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Die Gartenlaube (1894)/Heft 34

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[565]

Nr. 34.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Brüder.

Roman von Klaus Zehren.
(7. Fortsetzung.)

Hermann begann zu erzählen, von der Kindheit, wie er die Seinen so lieb gehabt, die Eltern, den Bruder, die Lore. Allmählich ward er beredt, es war, als ob ein lange zurückgedämmter Strom nun freien Lauf bekäme. Edda horchte, das Haupt in die Hand gestützt, auf die schlichten Bekenntnisse dieses Mannes. Einigemal fühlte sie sich versucht, zu rufen. „Das war falsch; da hast Du nicht richtig gedacht!“ aber sie brachte es nicht übers Herz. Er hatte doch alles so ehrlich, so warm empfunden.

„Und nun so dazustehen, mir sagen zu müssen, daß alle meine Bemühungen umsonst waren, daß Bruno und Lore unglücklich geworden sind, daß unsere Familie vielleicht dem äußeren Ruin entgegen geht! Diese widrige Sache mit dem Prinzen, in der ich durch mein Eingreifen alles verdorben habe! Das ist hart. Fast ein Jahrzehnt gekämpft und gerungen und wer weiß – nun fällt doch alles zusammen.“ Er schwieg erschöpft.

„Armer Mann!“ sagte sie einfach. „Sie hätten wahrlich Besseres verdient! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Vertrauen. Aber sie dürfen nicht kleinmütig werden! Es paßt nicht zu Ihnen.“

Nur mühsam bezwang sie die eigene Erregung. Jetzt fühlte sie deutlich, wie sie zu ihm gehörte, wie ihr Herz mit dem seinen schlug, jetzt, nachdem er ihr ein Stück seines eigensten Selbst gezeigt und gegeben hatte. Sie hätte zu ihm treten und die Arme um seinen Hals schlingen mögen, damit er wisse, daß er nicht ungeliebt, allein in der Welt stehe.

„Sie sind stark, Fräulein Edda. Es ist alles so fest und ruhig an Ihnen, daß ich in Ihrer Nähe meine, ich könnte – – doch nein! Ich gehe heute anders fort, als ich gekommen bin, und das danke ich Ihnen. Ich weiß, daß das, was ich gesprochen, bei Ihnen so fest verwahrt ist, als hütete ich selbst diese Bekenntnisse. Darf ich öfter wiederkommen? Ich empfinde selbst, daß ich Menschen brauche, die mir nicht nur äußerlich nahe stehen“

Der Klang seiner Stimme war ernst, tief zu Herzen gehend, und Edda fühlte diesen Ton wie ein Zittern durch ihr Inneres dringen. „Wie gern!“ erwiderte sie und senkte den Blick.

Eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber, dann sagte Hermann: „Ihr Vater scheint doch erst spät zu kommen. Gute Nacht, Fräulein Edda!“

Langsam ging er hinaus, nachdem er ihr die Hand gereicht hatte; sie öffnete ihm die Hausthür. „Gute Nacht,“ klang’s noch einmal, während seine Schritte sich entfernten.

In die Stube zurückgekehrt, warf sich Edda, seltsam erregt, in einen Lehnstuhl. Wie gut sie ihn verstehen konnte, wenn auch vieles in ihm

Neugier.
Nach einem Gemälde von Tito Conti.

[566] so ganz anders war! Und wie herzlich er sich gezeigt hatte, wie vertrauend! War es denn denkbar, daß er ihr Gefühl erwiderte? O, sie wollte ihm helfen, den alten Lebensmut wiederzufinden; alles wollte sie von sich werfen, ihren Beruf, selbst ihre Dienste für den Vater, wenn sie nur für ihn leben konnte! Aber – dachte er überhaupt in dieser Weise an sie? War es nicht nur ein augenblickliches Gefühl innerer Hilflosigkeit, das ihn in ihre Nähe zog?

„Wo seid Ihr denn?“ ertönte plötzlich des Vaters Stimme aus dem Nebenzimmer.

Sie fuhr erschreckt zusammen.

„Wie, Weßnitz ist schon fort? Weiß Gott, es ist bald Mitternacht! Da gehen wir wohl zur Ruhe? Gute Nacht, Edda!“

*  *  *

Hermann machte von der ihm erteilten Erlaubnis Gebrauch. Er kam oft in die stille Wohuung des Doktors, in der Regel abends, und in anregender Unterhaltung flossen dann die Stunden dahin. Ein Heimatgefühl beherrschte ihn, wenn er in die Stube trat und der Doktor ihm wie einem guten alten Bekannten freundlich zunickte, ohne seine Thätigkeit zu unterbrechen, während Edda das Abendessen bereitete, bei dem sie sogar seine kleinen Lieblingsgerichte berücksichtigte.

Oft fehlte der Doktor, wenn Berufspflichten ihn abriefen. Dann saß Hermann wohl den ganzen Abend mit Edda allein und geheimnisvolle Fäden spannen ein Band von Herz zu Herz. So war Edda noch nie gewesen, so heiter, so sanft, so blühend gesund. Selbst ihre früher stets bleichen Wangen zeigten jetzt ein jugendfrisches Rot. Hermann bemerkte mit wachsendem Anteil diese Veränderung. Ihr kluges interessantes Gesicht wurde ihm täglich lieber und vertrauter, und in einsamen Stunden sehnte er sich nach ihrer Anwesenheit, er träumte davon, wie herrlich es sein müßte, dies trotzige Mädchen einmal in den Armen zu halten und von diesem weichen Mund geküßt zu werden. dem er einst heimlich den ersten Kuß geraubt.

Bei schönem Wetter machten die Drei Ausflüge in die Umgebung Berlins. Das waren Stunden reinster Erholung. Vater und Tochter, die sonst nur den schweren Forderungen ihres Berufes lebten, wurden in der freien Natur zu zwei großen Kindern. Der Alte pfiff lustige Studentenlieder, fing mit jedem, den der Weg mit ihnen zusammenführte, in seiner humorvollen Art Gespräche an, besonders mit Leuten aus dem Volk, mit denen er trefflich umzugehen wußte. Oft wunderte sich Hermann, wie bekannt dieser Armendoktor war, wie ehrerbietig Hüte und Mützen sich von den Köpfen lösten, wie freundlich die Leute dem alten Herrn im dichten Gedränge Platz machten.

Für einen Sonnabend hatte Hermann mit den Beiden einen Ausflug nach dem Grunewald verabredet. Pünktlich traf er ein, in Civil gekleidet, aber nur Edda empfing ihn.

„Wo ist Ihr Herr Vater?“ fragte er erstaunt.

„Zu einer schweren Operation abgerufen. Er bat mich, wir sollten uns durch seine Abwesenheit nicht stören lassen. Ich bin fertig!“ Hermanns verlegenes Gesicht gewahrend und sofort seine Gedanken erratend, begann sie zu lachen. „Sie bleiben doch stets derselbe! Sollen wir aus Rücksicht auf eine oberflächliche alberne Form den heutigen Ausflug unterlassen, bei diesem herrlichen Wetter?“

„Nein, nein ich dachte nur – –“

„Sie dachten, daß es nicht schicklich sei für uns beide, ohne Begleitung in die freie Natur zu gehen! Würden Sie mit Ihrer Schwester nicht unbedenklich allein nach dem Grunewald fahren?“

Nun mußte auch er lachen über den unnachahmlichen gutmütig spottenden Ausdruck ihres Gesichts. Schließlich kannte ja auch niemand diese Edda Helm! Trotzdem schaute er sich im Pferdebahnwagen halb scheu um, ob nicht zufällig irgend ein Bekannter einsteigen würde, und atmete erst auf, als er nach längerer Wanderung mit Edda einen Waldpfad einschlug, dessen Einsamkeit ihn vor einem zufälligen Zusammentreffen mit Bekannten hinlänglich zu schützen schien.

Es war ein warmer sonnenheller Maitag, der Wald friedlich und still, ein sprossendes Werden und Drängen in Baum und Strauch. Hell klang des Spechtes fröhliches Pochen am morschen Stamm und flinke Meisen fuhren blitzschnell an den Baumästen hin und her. Eine feuchtwarme Luft lagerte über dem Wald, würziger Harzduft zog durch die rötlichen von Sonnenlichtern durchspielten Kiefern. Die beiden einsamen Wanderer schwiegen. Die Einsamkeit, die friedliche Stille hielten jedes Wort zurück.

Edda atmete tief und langsam, die herrliche Luft begierig einsaugend, während ihre dunklen Augen träumerisch rechts und links in den Wald schweiften. Ein Reh sprang über den Weg, unwillkürlich hemmte Edda den Fuß und faßte nach ihres Begleiters Hand. Sie schauten beide dem flüchtigen, durch die Stämme huschenden Wilde nach, dann setzten sie sinnend ihren Weg fort.

Auf der Höhe eines Hügels, zu dem sie in lockerem Sandweg etwas mühsam hinaufgestiegen waren, blieb Edda stehen und strich erhitzt mit beiden Händen über ihr glattgescheiteltes Haar, von dem sie den einfachen Strohhut abgenommen hatte. Wie auf Verabredung ließen sie sich am Waldrand auf einem Raine nieder.

Sie hatten beide das Gefühl, als seien sie hier ganz allein auf der Welt. Dichtes Unterholz rings umher, kein Geräusch vom Getriebe der arbeitenden Menschheit, die große Stadt hinter ihnen, als sei sie versunken. Er trocknete sich langsam die Schweißperlen von der Stirn. Edda hatte die Handschuhe ausgezogen, zupfte einige Kräuter aus und blickte sinnend auf die zarten Frühlingskeime.

Hermann sah seine Begleiterin stumm von der Seile an und unwillkürlich mußte er an jenen Gesellschaftsabend bei seiner Schwägerin denken. War es nicht, als sei diese Edda damals ein ganz anderes Menschenkind gewesen? Die Scene fiel ihm ein, als sie ohnmächtig wurde, das Unrechl, das er sich hatte zu Schulden kommen lassen, da er die Hilflose küßte, schien ihm auf einmal in diesem vertrauensvollen Alleinsein doppelt schwer, und einem unwiderstehlichen Drange folgend, begann er unvermittelt: „Wissen Sie, daß ich Ihnen etwas abzubitten habe, ein großes Unrecht, das ich gegen Sie begangen habe?“

Edda wandte ihm langsam ihr Gesicht zu. „Sie mir?“ fragte sie verwundert. „Sie haben mir ein Unrecht äbzubitten?“

Sie stützte, während sie sich zu ihm wandte, die Hand ins Moos und berührte dabei die seine, ohne es zu wollen.

„Ja.“ Er senkte den Blick unter dem Blick der auf ihn gerichteten dunklen Mädchenaugen. Sein Herz pochte laut in hämmernden Schlägen. „Ja, ein Unrecht! Können Sie sich noch erinnern, wie ich Sie an jenem Abend bei meiner Schwägerin ins Nebenzimmer führte?“

„Ja, ich wurde ohnmächtig.“

Ihr war seltsam zu Mut. Hermanns Stimme, seine Art zu sprechen, war auders wie sonst. Er bohrte den Spazierstock tief in den trockenen Sand. „Damals, als ich mich über Sie beugte, um zu erfahren was Ihnen wäre, da habe ich Sie – geküßt!“

Es wurde ganz still. Hermann wagte nicht, aufzusehen, nur unter den Wimpern hervor bemerkte er, wie ihre Rechte sich fest um einen Busch Gräser am Wegrand schloß. Keine Silbe, kein Laut!

Behutsam, scheu schaute er endlich auf. Sie saß da, mit gesenktem Kopf, die Augen zu Boden gerichtet; unter den dunklen Wimpern hervor blinkte es wie Thränen, und dann rannen die Tropfen langsam über die Wangen hinab.

„Edda!“ flüsterte er, „Edda, können Sie mir verzeihen?“

Da sah sie auf – war es Zorn oder Schmerz, Freude oder Vorwurf, was in diesem Aufschauen lag? Hermann verstand es nicht, er fühlte nur den unwiderstehlichen Drang, sich Verzeihung zu erflehen, und warf sich ihr bittend zu Füßen. Was dann geschah – er wußte es nicht. Aber mit einmal ruhte sein Haupt in ihrem Schoß und ihre Hände strichen liebkosend über seine blonden krausen Haare. Er spürte ihren Atem an seinem Ohr.

„Edda! Edda! Ich hab’ Dich lieb!“

„Du! Du mich?“ Ein Schrei, ein Jubelruf schallte durch die Stille. Ihre Lippen hingen an den seinen, ihre Arme preßten sich um seinen Nacken. „Küsse mich, küsse mich wieder, Hermann!“ Sie stieß es selig hervor.

O, wie er sich geborgen fühlte in diesen Mädchenarmen! Es war ihm, als würde er von Wolken emporgehoben, als versänke alles Irdische unter ihm.

„Dich liebe ich, Hermann! Auf der Welt nur Dich!“ stammelte sie. „Dein Weib will ich sein, ich gehöre Dir ganz mit Leib und Seele!“

Schon sank die Dämmerung herab, der Abendruf der Drossel schallte aus dem Gebüsch. Da wanderten sie beide Hand in Hand den Weg zurück.

„Ich fürchte mich vor den Menschen“ flüsterte Edda, sich an ihn schmiegend.

Ein weltvergessener Ausdruck lag in seinen Zügen, er antwortete nicht. Ehe der Waldpfad ins Freie führte, blieb sie stehen.

[567] „Küsse mich noch einmal, Hermann!“

Als wollte sie vergehen, so hing sie in seinen Armen, an seinem Mund. Dann blieb sie still und wortkarg, scheu vermied sie jede Berührung seiner Hände; fröstelnd, mit bleichen Wangen saß sie neben ihm im Pferdebahnwagen.

„Gute Nacht, Hermann. Es ist besser, wir trennen uns schon jetzt!“ sagte sie, als sie an ihrem Hause angelangt war.

„Wie Du willst, Edda! Schlaf süß! Gute Nacht!“

Wie im Traum ging er nach Hause. War dies das Glück? Ja, das mußte es sein!

Sein Bursche übergab ihm beim Betreten der Wohnung ein schon am Nachmittag eingelaufenes Telegrantm.

„Kommen Sie so schnell wie möglich! Ihr Vater schwer erkrankt.“ Darunter der Name des alten Hausarztes.

Das fiel wie ein Donnerschlag in seine Herzensstimmung. In zwei Stunden ging der nächste Zug, der ihn der Heimat zuführen konnte. Mit fliegender Hast schrieb er ein Urlaubsgesuch und packte die notwendigsten Sachen zusammen. Noch eine Stunde, eine ewig lange Stunde hatte er Zeit. Wie sollte er sie ausfüllen?

Da fiel ihm ein, daß er an Doktor Helm schreiben, ihn um die Hand seiner Tochter bitten mußte. Eigentlich hatte er zuerst seines Vaters Zustimmung einholen wollen, aber nun? Wer wußte, ob er denselben noch lebend antreffen würde? Mit wenigen schlichten Worten teilte er dem Doktor seine Verlobung mit und bat ihn um seine Einwilligung. Aber schon während er schrieb, kam ihm der Gedanke, ob sich jetzt wohl alles so gestalten würde, daß er um ein Mädchen werben, eine mittellose Braut zu seiner Frau machen durfte? Und plötzlich erschien ihm diese Liebe so knabenhaft unbesonnen. Er schämte sich beinahe, das nicht früher überlegt zu haben. Aber es war über ihn hereingebrochen, ohne daß er vorher ernstlich daran gedacht hatte. Und doch, waren alle diese Bedenken nicht kleinlich?

„Ich hab’ sie so lieb,“ murmelte er vor sich hin. Ihr Antlitz stand ihm wieder vor der Seele, wie selig es geleuchtet hatte, als sie an seinem Halse hing. O, er liebte sie, diese Edda! Er fühlte bewegt, wie ihm im Herzen ein großes zuversichtliches Glücksgefühl aufging.

Dies Gefühl verließ ihn auch nicht während der langen nervenanspannenden Eisenbahnfahrt. Ihm war, als hätten erst Eddas Küsse alles Gute in ihm zum Leben erweckt. Gedankenvoll durch das Fenster in die vorüberfliegende Landschaft schauend, flüsterte er ihren Namen. – –

Er fand den Vater nicht mehr unter den Lebenden; auf kalte starre Totenhände fielen des Sohnes Thränen. Bruno hatte nicht kommen können, da er sich auf einer Dienstreise befand, Lore auch nicht, weil ihr Knabe erkrankt war. So ging Hermann als einziger Anverwandter dem Sarge nach, genau wie er einst neben dem Vater, den tief Gebeugten stützend, der toten Mutter das letzte Geleit gegeben. Von nah’ und fern waren Leidtragende herbeigeströmt, Freunde, Bekannte, Abordnungen von Vereinen und Genossenschaften. Man hielt am Grabe Reden, viele Reden, man lobte die edle Gesinnung, das ritterliche Handeln des Dahingeschiedenen, seine treue Pflichterfüllung. Selbst vom Landesfürsten kam Beileidsschreiben und Kranz.

Alte Bekannte seines Vaters begrüßten den Sohn als dessen Nachfolger; man bot ihm Stellungen, Ehrenämter an, die der Vater ausgefüllt hatte, als sei es ganz selbstverständlich, daß der Sohn in allem in des Vaters Spuren trete.

Ihn umfing das alles, als sei er aus einer fremden Welt wieder zurückgelangt in seine eigentliche Heimat, als habe er während der letzten Monate in Gedanken und Thaten wie ein Abtrünniger der Scholle gelebt, die ihm einst das erste Brot gegeben. Er sann und sann, dann reichte er kurz entschlossen seinen Abschied ein, Nicht einmal Edda fragte er um Rat.

Es kamen Tage lästiger Arbeit; das Ordnen des Nachlasses nahm alle seine Kräfte in Anspruch und bald wurde ihm klar, daß er ein Erbe übernommen hatte, das in alle Winde zu zerflattern drohte. Die Wirtschaft war in Verwirrung, kein Nachweis vorhanden über Einnahmen und Ausgaben. Er mußte sich sagen, daß nur eine eiserne Anstrengung seinerseits imstande sein würde, soweit Ordnung zu schaffen, um überhaupt das Gut zu halten und wieder in die Höhe zu bringen.

Trotzdem durchzog sein Inneres ein frohes mächtiges Kraftbewußtsein. Er wollte schon vorwärts kommen! Die Leute, die ihn umgaben, hatten ja alle denselben guten Willen wie er; es kamen sogar Dienstboten und Tagelöhner, die seit Jahren auf dem Gute lebten, mit der Bitte zu ihm, ihren Lohn herabzusetzen, da er offen von seiner Lage gesprochen und sie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß viele Aenderungen eintreten müßten.

Endlich erhielt er einen Brief von Doktor Helm. Hermann erschrak fast. Er hatte sich vergeblich Eddas Schweigen zurechtzulegen versucht, nachdem er ihr den Tod des Vaters und seinen Entschluß mitgeteilt hatte, seine Offizierslaufbahn aufzugeben. Er zögerte, das Couvert zu erbrechen. Selbstverständlich würde der Doktor seine Zustimmung geben, aber was sollte werden? Die Unsicherheit seiner äußeren Lage, die Notwendigkeit, fast alles, was er jetzt dem Namen nach noch sein nannte, erst durch jahrelange Arbeit in Wirklichkeit zu erringen, machte es für ihn beinahe zur Unmöglichkeit, jetzt eine Ehe zu schließen. Die Arbeit der letzten Tage hatte ihn kaum an diese Dinge denken lassen und abends war er todmüde, jeder Ueberlegung unfähig, in den Schlaf gesunken. Nun stand die harte Wahrheit ihm plötzlich vor Augen. Zögernd öffnete er den Brief.

  „Lieber Herr von Weßnitz!

Mein und Eddas Mitgefühl bei Ihrem bitteren Verlust ist Ihnen wohl ohne weitere Beteuerungen gewiß. Trostworte helfen da nichts; es ist einmal nicht anders, als daß Kinder die Eltern überleben. Der Tod ist ehrwürdig und Sie mit Ihrem Charakter werden mit Fassung seine Macht ertragen haben.

Ihren in Berlin geschriebenen Brief erhielt ich. Ich darf Ihnen sagen, daß ich mich selten im Leben so glücklich gefühlt habe als beim Lesen Ihrer Zeilen.

Edda hat geweint bei der Nachricht vom Tode Ihres Vaters. Sie spricht nur von Ihnen; ihr Gesicht strahlt, wenn ich Ihren Namen nenne, aber auf meinen Wunsch unterließ sie es, Ihnen zu schreiben. Es soll erst alles klar zwischen uns sein.

Schwer fällt mir das Bekenntnis, das ich Ihnen abzulegen habe, aber das Vertrauen auf Ihren Charakter, auf Ihr vorurteilsfreies Denken erleichtert mir diese Aufgabe, obgleich – doch hören Sie mich an! Ich muß weit ausholen. Nachdem ich in Berlin studiert hatte, ging ich nach Zürich als Assistent zu einem damals berühmten Arzt, mit einem Gehalt, der mich eben vor dem Verhungern schützte, denn mein kleines väterliches Erbteil hatte kaum für meine Studienjahre gereicht. Meine bescheidene Junggesellenwohnung lag auf dem Flur eines großen Miethauses, auf den auch das Zimmer einer Studentin der Medizin mündete, eines geistreichen strebsamen jungen Mädchens, das, von einfachstem Herkommen, ihre geringen Mittel auf das Studium verwandte. Ich will Sie nicht langweilen mit den kleinen Nebenumständen, die mich mit dem Mädchen zusammenführten. Sie sind alt genug, um die Welt zu kennen. Nur das Eine sei Ihnen gesagt: wenn sich zwei Menschen von Herzen treu und ehrlich lieb gehabt haben, so waren es Eddas Mutter und ich. Ich wollte sie zu meinem rechtmäßigen Weib machen, sobald mir eine gesicherte Lebensstellung die Gründung eines Haushalts erlaubte. Es sollte nicht soweit kommen. Eine Tochter wurde uns geboren – Edda; ihre Geburt kostete der Mutter das Leben. Mein Schmerz war grenzenlos. Was soll ich weiter sagen? Wie meine Tochter aufwuchs, wissen Sie. Bis jetzt trägt Edda gesetzlich noch nicht meinen Namen, mir schien es bisher überflüssig, all die lästigen Förmlichkeiten zu erfüllen; Schätze habe ich ja nicht zu vererben. Trotzdem bedaure ich jetzt die Unterlassung, die sich übrigens rasch wird gutmachen lassen.

Ich will und kann nichts weiter hinzufügen. Sie kennen Edda und mich. Seien Sie gerecht! Es war meine Pflicht, Ihnen dies mitzuteilen. Edda habe ich gestern in alles eingeweiht.
Ihr alter Freund Helmut Helm.“ 

Hermann ließ langsam das Papier sinken. Unklare Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, finster, regungslos grübelte er stundenlang vor sich hin. Was sollte er thun? Der Bericht des Doktors hatte alles in ihm wachgerufen, was die Tradition seiner Familie, seine ganze Erziehung an Stolz und Vorurteilen in ihm niedergelegt hatten. Durfte er ein Mädchen von solcher Herkunft als Gattin in das Haus seiner Väter führen? Und selbst, wenn er alles überwand, durfte er dies Mädchen, das kaum die einfachsten Pflichten einer Hausfrau zu erfüllen gelernt hatte, an die Spitze seines Gutes stellen, dessen Wirtschaft in tausenderlei Obliegenheiten eine erfahrene Herrin erforderte, die mit ihm Seite an Seite arbeitete? Er mußte leben wie ein einfacher Gutspächter,

[568]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Lustiges Volk.
Nach einem Gemälde von A. H. Plinke.

[569] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [570] wenn er Weßnitz halten wollte – war da eine Doktorin der Medizin die richtige Gefährtin?

Hinter diesen Gedanken versteckte er sich vor sich selbst, vor der inneren Stimme, die sich immer wieder heimlich regen wollte, die ihm zurief: sei kein Narr, sei ein freier Mensch – sie ist eine reine edle Natur, was kümmert dich da ihre Herkunft!

Nein, nein, er durfte nicht nachgeben, es ging nicht!

In diesem Sinne beantwortete er den Brief des Doktors, ohne weiter zu überlegen, hastig, mit dem unbestimmten Gefühl, daß weiteres Nachdenken ihn in seinem Entschluß wankend machen könnte. Er verschwieg nicht, daß ihn die unerwartete Mitteilung erschreckt und betrübt hatte, aber das Hauptgewicht legte er auf die Gestaltung seiner äußeren Verhältnisse. Er habe kein Recht, das Schicksal eines Mädchens an sein Leben zu ketten, ohne zu wissen, wie seine Zukunft sich gestalten werde.

Der Brief war fertig, zur Post gebracht, aber den Schlaf raubte er ihm doch in den nächsten Tagen. Er hatte das Gefühl, als habe er in sich selbst einen dunklen Winkel gefunden, den er nicht beleuchten dürfe, ohne zu erröten.

Nach einigen Tagen kam ein Brief – er enthielt sein eigenes Schreiben. Darunter stand mit großer fester Schrift: „ Gelesen! Edda Helm.“

Ihm war zu Mut, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Abscheulich! Beleidigend! Mit einem wahren Ingrimm stürzte er sich in seine Geschäfte, und wenn in ihm trotzdem Bedenken auftauchen wollten über seine Handlungsweise, Erinnerungen an jenen Tag im Grunewald, dann schaute er zu den Bildnissen seiner Eltern auf und murmelte: „Ich war es Euch schuldig.“ Aber leichter wurde es ihm nicht ums Herz.

Schließlich kam eine Art von Verstocktheit über ihn; er klammerte sich fest an die Pflichten die er seinem Namen, seinem Stande zu leisten habe, die er Bruno und Lore gegenüber erfüllen müsse. Den Kopf mühsam aufrecht tragend, ging er mit hartem Gesicht über Hof und Felder, legte überall selbst Hand an und versagte sich die bescheidensten Bedürfnisse. Aber einsame Stunden kamen doch immer, in denen er sich widerwillig bewußt ward, daß es eine wunde Stelle in seinem Herzen, in seinem Gewissen gebe.


Zum zweitenmal, seit Hermann sein Erbe angetreten hatte, war es in Weßnitz Winter geworden. Die braune Heide, der erschauernde seufzeude Tannenwald – alles zugedeckt mit den unendlich sich übereinander lagernden weißen Flocken, und noch immer schneite es unaufhörlich, als gälte es, alles zu begraben, alle Höhen und Tiefen zu ebnen. Der pfeifende Sturm jagte den Schnee, der hier sich wirbelnd in einer Hausecke fing, dort sich wieder hoch in die Lüfte erhob, ohne Unterlaß vor sich her, hinein in die ragenden Baumwipfel jenseit des Teiches.

Die Dämmerung sank herab, schwer und bleiern; zum letztenmal flammte ein glutrotes Sonnenlicht auf hinter den Höhen der Heide, als grüßte eine riesige leuchtende Götterhand segnend die Erde.

Hermann stand am Fenster in seines Vaters ehemaligem Arbeitszimmer und blickte sinnend in die trostlose Oede. Schon eine Stunde verharrte er so, grübelnd die Arme über der Brust gekreuzt. Ein elender Kampf ums Dasein! Zwei Krähen stritten da draußen wütend um eine Brotrinde, Federn stoben, dann flog die eine besiegt, heiser krächzend davon. Ueberall derselbe Kampf, Hunger und Durst, die ewigen großen Triebfedern alles Lebens! Wie viele Monate waren vergangen, seit er die starken Schultern gegen das morsche unterwühlte Gebälk seines Erbes stemmte, Monate voll Arbeit, voll Verdruß, ein unausgesetzter Streit mit Kleinigkeiten, dabei immer das Gefühl, als müsse ihm ein böser Zufall das ganze Werk vernichten. Aber er hatte den Mut nicht sinken lassen; es war ihm gelungen, vorwärts zu kommen, ja sogar etwas von der Schuld abzutragen, mit der er das Gut hatte noch mehr belasten müssen, um die Wirtschaft neu einzurichten. Aber was konnte die Zukunft alles bringen? Wenn nun auch einmal Mißerfolge kamen! Wann durfte er endlich an sich denken?

Während der ganzen Zeit hatte der Gedanke an Edda in seinem Inneren genagt; oft war das Schuldgefühl und die Sehnsucht mächtig in ihm geworden, dann wieder ein verbissener Trotz, als habe er nicht anders handeln dürfen. Hätte er an der Seite Eddas so karg und zurückgezogen nur seiner Arbeit leben können? Und was würde aus Bruno und Lore geworden sein? Nicht einmal die kleine Unterstützung, die der Bruder im ersten Jahr aus dem Gut erhielt, wäre zu erübrigen gewesen.

Mit großen Schritten wanderte Hermann jetzt auf und ab, nach seiner Gewohnheit immer in derselben Richtung hin und zurück; die eichenen Dielen zeigten genau den Weg, den er Tag um Tag machte – faserig und rauh erschien an dieser Stelle die Oberfläche der altersdunklen Bohlen.

Diese seine Gewohnheit fiel ihm heute selbst auf, er dachte voll Bitterkeit an das ruhelose Auf- und Abwandern des gefangenen Tieres in seinem Käfig, eines Sträflings in einsamer Zelle. Doch nein! Er warf den Kopf zurück. Nicht gekettet, nicht gefangen! Aus freien Stücken ging er hier einsam seinen Weg, mit hartem Tritt, er kämpfte einem selbstgewählten Ziele zu. Sein Blick fiel auf das lebensgroße Bild seines Vaters über dem Schreibtisch. Ein kraftvoller Männerkopf, stark und stolz! „Ja, so will ich sein und bleiben, Vater, so wie Du warst! Noch kurze Zeit, dann darf ich den Brief öffnen, den ich in Deinem Schreibtisch fand. Was magst Du mir noch zu sagen haben?“

Seine Gedanken wanderten weiter zu Bruno und Lore. Der Bruder mußte sich geändert haben, er lebte ohne Frage jetzt vernünftiger, denn er hatte sogar im Herbst freiwillig auf seinen Zuschuß verzichtet. Das war ein Freudentag für Hermann gewesen. Aber was war mit Lore? Er senkte finster den Blick. Sie würde nie wieder so werden wie einstmals. Gebrochen, fast willenlos, war sie an der Seite ihres Mannes geblieben. „Ich weiß, welche Opfer Du dem Namen Deiner Väter gebracht hast, ich will nicht zurückstehen, sondern bleiben, wo ein Schwur mich bindet, und meinen Knaben in Deinem Geist erziehen,“ hatte sie ihm vor Jahresfrist geschrieben. Es war so selbstverständlich, daß nur die Pflicht sie hielt, daß sie den Gatten nicht mehr zu lieben vermochte. Daß ein Weßnitz so schwach sein konnte!

Müde ließ er sich vor dem Schreibtisch nieder und begann in dem großen Wirtschaftsbuch zu blättern. Eintönig tickte die Uhr in ihrem eichengeschnitzten Gehäuse. Leise trat der alte Diener seines Vaters ein und übergab ihm ein Telegramm. Von wem nur? dachte Hermann und öffnete den Umschlag.

„Komme heute abend halb Zwölf mit Edgar in Weßnitz an. Bitte Wagen! Lore.“

Er erschrak. Was war vorgefallen? Rasch flog sein Blick zur Wanduhr. Schon ein halb elf Uhr.

„Der Kutscher soll anspannen! Meine Schwägerin kommt in einer Stunde. Lassen Sie die Fremdenzimmer in Ordnung bringen!“

„Nein, die Freude!“ meinte der alte Johann und ging eilig hinaus.

„Freude!“ wiederholte Hermann bitter und faltete mechanisch das Telegramm zusammen. Ob sie Freude brachte?

Eine seltsame Unruhe erfaßte ihn, er ging in die Küche, bestellte ein Abendessen, blickte selbst in die Gastzimmer. Qualvoll langsam verrann die Zeit. Da schallte vom Hofe herauf Peitschenknallen. Rasch eilte Hermann hinab, mit herzlichem Gruße hob er Lore aus dem Schlitten, dann Edgar.

„Guten Abend, Hermann,“ flüsterte sie nur und stützte sich schwer auf seinen Arm beim Ersteigen der Treppe.

„Legt Eure Mäntel ab und wärmt Euch!“ sagte er, in seinem Zimmer angekommen. Es war ihm, als schnüre ein eiserner Reif seine Brust zusammen. Wortlos folgte Lore seiner Aufforderung. Er sah, wie sich ihr bleiches Gesicht aus den Umhüllungen losschälte. Dann stand sie stumm, mit herabhängenden Armen, dicht am Kamin, Hermann an seinem Schreibtisch gerade aufgerichtet, die Rechte krampfhaft um die geschnitzte Lehne des Stuhles geschlossen. Nun wußte er gewiß, es war etwas vorgefallen, etwas Entscheidendes, Furchtbares.

Und dann ein Schrei, jäh aus einer geängstigten Brust sich losringend. „Hermann! Hermann, rette, rette uns! Ihn, mich! Dem Kinde den ehrlichen Namen!“

Sie lag vor ihm auf den Knien, ihre eiskalten zitternden Finger tasteten nach seiner Hand; und daneben stand, das feine Köpfchen gesenkt, mit einem rührend fragenden Kinderblick und zum Weinen verzogenen Mundwinkeln, Edgar, ihr Knabe.

Es war still, ganz still. Hermann beugte sich nicht herab, sein Blick war ins Weite gerichtet, starr, als erblickte er grausend ein Medusenhaupt. Keine Muskel an ihm zuckte, nur die Faust auf der Stuhllehne preßte krampfhaft das geschnitzte Holz.

[571] Es war etwas Schändliches, Entsetzliches geschehen und er sollte helfen! Helfen, immer helfen! Nicht mit Faust oder Herz, nein, mit Gold, mit elendem rollenden Gold! Was sonst trieb die Lore ohne vorherige Ankündigung durch Schnee und Sturm hierher, vor seine Füße?

„Hermann!“

Er fühlte, wie ihre Gestalt schwer an seinen Knien lehnte, wie das Kind mit schwachen Händen nach der Mutter tastete. Langsam beugte er sich hinab und hob sie empor. Wie leicht sie war, als er sie auf den Armen zum Sofa trug! Schwer sank ihr Kopf auf die gepolsterte Lehne. War das die Lore von einst – dies abgezehrte Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen und den vielen Falten an den eingesunkenen Schläfen?

Er flößte ihr starken Wein ein. Leise, sanft wie einem Kinde strich er ihr mit der harten Hand über die Stirn. „Sei ruhig, Lore, Du bist bei mir! Was hat er gethan? Was ist geschehen? So sprich doch, Lore! Zu mir, Deinem Bruder!“

Ein erleichternder Thränenstrom rann über ihre Wangen.

„Was er gethan? Ich soll es sagen, ich, sein Weib – dem Bruder – daß mein Mann ein – ein Betrüger ist?“

Hermann taumelte zurück.

„Das – das kann nicht sein! Mein Bruder ein Betrüger?“

„Ja, Dein Bruder! Vor zwei Tagen war’s, da gestand er mir alles. Gespielt! Gespielt seit zwei Jahren! Davon haben wir gelebt – von dem Sündengeld gezehrt. Dann ließ ihn eines Tages das Glück völlig im Stich. Bruno – half sich. Vom Spieler zum Fälscher! Ein Wechsel, nur ein elender Fetzen, aber der Name Weßnitz steht darunter – Hermann von Weßnitz! O es ist zum Wahnsinnigwerden!“

„Wie viel beträgt die Summe?“ fragte Hermann. Es lag etwas Metallhartes in seiner Stimme.

„O nicht viel – eine Kleinigkeit für Bruno . . . nur dreißigtausend Mark!“ rief Lore mit unheimlichem Lachen.

Vor Hermanns Augen tanzten rote Schatten. Dreißigtausend Mark!

„Kannst Du helfen?“ stammelte Lore, „sag’, kannst Du? Nein, nein – ich seh’ es an Deinem Gesicht. Hilf, Himmel! Er kann nicht mehr helfen! Und Bruno hat mir versprochen, geschworen, er wolle nichts beginnen vor morgen früh acht Uhr, aber dann – dann – wenn keine Nachricht kommt –“

„Nun dann, Lore?“

„Dann schießt er sich tot!“

„Das thut er nicht, der Feigling!“ stieß Hermann ingrimmig hervor.

Sie starrte ihn eine Weile an, dann begann sie wieder zu schluchzen, krampfhaft, verzweifelt.

„O, Du magst recht haben. Sein Stolz ertrüge es nicht, sagte er, seine Schande zu überleben. Ich kenne aber seinen Stolz ... er hat keinen Stolz mehr und keine Ehre! Ich kann ihn nicht einmal mehr achten. Aber sieh, hier, meinen Sohn! Dem möchte ich die Ehre retten, dem sollen sie nicht dereinst die Schmach seines Vaters gellend in die Ohren schreien, der soll sich nicht des Namens Weßnitz schämen müssen! Und deshalb flehe ich Dich an: rette uns!“

„Ich werde es thun!“

„Du telegraphierst sofort?“

„Ja!“ Ein hartes trockenes Ja war es.

Dann schickte er Lore mit dem Kinde zur Ruhe, willenlos folgte sie seinen Anordnungen.

Wieder war er allein. Wieviel war es doch? Dreißigtausend Mark, richtig! Genau so viel hatte er nach dem Tode seines Vaters mit Mühe auf das Gut aufnehmen können und in die Wirtschaft gesteckt, nur um überhaupt imstande zu sein, weiter zu arbeiten. Und nun? Wenn es je möglich war, das Geld zu schaffen, wie dann das Gut halten? Und schließlich – wozu das alles? War nicht auch diese neue Summe nur ein Tropfen auf einen heißen Stein? Würde dieser Brnder mit seiner ehrlosen Gesinnung nicht stets den Namen derer von Weßnitz wie ein Verhängnis mit neuer Schande bedrohen? Aber dennoch – es war sein Bruder, ein Weßnitz! Und wenn sie ihm das Blut aus den Adern saugten, er mußte, solange noch ein Tropfen davon vorhanden war, sich aufbäumen dagegen, daß ein Weßnitz ins Zuchthaus kam!

Da flackerte die Lampe, ein leises Rauschen, langsam wandte er den Kopf. Dicht vor ihm stand Lore, im hastig übergeworfenen Schlafrock, in wuchtigen goldenen Wellen rieselten die Haare hinab bis auf die Hüften.

„Lore!“ schrie er auf.

Ein mattes Lächeln huschte über ihre Züge. Aus ihren tiefen dunkel geränderten Augen flackerte etwas Unruhiges, Gespensterhaftes. Mit einer seltsam starren Bewegung hob sie die Hände, die weiten Aermel fielen zurück von ihren Armen, die krankhaft mager waren. „Hermann!“

Er erschrak über den heiseren Klang ihrer Stimme, ihre Hand ergreifend, die glühend heiß in seiner brannte, führte er sie zu einem Sessel. „Setze Dich! Was möchtest Du noch von mir? Du solltest schlafen!“

„Schlafen? Ich kann nicht schlafen.“ Liebkosend glitten ihre Finger über seine Rechte. „Wie gut die Hand ist! Nur bei Dir sein wollte ich, mich schauert’s allein in meinem Zimmer, und ich hörte Dich auf und ab wandern. Gieb es doch zu, Du kannst nicht helfen! Sag’ es offen, Du ruinierst Dich selbst!“

„Nein, nein, ich will helfen,“ wehrte er ab.

„Und Edda? Wie steht es mit Euch beiden? Hast Du sie nicht lieb gehabt?“

„Das ist vorbei, Lore!“

„So, so, auch vorbei!“

Ihn fröstelte bei ihrem Anblick.

„Merkwürdig,“ fuhr sie fort, den Kopf in die durchsichtige Hand stützend, „wir haben so manches ,Wunderknäuel’ aufgewickelt als Kinder und fanden immer schöne Sachen darin, und nur unser Leben, Dein Leben – –“

„Das Leben ist nicht schön, Lore!“

„Rein, es war nicht schön.“ Sie senkte das Haupt, dann begann sie aufs neue mit tonloser Stimme: „O doch, damals als Edgar geboren wurde, ja, da war es schön, und dann zu Anfang in Berlin, als Du so häufig kamst, um mit mir zu plaudern und als alles so ruhig wurde in mir, so oft Du mit mir gesprochen. Sag’, Hermann, war es nicht schön damals? Nein, nein,“ schluchzte sie auf, „es war Lüge, alles Lüge! Hermann, was war das nur in mir damals, als er zurückkam aus Frankreich? Warum nur hab’ ich Bruno die Hand gereicht? Als wir uns in Berlin wiedersahen, Hermann, da wußte ich, daß ich ihn und Dich verwechselt!“

„Laß!“ stieß er stöhnend hervor.

„Nein nein, ich will es sagen! Es ist ja nun alles vorbei. O wie ich an Dir gehangen! Wie ich Dich geliebt! Ja, ja – es war Sünde, aber Dich hab’ ich doch allein lieb gehabt, jetzt weiß ich es genau, und das hat mich gerettet vor jenem Russen!“ Sie schauerte zusammen. „Weißt Du, was es heißt, wenn man den Bruder seines Mannes liebt? Kannst Du diese Qualen fühlen? Kannst Du ermessen, wie schwer es war, Dich ruhig neben dieser Edda zu sehen? Und alles das umsonst – vorbei! Hermann!“ Blitzartig sprang sie auf, hing an seinem Halse. „Hermann, laß mich Dir danken! Nur ein einziges Mal laß mich Dich küssen!“

Ihm hämmerten die Pulse. Alles, was er niedergerungen, die ganze Liebe seiner Jünglingsjahre wallte in ihm auf. Dies Weib, die Lore, in seinen Armen, diese Lippen, die zu ihm aufstrebten und dann diese Augen – doch nein, das waren nicht die Augen einer Gesunden, es flackerte darin etwas Fremdes, Unbewußtes, Wahnwitziges! Er schob sie zart von sich. Sie schwankte und ächzend sank sie zu Boden. Bestürzt hob er sie auf, trug sie in das Schlafzimmer und klingelte nach dem Diener. Die Haushälterin wurde geweckt; sie entkleidete Lore, die sich im Fieber hin und herwälzte.

„Den Schatten, die Rappen!“ herrschte Hermann den Kutscher an, den er hatte rufen lassen.

„Bei der Nacht, gnädiger Herr?“

„Es muß sein! Schnell, wir müssen den Doktor aus der Stadt holen!“

Und über die Heide ging es in wildem Lauf, mit keuchenden Pferden. Der weiße Schaum ihrer Flanken mischte sich mit dem stiebenden Schnee, und immer wieder flog die Peitsche pfeifend auf ihren Rücken nieder. Durch Hohlwege und über kahlgewehte Höhen, immer weiter! Der Mann im Schlitten kannte kein Erbarmen. In der Ferne blinkten endlich Lichter, der alte Kutscher atmete auf, die breite Landstraße war erreicht. Noch ein letzter Peitschenhieb und in sausendem Galopp flog der Schlitten hinein in die menschenleeren Straßen der kleinen Kreisstadt.

(Schluß folgt.)


[572]

Die Handschuh-Stuhlwirkerei.

Von Max Lindner. Mit Zeichnungen von E. Limmer.

Siegmar und Umgebung

0Arbeit ist des Bürgers Zierde
     Segen ist [der] Mühe Preis.

Das waldreiche sächsische Erzgebirge bietet der landschaftlichen Reize unendlich viele. Wer nur einmal den abwechslungsreichen Thälern der Schwarzen Pockau, der Flöha, der Zschopau mit den prächtigen Punkten am Katzenstein, bei Schloß Augustusburg und am Harrasfelsen einen Besuch abgestattet, wer eine Wanderung vom reizend gelegenen Wolkenstein nach Wilischthal, von Olbernhau nach Rübenau und am Schwarzwasser von Schwarzenberg nach Johanngeorgenstadt unternommen, oder wer die herrliche Fernsicht von dem Fichtelberg, Bärenstein, Kuhberg, Spiegelwald, den Greifensteinen aus genossen hat, der vergißt die gewonnenen Eindrücke gewiß sobald nicht wieder.

Einfach und bescheiden sind die Bewohner dieses Landes. Der Boden ernährt sie nicht gut. Der Landwirt aus der fruchtbaren Niederung wird sie sicher bemitleiden beim Anblick der dürftigen Ackererzeugnisse. Oftmals zieht der Winter ein, wenn das Wenige, was auf der Flur erwuchs, noch nicht abgeerntet ist, weil die nötige Reife fehlt. Der Erzgebirgler aber ist genügsam und thätig; was Mutter Erde ihm versagt, sucht er durch seiner Hände Arbeit zu erringen

So kommt es, daß das Erzgebirge äußerst gewerbsfleißig ist. Die fallreichen Gebirgswasser bringen die treibende Kraft zahlreichen Spinnereien, Schneidemühlen, Holzstoff- und Papierfabriken. Wem diese keine Beschäftigung bieten, der findet sie in der durchs ganze Erzgebirge verbreiteten Hausindustrie. Hoch oben in Seiffen, Olbernhau bis hinunter nach Grünhainichen arbeiten Hunderte von Familien bis spät in die Nacht in der Holzspielwarenerzeugung. Weiter nach Westen hin, in Marienberg, Annaberg, Geyer, Ehrenfriedersdorf, Eibenstock giebt die Gorlnäherei und Posamentenherstellung ganzen Ortschaften Brot; während von Thum, Lößnitz, Stollberg ab bis nach dem schornsteinreichen Chemnitz und dem Fuße des Gebirges die mächtige Strumpfwarenindustrie seit der Einführung des Wirkstuhles in langgedehnten Dörfern ihr Heim aufgeschlagen hat. Die tausend und abertausend Dutzende von Strümpfen, welche in ihren geschmackvollen Farbenzusammenstellungen ebenso die leichtlebige Pariserin wie die stolze Nordamerikanerin und die glutäugige Indierin entzücken – sie stammen – fast alle aus diesem kleinen Teile des großen Deutschen Reiches.

Wenn der Reisende im Dampfwagen auf der Linie München–Dresden die kurze Strecke Hohenstein–Chemnitz durcheilt, betrachtet er wohl gern die schmucken Ortschaften, welche sich rechts und links der Bahn einander anreihen, als ob sie ein zusammenhängendes Ganzes bildeten. Im übrigen wird er an den weißgetünchten, zuweist aus Erd- und Obergeschoß bestehenden, ziegel- oder schiefergedeckten Häusern mit ihren Vor- und Seitengärtchen wenig Auffälliges finden. Hier ist der Hauptsitz der Erzeugung des ältesten sächsischen Handschuhes, der gewirkten Stuhl- oder Einnaht-Finger-Handschuhe. Die Herstellungsweise dieser Handschuhe, die in ihren besseren Mustern dem Kunstgewerbe zuzuzählen sind, ist sehr interessant, aber auch sehr mühsam, und die schöne Trägerin, die sich der kunstvollen Arbeit ihres Handschuhes freut, würde gewiß nicht glauben, daß dieser in solch bescheidener Umgebung entsteht und daß soviel Arbeit, soviel peinliche Sorgfalt zu dessen Fertigstellung erforderlich ist.

Zu unserer Reise benutzen wir von Chemnitz aus den Bahnzug, indem wir nach dem in 15 Minuten erreichbaren Siegmar fahren, dessen gefällige Häuser in dem Besucher einen freundlichen Eindruck hervorrufen. Von hier aus wenden wir uns westwärts der Landstraße entlang und nach wenigen Schritten befinden wir uns mitten in der Wirkerei. Fast aus jedem Hause und aus jeder Stube tönt uns das eigentümliche Schnurren des Wirkstuhles entgegen, ab und zu sitzen vor den Häusern Kinder, mit kleinen Arbeiten an Handschuhen beschäftigt.

Treten wir ein in ein solches Haus, aus dem uns das lebhafte „Raazen“ der Maschine schon von ferne regsame Thätigkeit verkündet. Wir befinden uns in einer niedrigen, nicht zu großen Stube mit einem dem Garten und zwei der Straße zugewandten kleinen Fenstern. Sie dient augenscheinlich gleichzeitig als Küche, Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer, da in der Regel der Wirker außer einem kleinen Alkoven nebenan oder einer Kammer im Dachgeschoß nur über diesen einen Raum verfügt.

Vor dem Ofen, der zum Kochen wie zum Heizen dienen muß, hat eine niedrige Bank ihren Platz, dahinter an der Wand hängt ein Brett mit dem wenigen für die Familie erforderlichen Geschirr. Ein Haussegen über der Thür und einige billige Bilder schmücken die einfach gestrichenen Wände. Ein viereckiger Tisch, ein paar Holzstühle, eine Kommode mit darüber befestigtem Spiegel und eine Schwarzwälder Wanduhr vervollständigen die dürftige Ausstattung. Blankgescheuerte Dielen, weiße Vorhänge und einige kleine Blumenstöcke an den Fenstern geben dem engen Raume einen freundlichen Anstrich. Ein Vogelbauer fehlt auch hier nicht, wie in der That fast in jeder Wirkerstube ein Hänfling, Zeisig oder Rotkehlchen zu finden ist.

Der beste Platz dicht am Fenster ist dem Wirkstuhl angewiesen. Dieser besteht in der Hauptsache aus Holz, einzelne Teile aus Eisen. Seine Bauart ist auch heute noch von der vor hundert Jahren gebräuchlichen kaum merklich verschieden. Der Stuhl gehört fast immer dem Fabrikanten – oft auch „Faktor“ genannt – der ihn dem Arbeiter zur Miete giebt. Dieser verarbeitet darauf das vom [573] Fabrikanten erhaltene Material und zahlt für den Stuhl je nach seiner Beschaffenheit und der Art der Beschäftigung für die Woche 10 bis 50 Pfennig Zins.

Inneres einer Handschuhwirkerstube.

Wir sehen auf dem unten abgebildeten Stuhle schon ein geteiltes Stück Ware zu zwei Paar Handschuhen mit durchbrochenem, kunstvoll gearbeitetem Anfang, der auf einem anderen Stuhle gemacht worden ist. Alle möglichen Muster finden wir in diesen Anfängen vertreten, sämtlich mit der Hand frei aus dem Gedächtnis in die Ware hineingearbeitet: Blumen, Ranken, Blätter, Bäumchen, Guirlanden, Sterne, Streifen, Puffen, Vier-, Sechs-, Achtecke etc., deren ansprechende Zusammenstellung dem Arbeiter vielfach selbst überlassen bleibt. Für diese Figuren werden kleine Löchelchen hergestellt durch Ueberhängen der einen Masche auf die andere mit Hilfe einer auf die Träger k zu legenden Vorrichtung (Petinet-Maschine), welche der unter l sichtbaren, auf unserem Bilde jetzt außer Thätigkeit befindlichen Mindermaschine ähnlich ist. Der Mann muß dabei alle Aufmerksamkeit seiner Arbeit widmen; denn ein einziger Fehlgriff verdirbt ihm zwei paar Anfänge und beraubt ihn des sechsten Teiles seines Tagesverdienstes. Ja, er hat Ursache, sehr fleißig zu sein, wenn er täglich ein Dutzend Paare derartiger Anfänge mittlerer Länge vollenden will.

Mit den Füßen bewegt der Wirker die Tritte a, wodurch sich die Welle b um die eigene Achse dreht und zum Werden der Masche die eigenartig geformten, senkrecht stehenden Stahlplättchen c, sog. Platinen, niederdrückt. Den Faden dazu holen sich diese von den oben auf den Galgen d befindlichen Spulen durch die herüber und hinüber laufenden Fadenführer e. Das Treten des Teiles f bringt vermittelst der Holzschiene g die eiserne Presse h auf die Nadeln, was mit dem durch die Druckstange i gleichzeitig erfolgenden Herüberziehen des Werkes die neugewonnene Masche zu der auf den Nadeln schon hängenden Ware reiht. So geht das weiter, bis diese bis zum Daumen fertig ist. Nachdem sie abgesprengt worden, sind noch vier Paar Längen auf gleiche Art dazu zu machen. Alle sechs Paare werden dann an der Daumenstelle in der Breite des Daumens wieder an die Nadeln gestoßen. Das Wirken beginnt nun von neuem, bis schließlich bei der Fingerkoppe unter Inanspruchnahme der auf die Träger k gelegten Mindermaschine l das Verschrägen der Fingerspitze durch Zusammenlegen der Maschen bewirkt wird. Seit einigen Jahren verstärkt man auch die Fingerkoppe durch Hinzufügen eines weiteren Fadens, wodurch die sogenannte Doppelspitze entsteht Das jetzt fertig gewordene Stück wird in Daumenbreite mit Längsschnitten versehen und damit sind die 12 Daumen für ein halbes Dutzend Paar Handschuhe fertig. Bei der Abendarbeit wird an der Seite des Stuhles in die Oese m ein Leuchter mit Lichtkugel n gestellt, eine mit ganz klarem Wasser gefüllte Glaskugel, eine sogenannte „Schusterkugel“, die den Schein der dahinter befindlichen Lampe auf die Nadeln wirft.

Am Wirkstuhl.

Bei einer vom frühen Morgen bis zum späten Abend dauernden Arbeit, die Füße, Arme und Hände und nicht zum wenigsten die Augen in Anspruch nimmt, bringt ein geübter Wirker, wie gesagt, zwölf Paar Handschuhe zu stande. Viel hat ihm das nicht eingebracht, höchstens 2 Mark 20 Pfg., und dabei muß er noch Stuhlzins und Auslagen für Bruch von Nadeln und Platinen bestreiten. Diejenigen jedoch, welche nicht im Besitze eines solch breiten und guten Stuhles sind und daher keine Handschuhe mit verschrägten Fingerkoppen machen können, erschwingen nur reichlich die Hälfte jenes kleinen Betrages. Bloß tüchtige und fleißige Wirker von durchbrochenen seidenen Anfängen bringen es bei anhaltender Beschäftigung auf 13 bis 14 Mark in der Woche. Auch können nur Leute, die noch gute und scharfe Augen haben, die Arbeit verrichten. Die Feinheit der Maschen kann man sich erst vorstellen, wenn man erfährt, daß 23 Nadeln auf einen Leipziger Zoll kommen und mithin beispielsweise an dem oben beschriebenen Stuhle 23 Nadeln x 33 Zoll (= 78 cm), also 759 Nadeln unausgesetzt beobachtet werden müssen. Man muß wahrhaftig staunen über die Ausdauer und die Genügsamkeit dieses fleißigen Völkchens.

Jede Wirkerstube hat ihr Spulrad. Sehr oft müht sich ein schulpflichtiges Kind mit dem Spulen des feinen Flors für den Wirker, den dieser ebenso wie die Seide vom Fabrikanten in Strähnen zum Verarbeiten erhält.

Ist der Handschuh auf dem Stuhle fertig, so bekommt ihn das Wirkerkind zum Fädeln. Es reiht von den Fingerkoppen die Maschenhenkel mit der Nähnadel an einen Faden, zieht solchen zusammen und verknüpft ihn. Nun erst kann die Frau des Arbeiters den Handschuh auf der Nähmaschine zuaammennähen. Dann fehlen zur schließlichen Vollendung bloß noch die seidenen Nähte oben auf der Hand. Diese Arbeit wird ebenfalls zum größten Teile in der Wirkerstube verrichtet, indem der Handschuh in kleine Maschinen eingespannt und der Zwickel mit der Hand aufgenäht wird.

So ist in der Regel die ganze Familie in der Handschuh-Erzeugung beschäftigt: der Mann am Wirkstuhl, die Frau an der Nähmaschine, zum Wirken nicht Fähige am Spulrad, kleinere Kinder beim Fädeln, größere in der Zwickelei. Oftmals aber kommt es vor, daß die Frau das Wirken ebenso erlernt hat und betreibt wie der Mann.

Wir begleiten jetzt unseren Freund zu seinem Arbeitgeber; er will die fertige Ware abliefern und sich frische Beschäftigung holen. [574] Es ist ein gut Stück Wegs bis dahin, nicht selten haben die Leute stundenweit zu gehen. In der Lieferstube warten schon mehrere Arbeiter, denen der Fabrikant selbst oder seine Gehilfen das Material zu neuer Arbeit bereit machen. Es ist das immer ein schwieriges Geschäft, denn die Kundschaft ist anspruchsvoll und will unter hunderterlei Farben die Wahl haben. Ist das Aussuchen der Farben beendet, dann geht es an das Abteilen des Flors und der Seide; denn vom Material soll der Arbeiter nicht zu viel und auch nicht zu wenig erhalten. Einem anderen fehlt noch Flor und Seide zu einer Fingerkoppe, bei einem dritten ist der Flor nicht rein gefärbt gewesen. Dazwischen hinein kehrt ein Bote von einem Arbeiter zurück, der dort fertige Ware abholen sollte. Er kommt mit leeren Händen: die Handschuhe waren zwar bis heute versprochen, indessen noch gar nicht angefangen, denn schwere Krankheit ist bei jenem eingezogen. Kinder holen sich Handschuhe zum Fädeln, wieder andere bringen solche von der Näherin und so geht das weiter. Kommt die Ware fertig von dem einen Arbeiter, so muß sie vielfach noch 5 bis 6 mal und noch öfter ausgegeben werden, bevor die letzte Hand angelegt werden kann.

In der Appretur werden die Handschuhe zur Erzielung eines gefälligen Aussehens über heiße Formen gebracht, nach Fehlern untersucht, gestempelt, geheftet und schließlich gepackt, womit sie endlich zum Verschicken bereit sind.

Wie aus der oben geschilderten Herstellungsweise ersichtlich ist, erhält der Finger nur eine Seitennaht. Die große Dehnbarkeit des Handschuhes ist der gewirkten Ware eigentümlich und auch nur durch das Wirken zu erzielen.

Auf die Handschuh-Stuhlwirkerei sind etwa 1500 Männer, darunter vielleicht 1200 Familienväter, insgesamt ungefähr 6000 Menschen im ganzen Bezirke angewiesen. Ein Teil der Arbeiter sucht sich während der Sommermonate eine lohnendere Beschäftigung als Handlanger, Maurer, Ziegler, Bergarbeiter etc. und kehrt erst im Winter an den Wirkstuhl zurück. Fast zwei Millionen Paar Handschuhe werden jetzt im Jahre hergestellt, jedoch ließe sich diese Zahl leicht auf das Doppelte erhöhen.

Erfüllt von unseren Einblicken in das Leben und Treiben einer in hartem Dasein doch zufriedenen Bevölkerung, schicken wir uns zur Rückkehr an. Ohne daß wir es besonders bemerkt haben, sind wir ziemlich weit im Thale hinaufgekommen; wir verlassen dasselbe aber nicht, ohne es zuvor nochmals von der nahen Anhöhe aus überschaut zu haben. Unsere Schritte nach dem den ganzen Bergrücken bedeckenden Hochwald hinüberlenkend, erklimmen wir einen steilen Fußpfad. Bald befinden wir uns auf einem freien Platze mit abgeplatteten Steinkolossen, auf dem sogenannten „Totensteine“, wohl einer alten Richt- oder Opferstätte, rings umgeben von mächtigen Tannen und Fichten. Hier an dieser sagenumwobenen Stelle hat der rührige Erzgebirgszweigverein Rabenstein in Gemeinschaft mit dem Limbacher Bruderverein einen eisernen Aussichtsturm errichtet. Wir besteigen diesen „Maria Josepha-Turm“ und mit einem Male sehen wir die ganze Handschuhwirkergegend vor uns liegen: Wüstenbrand, Oberlungwitz, Grüna, Mittelbach, Reichenbrand, Siegmar, Rabenstein. Aus dem sanft ansteigenden Gebirge blicken noch viele freundliche Ortschaften hervor; im Osten breitet sich mit seinen Türmen und unzähligen Dampfessen das emsig schaffende Chemnitz aus und nach Südwesten zeigen sich im Oelsnitz-Lugauer Reviere verschiedenw Kohlenwerke. Den Hintergrund bildet im Süden die Kette des Gebirges. Darüber hinweg aber sendet der Keilberg, der Riese des Erzgebirges, uns seine Grüße aus dem beachbarten Kaiserstaate.


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„Up ewig ungedeelt!!“

Novelle von Jassy Torrund.

  (3. Fortsetzung.)

Es war sehr friedlich geworden in dem epheuumrankten Hause, seit die beiden ärgsten Feinde, das Katteeker und der Lieutenant, auf unbestimmte Zeit Waffenstillstand geschlossen hatten. Ein unbefangener Zuschauer hätte die jungen Leute wohl gar für die allerbesten Freunde gehalten, hätte er gesehen, wie angelegentlich und einträchtig sie sich der gemeinsamen Erziehung des Buchfinken und des Kanarienvogels widmeten oder den vergnüglichen Sport der Fliegenjagd für die Frösche eins, zwei und drei betrieben. Selbst die kluge Tante, die ihr Katteeker doch wahrlich besser hätte kennen sollen, verfiel zuletzt in den Irrtum, diesen Waffenstillstand für einen endgültigen und von beiden Parteien unterschriebenen Friedensvertrag zu halten. Sie hatte ein paarmal aus ihres Vetters treuherzigen blauen Augen einen heißen Blick aufgefangen, der dem Katteeker galt und sie lebhaft an jene längstvergessene Zeit erinnerte, wo Vetter Gerhard ihr selber huldigend zu Füßen gelegen. Mit stillem Lächeln mußte sie dabei der Vergänglichkeit alles Irdischen gedenken und nach Frauenart knüpfte sie an diesen Sprung von der Tantenverehrung zur Nichtenanbetung allerlei fröhliche Hoffnungen für die Zukunft. Ja sie war in diesen Hoffnungen so sicher, daß sie eines Morgens in ernstlichem Ueberlegen vor ihrem Kleiderschrank stand und die Frage erwog, ob das blau und schwarz karrierte Seidenkleid wohl noch gut genug sei, oder ob Johannes ihr ein neues spenieren würde, wenn – – –

Inzwischen saß an eben diesem bitterkalten Wintermorgen Herr Johannes Genthin in einem überfüllten schlecht geheizten Coupé des Altona-Kieler Zuges und überließ sich seinen Gedanken, die nicht halb so rosig und hoffnungsvoll waren wie jene seiner lieben Frau.

Die Reise der schleswig-holsteinischen Abgesandten, diese Reise, auf die man daheim alle Hoffnungen gebaut, von deren Erfolg das mißhandelte und gequälte Volk die lange ersehnte Befreiung erwartete, sie war so gut wie vergebens gewesen. Wohin sie kamen, waren sie von den entflammten deutschen Brüdern mit Jubel und Begeisterung empfangen, mit offenen Armen aufgenommen worden. „Los von Dänemark! Up ewig ungedeelt!“ war die Parole, die damals zündend von Land zu Lande flog. Kein noch so weltfernes Städtchen gab es, wohin das Wort nicht wie auf Flügeln des Windes drang. Und so regte und rührte es sich überall, wohin die Abgesandten der Herzogtümer kamen. Man wetteiferte, diesen wackeren Freiheitskämpfern seine Sympathien zu beweisen. Ehrenpforten, weißgekleidete Jungfrauen, Ansprachen und festliche Gastmähler waren an der Tagesordnung – aber der Bund rührte sich nicht! Volksversammlungen und Kammern forderten die Unterstützung der Herzogtümer, aber der Bund rührte sich nicht! Immer noch standen die Bundestruppen unschlüssig und unthätig in Holstein, noch hatte kein gewappneter Fuß die Eider überschritten.

So war denn wieder einmal für die Herzogtümer jegliches Hoffen vergebens, alle Mühe, die sich die Deputation gegeben hatte, umsonst gewesen.

Umsonst, alles umsonst!

Das erwog Johannes Genthin, während er, in seine Ecke gedrückt, sich mühte, die widerspenstige Cigarre in Brand zu setzen, während die laute derbe Unterhaltung seiner Mitreisenden ihn umschwirrte. Er war allein und fremd unter all diesen Menschen. In Hamburg, wo die Wege der zurückkehrenden Deputation ohnehin auseinandergingen, hatte er erst noch eine geschäftliche Angelegenheit erledigen müssen und war auf diese Weise von seiner bisherigen Reisegesellschaft getrennt worden.

Schwer lastete auf seiner Seele das Scheitern aller Hoffnungen seiner unglücklichen Landsleute, aber in dieser Stunde quälte ihn noch ein anderes: die Ungewißheit über das Ergehen der Seinigen, von denen er seit Beginn der Reise ohne Nachricht geblieben war. Daß Hedwigs Briefe ihn einfach verfehlt hatten und von Station zu Station nun getreulich hinter ihm her wanderten, konnte er freilich nicht wissen, und so geriet seine Stimmung allgemach in jene Verfassung, wo das vom Denken und Grübeln zermarterte Hirn dumpfer Verzweiflung anheimfällt.

Plötzlich schlug ein Klang an sein Ohr, der ihn aus seinem Brüten aufschreckte und eine neue Gedankenfolge wachrief. Irgend jemand hatte den Namen seines Heimatstädtchens ausgesprochen, und helle freundliche Bilder von Wiedersehen und Kinderjubel, von der Freude seines jungen Weibes begannen vor ihm aufzusteigen, während der Zug rasselnd und stampfend über die schneebedeckte Ebene dahinjagte.

„P . . .?“ fragte eine grobe Stimme in breitester Mundart. „Da is ja ’n komisches Stückschen passiert, haben Sie da nix von gehört?“

[575] „Ne! Was denn?“ rief und fragte es erwartungsvoll.

Der erste Sprecher lehnte sich mit Behagen zurück. „Ja, meine Herr’n, da passieren männigmal snaksche Dinge auf dieser Welt.“ Ein listiges Schmunzeln überflog das breite rote Gesicht beim Anblick all der gespannt lauschenden Mienen. „Sie wissen doch woll alle von die große Deputatschon nah’n Bundestag? Na, welche von die Bürgers in P. sünd da ja natürlich auch mit bei gewesen, un weildes, daß sie weg sünd, kommen die Preußens. Na, Sie wissen woll, meine Herr’n, wie das unnerwegens zugegangen is: Fenster zu, Thüren zu, un keine menschlich lebennige Seele auf der Straße. So is das denn in P. nu ja auch gewesen, un was die Preußens sünd, die ziehen da denn durch un machen ’n schiefes Maul, von wegen daß sie sich die Sache denn doch ’n bischen pläsierlicher gedacht hatten. Na, ’s is gut! So müssen sie nu also durch ’n ganzen Ohrt in einen Dodesschweigen, bloß wie sie bei ’s letzte Haus vorbeikommen, hängt da ’ne preuß’sche Fahne raus, un lüttje Gören stehen un bewerfen ihnen mit Blumenbuketters. Na, da wird denn ja nu ’n großen Juchhei, un alle fangen an un singen, all was sie können, ,Heil dir in’ Siegerkranz‘ – un was der öbberste General is, der steigt gleich vons Pferd un geht herein un bekukt sich die Madam mal genau, die da wohnen thut un das Ganze anord’niert hat ...“

„Da hab’ ich auch von gehört!“ ries jemand anders dazwischen. „Soll ’ne lütt’ nüdliche Frau gewesen sein!“

„Wie heißt sie denn? Wer is das denn? Wo, Deubel, kann sich ’ne Schleswig-Holsteinerin zu so ’n Stück hergeben?“ fragte und schalt es in lautem Durcheinander.

„Ne, ne! Sie is ja gar keine Hiesige! Is selber so ’ne Eingewanderte aus Preußen oder sonst woher! Un wat dat Dullste is, miene Herrn“ – der Sprecher geriet in seinem Eifer jetzt völlig ins Plattdeutsche – „wat ehr Mann is, de sall sülwst mit bi de Deputatschon wesen. Den Namen hev ik ok wul hürt, hev em man wedder vergeten. Dat weer so wat vun Tarpentien[1] oder so ähnlich. So wat weer dat. – Na, hebb Se denn ok all hürt, wie de Ahrnsböker de Hannoveraner empfangen hebb’n?“

Damit lenkte er die Unterhaltung auf ein anderes Thema über – und die lähmende Spannung, die Johannes Genthin wie ein Bann umfangen hatte, löste sich. Er saß noch immer, ohne sich zu rühren, in seine Ecke gedrückt und starrte auf den blendenden Schneeglanz draußen auf der Heide, und in seinem Hirn klopfte und hämmerte es wie ein Mühlenwerk.

War das, was er gehört, denn wirklich wahr? War’s möglich, daß Hedwig eine so thörichte Demonstration in Scene gesetzt hatte, sie, die so ängstlich selbst den Schein eines außergewöhnlichen Thuns vermied? Er konnte es seiner ruhigen, so vornehm denkenden Frau nicht zutrauen. Und dennoch! Die Schilderung stimmte zu genau; sein Haus, das friedliche, epheuumsponnene, stand ja wirklich unter den letzten an der Landstraße, und Hedwig war die einzige Preußin, die einzige Fremde im ganzen Ort. Und niemand wußte besser als er selbst, welch begeisterte Vaterlandsliebe in dieser Frauenseele lebte, wie tief und fest eingewurzelt das Heimatgefühl in ihr war, wie unvergessen das Land, wo sie ihre frohe Jugendzeit verbracht hatte. Ach nein, für ihn konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß niemand anders mit dieser „Preußin“ gemeint war als sein eigenes Weib! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, er ballte die Faust, in seine Augen kam ein finsterer drohender Blick. O, hier sitzen müssen unter diesen schwatzenden lärmenden Menschen, die jeden Augenblick wieder beginnen konnten, seines Weibes Ehre in den Staub zu ziehen – unthätig, wehrlos, denn was konnte es nützen, sich mit den Leuten in ein widerwärtiges Streiten einzulassen? Hier sitzen und Station um Station gleichmäßig abrufen, abläuten hören, hier sitzen, regungslos, in dieser Aufregung, mit diesem Zorn und dieser heimlich nagenden Angst im Herzen – o das war entsetzlich, das waren die Qualen eines Gefolterten!

Aber die Stunden vergehen, die guten wie die schlimmen, und auch diese Fahrt, die schrecklichste, die Genthin je erlebt, nahm ihr Ende.

Bald lag Kiel vor ihm, die alte Ostseestadt, an der eisbedeckten Föhrde, und über ihr blaute der klare Winterhimmel. Die finsteren Augen des Mannes blickten heller, als er die schleswig-holsteinischen Fahnen schaute, die lange verbannten, die von allen Häusern niedergrüßten, die sich stolz und weithin leuchtend im frischen Seewind entfalteten. In den Straßen wimmelte es von Soldaten aller Sprachen, freudige Erwartung auf allen Gesichtern, neues Hoffen in den Augen von alt und jung. Es war, als ob die Märztage von 1848 wiedergekehrt wären. „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Gott sei gelobt! Hier wenigstens rüttelte und schüttelte man an dem verhaßten Joch, hier wenigstens läuteten die Glocken Tage des Kampfes ein!

Mit vieler Mühe fand Genthin einen Wagen – und nun heim!

In der tiefen Stille, die ihn draußen in Gottes freier Natur umgab, in dem Frieden des sonnigen Wintertages ward es auch in seiner Seele ruhiger. Er lehnte sich zurück und atmete in vollen Zügen die Heimatluft. Die wechselnden wirren Eindrücke klärten, milderten sich. Das frische Kriegsleben in der Hafenstadt hatte die traurigen Reisebilder verdrängt. Ihm war, als wenn er wider alle Hoffnung doch noch hoffen dürfte. Hatte doch der alte Vater Wrangel in seiner volkstümlichen Weise altes Unglück und neue Zukunft mit einem seiner treffenden Schlagworte zusammengefaßt und allen Leuten tröstend zugerufen: „Kinner, dit ward nu better!“ Bei Gott, ja, es mußte besser werden! Die Aufregung in deutschen Landen wuchs ja von Tag zu Tag, und Volkesstimme – Gottesstimme! Endlich würde diese allgewaltige Stimme mit Donnerschall die Säumigen aus ihrem Schlaf wachrufen, wie ein entfesselter Riese würde das deutsche Volk hervorbrechen und den Bruderstamm aus unerträglicher Knechtschaft befreien!

So zogen und jagten die Gedanken durch des einsamen Mannes Seele und in den großen Sorgen und Hoffnungen des Vaterlandes gingen seine eigenen kleinen Sorgen und Kümmernisse unter.

Auf der hartgefrorenen Landstraße rollte der Wagen dahin, der Heimat zu. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur in der Ferne ein einsames altes Botenweib, das sich schon mehrmals sehnsüchtig umgeschaut hatte. Genthin kannte die Alte, die auch für sein Haus schon manchen Weg gegangen war. In angeborener Gutmütigkeit ließ er den Kutscher halten und rief:

„Na, Mudder Kählertsch, smieten[2] Se ehrn Packen man achter[3] up! So, un nu springen Se man hier herup!“ Damit machte er neben sich Platz, denn vorn beim Kutscher stand sein Reisekoffer. Die alte Frau folgte der freundlichen Aufforderung, ohne viel Worte darüber zu verlieren, und drückte sich bescheiden in die andere Ecke des breiten Sitzes.

„Na, Mudder Kählertsch, wo geiht dat denn in P . . .?“ fragte Genthin und legte seine warme Reisedeeke über die dünnen Röcke des armen Weibes.

„O, ’t geiht jo,“ versetzte sie einsilbig.

„Hebb’n Se mien Fru un de Kinner seh’n?“

„Seh’n hev ik ehr grad nich. O, de ward wul nix fehlen,“ kam die zögernde Antwort. Es war, als wenn sich eine Hand erst vorsichtig und heimlich tastend ausstreckt, ehe sie recht zuzugreifen wagt.

Die zugeknöpfte Art der sonst so redseligen Alten befremdete Genthim und er fragte sich, ob auch sie, die aus Frau Hedwigs Händen schon so manche Wohlthat empfangen hatte, von dem allgemeinen Haß gegen „die Preußin“ angesteckt sei. So saßen die beiden Menschen eine geraume Zeit stumm nebeneinander, jedes in seine eigenen Gedanken versunken; nur zuweilen streiften die Blicke der Frau mit heimlichem Forschen das ernste luftgebräunte Antlitz ihres Begleiters. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein, legte ihre arbeitsharte Hand auf Genthins Arm, räusperte sich ein paarmal und that zuletzt die harmlose Fragen „Is de Herr lang’ weg west?“

„Virteihn Dag, Mudder,“ antwortete er, tief in Gedanken, er hatte fast vergessen, daß jemand neben ihm saß.

„Hm, hm! Dat is je nich, dat ik wat gegen Madam’ Genthin segg’n will – man, dat’s doch beter, dat de Herr wedder an’t Hus kümt.“

„Woso dat?“ fragte Genthin, aufmerksam werdend, und blickte sie scharf an.

Die Alte schüttelte bedächtig den Kopf. „O, doch man so! De Lüd snaken veel, Herr, un allens ward je wul nicht wohr wesen,“ erwiderte sie diplomatisch.

Genthin fing an, ungeduldig zu werden. Aber er wußte, daß er durch Heftigkeit nichts erreichen würde, wollte sich auch die Stimmung nicht verderben lassen, deshalb machte er gute Miene zum bösen Spiel.

[576] „Na, nu man to, Mudder Kählertsch,“ sagte er mit einem Anflug von Humor und erwartete in einiger Spannung einen neuen eingehenden Bericht über Hedwigs Verbrechen, den Preußenempfang.

„Je, Herr, wenn Se dat denn so hebb’n wüllt – un Se sünd je ok so fründli mit mi west – je, Madam’ Genthin hett je dunn de ollen Preußens bewillkamt un nahsten hebb’n wi all Inquattierung kregn un se hett so’n preußischen Leut’nant in Quattier. Je, Herr, un nu segg’n de Lüd, de beiden, de sitten nu jümmer tosam un snaken un vertell’n sik wat un hebb’n dat rein so hild[4] mitenanner as ’n poar Leewslüd[5]. Un wat mien Swiegerin is, dat’s n Meddersche[6] to Se ehrn Kutscher Plöhn, Herr; un de sä[7] to mi, Plöhn de seggt: ,Wenn dat mien Herr wüß, denn so würd he dat ganze Preußenvulk mit de Pietsch[8] ut den Hus driewen, dat ol Takeltüg!“ seggt he. Dat sall je noch’n ollen Anbeter vun Madam’ Genthin wesen, seggt mien Swiegerin . . .“

„Un mien Swiegerin seggt un Plöhn seggt ... Gott’s en Dunner, nu hev ik nog[9] vun de Snakeri!“ brauste Genthin auf. „Is dat de Dank, dat mien Fru Jug Godes dahn hett, Ji Rackertüg? Nu hol[10] Dien Muul, Du olle Kretur, süs smiet ik Di vun’n Wagen hendal!“

„Je, Herr, denn smieten Se man to, hier ’s de Wienbarg un hier mutt ik so wie so afstiegen,“ sagte die Alte erbost und kletterte herab.

Ohne ein Wort, in finsterem Schweigen fuhr er weiter. Nicht daß er das dumme Gerede ohne weiteres geglaubt hätte; aber ob er sich’s auch nicht gestehen wollte, ein leiser leiser Zweifel, ein aufkeimendes Mißtrauen gegen sein junges Weib war doch in seiner Seele hängen geblieben. Verhielt sich die Geschichte mit der Preußenbegrüßung wirklich so – und daran konnte er kaum noch zweifeln – wer konnte wissen, was Hedwig in blinder Vorliebe für ihre Landsleute sonst noch für Extravaganzen begangen hatte! War es denn überhaupt etwas so Unerhörtes, Niedagewesenes, wenn eine junge hübsche Frau sich in Abwesenheit ihres Mannes von einem flotten Anbeter den Hof machen ließ? Wenn aber dem so war, wenn Hedwig nun wirklich in seiner Abwesenheit die Huldigungen eines preußischen Offiziers angenommen, wenn sie vielleicht alte Beziehungen wieder angeknüpft hatte – was dann?

Ein alter Anbeter? Er wußte von keinem, der ihr wirklich nahe gestanden, für den auch sie jemals ein tieferes Interesse gefühlt hätte. Und doch – wie hatte er sich vorhin gesagt: Volkesstimme – Gottesstimme! Das Wort lag in der Luft, es summte in seinen Ohren, dumpf wie Grabgeläute klang es in seinem Herzen wieder. Eine Unheil drohende Falte grub sich tief in seine Stirn.

O, nur das nicht, nur das eine nicht! Was fragte er jetzt noch nach der „preußischen“ Kundgebung, deren Hedwig sich schuldig gemacht haben sollte! Ein harmloses Spiel wäre es gegen das, was vielleicht später in seinem Hause geschehen. Wie leicht schien es ihm jetzt, der warmherzigen Frau die enthusiastische Begrüßung ihrer Landsleute zu vergeben, die ja nicht dem Einzelnen, sondern ihrem ganzen Vaterlande galt! Erklärlich, ja entschuldbar und völlig natürlich erschien ihm ihr Thun.

Er lächelte – ein grimmes, bitteres Lächeln! So weit war’s mit ihm gekommen, daß er entschuldigte, wo er anklagen sollte, in Schutz nahm, wo es zu richten galt? Aber so im Kampf zwischen Herz und Vernunft, zwischen Zorn und Liebe, ward ihm doch das eine zur unumstößlichen Gewißheit: mit tausend Freuden wollte er verzeihen, was die Preußin gesündigt, wenn nur das Weib rein geblieben war, rein und sein eigen! – Er hielt’s nicht länger aus vor den anstürmenden Gedanken, hielt’s nicht aus in seinem gemächlich dahinrollenden Wagen.

„Kutscher, kehren Sie in der Post an – ich will hier aussteigen. Will meine Frau überraschen.“

Wieder flog das bittere Lächeln um seinen Mund. Ja, überraschen! Wie wird er sie antreffen, die Frau, die in vierzehn Tagen nicht eine Stunde Zeit fand, an ihren Mann zu schreiben? O, nun verstand er ihr Schweigen!

Schwer und müde wie ein alter Mann legte er die letzte Strecke zurück. Jetzt stand er an seiner Gartenpforte, durchschritt die verschneiten Wege und trat ins Haus.

Lauter Kinderjubel und Gesang einer rauhen Männerstimme tönte ihm aus der Küche entgegen. Er blieb stehen und lauschte. Die Baßstimme sang ein Kinderliedchen, dazwischen klang das helle Aufjauchzen der kleinen Mädchen. Die Thür war nur angelehnt. Durch die Spalte sah er einen biederen Landwehrmann am Herdfeuer sitzen, auf jedem seiner Knie ritt ein kleines wildes Ding, sich krampfhaft an seinen blanken Knöpfen festhaltend.

„Hopp-hopp, Hopp-hopp, Reiterlein!
Wenn die Kinder kleene sein
Reiten sie nach Sach – sen ...“

sang der Mann in unverfälschter Berliner Mundart. Die alte Stine stand daneben mit ihrem Strickzeug und der fidelsten Miene, die ihr Herr je an ihr gesehen, und wehrte dem allzu lauten Kinderjubel.

Noch stand der Vater und lauschte. Er mußte an sich halten, um nicht die Thür aufzustoßen und seine kleinen Mädchen dem fremden Soldaten fort und in seine eigenen Arme zu nehmen. Aber er bezwang sich, er wollte ja seine Frau überraschen und durfte keinen unnötigen Lärm machen. Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen – wie würde er sie finden?

Schon hob er den Fuß, um hinauszugehen, da kam’s mit heiterem Singen die Treppe herab. Das war der leichte Schritt, das war die weiche Stimme seines Weibes.

„Das Roß ist des Königs, der Reiter ist ...“

Jäh brach der Gesang ab, wie versteinert blieb die Frau sekundenlang an der Treppenwendung stehen – im nächsten Augenblick aber hing sie lacheud und weinend zugleich am Halse ihres Gatten. Der aber schob sie stumm zurück, umschloß mit festem Druck ihre beiden Handgelenke und hielt so das junge Weib auf Armeslänge von sich, ihr tief in die klaren Augen schauend.

Sie stand auf der untersten Treppenstufe, ihr schönes dunkles Gesicht war dem seinigen gerade gegenüber, sie brauchte nicht die Augen zu heben, um ihn anzusehen – groß, furchtlos, nur ein wenig erstaunt über sein seltsannes Gebaren.

„Es geht ja ganz lustig bei Euch her!“ sagte er, und seine Stimme klang rauh und spöttisch. Und da sie schwieg, fuhr er erregter fort: „Du hattest wohl keine Zeit, an mich zu schreiben?“

Sie machte sich von seinen Händen los, die wie Klammern um ihr Handgelenk lagen. „Was hast Du, Johannes? Du thust mir weh! Und was redest Du nur – ist das Deine Begrüßung? Ich schrieb Dir dreimal, aber Du hast mir nie geantwortet.“

„Ich brauchte Dir nicht im besonderen zu schreiben. Du wußtest doch alles durch die Bekannten.“

Sie senkte den Kopf und murmelte mit aufquellenden Thränen: „Niemand brachte mir Nachricht.“

Aber er achtete dessen nicht, sondern sprach weiter: „Ich habe keinen einzigen Brief bekommen. Nur durch die Leute habe ich von Dir gehört,“ sagte er mit schwerer Betonung.

Da erblaßte sie jäh, ein unruhig forschender Blick streifte seine Züge, und hastig sagte sie. „Komm’ doch zuerst hinuauf – Du wirst müde und durchfroren sein, Johannes!“

Nicht den Ton besorgter Liebe, nur die Stimme des schuldigen Gewissens hörte er heraus. Noch standen sie auf der kalten Steintreppe, die Küchenthür hatte Genthin rasch und leise geschlossen. Er sah nicht, daß Hedwig im leichten Hauskleide vor ihm stand, er, der sonst so sehr um sie besorgt war, sah nicht, daß die schlanke Gestalt vor Kälte zitterte.

„So ist es doch wahr!“

Das Wort war mehr gedacht als gesprochen; aber sie verstand es, las, was er sagen zu wollen schien, in seinen Augen, von seinen Lippen. Stolz richtete sie sich auf im Bewußtsein ihrer Schuldlosigkeit. Was sie gethan, konnte sie vor jedem Menschen vertreten, auch vor ihm! Sie hatte ihrem Gatten nichts zu verbergen, brauchte seinen forschenden Blick nicht zu scheuen.

„Ja, es ist wahr!“ bekannte sie freimütig. „Ich habe die preußischen Truppen begrüßt, weil es meine Landsleute sind und unsere Befreier. Ich schrieb Dir alles. Es ist nicht meine Schuld, wenn der Brief verloren ging.“

Er nickte. „Also doch!“

Wird sie nun auch das andere so ehrlich eingestehen? fragte er sich, und sein Blick schien ihre Seele bis in die geheimsten Tiefen zu erforschen. Ohne sich zu regen, hielt sie dem Blick stand, nur die Hand preßte sie auf das stürmisch klopfende Herz, als wollte sie die bange Frage zum Schweigen bringen: was meint er nur?

(Schluß folgt.)

[577]

Krokodile und Krokodilwächter.
Nach einer Originalzeichnung von F. Specht.

[578]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Auge und Blendung.

Von Professor Dr. Hermann Cohn.
II.

Nachdem wir die Veränderungen, welche die Blendung im Auge hervorruft, kennengelernt haben, wenden wir uns zu den Vorbeugemaßregeln. Diese bestehen

1. in Vermeidung der Blendungsquellen
2. im Tragen von farbigen Brillen.

Vor dem Blitze kann man sich nicht schützen; glücklicherweise sind jedoch Blendungen durch denselben sehr selten.

Blendung ist auch schon durch Spiegel hervorgerufen worden. Professor Arlt wurde im Jahre 1849 zu einem sechzehnjährigen Mädchen gerufen, welchem von einem Soldaten aus Mutwillen, als es in seiner Nähe im Schatten der Häuser vorüberging, morgens 10 Uhr mit einem Spiegel das Sonnenlicht ins rechte Auge geworfen worden war, es folgte wütender Schmerz im Auge und Blendung, dann Entzündung, die aber noch glücklich bekämpft werden konnte. Vor derartigen plötzlichen Reflex-Blendungen kann man sich natürlich nicht schützen. Wohl aber warnte Arlt mit Recht davor, beim Spazierengehen im starken Sonnenlicht zu lesen, weil bei zufälligen Wendungen der Schatten des Kopfes, der auf dem Papier liegt, plötzlich grellem Sonnenlichte weicht. Ebenso hüte man sich vor Mikroskopieren bei direktem Sonnenlicht und schütze sich bei Sonnenbeobachtungen durch ein tief schwarzes Glas!

Ob das Licht des Vollmondes Schaden bringen kann, weiß ich nicht. Die Matrosen, welche in südlichen Meeren nachtblind werden, behaupten meist, daß sie ihre Krankheit dem Monde verdanken, der sie bescheint, während sie auf dem Verdecke schlafen; ich möchte fast glauben, daß die Ursache mehr in der Blendung durch den Meeresspiegel unter den Tropen zu suchen sei. Doch will man in Aegypten und Arabien auch auf dem Festlande Sehschwäche und selbst Erblindung beobachtet haben, wenn das Mondlicht Schlafende beschienen hatte.

In einen offenen elektrischen Flammenbogen zu sehen, der 5000 bis 10000 Normalkerzen entspricht, ist die größte Tollkühnheit. Früher mußte man die Kohlenspitzen desselben mit der Hand regulieren, und dabei kamen öfters Blendungen vor. Heute geschieht dies durch selbstthätige Vorrichtungen, so daß niemand mehr in den Bogen hinein zu sehen braucht, daher sind in den letzten Jahren auch keine Fälle mehr von Blendung durch glühende Kohlenspitzen bekannt geworden.

Aber auch jede größere offene Flamme, Petroleum oder Gas, kann durch Aussendung von unmittelbaren Lichtstrahlen dem Auge unangenehm werden. Früher wurdem die Besucher der oberen Ränge und Galerien im Theater oder Cirkus durch die offenen Flammen des Kronleuchters oft geblendet, und man war auf Mittel und Wege zur Abhilfe bedacht. Schon 1866 sah ich im Theatre du Chatelet in Paris gar keine offenen Flammen, der große Gas-Kronleuchter befand sich oberhalb einer mächtigen matten Glasdecke. Später wurde diese dem Auge sehr wohlthuende Beleuchtung auch im Sitzungssaale des deutschen Reichstags in Berlin eingeführt.

Das Licht der elektrischen Bogenlampen kann man durch Milchglas-Glocken abdämpfen, wenn man auch dadurch 33 bis 60% Licht verliert. Aber selbst mit diesen Glocken blenden sie, wenn sie zu tief hängen. Es läßt sich nicht leugnen, daß in vielen Straßen unserer Großstädte, wo die Bogenlampen vor den Schaufenstern nur etwa 11/2 bis 2 m hoch über dem Kopf der Fußgänger angebracht sind, die Passanten von einem Blendungsgefühl getroffen werden, namentlich da, wo viele solche Lampen in einer Straße vereinigt sind. Hier müßte ein Gesetz vorschreiben, daß die so niedrig hängenden Lampen dem Auge des Publikums entzogen werden und nur ihr Reflex dem Schaufenster zugute komme.

Die öffentlichen Bogenlampen pflegt man allerdings sehr hoch, oft sogar zu hoch anzubringen. Man kann aber das Licht der Bogenlampen ganz und gar dem Blick entrücken. So schlug Partz in Philadelphia vor, die stärksten Bogenflammen in der Mitte der Straße in Oeffnungen unterhalb des Pflasters unterzubringen, 40 Meter darüber aber ungeheure Hohlspiegel abzustellen die das Licht dann wieder nach unten auf die Straße zurückwerfen würden – jedenfalls ein eigenartiger Vorschlag.

Vorzüglich bewährte sich der Gedanke, das Bogenlicht in Sälen dem Auge ganz zu entziehen. Zu diesem Zwecke entwarf der Berliner Ingenieur Hrabowski in geistreicher Weise Oberlicht-Reflektoren. Er umgab den Kohlenbogen mit einem prismatischen Glasringe, welcher die hauptsächlich wirksamen Strahlen des elektrischen Lichtes so von ihrem Wege nach unten ablenkt, daß diese auf einen mit weißem Stoffe überzogenen Mantel fallen, welcher die Lampe umhüllt. Erst von diesem gehen sie nach unten, so daß von keinem Platze aus die Flamme selbst gesehen werden und nirgends Blendung entstehen kann. Diese Oberlicht-Reflektoren eignen sich daher besonders für Zeichen- und Operationssäle.

Auch plötzliches Einfallen von Tageslicht ruft Blendung hervor, man suche also durch Stellung des Bettes und durch Vorhänge das Auge gegen die unmittelbaren Strahlen der Morgensonne zu schützen. Man lasse die Vorhänge oder Fensterläden nicht plötzlich öffnen! Ich behandelte einmal eine Dame, die in diesem Punkte höchst empfindlich war, ihre Kammerzofe mußte die Rollvorhänge so langsam aufziehen, daß darüber 10 Minuten vergingen.

Nachtlampen sind jetzt wohl nur noch wenig in Gebrauch. Hat man sie, so stelle man sie so, daß das Licht nicht gerade ins Auge fällt. Der Schlaf ist für Augen, die am Tage viel angestrengt waren, im ganz dunklen Raume viel zweckmäßiger und ergiebiger. –

Da ich so oft im Leben gefragt wurde, was ich über das Lesen im Bette denke, so möchte ich bei dieser Gelegenheit, obgleich die Frage nicht unmittelbar in das Kapitel der Blendung gehört, meine persönliche Ansicht hier aussprechen.

Viele Menschen behaupten, sie können nicht einschlafen, wenn sie nicht noch ein wenig im Bette lesen. Unter diese Leute gehöre ich selbst. Ich kann nichts Schlimmes in dem „ein wenig“ finden, habe auch keinerlei Nachteile dadurch gehabt. Wer viel körperlich anstrengende Arbeit thut, sinkt sofort in tiefen Schlaf, selbst in den verkehrtesten Körperstellungen, so die Maurer mittags in der Arbeitspause, die Arbeiter in den Eisenbahnwagen. Wer aus dem Wirtshaus oder aus einer heiteren Abendgesellschaft nach Genuß mehrerer Gläser Bier oder Wein mit der sogenannten „Bettschwere“ heimkehrt, wird natürlich keine Veranlassung zum Lesen finden, sondern ebenfalls sofort in tiefen Schlaf versinken. Ein Backfischchen, das den halben Tag schon in Romanen geschwelgt hat, braucht nicht auch noch abends im Bett seine Phantasie durch derartige Lektüre weiter zu erregen. Aber wer am Tage geistig gearbeitet und bis in die ersten Nachstunden hinein studiert hat, thut sogar meiner Erfahrung nach gut daran, durch eine kurze erheiternde Lektüre im Bett den Uebergang vom Ernst der Wissenschaft zu der Erquickung des Schlafes zu erleichtern. Warum soll nicht auch eine Hausfrau, die den ganzen Tag in ihrer Wirtschaft thätig ist und erst abends zur Ruhe kommt, ein Viertelstündchen im Bett noch etwas lesen? Was soll das für Schaden bringen? Bedingung ist natürlich helle Beleuchtung und guter Druck.

Wer bei einem flackernden Lichte den jämmerlichen Zeitungsdruck im Bett liest, wird dadurch ebenso leicht Kurzsichtigkeit erzeugen oder vermehren wie unter gleichen Umständen am Schreibtisch. Aber es giebt ja jetzt vorzügliche Petroleumlampen, ja vielfach schon elektrisches Glühlicht auf den Nachttischen! Neuerdings hat Wendriner in Breslau auch Nachttischreflektoren ersonnen, die sehr empfehlenswert sind. Sie bestehen aus einem Ständer, der ein stets in gleicher Höhe brennendes Stearinlicht trägt, vor dem sich eine Wasserflasche befindet, die hier als „Schusterkugel“ wirkt. Auch Streichhölzer fehlen nicht auf dem Ständer, so daß in zweckmäßiger Weise alles auf dem Nachttisch Wünschenswerte vereinigt ist. Dabei ist die Beleuchtung durch die aus der Wasserflasche tretenden Lichstrahlen derartig, daß nur das Buch erleuchtet wird, während andere Personen, die etwa in dem Zimmer schlafen, trotz des Lichtes ungestört im Dunklen bleiben.

Daß diese Zusommenfassung des Lichtes auf eine kleine Stelle dem Auge nicht schaden kann, schließe ich daraus, daß ich höchst selten kurzsichtige Schuhmacher gesehen habe, die doch den ganzen Abend bei solcher Beleuchtung arbeiten.

Freilich muß beim Lesen im Bett die Rückenlage eingehalten werden, denn die Seitenlagen sind schädlich, weil dann ein Auge der Schrift näher ist als das andere und weil dann die Beleuchtung des Buches meist nicht mehr gleichmäßig ist.

Auch sogenannte „spanneude“ Lektüre, bei der man eine Stunde und mehr im Bette liest, kann nicht empfohlen werden, da [579] durch diese der nötige Schlaf verscheucht wird und die Schwierigkeit das Buch so lange zu halten, zu Körperstellungen führt, die schädlich wirken können. Ausdrücklich möchte ich jedoch erklären, daß Schülern und Schülerinnen das Lesen im Bette gewiß zu untersagen ist, die haben im Bett nur zu schlafen! –

Um nun auf unsern eigentlichen Gegenstand zurückzukommen, so sei noch erwähnt, daß es auch Personen giebt, die über Blendung durch solche helle Gegenstände klagen, welche ein gesundes Auge niemals blenden, z. B. durch ein weißes Tischtuch, durch weiße Gardinen, durch ein silbernes Messer, durch helles Pferdegeschirr etc. Diese Art der Ueberempfindlichkeit der Netzhaut ist rein nervöser Natur. Sie wird besser vom Nervenarzt als vom Augenarzt behandelt.

Schon längst hat man gegen Blendung blaue und graue Gläser angewendet. Das weiße Licht enthält bekanntlich rote, orange-gelbe, gelbe, grüne, blaue und violette Strahlen. Welche von diesen Strahlen das Auge mehr reizeu, läßt sich von vornherein gar nicht entscheiden. Aber der Sprachgebrauch ist hier wichtig; wir sprechen von einem „brennenden“ Rot und „schreienden“ Gelb, von einem „schreienden Blau“ hat jedoch noch niemand etwas gehört. Gelbe Beleuchtung im Cirkus oder beim Ballett ist gewiß nicht so angenehm wie das Blau des Himmels. Daß nicht die Helligkeit als solche, sondern die Farbe einen Einfluß auf das Auge ausübt, beweist der Truthahn und der Stier, die nicht durch das hellste Tuch, sondern durch ein rotes Tuch gereizt werden.

Böhm, der in einer Stickereianstalt, in welcher auf Seidenstoffe von den verschiedensten Farben gestickt wird, Untersuchungen anstellte, fand, daß unter allen Farben Gelb und Apfelgrün für die Augen am ermüdendsten sind, während Blau von allen Arbeiterinnen als die angenehmste Farbe bezeichnet wurde.

Ueber die Ausdauer bei verschieden gefärbten Lichtquellen liegen keine Versuche vor. Sie würden auch ungeheure Zeit in Anspruch nehmen, da jedes Auge bei jeder Lichtquelle mit frischen Kräften anfangen und bis zur Ermüdung fortarbeiten müßte.

Blaue Gläser löschen einen Teil der gelben und roten Strahlen aus, welche das weiße Licht enthält. Sie wurden von Gräfe mit Vorliebe verordnet und die bedeutendsten Augenärzte haben sie seit Jahrzehnten angewendet, ohne je Schaden beobachtet zu haben, im Gegenteil, meist wurde bei schwachen Augen eine längere Arbeitsdauer dadurch erzielt. Die blauen Gläser werden durch Zusatz von Kobalt-Oxydul erzeugt und sind in fünf Helligkeitsstufen zu haben.

Eine Zeitlang glaubte man, daß die blauen Gläser fast nur blaue Strahlen durchlassen und gab lieber graue Gläser, von denen man annahm, daß sie alle Farben gleichmäßig schwächten. Die grauen Gläser, auch „London-smokes“ oder „Rauchgläser“ genannt, haben ebenfalls verschiedene Stufen, meist werden auch hier 5 Helligkeitsgrade unterachieden.

Allein schon vor 7 Jahren habe ich gezeigt, daß, wenn man 2 bis 6 graue Gläser aufeinander legt und durch sie eine Flamme betrachtet, diese immer herrlicher purpurrot erscheint, daß also gerade die schädlichen roten Strahlen durch die grauen Gläser weniger geschwächt werden als durch die blauen, bei denen erst 5 bis 6 aufeinandergelegte Gläser aus einer blau erscheinenden Flamme eine blau-violette machen. Bei einfachen Gläsern ist es aber ganz belanglos, ob man grau oder blau nimmt, man kann es getrost dem persönlichen Ermessen des Betreffenden überlassen, ob er eine blaue oder eine graue Brille nehmen will.

Bei starkem Bogenlichte oder bei Sonnenbeobachtungen werden mit Ruß geschwärzte Gläser oder die allerdunkelsten Nummern 4 und 5, bei Schneeflächen und Sonnenschein die mittleren Nummern 2 und 3 vorzuziehen sein. Ich halte es namentlich bei Gletschertouren nicht für ratsam, die dunkelsten blauen oder grauen Gläser zu nehmen, da die allgemeine Helligkeit dadurch zu sehr herabgesetzt und ein Fehltritt begünstigt wird. Die Schutzgläser dürfen aber nicht klein und queroval, sondern sie müssen groß, am besten muschel- oder uhrglasförmig sein, weil sie dann an das Auge gerückt werden können, ohne die Wimpern zu streifen.

Bergsteigern, die kurzsichtig sind, empfehle ich, ihr gewöhnliches Concavglas, das sie für die Ferne brauchen, blau oder grau in Nuance 3 färben zu lassen, da eine Muschelbrille, über die Concavbrille gesetzt, beim Steigen lästig ist, und ein Kneifer über oder unter der Concavbrille niemals recht sitzt. – –

So hätten wir die Verhütungsmaßregeln der Blendung durchgesprochen.

Aber nicht bloß auf den Menschen erstrecken sich die Bemühungen, das Auge vor Blendung zu schützen, zum Glück nimmt sich unsere Zeit auch des Auges der Tiere an. Bis vor kurzem stieß man in Deutschland noch auf die abscheuliche Sitte, Singvögel zu blenden. Man brannte besonders den Finken und Nachtigallen die Augen mit einem glühenden Eisen oder Draht aus, damit die armen Tierchen in ihrem Bauer nicht flattern, sondern still sitzen sollten und durch keinen äußeren Eindruck verhindert würden, zu allen Zeiten und an allen Orten ihren Lockgesang anzustimmen. Erst vor 6 Jahren ist durch Reichsgesetz verboten worden, mit Hilfe geblendeter Lockvögel andere Vögel zu fangen. Für den Regierungsbezirk Breslau freilich ist schon früher durch das Feld- und Forstpolizeigesetz vom 1. April 1880 jenes barbarische Verfahren unterdrückt worden. Leider besteht diese Fangweise aber noch in Italien, Spanien und anderen Ländern fort; hoffen wir, daß auch dort ähnliche Schutzgesetze wie in Deutschland erlassen werden.

Freuen wir uns, daß wir in einem Jahrhundert und in einem Staat leben, welcher die Grausamkeit der Blendung bei Menschen und Tieren verabscheut, und wenden wir alles auf, um das Auge, dieses edelste Organ, in seiner Schönheit und in seiner raumdurchdringenden Kraft zu erhalten!



Blätter und Blüten.

Der versunkene Garten. (Zu dem Bilde S. 568 und 569.) Wer kennt sie noch, die alten Fürsten von Nassau-Saarbrücken, die einst in des Reiches Westmark ihren lustigen Hof hielten? Was an Staub und Asche übrig ist von ihrem Gottesgnadentum, das ruht in den Gewölben der alten Stadtkirche von Saarbrücken und in der Gruft des schönen gotischen Stiftes von St. Arnual, das über das weite grüne von Waldhügeln umhegte Saarthal zur Stadt herüberschaut. Eine einzige halbvergessene Sage geht noch im Volke um von dem Letzten seines Stammes, der „das Gänsemädel von Fechingen“ frisch von der Weide hinweg in goldener Karosse zu seinem Schlosse entführte, wo die Schöne wundersam schnell das Regieren erlernte und den rebellischen Hofstaat leichter nach ihrem Willen zwang als die schnatternde Herde, die sie am heimischen Dorfbache zurückgelassen hatte. Sonst aber ist der Ruhm des stolzen Geschlechtes mit ihm dahingegangen und von aller Herrlichkeit der Rokokoresidenz ist nichts geblieben als die geraden Straßen der alten Stadt und die weiten, quadratischen Plätze, wo symmetrische Paläste in allen Schattierungen des Verfalles von dem versunkenen Glanze träumen und düster, wie neidisch auf den verschnörkelten Bau einer Barockkirche starren, die einzig von dem allgemeinen Schicksale der „Encanaillierung“ bewahrt ist. Denn eine neue Zeit ist mit gewaltigem Hauche über die kleine Residenz des vergessenen Duodezstaates gekommen. Auf den Schloßberg, von dessen einstiger Vornehmheit kaum noch ein Schatten übrig ist, und wo das Gras lustig zwischen den spitzen Pflastersteinen wuchert, schaut fernher vom Halberge das neue schloß des „Eisenkönigs Stumm“ herab, und in der Stadt selbst rücken Kasernen und Fabriken den Resten des alten Regimes gar scharf zu Leibe. Diese Gegensätze zwischen dem Heute mit seiner zielbewußten Arbeit, seinem unbarmherzigen Ernst und dem Einst mit seiner lustigen, sorglosen, malerischen Liederlichkeit schaffen in Saarbrücken Bilder von eigentümlichem Reize für den, der Auge und Herz dafür hat. Hier breitet sich die Vorstadt aus mit den kleinen Häusern einer schwer um das tägliche Brot ringenden Bevölkerung; links klettert die Straße, die weiterhin zu den „Spicherer Höhen“ führt, mühsam die Bergsteile hinan, rechts dehnen sich weite Gärten, die von einer hohen geheimnisvollen Mauer gegen die Außenwelt abgeschlossen sind. Vielstimmiger Kinderjubel klingt herüber – das lacht und lacht, und ich denke, wo man einen Blick auf jauchzende Jugend gewinnen kann, da lohnt es, zwischen Arbeit und Arbeit und Sorge und Sorge ein Weilchen inne zu halten und aufatmend in das Stückchen Himmel zu schauen, das aus glücklichen Kinderaugen hervorlacht. Mit dem Skizzenbuche des Malers in der Hand, das so oft schon auf schwierigem Boden mir als „Berechtigungsschein“ gedient hat, will ich es auch hier einmal wagen. Leise drücke ich die schwere Flügelthür auf und vor mir entfaltet sich ein entzückendes malerisches Bild: ein Kindergarten. Von der hohen Treppe sehe ich hernieder auf das kleine Volk, das lachend, singend und springend den weiten, von Kastanien beschatteten Kiesplatz erfüllt, behütet und regiert von einer Kaiserswerther Schwester und ihrer jungen Gehilfin. Welch’ eigenartiger Platz! Geradeaus führt eine breite, von schönen, halbzerschlagenen Rokokovasen flankierte Freitreppe zu dem langsam sich senkenden Garten hernieder und weiterhin zu einem zierlichen Schlößchen mit Kuppeldach und runden Fenstern, das im Schatten uralter, fremdländischer Bäume wie verzaubert zu schlafen scheint und über dem noch etwas von jener koketten Grazie liegt, um derentwillen wir jene Zeit grausamer Despotie aus der sicheren Entfernung der Gegenwart zu lieben pflegen.

Das ist der „Versunkene Garten“ und das „Verwunschene Schloß“, eine jener „Eremitagen“ und „Solituden“, die so getauft wurden, weil keine Eremiten in ihnen hausten, und die, welche die Einsamkeit und die [580] Einkehr fürchteten, mit dem Jauchzen bacchantischer Feste ihr Echo weckten. Wenn ich später hier an meiner Arbeit saß und die Bäume aus fremden Zonen leicht im Abendwinde flüsterten, dann wurden die Geister des Ortes lebendig in der sinkenden Dämmerung. Seidene Schleppen rauschten über den Kies und auf den Treppen klapperten die zierlichen Stöckelschuhe; die Grotten mit ihren ängstlich ins Epheu sich duckenden Nymphen hallten wieder von feurigen Liebesworten, von französischem Geplauder, von seichten Compliments und leichter Médisance. Dann wird es plötzlich still. Der „Läufer“ eilt den breiten Mittelweg herab und meldet, daß die Herrschaften soeben zu „arrivieren“ geruhten, und schon steigt Serenissimus, zierlich mit zwei Fingern die Hand der neuen Favoritin haltend, halb Würde, halb Huld auf dem feisten, glatten, rosigen Rokokogesichte, die Freitreppe hernieder, während ringsum der schillernde Hofstaat sich beugt und neigt wie ein Kornfeld im wehenden Sommerwinde. Bunte Lichter flammen auf, und die hohen Mauern ringsum scheinen sich höher zu recken, denn was sie jetzt umschließen, ist geschaffen, um Tag für Tag an der Freudentafel des Lebens zu sitzen, und muß in seinem Genusse selbst vor den Blicken derer bewahrt werden, die geboren wurden, um durch ihrer Hände Arbeit denen hier drinnen die Tage der Freude und der Feste zu sichern.

Ich bin seitdem heimisch geworden in dem alten Garten mit seinen verschwiegenen Mauern. Manche unvergeßliche Stunde frischer, fröhlicher Arbeit habe ich hier verlebt mit meinen lieben kleinen Freunden und der guten Schwester Marie. Hier, wo einst eine privilegierte Kaste sich ängstlich abschloß von dem Volke, das von ihr gedrückt und ausgesogen wurde und dessen Berührung sie doch wie einen Pesthauch mied und verabscheute, hier hat jetzt die christliche Liebe den Kindern der Stadt ohne Unterschied von Rang und Reichtum einen herrlichen Tummelplatz bereitet. Hand in Hand mit dem Sprossen des Millionärs zieht hier das Kind des Bergmanns leichten Herzens seinen Reigen. Und unten im kleinen Schlößchen, wo damals „Madame“ mit einem liederlichen Hofe vom Schweiße des Volkes praßte, da werden heute die Armen gespeist; eine warmherzige Frau schafft dort mit einem Stabe fleißiger Gehilfinnen am riesigen Herde und stellt jahraus jahrein ein kräftiges schmackhaftes Gericht auf die sauberen Tische, dem Arbeiter um ein Billiges, dem Armen für „Gottes Dank“. Wo früher die irdische Liebe ihre Feste feierte, da thut jetzt die himmlische Liebe ihre ernste soziale Arbeit. Ja, von all den Zeugen der entschwundenen Fürstenherrlichkeit hat dieser Liebesgarten den weitesten Weg abwärts gemacht und doch den besten. Denn ich glaube, wenn jetzt den hellen Morgen über die bunte Kinderschar unter den alten Kastanienbäumen ihr Spiel treibt, und wenn an einem schönen, sonnigen Sommertage die armen Kinder im Freien an den langen Tafeln sitzen und ihren Hunger stillen, dann werden die alten Baumriesen über ihnen, die so manches gesehen und gehört haben, für das Bild von heute die eleganten Watteauschen Figuren vergangener Tage sich nicht zurückwünschen und die Musik des Kinderjubels und das fleißige Klappern der Eßlöffel in den Blechnäpfen nicht tauschen wollen gegen das verklungene Flötenspiel arkadischer Schäfer und das Guitarrengeklimper höfischer Spaßmacher. Diese alten fremden Bäume sind die letzten Zeugen jener „guten alten Zeit“; aber, wenn sie reden könnten, würden sie uns bezeugen, daß jene Zeit alles war, lustig, interessant, malerisch, vielleicht auch alt, aber sicher nicht gut, und daß die Gegenwart besser ist, als die Pessimisten sie schelten. Aug. H. Plinke. 

Aus A. Hendschels Skizzenbuch „Scherz und Ernst“.

Der Krokodilwächter. (Zu dem Bilde S. 577.) Der rohe Kampf ums Dasein beherrscht die Tierwelt, und auch in den sogenannten Tierfreundschaften ist der Egoismus, das Nützlichkeitsprinzip maßgebend. Die Herden auf der Weide locken Kerbtiere an, welche sich auf der Haut der Tiere ansiedeln und für diese zur Plage werden. Die Stare, namentlich die Hirtenstare, merken es, sie wissen wohl, daß dort, wo es Herden giebt, Kerbtiere vorhanden sind, und sie fliegen den Herden zu, säubern das Vieh von den Schmarotzern und werden infolgedessen als Befreier von einer lästigen Plage für Rinder und Schafe geduldet. Der afrikanische Kuhreiher (nicht zu verwechseln mit unserem Kuhreiher) leistet den Büffeln und Elefanten dieselben Dienste und wird geduldet, selbst wenn er zudringlich wird. Auf demselben Grundsatz ist die anscheinende Freundschaft zwischen dem Krokodil und dem regenpfeiferartigen Vogel, dem Krokodilwächter, begründet. Dieses Verhältnis war schon den alten Naturforschern bekannt, und Plinius erzählt: „Wenn das Krokodil mit gähnendem Rachen auf dem Lande liegt, fliegt der Vogel Trochilus herbei, schlüpft ihm ins Maul und reinigt dasselbe. Das thut dem Krokodil wohl und es schont daher den Vogel, ja es öffnet den Rachen weiter, damit er sich nicht drückt, wenn er heraus will. Dieser Vogel ist klein, nicht größer als eine Drossel, hält sich in der Nähe des Wassers auf und warnt das Krokodil vor dem Ichneumon, indem er herbeifliegt und es teils durch seine Stimme, teils durch Picken an der Schnauze aufweckt.“

Die Thatsachen sind wahr, und jeder, der an den Nilufern längere Zeit weilt, kann. sie bestätigen. Der kritische Naturforscher der Neuzeit deutet sie aber ein wenig nüchterner. Der Krokodilwächter traut nicht ganz und gar dem Krokodil. Er besucht es, denn es bildet für ihn eine reichbesetzte Tafel; es sind ja auf demselben immer allerlei genießbare Wassertierchen zu finden. Der Vogel kennt genau alle Eigentümlichkeiten seines Wirtes und verkehrt mit ihm anscheinend ganz vertraulich, so daß er selbst die Mahlzeitbrocken, die dem Ungetüm zwischen den Zähnen stecken blieben, fortpickt; aber der kecke Bursch ist stets auf seiner Hut und weiß sich im Augenblick der Gefahr rechtzeitig zurückzuziehen. Sein kleines Herz schlägt auch nicht für das Krokodil. Der Vogel hat die Gewohnheit, laut zu schreien, wenn er einen neuen Gegenstand, einen Menschen oder ein Tier nahen sieht. Das thut er immer, gleichviel ob er auf dem Krokodil sitzt oder auf einer Sandbank spaziert. Sitzt er aber auf dem Krokodil, so wird dieses durch das Geschrei geweckt, es merkt die Gefahr und taucht in die sichere Flut.

Neugier. (Zu dem Bilde S. 565.) Schwer, sehr schwer ist die Versuchung, die in Gestalt dieses versiegelten Briefchens an unsere neugierige Kammerzofe herangetreten ist. Sie ahnt den Absender und sie ahnt den Inhalt – aber was gäbe sie nicht für die Gewißheit! Vergeblich dreht und wendet sie das Schriftstück nach allen Seiten, vergeblich biegt sie den zusammengefalteten Bogen auseinander, um einen Einblick in das Innere zu gewinnen – umsonst. Der erfahrene Schreiber, der wohl seine Leute kennen mochte, hat es zu gut verstanden, seine hochwichtigen Zeilen jedem unberufenen Auge zu entziehen. Und so bleibt sie ungestillt, die heiße Sehnsucht unserer Donna; denn daß diese sich von ihrer Neugier verleiten lassen würde, das Siegel zu erbrechen und den Brief zu öffnen, das wollen wir ihr denn doch nicht zutrauen!


Kleiner Briefkasten.

Bitte. Es sind uns in der letzten Zeit wieder verschiedene Gesuche um Vermittlung von Fahrstühlen für arme Kranke zugegangen. Wir richten daher, um diesen Wünschen so weit als möglich entgegenkommen zu können, an unsere Leser die herzliche Bitte, uns durch Ueberlassung entbehrlicher Fahrstühle behilflich zu sein. Gewiß steht da und dort ein solches Möbel unbenutzt, und seine Besitzer erwerben sich, indem sie es für arme Kranke zur Verfügung stellen, nicht bloß ein Verdienst um ihre Mitmenschen, sondern schaffen sich auch noch einen Ballast aus dem Hause.

E. G. in Basel. Besten Dank für Ihre freundlichen Mitteilungen.

Frau M. B. in Leiden. Wir freuen uns, zu sehen, daß der Artikel über die deutsche Frauenbewegung auch in Holland Beachtung fand. Ein darin vorkommender kleiner Irrtum aber ist zu berichtigen: Frau Loeper-Housselle wohnt zwar in Ispringen, ist jedoch an keiner dortigen Schule thätig, sondern widmet sich ganz den Angelegenheiten des „Deutschen Lehrerinnen-Vereins“ und der Herausgabe seiner Zeitschrift.


Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren (7. Fortsetzung). S. 565. – Neugier. Bild. S. 565. – Lustiges Volk. Bild. S. 568 und 569. Die Handschuh-Stuhlwirkerei. Von Max Lindner. S. 572. Mit Abbildungen S. 572 und 573. – „Up ewig ungedeelt!“ Novelle von Jassy Torrund (3. Fortsetzung). S. 574. – Krokodile und Krokodilwächter. Bild. S. 577. – Auge und Blendung. II. Von Professor Dr. Hermann Cohn. S. 578. – Blätter und Blüten: Der versunkene Garten. Von Aug. H. Plinke. S. 579. (Zu dem Bilde S. 568 und 569.) – Der Krokodilwächter. S. 580. (Zu dem Bilde S. 577.) – Neugier. S. 580. (Zu dem Bilde S. 565.) – Aus A. Hendschels Skizzenbuch „Scherz und Ernst“. Bild. S. 580. – Kleiner Briefkasten. S. 580.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Terpentin.
  2. schmeißen, werfen.
  3. hinten.
  4. heiß, notwendig.
  5. Liebesleute.
  6. Eine Verwandte von der Mutterseite.
  7. sagte.
  8. Peitsche.
  9. genug.
  10. halte.