischem Gruße übergab. Nach Schluß des hübschen Biberfeldschen Festspiels „Pallas und Germania“ war kein Halten mehr. Die linde Sommernacht lockte hinaus ins Freie, wo die Bierquellen sprangen, Fluten elektrischen Lichts sich über die wogende Fröhlichkeit ergossen und auf dem Tanzboden überschäumende Jugendlust sich austollte.

Hantelübungen der Frauen.

In goldenem Sonnenglanze erstrahlte die Frühe des Sonntags, des 22. Juli. Die stolze Wratislavia stand im bunten Festschmuck, des herrlichen Schauspiels harrend, das sich drüben in der Odervorstadt vorbereitete, des Festzuges. Ein lauer Wind spielte mit den zahllosen von den alten Giebelhäusern und den modernen Renaissancepalästen niederwehenden Fahnen und mit den über die Straßen sich schwingenden Gewinden. Und empor in die von Festlust erfüllte Luft drang das Branden der Menschenwogen, die sich durch die Straßen wälzten, um sich allmählich zu lebendigen Mauern zu verdichten.

Um elf Uhr rückte die Spitze des Zuges, dessen leitender Gedanke war: die Verbrüderung aller deutschen Gaue, über die prächtige Universitätsbrücke gegen das in die innere Stadt mündende Kaiserthor heran, über welchem in buntem Wappenschmuck das weithin leuchteude „Salve“ der alten Hochschule, der „Leopoldina“ grüßte. Es war ein farbenglühendes, von Schönheit, Kraft und Leben strotzendes Wandelbild, das im Verlaufe von anderthalb Stunden an den entzückten Blicken vorüberzog. Auf dem ganzen langen Wege durch die Schmiedebrücke, Albrechts-, Post- und Ohlauerstraße, Schuhbrücke, den Hintermarkt, [557] um die Ringseiten am Stadt- und Rathause vorüber, durch die Schweidnitzer Straße, an deren Ende eine schöne Ehrenpforte errichtet war, und durch die Vorstadt rollte gleich einer mächtigen Woge der Jubel der Turner und der Bevölkerung, oft zu südlichem Feuer anschwellend. Von den Fenstern und Balkonen gingen stellenweise ganze Blumenschauer auf die daherrückenden Turnerscharen nieder.

Den Zug eröffnete, unter Vorantritt der altertümlich gekleideten „Magistrats-Ausreuter“, geleitet von einem Reiter mit dem Stadtbanner und von anderen Altbreslauer Gestalten in geschichtlich treuen Gewändern, Frau Wratislavia im wallenden weißen Kleide unter einem Baldachin auf prächtig geschirrtem Rosse. Es folgte eine reich kostümierte Reitergruppe mit den Bannern der vertretenen Staaten.

Das Keulenschwingen der Sachsen.

Nun zogen im strammen Marschschritt die einzelnen Turnerkolonnen vorüber: erst die Ausländer (Deutsch-Rumänen, Deutsch-Russen, Amerikaner u. a.), dann die Turner des ganzen deutschen Nordens und der Provinz Sachsen, des Rheinlandes und Westfalens, hierauf die Schwaben, Bayern, Thüringer, die sehr zahlreich eingetroffenen Sachsen, weiter die Deutsch-Oesterreicher und endlich die Turner Schlesiens und Süd-Posens. Dreizehn Musikkapellen, teils beritten, teils zu Fuß, in den verschiedensten historischen Kostümen von der Hohenstaufenzeit bis zu den Lützowern, schmetterten ihre munteren Weisen in den goldenen Sonnenschein und den brausenden Jubel, welche die Luft erfüllten. Eine Reihe von glänzenden Schaustücken und wandelnden lebenden Bildern versetzte in ferne Zeiten zurück.

Die Modelle des Hermann-Denkmals auf dem Teutoburger Walde, der Wartburg, umgeben von den Helden des Sängerkrieges, und der von Ordensrittern geleiteten Marienburg redeten eine gar eigen fesselnde Sprache voll Poesie. Wahre Prunkstücke an Pracht und zugleich Sinnbilder reichen Lebens bildeten der Festwagen der Hanseaten, der erste im Zuge, welcher in Form eines von Neptun gelenkten Schiffes den Seehandel darstellte, der Festwagen von Rheinland und Westfalen, welcher ein fesselndes Bild des Wein- und Bergbaues gab; ferner der Wagen mit den Resten der Kyffhäuserburg und dem schlafenden Barbarossa, das Prachtgefährt der Münchener mit den bekannten symbolischen Figuren, der wunderschöne Festwagen der Sachsen mit den allegorischen Gestalten der Städte Dresden und Leipzig, das Gefährt, welches die Verbrüderung der Germania mit der Austria darstellte, und der von köstlichem Humor zeugende Sportwagen des Breslauer Turnvereins „Vorwärts“. Das Prachtstück des Zuges aber bildete der große Festwagen, auf dem von einer zinnengekrönten und getürmten Burg das herrliche Bundesbanner der deutschen Turnerschaft wehte. Tiefen Eindruck machte am Schluß des Zuges die umfangreiche Gruppe, welche den ewig denkwürdigen Aufschwung von 1813 in den leibhaftigen Gestalten des Königs Friedrich Wilhelm III., Blüchers, Jahns, Körners, Lützows, Friesens, der Freiwilligen und Lützower wiedergab und auf prachtvollem Festwagen die Königin Luise zeigte. Von Breslau aus erging ja damals der Aufruf „An mein Volk“ und Breslau war die Sammelstätte der Befreiungsheere.

Wenige Stunden nach Eintreffen des Zuges auf dem Festplatze traten 3200 Turner zu den Massenübungen zusammen. Welch ein Bild! Der eherne Klang der „Schlußtritte“ bewies die unversiegliche Kraft deutscher Turner. Fesselnde Schauspiele boten das Turnen der Musterriegen, das von schönem Rhythmus belebte Keulenschwingen der Sachsen und die interessanten Turnspiele. Brausendes Treiben erfüllte trotz Hitze und Staub den weiten Plan. Ein humoristisches Festspiel in der Halle „Turnfahrt nach dem Riesengebirge“ riß zu ausgelassener Fröhlichkeit hin. – Der Montag, der 23. Juli, war den verschiedenartigsten ernsten Turnwettkämpfen gewidmet. Das Festmahl führte zu einer schönen Kundgebung des Vertreters der römischen Turner, welche in der feierlichen Uebergabe eines italienischen Banners bestand. Ein prächtiger, unten abgebildeter Fackelreigen beschloß diesen zweiten heißen Tag in eindrucksvoller Weise. Während der beiden letzten Tage wurde noch fleißig und energisch geturnt, gefochten und gerungen, gejubelt und gezecht. Selbst ein Damenturnen fehlte nicht. Der Mittwochnachmittag brachte die feierliche Verkündigung und Bekränzung der Sieger in den viertägigen Wettkämpfen unserer modernen „Olympischen Spiele“. Am Abend aber wälzte sich gleich einer feurigen Schlange vom Festplatze durch die Stadt ein herrlicher Fackelzug. Die Illumination der architektonisch hierzu besonders geeigneten Liebichshöhe warf die wunderbarsten Lichteffekte über das wogende Treiben dieses letzten Abends.

Das Fest, an welchem etwa 15000 Turner teilnahmen, ist harmonisch ausgeklungen. Breslau und die Turnerei sind um ein schönes Erinnerungsblatt reicher.

Fackelreigen.


[558]
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Auge und Blendung.

Von Professor Dr. Hermann Cohn.
I.

Seit uralten Zeiten wurde das Auge als das schönste Geschenk der Natur betrachtet, und als der härteste Verlust, nächst dem des Lebens, gilt der Verlust des Augenlichtes. Daher wurde in alten Zeiten jeder, der das Auge eines anderen verletzte, mit Blendung seiner eigenen Augen bestraft. „Auge um Auge, Zahn um Zahn,“ heißt es in der Bibel.

Aber auch Feinde wurden in den ältesten Zeiten geblendet, so Simson von den Philistern und König Zedekia von Nebukadnezar. Im 7. Jahrhundert vor Christus hatte der weise König Zaleukos den Bewohnern von Lokri in Unteritalien ein Gesetz gegeben, wonach die Blendung als Strfse des Ehebruchs einzutreten habe. Nun beging aber zuerst sein eigener Sohn dieses Verbrechen, der König wollte die Strafe an ihm vollstrecken lassen, das Volk jedoch bat für ihn, und der Vater ließ, um dem Gesetze Genüge zu thun, dem Sohne ein Auge und sich selbst das zweite ausstechen. In späteren Zeiten war es bei den Griechen Sitte, daß einem Manne, der einen anderen blind gemacht, nur ein Auge ausgestochen wurde, falls er einen Teil seines Vermögens dem Erblindeten gab, hatte er aber kein Geld, so wurde er vollkommen geblendet.

Besonders roh verfuhren die Karthager. Sie schnitten nach der römischen Ueberlieferung dem römischen Feldherrn Marcus Regulus die Augenlider ab und setzten ihn den hellen Strahlen der Sonne aus, so daß er geblendet wurde und nicht mehr schlafen konnte. Schließlich sollen sie ihn in ein mit Nägeln ausgeschlagenes Faß gesteckt und dieses einen Berg hinabgerollt haben. Unter den fränkischen Königen und bei den Langobarden wurden den Dieben, die das erste Mal stahlen, die Augen ausgestochen.

Als der Enkel Karls des Großen, Bernhard, König von Italien, 817 gegen Ludwig den Frommen zu Felde zog, wurde er unter dem Schein von Unterhandlungen nach Chalons gelockt und mußte dort mit unverwandten Augen „in ein gülden Becken sehen, welches gegen die Sonne gesetzet war“, so lange, bis er erblindete. Auch Kaiser Barbarossa hat den Ueberläufern und Verrätern die Zunge ausschneiden und die Augen ausstechen lassen.

Bis zu den Zeiten Karls IV. konnte man sich in Deutschland, ähnlich wie im Altertum in Griechenland, durch Geld von seiner eigenen Blendung loskaufen, allein in einer böhmischen Chronik wird erzählt, daß ein Edelmann Namens Zahora, der seinem Pfarrer hatte die Augen ausstechen lassen und nun all sein Geld hergeben wollte, um seine eigenen Augen vor der Strafe der Blendung zu retten, nicht begnadigt wurde. Der Kaiser sagte, es könne kein Mensch dem anderen sein Gesicht ersetzen, und ließ dem Edelmann im Jahre 1366 in Prag vor allem Volke beide Augen ausstechen.

Noch in der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. vom Jahre 1532 wurde das Ausstechen der Augen als Strafe für den ersten schweren Diebstahl angeordnet.

Glücklicherweise ist seit Jahrhunderten in Europa kaum mehr die Strafe der Blendung ausgeübt worden; im Orient besteht sie aber noch heute.

Wenden wir uns ab von den Gräueln vergangener Jahrhunderte und sehen wir lieber zu, was wir im Zeitalter der Civilisation thun können, nicht um die Augen zu blenden, sondern um sie vor Blendung zu schützen.

Zunächst freilich müssen wir betrachten, welche krankhaften Erscheinungen denn blendendes Licht in unseren Augen hervorruft. Wir können heute vier Folgen von Blendungen unterscheiden: 1) die Netzhautentzündung, 2) die Nachtblindheit, 3) die Bindehautentzündung und 4) den Grauen Star.

Fig. 1

1. Netzhautentzündung. Das Auge ist bekanntlich wie eine Zwiebel aus aneinander geschachtelten Häuten zusammengesetzt. Vorn bei h (Fig. 1) befindet sich die Hornhaut, durch welche die Lichtstrahlen in das Auge fallen. Hinter ihr liegt die Regenbogenhaut oder Iris (i), deren Mitte das Sehloch, die Pupille (p), bildet. Dahinter liegt die Kryslalllinse (l) und der Glaskörper (g), die sogenannten lichtbrechenden Medien, durch welche das Licht auf die innerste Haut, die Netzhaut (n), fällt. Hinter der Netzhaut liegt die Aderhaut. In der Mitte der Netzhaut, an der Stelle, mit der wir am schärfsten sehen, ist ein kleiner quer ovaler Fleck, genannt der „Gelbe Fleck“ (m). Hier sind viele Tausende von schmalen, feinen Zellen, die sogenannten Zapfen oder Sehzellen, dicht aneinander gedrängt. Die übrigen Teile der Netzhaut haben andere stäbchenartige Zellen, welche aber nicht so feine Empfindungen vermitteln wie die Sehzapfen am Gelben Fleck.

Nach Einwirkung hellen Lichtes, besonders nach Beobachtung der Sonne oder einer offenen elektrischen Bogenlampe, hat man nun Entzündungen der Netzhaut gefunden. Schon Galenus, einer der berühmtesten Aerzte, der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, berichtete von Erblindungen nach Betrachtung einer Sonnenfinsternis. In letzler Zeit sind solche Fälle genauer beschrieben worden, da man nun mit dem Augenspiegel die Veränderungen der Netzhaut genau studieren kann.

Der Augenspiegel zeigte Zerstörungen am Gelben Fleck, also in der Mitte der Netzhaut, und zwar einen kleinen weißen Fleck mit blutigem Umkreise oder eine scharf umgrenzte gelb-weiße Scheibe mit dunkelbrauner Umgebung. Diese Beobachtungen stimmen sehr gut mit den Tierversuchen von Czerny und Deutschmann überein. Ersterer hatte unmittelbares Sonnenlicht mittels eines Brennglases auf der Netzhaut lebender Kaninchen vereinigt und eine wirkliche Verbrennung der Stäbchenschicht, eine Zerstörung, eine Entzündung der Netzhaut und Aderhaut, eine Gerinnung des Eiweißes in der Netzhaut und schließlich einen Schwund der Netzhaut gesehen. Von besonderem Interesse ist, daß weder die tiefsten dunkelblauen noch die tiefsten dunkelgrauen Gläser diese Einwirkung der direkten Sonnenstrahlen beeinträchtigen. Deutschmann fand sogar, daß selbst das Einschieben eines Glasrohrs von 20 cm Länge, welches, da es mit kaltem Wasser gefüllt war, die dunklen Wärmestrahlen abhielt, die Verbrennung und Zerstörung in der Netzhaut doch nicht hinderte.

Diesen Thatsachen entsprechen die Empfindungen der Betroffenen. Alle geblendeten Personen bemerkten, sofort nachdem sie in die Sonne gesehen, eine Verdunklung in der Mitte des Gesichtsfeldes, einen Schleier, Nebel oder Fleck, ein „centrales Skotom“, wie man es in der Gelehrtensprache nennt. Die Sehschärfe sank dabei im Centrum auf 1/2 bis 1/3 der normalen herab und machte es dem Kranken unmöglich, in der Mitte Farben zu unterscheiden. In den leichteren Fällen verschwand das Skotom nach längerer oder kürzerer Zeit, in den schweren bestand es ganz oder teilweise viele Jahre fort. Dementsprechend ging mitunter die mit dem Augenspiegel wahrgenommene Entzündung zurück, mitunter aber kam es zum Schwunde der Netzhaut an der erkrankten Stelle.

Aehnliche Erscheinungen wurden beim Blick in bengalisches Feuer oder beim Blick in die elektrische Sonne, die an der Decke eines Cirkus brannte, auch beim Blick in ein Mikroskop, auf dessen Spiegel plötzlich die Sonne schien, beobachtet. Vor einigen Monaten sah ich sogar dieselben Erscheinungen bei einem Liebhaberphotographen, welcher aus Versehen dem Magnesiumblitzlicht bei dessen Entzündung zu nahe gekommen war.

Die Krankheit ist im ganzen selten, aber nach Sonnenfinsternissen häufen sich meist die Fälle; so hat Professor Jäger in Wien nach einer Sonnenfinsternis im Jahre 1851 14 Erkrankungen zu teilweiser oder gänzlicher Erblindung führen sehen, und nach der Sonnenfinsternis am 17. Mai 1882 ist eine Reihe solcher Fälle in Deutschland und in der Schweiz beschrieben worden. Auch Galilei soll durch Beobachtung der Sonnenflecke sein Augenlicht verloren haben.

2. Nachtblindheit. Wenn nicht außerordentlich starke Lichter plötzlich, sondern große helle Flächen, z. B. Schneeflächen, sonnige Sandflächen, Kalkfelsen, Steppen, weiße Mauern, längere Zeit das Auge blenden, so entsteht nicht Netzhautentzündung, sondern eine eigentümliche Stumpfheit der Netzhaut, die sich mit dem Augenspiegel nicht sehen läßt, sondern sich nur der betroffenen Person dadurch kund [559] giebt, daß sie zwar am Tage ganz gut, am Abend und im Dunkeln aber gar nicht sieht, „nachtblind“ wird, „hühnerblind“ oder „hemeralopisch“ („tagsehend“). Der Lichtsinn muß also herabgesetzt sein. Es ist eine besonders große Menge Licht nötig, damit noch gesehen wird. Wie mißt man nun den Lichsinn? Es geschieht dies nach Aubert in der Weise, daß man in einem Zimmer, das sonst ganz dunkel ist, eine kleine Fensteröffnung immer mehr verkleinert und dabei bestimmt, bei welch kleinster Oeffnung der zu Untersuchende noch große Buchstaben lesen kann. Dieses Verfahren von Aubert wurde 1857 von Förster für einen sehr praktischen Apparat verwendet, das „Photoptometer“., welches eine finstere Stube erspart. Der Kranke blickt in einen schwarzen Kasten, der nur durch eine Oeffnung Licht erhält, die größer und kleiner gemacht werden kann. Das normale Auge ist noch imstande, die großen Buchstaben am Ende des Kastens zu lesen, wenn die quadratische Lichtöffnung nur 2 mm Seite hat. Dann sagt man, „der Lichtsinn (L) ist = 1". Wenn aber jemand an Nachtblindheit leidet, so muß die Lichtöffnung auf 20, 40, 60 mm etc. Seite des Quadrats vergrößert werden, damit die Buchstaben noch erkannt werden, dann sagt man, der Lichtsinn sei = 1/100, 1/400, 1/900 etc. des normalen.

Bei diesen Versuchen muß der Kranke sich erst 10 Minuten im Dunklen aufhalten, sich an die Dunkelheit erst gewöhnen, da niemand, der aus dem Hellen ins Dunkle kommt, sofort Gegenstände erkennt. Wer jemals Kranke in einer Augenklinik besucht hat, weiß, daß wenn er in das dunkle Krankenzimmer trat, er anfangs gar nicht sah, ob überhaupt Personen da seien, daß er aber nach 5 Minuten schon deren Gesichter genau unterschied.

Obgleich nun das Photoptometer bei den Nachtblinden eine sehr große Herabsetzung des Lichtsinnes zeigt, können diese bei Tage oder bei gutem künstlichen Lichte eine vollkommene Sehschärfe und ein gutes Gesichtsfeld haben, aber sobald der Lichtschein unter eine gewisse Reizschwelle sinkt, stolpern sie und rennen überall an. Die Krankheit befällt stets beide Augen, während die Netzhautentzündung immer nur das eine Auge trifft, welches in die blendende Sonne oder das elektrische Licht hineingestiert hat.

Die Nachtblindheit kann aber auch als Begleiterscheinung bei verschiedenen Krankheiten der Aderhaut und Netzhaut vorkommen, bei denen dann der Augenspiegel deutliche krankhafte Veränderungen zeigt. So ist dies bei der gefürchteten Farbstoffeinwanderung in die Netzhaut (Retinitis pigmentosa) der Fall, die besonders häufig Kinder aus Verwandtschaftsehen befällt und in späteren Lebensjahren leider immer zur Blindheit führt.[1] Aber bei der einfachen Nachtblindheit nach Ueberblendung handelt es sich um eine Form ohne krankhaften Augenspiegelbefund, die Netzhaut sieht völlig gesund aus.

Meist ist gar nichts Krankes am Auge zu entdecken, mitunter aber, bei den epidemischen Formen, findet man bei Nachtblinden die sogenannte „Vertrocknung der Bindehaut“ („Xerosis“). Bekanntlich ist der Augapfel mit den Augenlidern durch eine feine Schleimhaut, die „Bindehaut“ (b in Fig. 1), verbunden, die eben davon ihren Namen hat; sie schlägt sich von der hinteren Fläche der Augenlider auf die vordere Fläche des Augapfels herum und bedeckt den ganzen sichtbaren Teil des Augapfels mit Ausnahme der Hornhaut (h). Die Bindehaut ist bei den Gesunden glatt, glänzend und ein wenig feucht. Bei

Fig. 2

der Xerose aber zeigt sich (x in Figur 2) ein feiner weißer Schaum zu beiden Seiten der Hornhaut im Bereiche der geöffneten freien Lidspalte. Wischt man ihn fort, so erscheint darunter eine 4 bis 8 mm lange, etwa dreieckige Stelle der Bindehaut, die eigentümlich fettig, trocken, glanzlos, in feine konzentrische Fältchen gelegt, wie mit Seidenpapier bedeckt ist; die Thränen fließen über die Stelle fort, ohne sie zu benetzen. Nur die Stellen der Lidspalte sind befallen, welche den größten Teil des Tages offen stehen und also am meisten der Luft ausgesetzt sind. Der Schaum erneuert sich nach Entfernung bald wieder.

Im Jahre 1868 bildete ich die Schüppchen und den Schaum ab als verhornte, den Schuppen der Oberhaut ähnliche Zellen; damals kannte man die Bacillen noch nicht. 1883 fand Neißer die Oberfläche dieser Zellen mit kurzen Stäbchen, Bacillen, bedeckt; allein dieselben Bacillen fand man auch bei Personen, die keine Xerose haben. Erreger der Krankheit sind sie also nicht, vermutlich geraten sie aus der Luft auf die Bindehaut und gedeihen dort besonders gut auf den erkrankten Zellen.

Diese Form der dreieckigen Xerose ist ganz ungefährlich und verschwindet meist wieder vollkommen mit der Nachtblindheit. Diese und die mit ihr verbundene dreieckige Xerose haben nur den einen Zusammenhang, daß sie beide Zeichen einer gesunkenen Ernährung des Auges sind.

Die Nachtblindheit tritt oft epidemisch auf. Schon seit vielen Jahrzehnten wurde sie bei Matrosen und Seesoldaten, in Regimentern des Landheeres, in Zuchthäusern, deren Mauern sehr hell weiß gestrichen waren, in Waisenhäusern gefunden und bei Feldarbeitern, die in sonnenhellen Frühlings- oder Sommertagen den ganzen Tag im Freien arbeiteten.

Interessant ist die Mitteilung von Guthrie, daß ein russisches Regiment in dem Kriege zwischen Rußland und Schweden in Finnland in einer hellen Frühlingsnacht auf ein anderes russisches Regiment eingehauen habe; es hatte dieses für Schweden gehalten, weil mehrere 100 Mann nachtblind waren.

Die meisten Schilderungen derartiger Epidemien stammen aus Rußland. So beschrieb Reich eine Epidemie von Schneeblindheit, welche er auf dem Gudaur-Paß im Kaukasus, 2500 m hoch, bei mehr als 70 Arbeitern an der Georgischen Militärstraße beobachtete. Ein Meer von blendendem Lichte wurde von dem Schnee, auf den die helle Märzsonne schien und welcher endlos ausgebreitet lag, zurückgeworfen, so daß bei den Arbeitern bald ein höchst peinliches Gefühl im Auge und Nachtblindheit entstand. Die stärksten Männer unterlagen dieser Blendung, freilich gab es auch andere, die nicht den geringsten Schaden erlitten.

Auch in Bordeaux beobachtete Bitot im Jahre 1863 eine Epidemie von Nachtblindheit bei Personen aus den ärmlichsten Verhältnissen. Ich sah 10 Fälle, die mit Xerose gepaart waren; 3 davon betrafen Geschwister aus einem Dorfe in Schlesien, welche 3 Jahre lang im Frühjahr Rückfälle bekamen, während sie im Winter von beiden Leiden frei blieben.

Unter 70 Glasbläsern fand Jewetzki auch 13 mit Xerose ohne Nachtblindheit; die hohe strahlende Wärme beim Glasblasen (bis zu 65° C) und das starke Schwitzen bei der Arbeit werden von ihm für die Veranlassung der Xerose gehalten.

Das beste Heilmittel für Nachtblindheit ist Abschluß des Lichtes von den überblendeten Augen – ein dreitägiger Aufenthalt im ganz dunklen Zimmer, und die Krankheit ist völlig beseitigt. Celsus, der hervorragende Arzt, der im ersten Jahrhundert nach Christus in Rom lebte, empfahl gegen das Leiden bereits den Genuß von Schafsleber, später wurde von vielen Schweins- oder Rindsleber gerühmt. Unvergeßlich ist mir folgender Fall. Vor 20 Jahren wurde mir ein Gefangener vorgeführt, der infolge längerer Arbeit im Freien an sehr hellen Sommertagen nachtblind geworden war. Ich verordnete drei Tage Dunkelkur und täglich zweimal gebratene Schweinsleber. Am fünften Tage kam der Kranke wieder und behauptete, noch immer abends anzurennen. Da ich keine Krankheit der Netzhaut finden konnte und sonst stets nach 3 Tagen Heilung gesehen hatte, so verordnete ich noch 3 Tage Dunkelkur. „Und wie viel Schweinsleber, Herr Professor?“ fragte der Gefangene. Da ich diese jetzt nicht mehr für nötig hielt, gab er zu, daß er gar nicht mehr nachtblind sei, sondern am vierten Tage die Krankheit nur simuliert habe, um noch mehr Portionen der im Gefängnisse sonst nie verabreichten, ihm sehr gut schmeckenden Schweinsleber zu erhalten. Auch Leberthran wird mit Nutzen verordnet; das wesentlich Wirksame in der Leber wie im Thran ist jedenfalls das Fett. So beobachtete Krawkof eine Epidemie unter russischen Soldaten, welche auf ungenügenden Fettgehalt der Nahrung zurückzuführen war; sobald dieser Mangel beseitigt war, kamen keine neuen Fälle von Nachtblindheit mehr vor.

3. Bindehautentzündung. Sowohl nach dem Blicken in elektrische Bogenlampen als bei Schneeblendung hat man Entzündungen der Bindehaut beobachtet, welche sich durch Thränen, Stiche im Auge, starke Rötung und Schwellung der Bindehaut, Lidkrampf mit Lichscheu geltend machten. Solche Fälle sind vielfach beschrieben, so auch bei der Epidemie auf dem Gudaur-Paß. Diese Erscheinungen gehen meist rasch vorüber.

4. Der Graue Star. Schon seit dem Anfang dieses Jahrhunderts ist es ausgesprochen worden, daß übermäßige Lichtwirkung [560] namentlich bei Feuerarbeitern zur Trübung der Krystalllinse, zum „Grauen Star“, führt. Das Wort „Star“ stammt von derselben Wurzel wie „starr“ her, da die Star-Blinden starr vor sich hin blicken. Bei Schmieden, Schlossern und Glasbläsern beonachtet man besonders häufig Star; wahrscheinlich verursacht die Austrocknung des Auges bei ihnen eine mangelhafte Ernährung und daher Trübung der Krystalllinse. Unter 442 Glasbläsern fand Maihöfer 9% Starkranke, und zwar in dem jugendlichen Alter unter 40 Jahren.

Daß auch der Blitz Star erzeugt, wurde von Professor Leber in Heidelberg machgewiesen; dabei freilich kommen auch noch andere tiefere Augenleiden vor, so Entzündung und spätere Schrumpfung der Sehnerven. Es ist möglich, daß beim Blitze, wie Leber vermutet, das Eiweiß in der Linse gerinnt, ähnlich wie die Milch beim Gewitter.

Soviel über die Arten der Blendung. In einem zweiten Artikel soll von den Mitteln zu ihrer Verhütung die Rede sein.


„Up ewig ungedeelt!“

Novelle von Jassy Torrund.

 (2. Fortsetzung.)

Als Gerhard Wien der Nichte des Hauses bei Tisch vorgestellt wurde, streifte er mit einem lächelnden Blick das schreckliche rot und blaue Kleid, das er augenblicklich wieder erkannte. Doch erlaubte er sich nicht die leiseste Anspielung. Frau Genthin mochte ihn schon ein wenig über den Barometerstand belehrt haben. Ob auch die junge Schleswig-Holsteinerin in dem vom Himmel geschneiten „Onkel“ den Empfänger jenes Sträußchens erkannte, das vermochte Gerhard freilich nicht zu entscheiden. Fräulein Kattein besaß eine große Selbstbeherrschung. Kein Mensch, der sie kannte, würde in dieser wortkargen jungen Dame mit dem kalten hochmütigen Blick das ausgelassene Katteeker wiedererkannt haben. Selbst die schwarzen Zöpfe hingen ehrbar und gelangweilt über die Stuhllehne herunter, als lohne es nicht der Mühe, „diesem Preußen“ zu zeigen, wie schwer und glänzend sie seien, wie lustig sie zu wippen und tanzen vermochten, wieviel Uebermut und Lebenslust im Grunde doch in ihnen sich offenbaren könnte.

So vergingen einige Tage. Frau Genthin erfüllte mit der ihr eigenen anmutigen Würde und Freundlichkeit ihre Pflichten gegen jeden ihrer Gäste. Katteeker dagegen war feindselig und unnahbar für alle, ihre schwarzen Augen flammten zuweilen auf wie in Haß oder Zorn, wenn sie sah, wie die Kinder ihrem neuen Onkel mit Leib und Seele anhingen, wie heiter und freundlich die Tante mit dem jungen Offizier verkehrte, der ihrer eigenen kleinen Persönlichkeit anfangs mit höflicher Verwunderung, später in stummer Gelassenheit begegnete.

Mit Christine und deren Pflegebefohlenen stand es nicht besser. Da hatte denn die kluge Hausfrau genug zu thun, unerquickliche Scenen durch ein Scherzwort zu kürzen, heimliche Feindseligkeiten stillschweigend zu übersehen und einen offenen Haßausbruch mit weiblichem Takt zu verhindern.

Für die guten Leute im Städtchen war das epheuumrankte Haus mittlerweile ein Gegenstand höchster Neugier und zugleich des tiefsten Abscheues geworden. Wenn sie des alten Doktors drastisches Wort auch nicht gerade zur That machten und Frau Genthin hinausführten, sie zu steinigen, so thaten sie die „Fremde“ dafür desto kräftiger in Acht und Bann. Keine Seele ließ sich bei ihr blicken, und begegnete ihr auf der Straße eine der bekannten Damen, so wandte diese sicherlich den Kopf und betrachtete so angelegentlich die Messingteller des Barbierladens oder die appetitlichen Leberwürste in Meister Habermanns Schaufenster, als hätte sie in ihrem Leben noch nichts Interessanteres gesehen. Kurz und gut, diese Tage waren sowohl in als außer dem Hause recht unerquicklich für die junge Frau, umsomehr, da sie auch keine Nachricht von ihrem Mann besaß. Die anderen Einwohner von P. waren gut genug unterrichtet; einer oder der andere der Herren hatte je und je geschrieben und den Zurückgebliebenen Bericht erstattet; und all diese Briefe waren im Posthause vorgelesen und besprochen worden. Zu Frau Hedwig aber drang keine Kunde. Man zuckte die Achseln, wenn die Rede darauf kam. Wer hätte der verfemten „Preußin“ wohl die Nachricht von dem Mißerfolge der schleswig-holsteinischen Sache bringen wollen? Oder der „ungetreuen“ Frau die Grüße ihres „hintergangenen“ Gatten? Das that keiner, keiner von allen!

Fremder denn je stand Hedwig ihrer Umgebung gegenüber. Jene alten Vorurteile, die man ihr anfangs entgegengetragen und die das liebenswürdige, feine und heitere Wesen der jungen Frau zum Schweigen gebracht hatte, erwachten aufs neue. Ja, es gab Leute, welche behaupteten, an der ganzen Einquartierung, die sie wie eine widerwillige Last trugen, sei nur allein Frau Genthin schuld. „Denn wenn se nich wesen weer, so harrn[2] de Preußens dat doch wul insehn, dat wi nix vun ehn weeten wüllt un weern uns mit de Inquattierung vun’t Liew bleewen[3]! Dar hett keen anner schuld to as se – un wi wet ok wul, worüm dat se dat dahn hett ...“

Verständnisvolle Blicke und Winke ergänzten das Fehlende, und bald wanderte die schönste Klatschgeschichte von Haus zu Haus, und wenn sie auch nicht von jedem geglaubt wurde – wiedererzählt wurde sie sicher von jedem.

Unterdes saß die geschmähte Frau ruhig in ihrer Kinderstube an der Wiege des „Komponisten“ und gab sich Mühe, den aufgeregten kleinen Kerl in Schlaf zu singen. Aber es war eine undankbare Aufgabe, denn alle fünf Minuten unterbrach er die sanfte mütterliche Stimme mit seinen eigenen ohrzerreißenden Tönen.

In diesen anmutigen Wechselgesang von Mutter und Sohn stürmte eines Tages plötzlich das Katteeker hinein, warf sich vor ihrer Tante nieder und schluchzte zum Erbarmen.

„Mein Gott, was ist denn los?“ fragte diese erschreckt und hielt mit ihrer dreifachen Thätigkeit von Wiegen, Stricken und Singen inne, selbst der „Komponist“ verstummte in der richtigen Erkenntnis, daß das Katteeker ihm „über“ sei.

Statt jeder Antwort schlug Marie die Zipfel ihrer Schürze auseinander – darin lag der geliebte „Schlau“, hatte alle Viere von sich gestreckt und that, als wenn er tot wäre.

„Ist er tot?“ rief Frau Genthin bestürzt und versuchte, den Kopf des Tieres aufzurichten. Da zuckte der Hund zusammen, schaute mit traurigen Augen auf und begann leise zu winseln.

„Der alte scheußliche Schlächterköter hat ihn gebissen,“ schluchzte Marie und streichelte ihres Lieblings weiches Fell. Jetzt erst entdeckte Frau Genthin eine große häßliche Wunde am Hals des Tieres, aus der das Blut tropfenweise auf Maries weiße Schürze niedersickerte.

„Wir müssen die Wunde auswaschen und verbinden,“ sagte sie kurz entschlossen, legte ihr Strickzeug hin und stand auf. Aber so leichten Kaufs sollte sie nicht davonkommen.

Fränzchen fand es empörend, daß er, des Hauses einziger Sohn, über dem dummen Köter vernachlässigt werden sollte. Er war der Kronprinz, das wurde ihm tagtäglich in allen Tonarten vorgesungen, und darum war er berechtigt, die höchsten Ansprüche an Welt und Leben, vor allen Dingen aber an seine Mama zu stellen. So mir nichts dir nichts davonlaufen und ihn hier allein lassen – das wäre noch schöner! Hatte er bis jetzt geschwiegen und seine große weinende Kousine verwundert angestarrt, so hatte jetzt seine Geduld mit einmal ihr Ende erreicht, und er begann just bei den Takten in seine Ouverture einzusetzen, wo ein ungeheures Fortissimo vorgeschrieben und auch im Interesse der Wirkung unbedingt nötig war.

Das half denn auch diesmal. Seine Mutter fuhr herum und gab der Wiege einen kleinen unsanften Ruck.

„Du siehst ja – ich kann jetzt nicht fort,“ seufzte Frau Hedwig. „Laß Dir von Stine helfen.“

„Die ist so grob und herzlos,“ war die Antwort.

„Dann thu’s selber,“ schlug die Tante vor. „Essig und Wasser . . .“

„Ich kann nicht, Tante – das Loch ist so gräßlich tief!“ sagte Marie schaudernd.

„Dann bleib’ Du so lange bei Fränzchen.“

„Nein – er brüllt so fürchterlich!“

Diese Thatsache ließ sich leider nicht leugnen, und die geplagte Mutter war, was ihr nicht oft begegnete, im Begriff, einmal recht ungeduldig zu werden in diesem Dilemma zwischen brüllendem Sohn,

[561]

Originalzeichnung von M. Nonnenbruch.

Gänselieschen.

Hochsommerzeit war’s, wo durch Blättergewirr
Goldfunkelnde Lichter glimmen,
Wo die heißen Lüfte voll Lerchengeschwirr
Und voll Grillengezirpe schwimmen;

Wo zur sonnendurchfluteten Mittagszeit
Verhallende Glocken wehen –
Da sah ich in grüner Waldeinsamkeit
Das Glück, das leibhaftige, gehen.

Die kurzen Locken vom Winde zerzaust,
Gerötet die frischen Wangen,
Eine schwanke Gerte hielt die Faust,
Und die roten Lippen sangen;

Die Füße nackt und gebräunt die Brust,
Das Röckchen entfärbt und verwaschen,
Doch das Kindergesicht in sorgloser Lust,
Als trüg’ es voll Gold die Taschen.

Die blitzenden Augen so sonnig groß,
Voll jugendfrischer Gedanken,
In den flatternden Haaren leicht und los
Eine Handvoll blühender Ranken.

Und das Lachen wie Vogelton so lind
Und so sprudelnd wie Quellengeriesel –
Und es ist doch im Dorf nur das ärmste Kind,
Die lustige Gänseliesel.
Und so sprudelnd wie QuelF. Vochazer.

[562] schluchzender Nichte und wimmerndem Hund, als es kräftig an die Thür pochte und jemand fragte: „Was giebt’s, Hedel? Kann ich vielleicht helfen? Will der Kronprinz denn gar nicht schlafen?“

Marie vergaß für den Augenblick ihren Kummer, schüttelte ihre Zöpfe und murmelte ärgerlich: „Der Preuße!“ Aber ihre Tante rief mit wahrer Erleichterung: „Ja, ja, komm’ nur herein, Gerhard, wir können Deine Hilfe gerade brauchen.“

„Ist derJunge krank?“ fragte Gerhard, besorgt nähertretend.

Frau Hedwig hielt ihre Nichte, die im Begriff stand, sich selbst und ihren Hund aus der verhaßten Nähe des Lieutenants zu flüchten, kurzer Hand an den Rockfalten fest und entgegnete ruhig: „Nein – der Patient ist hier, Gerhard.“

Marie warf den Kopf zurück, die kleinen scharfen Zähne knirschten aneinander. Das wilde Katteeker stand sprungbereit – am liebsten wäre es dem Offizier mit beiden Händen ins Gesicht gefahren. Aber der ließ sich nicht einschüchtern, trat heran und nahm mit sicherem Griff das verwundete Tier aus der Schürze. Es wimmerte laut, und diesen offenbaren Eingriff in seine Rechte benutzte Fränzchen zu einem neuen Angriff auf die Ohren der Anwesenden. Nun war die mütterliche Langmut aber völlig erschöpft, ärgerlich schüttelte Frau Hedwig dem kleinen Ruhestörer die Decke zurecht und rief über die Schulter zurück: „Thut mir den einzigen Gefallen und geht! Der Junge kommt sonst wahrhaftig nicht zur Ruhe!“

Lachend schritt der Lieutenant hinaus und ins Wohnzimmer hinüber, und nach einigem Zögern folgte Marie ihm nach. Was blieb ihr auch anders übrig? Es wäre doch zu unmenschlich gewesen, das kranke Tier schutzlos den Händen des Feindes zu überlassen! Aber wie rücksichtslos von Tante Hedwig, sie hinunszuschicken!

Zum erstenmal waren die beiden miteinander allein, zum erstenmal auf sich selbst angewiesen. Mißtrauisch überwachte Marie jede Bewegung Gerhards. Man sah es ihren finsteren Blicken an, daß es nur eines einzigen Funkens bedurfte, den lange aufgespeicherten Zündstoff zum Explodieren zu bringen. Und Gerhard selber war so unvorsichtig, diesen Funken ins Pulverfaß zu werfen.

Das erste nämlich, was er that, war, daß er das schmutzige blutbefleckte Band vom Halse des stöhnenden Tieres löste. Marie riß es ihm aus der Hand, es flimmerte in den schwarzen Augen und in jäh ausbrechender Heftigkeit stieß sie hervor. „Sie haben kein Recht, es abzunehmen!“

„Das Recht des Pflegers,“ entgegnete er ruhig. „Das Band würgte den Hund, sehen Sie, jetzt schnauft er lange nicht mehr so.“

„Er wird ein neues Band bekommen.“

„Das steht in Ihrem Belieben, Fräulein Kattein. Darf ich jetzt um etwas lauwarmes Wasser bitten?“

Mit scheuem Erstaunen blickte sie zu ihm auf, wäre er heftig geworden wie sie, so hätte er nichts bei ihr erreicht. Seine ruhige Gelassenheit aber, die sich gar nicht um ihren Zorn zu kümmern schien, machte auf sie einen größeren Eindruck, als sie sagen konnte. Schweigend ging sie hinaus und holte das Verlangte herbei. Die Wunde wurde ausgewaschen und mit leichter geschickter Hand verbunden. Bei alledem hatte das junge Mädchen tapfer und willig Hilfe geleistet – es war, als hätte das wilde Katteeker unwillkürlich zu fühlen begonnen, daß es seinen Herrn und Meister gefunden. Und als die verhaßte Feindeshand den kleinen Patienten in die Sofaecke bettete, da wich auch von dem hübschen Gesichtchen der finstere Trotz, der diesem so fremd und häßlich stand wie eine Maske. Katteeker sah, wie das kranke Tier dankbar die sorgliche Hand des Pflegers leckte, und plötzlich schmolz die starre Eisrinde um ihr junges Herz. Ob sie wollte oder nicht, sie durfte doch nicht undankbarer sein als das unvernünftige Tier dort, sie mußte reden – und so sagte denn auf einmal eine leise unsichere Stimme hinter Gerhards Rücken: „Ich danke Ihnen, Herr . . .“

Das Wort „Lieutenant“ brachte sie aber doch nicht über die Lippen, das erinnerte sie gar zu sehr an den Krieg und an die alte Feindschaft.

Erstaunt wandte er sich um. Es war das erste Mal, daß sie ihn anredete, und der weltgewandte Offizier wußte sich bei diesen überraschenden Worten seiner bisher so erbitterten Feindin nicht sogleich auf eine passende Entgegnung zu besinnen. Aber er sah sie an mit einem langen forschenden Blick und las ihr ohne weiteres die Gedanken vom Gesicht. „Wenn Ihnen der preußische Lieutenant, der übrigens nur ein Reservelieutenant ist, gar zu verhaßt ist, gnädiges Fräulein, so sagen Sie ‚Oberförster‘, denn das bin ich von Haus aus.“

Oberförster – das Wort weckte in Katteekers Herzen heimatliche Erinnerungen an das Elternhaus und den herrlichen grünen Wald und unwillkürlich entfuhr ihr der Ausruf: „Oberförster? O, das war mein Vater auch! Aber bei uns nennt man es Hegereuter,“ fügte sie mit kindlichem Stolz hinzu. „Allein weshalb . . .?“

„Weshalb ich als Offizier hier stehe?“ ergänzte er lächelnd. „O, ganz einfach. Als die Reserve einberufen wurde, gab ich die Hasenjagd auf und nahm den Degen in die Hand, um die ,tapperen Landsoldaten‘ aus Ihrer schönen Heimat zu verjagen, mein Fräulein.“

Die letzten Worte, so harmlos sie auch gesprochen wurden, berührten wieder den wunden Punkt in Maries Seele. „Sie hätten ruhig weiter Hasen schießen sollen. Wir brauchten Sie gar nicht, Sie alle zusammen!“ rief sie mit neu erwachendem Trotz.

„Es ist ja jetzt Schonzeit, weiß die Hegereuterstochter das nicht?“ fragte er mit seinem gelassenen gutherzigen Lächeln. Und da sie schwieg und finster vor sich niedersah, fügte er hinzu: Warum hassen Sie uns denn eigentlich so sehr, Fräulein Kattein? Haben wir Ihnen so Böses gethan?“

„Da fragen Sie auch noch?“ stieß sie heftig hervor. „Wenn Sie’s nicht wissen, nun dann will ich’s Ihnen sagen! Mein Vater war des Herzogs Freund, und als 1848 die neuen Gesetze aufkamen und es so schlimm mit uns wurde, daß kein Mensch es mehr aushalten konnte, da ging mein Vater hin und sagte: ‚Durchlaucht, sollen wir nicht die Preußen bitten, daß sie herkommen und uns helfen?‘ Und der Herzog that es denn auch. Mein Vater und viele, viele andere Schleswig-Holsteiner kämpften bei Idstedt gegen die Dänen, und alles wäre noch gut geworden, wenn uns nicht die Preußen im Stich gelassen hätten. ,So, nun wollen wir nicht mehr! Seht zu, wie Ihr allein fertig werdet!‘ sagten sie. War das nicht schlecht von ihnen? Aber das war noch lange nicht alles. Sie erlaubten nicht einmal, daß wir allein weiterkämpften, sondern, nachdem sie ihren Frieden mit den Dänen gemacht hatten, nahmen sie uns ganz einfach die Waffen weg. Und nachher kamen die Dänen wieder ans Regiment, und es war fürchterlich. Unser guter Herzog mußte fort, und mein Vater und viele, viele andere wurden aus dem Lande gejagt. Wir mußten aus unserm schönen Forsthaus mitten im Walde heraus, der arme Vater mußte mit uns auswandern, und das alles wegen der Preußen, weil sie so falsch und treulos waren. Ja, das ist buchstäblich wahr!“ rief Marie mit Thränen bitteren Zornes in den dunklen Augen.

Es war das zweite Mal binnen weniger Tage, daß Frau Hedwigs freundliches Wohnzimmer der Schauplatz solch heftiger Erörterungen wurde, und keine Aussicht war vorhanden, daß sie diesmal bald unterbrochen würden, denn drüben hörte man immer noch das stoßweise Aufschluchzen der weinenden Kinderstimme.

Gerhard Wien hatte das erregte Mädchen ruhig aussprechen lassen, während seine blauen Augen sie unverwandt und mit steigendem Interesse betrachteten. Und plötzlich schien es ihm, als ob es gar kein kleines thörichtes Backfischchen mehr sei, das da vor ihm stand und sich ereiferte, sonderm ein selbstbewußtes, kluges und stolzes Weib, die Vertreterin schleswig-holsteinischer Eigenart. Dem kindischen Trotz hätte er wohl mit einem Scherzwort geantwortet, so vermochte er nur mit vollem Ernst und dennoch begütigend zu sagen: „Aber, Fräulein Marie, es waren doch die Dänen, die Ihren Herzog, Ihren Vater und viele deutschdenkende Männer vertrieben, nicht wir!“

Doch das Katteeker hatte seine preußenfeindliche Lektion zu gut gelernt und ließ sich nicht so leicht aus dem Text bringen. Sie warf energisch den Kopf zurück. „Die Dänen sind unsere angeborenen Feinde, die hassen wir so wie so,“ gestand sie kaltblütig. „Aber die Preußen waren doch die indirekten Urheber von Vaters Verbannung und von all dem Elend, das seitdem über unser Land gekommen ist. Die Dänen hätten uns ja gar nichts anhaben können, wenn Preußen uns nur ein bißchen beigestanden hätte!“ schloß sie mit vollster Ueberzeugung.

„Wollen wir uns nicht lieber setzen?“ fragte Gerhard ruhig und schob seiner jungen Gegnerin einen Stuhl hin. „Dann will ich mir Mühe geben, Ihnen die Sache einmal in anderem Lichte zu zeigen.“

Ungern folgte Marie der Einladung, doch wurde sie in so ernstem Ton gesprochen, daß es schwer war, zu widerstehen. So drückte sie sich neben den kleinen Hund in die Sofaecke und blieb dort in sich zusammengekauert sitzen, mit scheuen Augen zu dem großen blonden Mann hinübersehend. Gerhard begann nun, in seiner Weise dem Mädchen die Vorgänge von 1848 bis 1852 zu [563] erklären. Er sagte ihr, daß es nicht immer in der Willkür eines Volkes und seines Fürsten liege, so oder so zu handeln, wie das Herz es eben verlange, daß immer eins vom andern abhängig sei, daß ein Volk sich manchmal fügen müsse, selbst gegen seine bessere Einsicht, um größeres Unheil zu verhüten. Er sprach gut, mit jener warmen Begeisterung, die ihren Eindruck auf die Jugend nie verfehlt, die auch zu diesem jungen Herzen sprach, so sehr es sich auch sträubte.

„Und was auch immer gefehlt sein mag,“ so schloß er, „ein gerechtes Herz darf überhaupt das schuldlose Volk nicht entgelten lassen, was die Diplomaten vielleicht gesündigt haben. Bedenken Sie doch einmal, weshalb wir herkommen! Ist das nicht genug, Fräulein Marie?“

Und da sie nicht antwortete, sagte er nachdrücklich: „Es ist doch wahrlich kein Kinderspiel, Blut und Leben einzusetzen, um ein Nachbarvolk aus der Knechtschaft zu erlösen. Können Sie das denn nicht begreifen, Kind?“

Sie schwieg noch immer und starrte hartnäckig zu Boden. Da stieß er seinen Stuhl zurück und rief ungeduldig. „Oder finden Sie das dänische Joch etwa so süß?“

„Ich? Gottbewahre!“ fuhr sie empört auf, und die schwarzen Eichkätzchenaugen funkelten den preußischen Jäger zornig an.

„Nun, was dachten Sie denn dann?“ forschte er mit einem tiefen Blick an diese sprühenden Augen, die ihm besser gefielen als all die sanften Frauenaugen, die er je im Leben gesehen hatte.

„Daß ich eine Schleswig-Holsteinerin bin,“ sprach das junge Mädchen stolz.

„Und daß Sie es bleiben möchten?“ fragte er mit sonderbarer Betonung.

Das Katteeker sah den Offizier verständnislos an. „Ja – natürlich!“ gab sie unbefangen zurück.

Ein leiser ungeduldiger Seufzer, dann eine Pause und endlich die Frage. „Wollen wir Waffenstillstand machen, Fräulein Marie?“

Nach kurzem Besinnen schlug sie in die dargebotene Hand ein, und ein prüfender, aber nicht unfreundlicher Blick streifte sein offenes männliches Antlitz.

„Also Friede?“

„Nein, nein, nur Waffenstillstand!“ rief sie hastig und lief hinaus. Gerhard Wien aber blickte ihr nach, als hätte er seine Freude an diesem Trotz und Stolz.

Von Stund’ an war das Katteeker wieder mit der alten Ausgelassenheit auf dem Posten und niemand im Hause durfte sich über allzu große Ruhe beklagen. –

Frau Genthin stand in ihrer Speisekammer, ganz vertieft in die friedliche Beschäftigung, ein paar Dutzend Butterbrote für ihre großen und kleinen Pflegekinder zu streichen. Da erhob sich nebenan in der Küche ein energischer Widerspruch von seiten der alten Stine.

„Ne, ik dah’t nich, Frölen! Ik bün all to old, üm nu noch Französch to liehrn[4], un wenn Se’t dörchut wüllt, denn stelln Se Duris man darto[5] an!“

Frau Hedwig wollte sich schon nach der französischen Lehrmeisterin umsehen, da wurde ihr der Schlächter gemeldet. Aber die Aufklärung sollte dennoch für sie kommen.

Kurz vor Tisch, als die ganze Familie im Wohnzimmer versammelt war, that sich die Thür auf, und das jugendliche Kindermädchen erschien, sah sehr rot und sehr unglücklich aus und meldete stockend: „Madam’ is Herr Wien.“

Erstaunt blickte die Hausfrau auf. „Was willst Du, Doris?“

„Madam’ – Madam’ is – is Herr Wien,“ stotterte Doris und krümmte sich förmlich vor Verlegenheit.

„Ach, dieses Plattdeutsch!“ seufzte die Hausfrau ratlos. „Das werde ich wohl in Ewigkeit nicht lernen. Sprich deutlich, Doris, ich verstehe kein Wort. „Was soll ich?“

Da war’s vorbei mit aller Fassung; beinahe schluchzend stammelte Doris: „Nix nich, Madam’! Man de Supp is upgewen,[6] un de Terrin’ staht uppen Disch, un uns’ Frölen sä[7] jo ...“

Jetzt tagte Frau Genthin das Verständnis. „Dacht’ ich mir’s doch!“ rief sie, halb lachend, halb ärgerlich und sah sich nach ihrer Nichte um. Aber Katteeker war spurlos von der Bildfläche verschwunden, und auch Doris benutzte die Gelegenheit, sich aus dem Staube zu machen, wurde jedoch von der Hausfrau erwischt und ins Verhör genommen. Lachend kehrte sie zu ihrem Gast zurück.

„Du wolltest ja immer nicht glauben., was für ein Ausbund das Mädel ist – da hast Du nun einen von ihren Streichen,“ sagte sie. „Meine Nichte hat sich in anerkennenswertem Lehreifer abgequält, unserer Doris ein paar französische Brocken beizubringen. Und was ist das Ende vom Liede? Daß meine gute Doris sich das unverständliche ‚Madame, il est servi‘ ganz einfach etwas mundgerechter macht und nun auf gut Plattdeutsch sagt: ,Madam’ is Herr Wien‘. Also bitte zu Tisch, Herr Vetter!“ schloß die Hausfrau in heiterem Ton, rief die Kinder herbei und schritt mit ihrem Gaste ins Eßzimmer.

Es war nur ein Scherz, wie Katteeker sie das Jahr über dutzendweise zu liefern pflegte, aber hätte sie geahnt, wie dieser harmlose Scherz zum geflügelten Wort werden und in hundertfacher Verdrehung seine Runde durch die ganze Stadt machen würde, nie hätte sie sich und Doris mit dem Einstudieren französischer Redensarten gequält.

Die alte Stine kam vom Markt zurück, stellte ihren schwerbeladenen Korb in die Küche und stieg sogleich mit entschlossenen wuchtigen Schritten die Treppe hinauf und geradeswegs ins Kinderzimmer, wo „Neihersch“, wie jeden Sonnabend, über ihrer Arbeit saß. Breitspurig stellte sie sich vor die kleine Verwachsene hin, und da diese nicht sofort Auge und Ohr für sie war, rief sie herrisch: „Jette Hitzfeld!“

„So heet ik,“ gab die Angeredete mit voller Seelenruhe zurück und machte den letzten Stich an einem kunstgerechten Flicken.

Stine sah ein, daß „Neihersch“ durchaus nicht willens war, ihr entgegenzukommen; deshalb trat sie noch dichter heran und fragte in geheimnisvoll vertraulichem Flüsterton: „Neihersch, sall ik nu wohl to’n irsten März künnigen?“

„Worüm nich?“ fragte die Näherin ohne eine Spur von Verwunderung zurück, denn so lange sie hier im Hause nähte, hatte Stine fast jedes Vierteljahr diese Frage an sie gerichtet. Der geringste Anlaß genügte, um die brave alte Person vor einen so folgenschweren Entschluß zu stellen.

„Ik bün ’n anstännig Mäten, Neihersch, un hev ok all mien Dag bi anstännige Lüd deent[8], Neihersch,“ sagte Stine mit schwerem Nachdruck.

„Weet ik. Weet ik allens, lütt Stine.“

„Jo – un mi kann nüms[9] wat nachsegg’n,“ betonte Stine mit wachsendem Groll.

„Blot, dat Se ’n lütt beten wat knurrig un hittlig[10] sünd, Stine,“ bemerkte „Neihersch“, neugierig, wo es heute hinaus sollte.

„Je, dat lat ik gell’n,“ stimmte die Köchin wohlgefällig bei, als hätte „Neihersch“ ihr soeben die größte Schmeichelei gesagt. Dann, nach einer Pause. „Neihersch – weeten’s, wat de Lüd segg’n? De Lüd segg’n: Herr Wien un Fru Genthin! Un kiek, dat paßt mich nich, un darum will ik künnigen.“

„Neihersch“ nahm ein ganzes Bataillon Stecknadeln aus dem Munde, nickte bedächtig und meinte mit dem ihr eigenen Humor: „Süh, also dar kiekt de Voß[11] ut Lock herut! Wo ik mi dat nich gliek dacht hev! Man, dat hett Ji negenkloken[12] Lüd schön gegriesmult[13], Ji alltosam – denn dat’s doch man all dumm Tüg un Snakeri!“

Die lustigen braunen Augen blinzelten der Köchin vergnüglich zu. „Lütt Stine, weeten Se wat? Von so was muß man hochdeutsch snaken, un denn heißt das: Herr Wein un Fräulen Kattein!“

„Wa – at?“ Stine starrte die kleine Person mit offenem Munde an; sollte das nun Scherz oder Ernst sein? Als sie aber sah, daß „Neihersch“ ernsthaft weiter nähte, rieb sie ihre durchfrorenen blauroten Arme und murmelte ratlos und ungewiß: „So herüm? Hm! Weeten’s dat för gewiß, lütt Jette? Na, denn sall’k also nich künnigen?“

Als keine Antwort erfolgte, nur ein schwer zu deutendes Achselzucken, ging Stine in tiefem Bedenken in ihre Küche zurück und sprach zu sich selber: „Dar hev ik de Fru nu Unrech dahn! Na – denn so will ik ok hüt un düssen Dag mien Blankgeschirr mal wedder putzen, dat se dar doch’n Freud’ an hebbn sall!“ Mit diesem redlichen Vorsatz brachte die treue Seele ihr mahnendes Gewissen zum Schweigen.

Als Frau Genthin an diesem Abend der kleinen Näherin ihren Lohn ausbezahlte, ahnte sie nicht, daß Jettchens kluger Sinn wieder einmal die drohende Katastrophe glücklich abgelenkt und daß der europäische Friede im Genthinschen Hause vorläufig keine weitere Störung zu befürchten hatte. (Fortsetzung folgt.)

[564] 0


Blätter & Blüten

Die „Gesellschaft der Waisenfreunde“. In aller Stille setzt dieser wahrhaft gemeinnützige Verein, über dessen Wirksamkeit die „Gartenlaube“ schon wiederholt berichtet hat (zuletzt in Nr. 41 des Jahrgangs 1892) seine segensreiche Tätigkeit fort, zum Heil der armen kleinen Wesen, die, mittellos und ihrer Ernährer beraubt, ohne barmherzige Hilfe einem traurigen Lose verfallen müßten, zum Heil aber auch manches still trauernden Ehepaars, dem ein beglückender Ersatz für die schmerzlich vermißten eigenen Kinder geworden ist. 69 Kinder haben die „Waisenfreunde“ bis jetzt untergebracht, und der Geschäftsführer des Vereins, Schuldirektor Karl Otto Mehner in Burgstädt, berichtet mit Freuden, daß er die im vergangenen Jahre besuchten Schützlinge durchweg bei guter Gesundheit und in guter geistiger Entwicklung fand. „Sie bereiteten ihren Eltern Freude und Glück, wie sie selbst glücklich waren“, sagt er, und er bedauert nur, daß so manche Versorgung an unmöglichen Bedingungen, sei es der in Aussicht genommenen Pflegeeltern, sei es der Verwandten des unterzubringenden Kindes, scheiterte. Kam es ja doch z. B. vor, daß Großeltern dem Verein ein Enkelkind nur unter der Voraussetzung übergeben wollten, daß ihnen für die Zeit, da sie selbst das Kind in Pflege gehabt hatten, Kostenersatz geleistet werde!

Nach den Erfahrungen Mehners richtet sich das Begehren der annehmenden Eltern vorzugsweise auf eheliche Vollwaisen, insbesondere Mädchen im Alter von 1 bis 3 Jahren. Es wäre zu wünschen, daß vorurteilslose Eltern sich auch nichtehelich geborner Kinder erbarmten, sie würden eine ebenso große Liebesthat, wenn nicht eine größere, verrichten. Zu bedauern ist ferner, daß für kleine Knaben weniger Nachfrage ist. Und doch könnten Eltern, die in großen Städten mit guten Schulen leben, manchem befähigten Knaben eine schöne Zukunft bereiten, zu ihres eigenen Herzens Freude!

Indem wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß es auch unter den Lesern der „Gartenlaube“ dem Vereine nicht an thätiger Unterstützung fehle, wünschen wir seinem Wirken auch fernerhin reichen Erfolg.

Vogelherzen. Man spricht so oft von dem „kleinen“ Vogelherzen und hebt mit Bewunderung hervor, wie viel Liebe und Leidenschaft darin wohne. Auch die Naturforscher bewundern das Vogelherz; nur erscheint es ihren Blicken nicht klein, sondern ungewöhnlich groß. Es muß ja alles mit richtigem Maß gemessen werden und das Maß für die Größe eines Herzens ist sein Gewicht, verglichen mit dem Gesammtgewichte des Körpers, durch den es das Blut treibt. In diesem Verhältnis betrachtet, erscheint nun das Vogelherz weit größer als das Menschenherz. Je mehr der Körper arbeitet, desto mehr wird auch das Herz in Anspruch genommen. Und der Vogel zählt ohne Zweifel zu den beweglichsten und leistungsfähigsten Geschöpfen; er fliegt, läuft, springt und schwimmt. Dabei überholt die Schwalbe den Eilzug, der Haubentaucher hält im Schwimmen „Schritt“ mit dem Dampfschiff und der Falke trägt die bis 11/2 Kilo schwere Beute hoch in die Lüfte, ohne daß seine Flugkraft und seine Schnelligkeit Einbuße erlitten. Nach einer Berechnung des berühmten Vogelkundigen Marey verrichtet eine Möwe, die nur 623 Gramm wiegt, in der Sekunde 3,8 Kilogramm Arbeit; ein 75 Kilogramm schwerer Mensch müßte, um seiner Größe entsprechend dieselbe Leistung zu vollbringen, 460 Kilogramm in der Sekunde 1 Meter hoch heben. Versucht er es, arbeitet er als Athlet, so wächst sein Herz übermäßig. Kein Wunder also, daß die beweglichen Vögel ein für ihre Körpermaße auffallend großes oder schweres Herz besitzen.

Im Durchschnitt wiegt das normale Herz beim Menschen 5 Tausendstel des Gesamtgewichtes des Körpers, oder die Herzgröße beträgt, wie man sich ausdrückt, 5 aufs Tausend des Körpergewichts. Jüngst hat nun Dr. Carl Parrot die Herzen verschiedener Tiere und Vögel gewogen und, in Tausendsteln des Körpergewichts ausgedrückt, folgende Durchschnittszahlen erhalten: Die Herzgröße beträgt 4,52 beim Schwein, 4,59 beim Rind, 6,01 beim Schaf, 6,31 beim Pferd; die Haustiere stehen also in dieser Beziehung dem Menschcn ziemlich nahe. Das wilde, viel herumlaufende Reh besitzt ein schwereres Herz von 11,5. Die meisten Vögel übertreffen aber in dieser Hinsicht alle bekannten Tiere. Die Herzgröße der Brieftaube beträgt 12,25, die des Haussperlings 16,22, des Baumfalken 16,98 und das Herz der Singdrossel wiegt gar 25 Tausendstel des Gesamtgewichts des Vogelkörpers; folglich ist das Herz der Singdrossel im Verhältnis fünf mal so groß wie das des Menschen. J.     

Ueber die Wertschätzung der Bücher im Mittelalter. Im Mittelalter, als es noch keine gedruckten, sondern nur mit der Hand mühsam geschriebene Bücher gab, wurden diese als ein kostbarer Schatz betrachtet, der mit großer Sorgfalt vor Entwendung behütet wurde. Die Bibliotheken waren damals vorzugsweise Eigentum der Kirche; ihre Vermehrung erfolgte demgemäß beinahe ausschließlich durch geistliche Personen. Namentlich war es gebräuchlich, beim Eintritte ins Kloster Bücher zu opfern, um sich eines freundlichen Entgegenkommens zu versichern. Im Kloster St. Mesmin bei Orleans brachte der Abt Helias die Chronik des heiligen Hieronymus, welche er von einem Mönch hatte schreiben lassen, am Gründonnerstag auf dem Altare dar und verfluchte feierlich jeden, der sie dem Kloster entfremden würde. Als der Dekan zu Jllmünster 1422 seinen „allerliebsten Schatz, das ist mein Bibel und andre Volumina meiner Bücher“ dem Kloster Untersdorf zu einem Jahrtag vermachte, bat er den Abt, mit schwerem Bann und Edikt zu gebieten, „daß ihn von eurer Librey nyman nehm, entziech noch entpfrömd in kainerley weis“. Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß das Entleihen von Büchern damals nicht immer sehr leicht war. Der Abtei von Penpont wurden 1231 Bücher vermacht gegen das eidliche Versprechen, nur gegen völlig sichere Bürgschaft welche davon auszuleihen. Nur wenn einer der Brüder „ad scolas“ geschickt würde, sollte man ihm Bücher mitgeben. In Münster ward 1362 verordnet, daß nur zuverlässigen geistlichen Personen Bücher geliehen werden sollten, in anderen Fällen aber die Genehmigung des Domkapitels einzuholen sei. Gerhard Groote († 1384) vermachte seine Bücher den „Brüdern des gemeinsamen Lebens“, damit sie dieselben mit Vorsicht zwar, aber doch liberal an die Brüder und Schüler ausliehen. Meist wurde aber ein gleichwertiges Pfand als Einsatz für entliehene Bücher verlangt, wenn das Entleihen nicht überhaupt ganz verboten war. Einer der vornehmsten englischen Büchersammler, der zu Anfang des 14. Jahrhunderts lebende Richard de Bury, ein Freund Petrarkas, verordnete, daß Bücher, von welchen kein Duplikat vorhanden war, durchaus nicht aus dem Hause gegeben werden sollten. Er ermahnt die Studenten in eindringlichster Weise, die Bücher nicht zu verunreinigen, und ist von Entsetzen erfüllt über die Gefahren, welche den schön geschriebenen und gemalten Büchern durch schmutzige Hände, essende, trinkende und schwatzende Leser, durch Beschmieren der Ränder oder gar durch Diebe drohen. Die Strafe des Bannfluches hält er einem solchen Vergehen gegenüber nicht für zu schwer. Hier und da wurden Bücher auch auf Zins ausgeliehen; das Basler Domkapitel erhielt z. B. zu diesem Zwecke Bücher vermacht, und auch für das Ausleihen der von Johannes von Gmunden der artistischen Fakultät zu Wien 1435 vermachten Bücher hatte er in seinem Testamente eine Taxe festgesetzt. Hierin könnte man also die Anfänge der Leihbibliotheken sehen, wenngleich zuzugeben ist, daß der geistige Inhalt jener alten von dem dieser neuzeitlichen Bücherleihanstalten grundverschieden war.

Kennt ihr die Alpenblumen? Wer in die Alpen hinauswandert, dem begegnen auf Schritt und Tritt neue Pflanzen, deren Schönheit und Eigenart er bewundert, die er aber nur selten dem Namen nach kennt. Da erwacht in ihm oft der Wunsch, über diese Kinder der alpinen Flora Näheres zu erfahren; es steht ihm aber niemand zur Seite, der ihn belehren könnte. Nun giebt es seit Jahren einen trefflichen Führer durch die Blumenwelt des Hochgebirges, auf den wir die Wanderlustigen unter unseren Lesern aufmerksam machen möchten, die „Taschenflora des Alpenwanderers“ (Zürich, Albert Raustein), die auf 18 Tafeln treffliche farbige Abbildungen von 170 Alpenpflanzen enthält. Der naturwissenschaftliche Zeichner Ludwig Schröter hat sie nach der Natnr gemalt und Dr. Carl Schröter, Professor der Botanik am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, hat dazu kurze botanische Erläuterungen in deutscher, französischer und englischer Sprache geschrieben. Diese Taschenflora ist soeben in vierter Auflage erschienen – ein Beweis, daß sie einem Bedürfnisse der Touristenwelt entspricht.*     

Vom Ueberhungern. Wer kennt nicht den Zustand des Ueberhungerns? Aus irgend welchem Grunde haben wir zu der gewohnten Zeit eine der Hauptmahlzeiten nicht einnehmen können. Zuerst regte sich in uns der Appetit, dann kam ein nagendes Hungergefühl, bis auch dieses nach einiger Zeit verschwand. Bei gut genährten, kräftigen Menschen hat diese Verzögerung der Nahrungsaufnahme um wenige Stunden keine üblen Folgen. Wenn man aber dann das Versäumte nachholen will, ist einige Vorsicht nötig. Der Magen ist erschlafft und kann nicht wie sonst größere Nahrungsmengen ohne weiteres bewältigen. Ißt man alsdann ohne eigentliches Hungergefühl und ohne Appetit die ganze übliche Mahlzeit auf, so bemerkt man nur zu oft, daß sie nicht bekommt. Es stellen sich Benommenheit des Kopfes, Uebelkeit und andere Beschwerden ein, und es dauert mitunter lange, bis der Magen wieder in Ordnung ist. In solchen Fällen von „Ueberhunger“ empfiehlt es sich darum, dem Magen zunächst nur leichte Speisen und in geringen Mengen zuzuführen, z. B. nur einen Teller Suppe und ein Weißbrötchen oder eine Tasse Kaffee mit einem Brötchen. Nach einiger Zeit stellen sich Appetit und Hungergefühl wieder ein und inzwischen ist auch die Stunde der nächsten Mahlzeit gekommen, bei der man das „Versäumte“ nachholen kann. Wichtig ist diese Vorsichtsmaßregel für Leute, die durch die Art der von ihnen betriebenen Geschäfte, durch vieles Reisen u. dergl. zu einem weniger regelmäßigen Lebenswandel genötigt sind. Bei ihnen kann das Ueberfüllen des oft überhungerten Magens den Grund zu dauernden Verdauungsstörungen legen. – k –      


Kleiner Briefkasten.

A. D. in München. Sie haben die Anführungszeichen vor und hinter „Kempten“ übersehen und infolgedessen den Scherz unseres Zeichners nicht verstanden.

Landsmannschaft der Mecklenburger zu Hamburg-Altona. Wir haben mit Freuden von Ihrer Reuter-Gedächtnisfeier Kenntnis genommen. Leider verbietet uns der Raum, näher darauf einzugehen.


Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren (6. Fortsetzung). S. 549. – Die Tempelinsel Philä. S. 555. Mit Abbildungen S. 549, 553 und 555. – Vom VIII. deutschen Turnfest in Breslau. Von G. A. Weiß. S. 556. Mit Abbildungen S. 556 und 557. – Auge und Blendung. I. Von Professor Dr. Hermann Cohn. S. 558. – „Up ewig ungedeelt!“ Novelle von Jassy Torrund (2. Fortsetzung). S. 560. – Gänselieschen. Gedicht von F. Vochazer. Mit Bild. S. 561. – Blätter und Blüten: Die „Gesellschaft der Waisenfreunde“. S. 564. – Vogelherzen. S. 564. – Ueber die Wertschätzung der Bücher im Mittetalter. S. 564. – Kennt ihr die Alpenblumen? S. 564. – Vom Ueberhungern. S. 564. – Kleiner Briefkasten. S. S64.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Wer sich für diese Verhältnisse genauer interessiert, findet sie geschildert in meinem Lehrbuch der Hygieine des Auges. Wien, 1892. Urban und Schwarzenberg.
  2. hätten.
  3. vom Leib geblieben.
  4. lernen.
  5. dazu.
  6. aufgegeben = angerichtet.
  7. sagte.
  8. gedient.
  9. niemand.
  10. hitzig.
  11. Fuchs.
  12. neunmal klugen
  13. angeführt.