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Die Gartenlaube (1894)/Heft 49

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[821]

Nr. 49.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Weihnachtsträume.

Ein Idyll von Carl Busse.

Der Abend kam. verlorner Schellenklang
Scholl manchmal freundlich ins durchwärmte Zimmer,
Das Kätzchen schnurrte, und der Pendel schwang,
Und durch den Thürspalt kam schon Lampenschimmer.

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So schummrig war’s; kaum zuckten dann und wann

Noch im Kamin die halb verglomm’nen Kohlen –
Des Hauses Herrin aber saß und sann
Und strich ihr Haar und lächelte verstohlen.

’s war Christnacht heut’. Erfrischend her und hin

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Zog Nadelduft durch die vertrauten Räume,

Da ward auch ihr so wunderlich zu Sinn
Und sie versank in alte Weihnachtsträume.
An beiden Händen zog ihr junges Glück
Sie lächelnd fort in ihre Backfischtage,

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Und heimlich surrend trieb mit einem Schlage

Gemach der Zeit bewegtes Rad zurück.
Sie sah sich selbst im kurzen Mädchenkleid,
Sah sich im Kreis zerzauster Nachbarsjungen,
Wie sie den Ball hoch in die Luft geschwungen

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Und barfuß lief in lieber Sommerzeit.

Oft kam sie heim, mit Schrammen im Gesicht,
Das Haar verwirrt, der Zopf war aufgegangen,
Denn galt’s den Wettlauf mit den tollsten Rangen,
Hei, wie sie flog! Die Letzte blieb sie nicht!

[822]

Ganz hoch im Birnbaum, wo das Kästchen war,
Das Brütekästchen, saß sie oft verschwiegen
Und sang ihr Lied und sah die Schwalben fliegen
In Licht und Luft –- so ging es Jahr um Jahr.
Bald war sie groß ... und scholl zur Sommerzeit
Auch noch so hell das frohe Finkenschmettern,
Sie seufzte nur -- sie trug ein langes Kleid
Und durfte nicht mehr nach den Nestern klettern.

So kam der Herbst, das müde Laub ward falb,
Sie saß allein und sang die alten Lieder,
Sie lachte laut, bald weinte sie auch wieder,
Und quälte sich, und wußte nicht, weshalb.
Doch endlich dann – es war ihr erster Ball,
Im braunen Haar lag die Kamelienblüte,
Ihr Herz ging auf, ihr ganzes Köpfchen glühte,
Die Lust war groß und süß der Walzerschall.
Da sah sie ihn im alten Burschenband,
Voll Jugendkraft, im Glanz der Girandolen,
Und ihre Lippen bogen sich verstohlen
Und zitternd fiel der Fächer aus der Hand.
Dann tanzten sie. Wohl war sie kurz, die Zeit,
Da sie so schwebten, Brust an Brust mitsammen,
Doch lag ein Glanz drauf wie von goldnen Flammen
Und ihre Herzen wurden wach und weit. –
Spät fuhr sie heim; ihr roter Mädchenmund
Sprach süß und irr noch vor dem Schlafengehen,
Sie sah im Glas auf ihrer Augen Grund
Ein großes Leuchten, das sie nie gesehen.
Schwer schlief sie ein und träumte bunt und viel
Und sprach im Traum und ihr Gesichtchen glühte,
Derweil im Schrein auf matt gewordnem Stil
Verloren welkte die Kamelienblüte.

 *  *  *

Es schien ein Stern in nie geseh’ner Pracht,
Es war ein Glanz vor ihren Mädchenblicken,
Sie hörte selig jede neue Nacht
Den Herzschlag gehn, die heisre Stutzuhr ticken.
Wohl schlug die Nachtigall nicht mehr im Baum
Und an die Scheiben fuhr Dktoberregen,
Doch voll in Blüten stand ihr Liebestraum
Und ihre Seele beugte sich vor Segen.
Kein Morgen ging, wo sie zu Gott nicht bat,
Daß ihre Wege sich zusammenfänden,
Und daß sie still und mit verschlungnen Händen
Hinwandeln dürften ihren Erdenpfad.
Und einst geschah’s – sie floh’n die dichten Reih’n,
Den weiten Saal, das grelle Licht der Kerzen,
Und was so wild ersehnten ihre Herzen,
Das fügte Gott: sie sahn sich bald allein. –
Im Wintergarten unter Palmen war’s,
Die schmalen Blätter bogen schwül sich nieder,
Sacht mischten in den Duft des Mädchenhaars
Sich Parmaveilchen und gefüllter Flieder.
Fern scholl gedämpft die Walzermelodie,
Die war so süß, und plötzlich bangte jedem,
Da hielt er sie und wollte zitternd reden
Und fand kein Wörtchen – und er küßte sie.

Still war es rings; nur der Fontäne Strahl
Stieg auf und fiel mit immer gleichem Laute,
Und sacht verklang die Tanzmusik im Saal,
Da sie ihm gläubig in die Augen schaute.
Und Wort um Wort drang jubelnd jetzt hervor,
Sie wußte nichts, als still ihm zuzuhören,
Noch lag ein Walzertakt in ihrem Ohr,
Der schwoll in ihr zu ew’gen Jubelchören.
Und ihren Handschuh gab er ihr vom Fest,
Den sie verloren und den er gefunden,
Und sprach davon, wie er in stillen Stunden
Ihn tausendmal an seinen Mund gepreßt.
Sie aber hörte süß berauscht ihm zu,
Es klang in ihr: Lieb’ soll mit Liebe lohnen,
Da ging ein Rauschen durch die Palmenkronen
Und heißen Herzens scholl das erste Du!
Der Handschuh sank – so ganz vergessen heut’,
Ihm war es doch, als ob er Bess’res wüßte:
Wo ist der Narr, der einen Handschuh küßte,
Wenn warm und willig sich ein Mund ihm beut?!

 *  *  *

Und Weihnacht ward’s. Des Tages Lärm verscholl,
Die Magd war fort und Dämmrung schlich im Runde,
Da sprach sie stockend und mit scheuem Munde,
Was wochenlang ihr schon im Herzen schwoll.
Sprach wirr und zag, wie gut er sei und groß,
Wie nur in ihm ihr Leben und ihr Sterben,
Und barg des Hauptes purpurnes Verfärben
Um Segen flehend in der Mutter Schoß.
Die aber schwieg. Da ward ihr totenbang,
Ihr Herz schrie auf und wollte weh verzagen,
Doch Gott war treu, – und mächtig und getragen
Scholl ins Gemach der Weihnachtsglocken Klang.
Das war ein Läuten, groß und wunderlich,
Das rief vom Turm, das rief und nahm kein Ende,
Und wie bezwungen legten segnend sich
Auf ihren Scheitel fromme Mutterhände.
Kein Engelchor sang in der Höh’ zu Hauf,
Nicht Psalmen tönten und nicht Hirtenlieder,
Ihr aber ging das Heil des Himmels auf,
Und vor dem Christkind sank sie betend nieder.

 *  *  *

[823]

Sie hörten oft, wie Glück und Glas zerbricht,
Wie früh der Liebe junge Freuden enden,
Doch Glück und Glas – bei ihnen brach es nicht,
Sie trugen es mit still bescheidnen Händen.
Noch fuhr der Märzsturm brausend durch das Land,
Da scholl die Lust und wehten Hochzeitsschleier,
Da bogen Myrten sich zur heil’gen Feier
Und am Altäre gab sich Hand in Hand.
Der alte Pastor segnete sie ein,
Das alte Kirchlein sah die Braut heut’ beten,
Darin sie einst in frommen Kinderreih’n,
Selbst noch ein Kind, zum Tisch des Herrn getreten.
Nur schlug das Herz heut’ unterm Hochzeitskleid
Noch voller fast, als damals es geschlagen:
Mas ihr beschert, sie wollt’ es tapfer tragen,
Mit ihm vereint, in Zeit und Ewigkeit.
Die nächsten Tage dann – sie wußt’ es kaum,
Daß sie vergingen, daß die Uhren schlugen,
Daß andre Menschen Not und Sorge trugen,
Die Wimper fiel – ihr war es wie ein Traum.
Und Hand in Hand, in Gattenglück und -stolz,
Sahn sie die Stürme brausend gehn von Norden
Und sahn, wie sacht, als Ostern es geworden,
Am Gartensteg der letzte Schneemann schmolz.
Dann kam der Frühling; mit bekränztem Haar
Und blauen Augen saß er an den Wegen,
Und wanderfroh zog eine Kinderschar
Mit Weidenflöten seinem Glanz entgegen.
Rings rankten Blüten über Kraut und Dorn,
Der Juniwind zog schläfrig seine Pfade,
Die Amsel sang – bald füllte sich das Korn
Und in den Scheunen wuchs die goldne Gnade.
Dann klang die Tenne, und die Welt ward grau,
Sein Nest verließ des Sommers letzter Sänger,
Auf feuchten Wiesen schlief die Nebelfrau,
Die Trauben reiften und die Nacht ward länger.
Doch: als das Christkind wieder dann durchs Land
Gezogen kam, da hielt es ein im Fliegen
Und ließ ein Püppchen in der Wiege liegen,
Ein Weihnachtspüppchen –, lächelte –- und schwand.
Das war ein Kerl! Wog seine sieben Pfund!
Schien für sein Alter ungemein verständig,
That sein Erscheinen wie ein Großer kund
Und machte gleich das ganze Haus lebendig!
Und mit der Brille kam die Großmama
Und schrie: potztausend, das ist ’mal ein Bengel!
So wunderhübsch und ganz wie der Papa,
Und Backen hat er wie Posaunenengel!

Der Vater aber bog in stillem Dank
Auf seines Weibes bleiche Stirn sich nieder,
Sein Mund blieb stumm, nur seine Seele klang,
Doch was die sprach – wie gäb’ ein Wort das wieder!
Ein fröhlich Herz voll Lebensseligkeit
Trug sie auch später über Alltagssorgen.
Ein jeder Tag war wie ein Hochzeitsmorgen,
Und manchesmal geschah’s zur Dämmerzeit,
Da stand sie auf und sprach: „Wenn ich so denk’,“
– Derweil in Treuen sie sich an ihn schmiegte
Und glückverklärt ihr holdes Köpfchen wiegte –
„Du warst ja doch mein bestes Christgeschenk!“

 *  *  *

Es ist ein Knistern im Kamin erwacht,
Das Kätzchen horcht, die Uhr holt aus zum Schlage,
Fern singen Kinder durch die heil’ge Nacht
Und rasch verwehn die Bilder früh’rer Tage.
Die Klingel tönt. Bist du’s? – Wer sollt’ es sein?
Und wie Knecht Ruprecht, pelzvermummt bis oben,
Die warme Mütze übers Ohr geschoben,
Den Bart bereift –- so tritt er pustend ein.
Und während sie noch nach dem Karpfenschmaus
Ein bißchen sieht, geht er rasch durch die Stuben
Und packt vergnügt die Heimlichkeiten aus
Für sie, für sich – das meiste für den Buben.
Dann brennt der Baum – sie schleppt das Kind herbei
Und freut sich selbst mit reinem Kinderherzen,
Und Fritzchen kräht mit hellem Jubelschrei
Und Füßestrampeln in den Glanz der Kerzen.
Sie sieht ihn an und winkt ihm lächelnd Ruh’,
Beginnt dann fromm den Festchoral zu singen;
Der kleine Fritz horcht auf das hohe Klingen,
Der große aber brummt den Baß dazu.
So feiern fröhlich sie den Heil’gen Christ,
In Kindereinfalt freu’n sie sich der Gaben
Und sagen sich, wie sie so lieb sich haben
Und wie die Welt voll Glück und Frieden ist.

Allmählich dann mit seinem Hampelmann
Schläft Fritzchen ein – es wird ganz still im Raume,
Und nur ein Licht tropft manchmal noch am Baume
Und eine Nadel knistert dann und wann.
Doch auch ein Rauschen scheint von fern und nah
Sie zu umziehn wie seliges Glockenläuten –
Wo kommt es her? Es kann sich’s keiner deuten –
Ich aber weiß: es waren Engel da!


[824]

Photographie im Verlage von Braun, Clément & Cie. in Dornach, Vertreter Hugo Grosser in Leipzig.

Die Sixtinische Madonna.
Nach dem Gemälde von Rafael.

[825] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[826]
Um fremde Schuld.
Roman von W. Heimburg.
(13. Fortsetzung.)


Wir blieben allein in dem bereits dämmerigen Raum. Die Komtesse fuhr fort, von gleichgültigen Dingen zu reden, Mama bemühte sich, darauf einzugehen, und einmal in einer Pause ergriff sie die Hand der alten Dame. „Ich danke Ihnen!“

„Du weißt, Len’, Du kannst auf mich rechnen – verstehen thu’ ich aber diesen Trug nicht.“

„O, ich will später alles aufklären,“ antwortete Mama, „und – –“ dann verstummte sie und richtete sich kerzengrade in ihrem Stuhl empor. Von nebenan – der Sprecher mußte dicht an der Thür stehen – klang es so deutlich herüber, als würden die Worte in demselben Zimmer mit uns gesprochen.

„Der alte Arvensleben ist ja in brillanten Verhältnissen,“ sagte mein Stiefvater, „ein Risiko also gänzlich ausgeschlossen; zehntausend Mark bar, zwanzigtausend geschrieben, zwei Monate Ziel; teile ihm das mit, dem Bruder Lustig!“

Die Komtesse horchte unwillkürlich auf, ihre Nase ward weiß und spitz, sie sah die Thür an, dann uns. „Es ist merkwürdig hellhörig hier, Len’,“ bemerkte sie kurz. Mama war emporgesprungen, setzte sich aber wieder; eine seltsame Erregung lag auf ihrem Gesicht.

„Was sagst Du?“ klang Wollmeyers Stimme setzt wieder. „Teufel auch, ich dächte, Du könntest zufrieden sein mit den Geschäften, die Du machst mit meinem Gelde! Wieso hast Du Unbequemlichkeiten? Ich dächte, Du lebst wie ein Prinz! Daß Du Dein großes Vermögen verspielt hast, dafür kann ich doch nicht, und im übrigen verdienst Du genug durch Deine Experimente.“

„Die Hälfte, ganz genau die Hälfte, teurer Onkel,“ sagte Brankwitz. „Mehr giebst Du mir nicht, obgleich ich unmittelbar vor der Bresche stehe, wenn ’was passiert!“

„Ist das nicht genug, die Hälfte? Was soll denn passieren? Denkst Du, der alte Bärenroder wird etwas untermehmen, weil sich der Sohn, der Bruder Liederlich, totgeschossen hat? Bilde Dir nichts ein! Die Bärenroder sind genug bloßgestellt durch den Spielerprozeß des Bruders vom Alten; sie schweigen still.“

Die Komtesse erhob sich plötzlich. „Ich will gehen, Anneliese,“ murmelte sie, „bring’ Deine Mama in ein anderes Zimmer! – Len’, steh’ auf, geh’ in Deine Stube,“ sagte sie halblaut, Mama an der Schulter rüttelnd. Gleich darauf war sie verschwunden.

Ich legte meinen Arm um Mama. „Komm, Mama!“ rief ich ängstlich, sie sah so starr und unheimlich nach der Thür drüben.

„Schweig’,“ flüsterte sie leise, heftig, und preßte mir die Hand auf den Mund. Tiefe Dämmerung umgab uns. Mein Kopf lag in ihrem Schoß; ich fühlte das Zittern, das von Zeit zu Zeit ihren Körper durchflog. Sie hatte die Hand in mein Haar gekrallt; es that mir weh, so fest klammerte sie sich daran, als das Gespräch, dem sie lauschen wollte, seinen Fortgang nahm.

„Ich muß es Dir wiederholen, Onkel,“ sagte Brankwitz, „ich habe es satt, an der Nase umhergezogen zu werden. Deine leeren Versprechungen nutzen mir den Teufel! Ich kann nichts unternehmen; und da ich einsehe, daß ich wenig Aussicht habe, je Dein Schwiegersohn zu werden, so –“

Jetzt klinkte Wollmeyer leise die Thüre auf, wohl um hereinzuschauen. „So!“ meinte er dann in ruhigem Tone, indem er sie etwas offen ließ, „wer sagt das?“

„Ich fand vorhin das Armband in meinem Zimmer, mit einer Karte von Anneliese, auf der sie mir mitteilt, daß ihr irrtümlich ein Geschenk zugestellt worden sei und daß sie sich beeile, es dem Absender zurückzugeben. Sie habe leider dessen Adresse nicht gewußt, sonst wäre es sofort wieder in seine Hände gekommen.“

Wollmeyer antwortete nicht; er hatte nur einen halblauten Ausruf der Entrüstung ausgestoßen.

„Ich habe beschlossen, mich in diese sehr betrübende Thatsache zu ergeben,“ fuhr Brankwitz fort, „ich lasse Dir Deine Tochter, aber ich bitte um Auszahlung des Kapitals.“

„Was?“ fragte Wollmeyer, „welches Kapitals?“

„Anneliese paßt schließlich auch nicht für mich, die vierzigtausend Thaler passen aber jedesmal.“

„Vierzigtausend Thaler?“

„Weniger würdest Du ihr doch nicht mitgegeben haben, Onkel!“

„Du bist verrückt! Du weißt, wie es mit Helene steht?“

„Gewiß! Ich gratuliere Dir herzlich. Was übrigens die Verrücktheit anlangt, so werden wir ja sehen. Bis jetzt, lieber Onkel, hast nur Du Zeichen von einiger Geistesabwesenheit gegeben.“

„Wieso?“

„Schickst die Base auf die Mühle, läßt auch das Mädel wochenlang dort und scheinst vergessen zu haben, daß da noch jeder Stein von der alten Geschichte schreit. Nicht genug damit, Du läßt sie auch noch dort, wie bereits der junge Herr Nordmann daselbst auftaucht, der Liebling Deiner Base, das von der ganzen Gemeinde betrauerte Opfer der damaligen Katastrophe.“

„Pah, der Lump!“

„Bitte, bitte, nicht voreilig! Jedenfalls würde er mit Freuden bereit sein, vierzigtausend Thaler zu zahlen für gewisse Papiere, die er gerade jetzt gut gebrauchen kann, um die Flecken zu beseitigen, die auf seinem Namen sitzen.“

„Du redest im Fieber! Vierzigtausend Thaler? Du willst damit sagen, daß mir die Papiere für diesen Preis zur Verfügung stehen?“

„Allerdings.“

„Das ist mir zu teuer, Freundchen – schraub’ herunter.“

„Nicht einen Dreier!“

„Und wenn ich Dir sage: behalte Deine Papiere und scher’ Dich zum Teufel?“

„Dann werde ich es thun, aber direkt nach Halle gehen zu Robert Nordmann und ihm sagen: ‚Lesen Sie diesen Brief des Herrn Wollmeyer an meinen verstorbenen Vater!‘ – Ich brauche ihm nur den einen zu geben, in dem es heißt: ‚Lieber Brankwitz, gestern habe ich manifestiert, vorläufig also Ruhe. Nordmann ist verdonnert – –. Bis achtzigtausend Thaler gebe ich Dir Vollmacht, auf das Gut zu bieten; die Subhastation ist, anstatt Freitag den zehnten, auf Montag den dreizehnte anberaumt.      Dein Wollmeyer.‘ Nun, ich denke, daraus geht klar genug hervor, daß Du damals geschworen hast, nichts mehr zu besitzen, wodurch Dein Schwager um Hab’ und Gut kam, und daß dieser Eid falsch war. Mir wird nichts passieren, wenn Nordmann die Sache verfolgt – mein Vater ist tot und ich kann etwas anfangen drüben mit dem Preis für den Brief; das Hundeleben hier habe ich satt.“

Mamas Hand preßte sich jetzt eisern auf meinen Kopf. Einen Augenblick blieb es still nebenan, dann das Poltern eines Stuhles, der Aufschrei einer zornigen Männerstimme, wie wenn zwei ringen auf Leben und Tod. „Bube, das ist der Lohn für alles, was ich an Dir that!“ schrie Wollmeyer.

Ich taumelte empor. Mama hatte mich im Aufspringen von sich gestoßen; ich hörte, wie sie durchs Zimmer stürzte. Da raffte ich mich auf, ihr zu folgen, aber schon flog die Thür krachend hinter ihr zu. Ich hörte nur noch ihr gellendes: „Es ist nicht wahr, Bernhard, sag’, daß es nicht wahr ist!“ und dann ihr Lachen, ein tolles krampfhaftes Lachen. Nie werde ich es vergessen. Dann schrillte die elektrische Klingel durchs Haus und jemand stürzte fluchend an mir vorüber; in der tiefen Dämmerung, an die mein Auge sich jetzt gewöhnte, erkannte ich Brankwitz.

Und jetzt kam Licht und die Dienerschaft. Nun Sprechen, Zureden, Beschwichtigungen seitens meines Stiefvaters, und dann schritt die Base an mir vorüber, die leblose Gestalt Mamas auf den Armen, unterstützt von dem Stubenmädchen.

„Gnädige Frau, liebe gnädige Frau,“ keuchte die Base, „liebe, liebe gnädige Frau!“

Mich beachteten sie nicht.

Nun wußte ich es – auf der Stirn meines Stiefvaters brannte ein Meineid. Ich zitterte am ganzen Leibe; Roberts Vater hatte er mit diesem Schwur in den Abgrund des Elends gestoßen, die Frau ins Grab, den Neffen in die Fremde, und nun streckte sich der Fluch auch über uns aus, über meine arme Mutter und mich!

Im Hause war plötzlich aller Lärm verstummt. Man hatte mich von Mamas Bett entfernt, obgleich ich nicht weichen wollte, aber mit ein paar Worten hatte die Base es fertig gebracht, mich hinwegzuführen. Brankwitz war unsichtbar geworden; Olga Sellmann lag in ihrem Zimmer und las einen Roman, von Zeit zu Zeit sollte das Mädchen ihr Nachricht bringen. Mein Stiefvater schritt in seiner Stube auf und ab, ruhelos. In der Stadt liefen Diener umher, das Fest abzusagen, und der Sanitätsrat weilte schon seit Stunden bei Mama.

[827] Ich saß allein in meiner Stube: was ich dachte und fühlte, ich weiß es nicht mehr, nur eines war mir klar, übermächtig klar, die Gewißheit, daß Mama sterben, daß sie mich verlassen würde. Ein wilder Schmerz rüttelte mich, aber weinen konnte ich nicht. Barmherziger Gott, nach Deinem Willen! dachte ich. Was soll sie auf der Welt, die nichts weiter mehr für sie hat als Jammer und Elend? Aber nimm mich gleich mit, ich bitte Dich! Ich wiederholte das Letzte halblaut immerzu. Ach, ich bitte Dich! Ich bitte Dich! Furchtbare Vorstellungen marterten mich, ich sah Wollmeyer verhaftet, fortgeführt, sah den ganzen Hof voll Menschen stehen, voll hohnlachender schrecklicher Menschen, die mit Fingern auf mich und Mama wiesen und sagten: „Die haben auch das Sündenbrot mitgegessen!“ – eine Vorstellung, die mich jäh emporspringen ließ und in der Stube umhertrieb. Laß uns zusammen sterben, lieber Gott!

Niemaud bekümmerte sich um mich, und immer schrecklicher wurden meine Phantasien. Die Komtesse war schon geflohen, als sie aus dem Wenigen, das sie hörte, die Gemißheit gewonnen hatte, daß Brankwitz der „Kravattenfabrikant“ sei, von dem ihr Neffe gesprochen und Wollmeyer sein Kompagnon.

Und das war ja das Schlimmste noch nicht! O, ganz allein würde ich bleiben, sobald Mama gegangen, auch die Komtesse würde mich verlassen!

Und diese unheimliche Stille! Ich schlich mich durch das Vorzimmer und spähte in den Flur hinaus. Man hatte eine Lampe angezündet, und in deren schwachem Schein grinsten mich die lachenden Masken aus dem Tannengrün an mie ein gräßlicher Spuk. Wäre wenigstens die Base bei mir! Wüßte ich nur, wie es oben steht! Und mitten drin überkam mich die Erinnerung an die Knopfmarthe, die so verzweifelt den Mann anklagte, der sie in den Tod trieb, und die Erinnerung an ein Grab in den Thüringer Bergen. Schuld, Schuld, wohin ich blickte, schwere, furchtbare Schuld!

Ich hatte mich auf die Schwelle der Stubenthür gehockt und erwartete weitere Nachricht über Mamas Ergehen. Es war kalt im Flur und so still im ganzen Hause, als läge schon ein Totes darin. Dann kamen schwere Schritte die Treppe herab, und mein Stiefvater ward sichtbar. Ich erhob mich und trat in das Zimmer zurück. Entsetzlich hatte er ausgesehen, so gedrückt, so scheu, so stier die Augen. Seine Tritte folgten mir, ich schloß die Thür in herzklopfender Angst. „Machen Sie auf,“ befahl seine heisere Stimme, „machen Sie auf, ich muß mit Ihnen sprechen – Ihrer Mutter wegen!“

Willenlos gehorchte ich und suchte dann zitternd eines der Fenster, als sei ich dort sicher in der schwachen Helle, die es einließ und die zwei Schritte davor in der Dunkelheit erstarb.

„Ihre Mutter ist sehr krank,“ begann er heiser, „sie ist lebensgefährlich krank.“

„Kein Wunder!“ antwortete ich halb erstickt.

„Sie hat sich erschreckt, alteriert – sie ist so nervös.“

„Jawohl, ich weiß, ich kenne die Ursache, denn ich war bei ihr, als sie erfuhr, daß –“

„Sie?“ Es war wie der Wutschrei eines Tieres.

„Schlagen Sie mich nur tot, ich will nichts Besseres,“ sagte ich.

Er blieb still. „Nun denn,“ stieß er endlich hervor, „dann wissen Sie ja alles, dann brauche ich es nicht zu wiederholen – Sie allein haben das Leben Ihrer Mutter in der Hand.“

„Wenn es Gottes Wille ist, daß meine Mutter am Leben bleibt, so nehme ich sie an der Hand und verlasse mit ihr dies Haus. Ich bin jung, ich kann arbeiten; ich will nicht, daß sie einem Betrüger angehört.“

„Beweisen Sie doch, daß ich ein Betrüger bin, bemeisen Sie es doch! Ich frage Sie zum letztenmal, wollen Sie Brankmitz Ihr Jawort geben oder nicht?“

Ich antwortete nicht, außer mir, drehte ich ihm den Rücken. Doch in diesem Augenblick flog ein Lichtschein durch das Zimmer; mein alter Schutzengel stellte die Lampe auf den Tisch und schloß meine zuckenden Glieder in seine Arme. „Anneliese liebt einen andern, Wollmeyer, sparen Sie Ihre Worte!“

Ich wand mich empört aus den Armen der alten Frau. „Base!“ rief ich zitternd.

„Wen?“ fragte mein Stiefvater.

„Den Robert Nordmann – und er liebt sie,“ erklärte unbeirrt die Base. „Und wenn Ihnen etwas an dem Leben der armen Frau dort oben gelegen ist, so sperren Sie sich nicht dagegen – ich spreche noch einmal wohlmeinend mit Ihnen.“

„Was kann mir der Lump –“ stotterte er, „es ist Spekulation von ihm, gemeine Spekulation!“

Ich stieß die Base zurück und wollte sprechen, aber mir war, als ob eine Hand meine Kehle zudrückte.

„Es wäre besser, Sie überlegten Ihre Ausdrücke ein bißchen,“ sagte die Base, „es möchte Sie sonst gereuen.“

Er ward plötzlich kreideweiß im Gesicht.

„Ihr wollt mir drohen,“ schrie er, „nehmt Euch in acht! Meinetwegen mag sie ihn nehmen in des Teufels Namen und machen, daß sie mit ihm fortkommt auf Nimmerwiedersehen!“

„Sie täuschen sich!“ rief ich außer mir. „Robert Nordmann wird nicht wieder gehen, bevor die Ehre seines Vaters, die durch einen Schurken befleckt wurde, wieder hergestellt ist, und ich wünsche mit der ganzen Kraft meiner Seele, daß es ihm gelingen möge!“

„Anneliese,“ mahnte die Base, „bedenken Sie – Ihre Mutter!“

„Mein Leben will ich lassen für Mama, aber dazu beitragen, ein Verbrechen zu bemänteln, das Sühne verlangt, nie!“

„Wahnsinnige Person!“ murmelte Wollmeyer, dann schwankte er aus dem Zimmer.

Die Base war auf den Fenstertritt gesunken, wie eine formlose Masse saß sie da in der schwachen Helle. „Gott im Himmel!“ schluchzte sie. „Und in einer Stunde kommt Robert, gestern hab’ ich ihm telegraphiert!“

„Wie? Sie haben ihn hergerufen? Was denken Sie?“

„Daß Sie das Schicksal von uns allen in der Hand haben! Er liebt Sie – wenn Sie ihn bitten, wird er sich mit Wollmeyer stillschweigend einigen um der armen Frau willen. Roberts Vater ist tot, aber Ihre Mutter lebt, Anneliese – Gott erhalte sie! Was tot ist, ist tot, er muß an die Lebenden denken!“

„Ihn darum bitten – nein – und wenn mein Herz darüber bricht! Das kann ich nicht, Base!“

Ein Mädchen trat in diesem Augenblick ein. „Mit der gnädigen Frau geht es schlechter,“ flüsterte sie.

„Kommen Sie, Anneliese,“ sagte die Base, „vielleicht erbarmt Sie der Anblick.“ Ich folgte ihr stumm.

Eine Frau saß am Bette. Totenblaß lag das schöne Antlitz Mamas in den Kissen. Ich kniete am Lager nieder und barg den Kopf in der seidenen Decke. Sie war augenscheinlich nicht mehr bei Besinnung, sie flüsterte immer leise vor sich hin: „Komtesse, verlassen Sie Anneliese nicht – nehmen Sie sie fort – ganz fort von hier! Es ist aber nicht wahr, daß er schlecht ist – Helene Sternbergs Mann und schlecht! Es ist zum Lachen!“ Sie lachte leise. „So alberne Menschen, die das sagen – einen Orden wird man ihm geben, morgen, und so viele Leute kommen – so viele – immer mehr – immer mehr – sie wollen folgen – folgen! Nein, Pate stehen wollen sie – hörst Du, Anneliese? Das Kind braucht sich seiner Eltern nicht zu schämen – nein!“

Ich hielt mir die Hände vor die Ohren; ich litt wie unter körperlichen Martern. Dann sprang ich auf und stürzte hinunter in meine Stube und wimmernd warf ich mich aufs Sofa. „Mama, Mama – bleib’ bei mir, bleib’ bei mir!“

Da umfaßten mich zwei starke junge Arme und richteten mich empor und dann lag ich an seiner Brust. „Anneliese, meine Anneliese!“ Ich wehrte mich nicht, ich wunderte mich nicht, ich schluchzte nur heftiger als zuvor: „Mama – meine Mama will sterben, ich will nicht leben ohne sie!“

Er ließ mich weinen und strich mir nur sanft über meine Haare. Dann begann er zu sprechen: „Die Base telegraphierte mir, ich sollte schleunigst kommen, Du seist in Gefahr – was ist’s, Anneliese? Hat man Dich wieder wegen Brankwitz gequält? Oder denkst Du, ich sei gekommen, Deiner Mama etwas zu thun? Ach Kind, wie habe ich gekämpft mit mir, mit meinem Gewissen, mit meinem Stolz, seit jener Abschiedsstunde, seit ich Dich geküßt! Nein, Anneliese, ängstige Dich nicht – Deine Mutter lebt und mein Vater ist tot, und im Jenseits, wenn da Gute und Schlechte belohnt und bestraft werden, hat er tausendfach seine Ehre wiedergefunden, die ihm die Menschen hier raubten. Wir wollen suchen, dies alles zu vergessen. Komm mit mir – wo die Liebe ist, da ist auch die echte, die wahre Heimat! Nichts sollst Du im fremden Lande vermissen; komm, Anneliese, sag’, daß Du willst!“

Wie ein süßes Wiegenlied hatten diese Worte geklungen; ich war ganz still geworden.

[828] „Sag' Ja!“ flüsterte er und küßte mich. „Mußt Du erst überlegen, Anneliese?“

Da fuhr ich empor aus seinen Armen; die Base war mit Licht eingetreten. Sie sah Robert noch nicht, sie hatte die Augen auf die flackernde Kerze gerichtet. „Annelieseken,“ sagte sie, und die Stimme quoll ihr in der Kehle, „Mama geht’s sehr schlecht.“ Und aus diesen paar Worten scholl mir die furchtbare Kunde mit furchtbarer Gewißheit entgegen – keine Hoffnung!

Ich stürzte hinaus, ich vergaß alles. Droben wehrte mir der Arzt den Eingang; in Mamas kleinem Boudoir neben dem Sterbezimmer kauerte ich mich in die Kissen des Sofas und horchte auf die schwachen Laute, die von dort herüberdrangen, auf das Gehen und Flüstern. Eine tödliche Müdigkeit überfiel mich von Zeit zu Zeit, immer unterbrochen von der folternden Erinnerung an die traurige Gegenwart. Einmal glaubte ich Wollmeyers und des Arztes Stimme zu vernehmen, vermochte aber nicht, mich ganz wach zu erhalten. Dann fuhr ich jäh aus tiefem Schlafe; es war, als hätte mich liebkosend eine Hand gestreift; ein kalter Schauer war an mir vorübergeweht! Ich stand im nächsten Augenblick auf den Füßen, lief zur Thür und trat über die Schwelle.

Weihnachtstuten in der Mark.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.

Totenstill war es hier innen; die Kerzen auf den Leuchtern flackerten im Winde, der durch das offene Fenster kam. Eine schreckliche Bangigkeit überfiel mich, ich wagte nicht, vorwärts zu gehen. Vor dem Lager Mamas kniete ein Mann, das Gesicht in der Decke verborgen, die Hände verzweifelt in die Haare gekrallt; und Mama ganz still, der Kopf eigentümlich zurückgebogen, halb offen die Augen – ach, und der starre, der trostlose Ausdruck in den Zügen! Der Mann erhob sich und ging an mir vorüber; ich glaube, er sah mich nicht. Langsam schlich ich näher zu dem Bett.

„Mama!“ sagte ich leise, „Mama, schläfst Du?“

Ja, sie schlief. –

Ohne eine erleichternde Thräne, ohne die Hände gefaltet zu haben, wankte ich hinunter wie geistesabwesend. Die Leute standen im Flur und sahen mich mitleidig an; Olga Sellmann kam mit verstörtem Gesicht zu mir herüber, ich drehte ihr den Rücken zu. Robert Nordmann lehnte am Fenster in meinem Wohnstübchen; er wandte sich um, ein Zucken ging über sein Gesicht und stumm breitete er die Arme aus. Es sollte wohl heißen: komm, ich will dir alles sein, Vater, Mutter, Heimat – alles! „Mama ist tot!“ sagte ich und ging an ihm vorüber. Er ließ die Arme sinken und sah mir traurig nach.

Ich nahm ein Tuch, hüllte mich fröstelnd hinein und setzte mich in den Stuhl am Ofen. In mir war alles starr und tot. So saßen wir in dem kalten Zimmer, in der Winternacht, er und ich. „Mama ist tot, ich danke Ihnen für Ihr Mitleid – nun haben Sie keine Rücksicht mehr zu nehmen; leben Sie wohl!“ hätte ich ihm sagen müssen, aber kein Ton wollte aus meiner Kehle.

Die Base kam endlich, mit blassem eingefallenen Gesicht. Als sie mich sah, wandte sie ach ab und wischte sich die Augen. „Gott hat Ihnen viel genommen, Anneliese!“ Dann winkte sie dem Neffen, ihr zu folgen, und leise traten beide in die angrenzende Stube. Ich hörte sie flüstern, die Base schluchzte dazwischen. Und plötzlich raffte ich mich auf und verließ das Zimmer; ich wollte

fort, fort zur Komtesse, fort aus dem Hause des entsetzlichen Menschen! Mechanisch zog ich das Tuch fester und trat hinaus in den dämmerigen kalten Flur; die Uhr schlug eben Sechs.

Und da stand die Komtesse, und als sie mich sah, nahm sie mich in die weiten Falten ihres Mantels. „Mein armes Kind,“ sagte sie, „nun gehörst Du zu mir. Komm, wir wollen noch einmal zu der Len’, dann gehen wir in mein Haus!“

Auf der Treppe begegnete uns Olga Sellmann; sie war in Reisetoilette. Hinter ihr schritt neben Brankwitz mein Stiefvater, fast unkenntlich geworden in dieser einen Nacht; gebückt, scheu, das Haar so grau, wie es mir noch nie vorgekommen war. Er machte einen schwachen Versuch zu der alten Höflichkeit. Die Komtesse hielt aber den Kopf steif in den Nacken gebogen und bemerkte ihn nicht. Ein heftiger Schreck malte sich in seinem Gesicht; er wagte nicht, uns zu folgen.

Ich küßte noch einmal Mamas Hand. Die Komtesse konnte weinen, heftig, wie verzweifelt; ich fand keine Thräne. Dann gingen wir die Treppe wieder hinunter, als eben der Wagen mit Olga Sellmanns aufgetürmten Koffern zum Thore hinausfuhr. Mein Stiefvater begegnete uns abermals, und abermals sah die Komtesse nach der andern Seite; er stand mit zur Faust geballten Händen da und blickte uns nach; aber er machte keinen Versuch, mich zurückzuhalten.

„So,“ sagte die Komtesse, als sie mich über die Schwelle ihres Hauses mehr hob als führte, „das ist jetzt Deine Heimat, so lange ich lebe – lange wird’s freilich nicht mehr sein. Aber vorderhand ist’s doch ein Unterschlupf für Dich, mein armes Kücken.“

Das Erste, was ich that, war, daß ich mich an den altmodischen Schreibtisch setzte unb an Robert schrieb: „Mama ist tot, und auf mich dürfen Sie nun keine Rücksicht nehmen. Ich danke Ihnen für Ihr Mitleid, für Ihre aufopfernde edelmütige Gesinnung, es hat mir alles so wohl gethan. Tausendfaches reiches Glück wünscht Ihnen Anneliese.“ 
(Fortsetzung folgt.)


[829]

Franz Bandholts Weihnachten.

Von Johannes Wilda. Illustriert von Fritz Gehrke.

Ein grauer Himmel, unter dem der Sturm aus Nordwest die tiefhängenden schwarzen Wolken jagt; eine graue öde Fläche, auf der es sich weißschimmernd hebt und senkt. So weit das Auge zu schauen vermag, nichts als Himmel und Meer, nichts als die unermeßliche, brausende Wasserwüste. Und doch – etwas steigt dort auf und ab; etwas, das wie ein umgekehrter Pendel nach rechts und links schlägt. In der Nähe gesehen, ist es ein einsames Schiff, ein Schooner unter Sturmsegeln, von den hinter ihm her stürzenden Wellenmauern ruckweise vorwärts geschleudert und einen Schaumberg vor seinem breiten, nach unten gesenkten Bug einherwälzend.

Aber das würde uns kaum fesseln: eine gleichförmige, trostlose Spätherbst-See mit einem sie durchpflügenden unausehnlichen Kauffahrteischiff. Es wäre an sich wirklich ganz uninteressant – und doch verfolgen wir diesen reizlosen Vorgang mit Aufmerksamkeit, weil wir wissen, daß Kapitän Bandholt die von Iquique mit Salpeter nach der Elbe segelnde „Athapaska“ führt, und daß er der Vater von Franz ist. Er selbst würde freilich nur sagen: von Meta, denn seine Gedanken weilen einzig bei dem Töchterchen, während er, ganz in gelbes Wachstuch und schwarzes Schmierleder verpackt, breitbeinig auf seinem naßglänzenden, schwankenden Achterdeck auf- und abtorkelt, wobei er jeden Augenblick einen Schuß nach vorn bekommt und jeweilig mit einem eingeknickten und einem lang seitwärts gestemmten Bein auf den jäh entstehenden Steilschrägungen des Deckes abstoppen muß. Ja, kennt denn Bandholt seinen Franz nicht ebensogut wie seine Meta? Freilich. Und er kennt ihn trotzdem nicht! Denn, wie kann man einen kennen, um den man sich nie bekümmert hat, den man selten sieht, wenn man ihn aber sieht, immer mehr in sich selbst zurückscheucht, indem man ihn unaufhörlich merken läßt, wie wenig er geliebt wird? – – Seit der Unglücksnachricht, die Bandholt unmittelbar vor der Heimkehr von Tante Schane erhalten hatte, daß Meta sterbenskrank sei, war er nicht nur in sich gekehrt und sackgrob – das pflegte er ja meistens zu sein – nein, er war in einen Zustand geraten, den noch niemand an ihm auf See gekannt hatte: seine eisige Ruhe hatte ihn verlassen, er war nervös geworden!

„Stüermann Negenmörder!“

„Kaptein?“

Bandholt hatte sich festgepflanzt; die Hände hinter dem Rücken gekreuzt, blickte er unter buschigen Brauen aus seinen tiefliegenden Augen in mürrischer Nachdenklichkeit in die Luft. Dann zeigte er kurz mit dem Daumen nach oben.

„Bramsegel bi!“

Negenmörder, auch ein erfahrener Seemann, wischte die Salzwassertropfen von seinen vorstehenden sommersprossigen Backenknochen und sah unruhig auf den Vorgesetzten. „Ick meen, wi hebbt all so to veel Segel, Kaptein.“

Bandholt schnitt, ohne eine Silbe zu erwidern, ein Gesicht, als ob er seinen Steuermann fressen wollte, deutete abermals energisch nach oben, spuckte aus und torkelte weiter.

Der Befehl wurde ausgeführt, aber wie Negenmörder sich schon gedacht hatte, kam die schwer arbeitende „Athapaska“ doch nicht schneller vom Fleck, und nach wenigen Minuten flog das Bramsegel in Fetzen davon.

Aber vorwärts, vorwärts, nicht beiliegen! Jede Stunde, die er verlor, erschien dem Kapitän unbezahlbar; je näher er der Heimat kam, desto aufgeregter war er geworden, – er mußte und mußte sein Kind noch einmal sehen! Jetzt schob er die Karte der Elbmündung zurück, die er eben in der Kajüte studiert hatte, und kletterte wieder an Deck, wo Negenmörder ab und zu den Leuten am Ruder beisprang. Auf Kopf und Schultern der Männer lag eine dicke Kruste von Schnee.

„Kaptein!“ schrie Negenmörder dem an eine Nagelbank sich festhaltenden Vorgesetzten durch das Toben von Wind und Wellen ins Ohr, „lang’ künnt wi nich mehr Kurs holen[1]!“

Bandholt nahm das Nachtglas, spähte nach Steuerbord aus und schwieg.

„Kaptein,“ begann Negenmörder wieder, „dat is nich üm mi – hier sünd wölk[2] an Bord, de Fru un Kinner hebbt! Jüst, wil Se an Ehr Kind denken, schullen[3] Se sick wat annehmen. So kamt wi nich lebenndi in de Elv herinner!“

„Wat, ünner Helgoland biedreihen[4]?“ schrie Bandholt. „Künnen Se dat, denn dohn Se dat!“

„Nee, Kaptein, ick kann ’t nich! Wenn ener dat noch kann, dann sünd Se dat alleen. Awerst ick glöw ok, wi hebbt nu all to lang dormit töwt[5].“

„Denn kümmt dat, hal mi de Deuwel, up ens herut!“

[830] „Nee, Kaptein, versöcht[6] mut warden! In ’n Namen vun de Lüd segg ick dat.“

„In’n Namen von de Lüd hebben Se dat Mul to holen! Verstahn Se mi?“ brüllte Bandholt.

„Denn maken Se mit Gott aff, wat Se nich laten künnen, Kaptein; ick heff mien Plicht dahn.“

Ein harter Kampf tobte in der Brust des Kapitäns; er sah ein, daß sein Eigensinn diese verzweifelte Lage verschuldet hatte. Er ließ außer Negenmörder Bootsmann Knüvnagel, Segelmacher Iversen und Zimmermann Jeve aufs Achterdeck kommen. Diese schienen schon gelauert zu haben.

„Ick tru mi noch ümmer to, de ‚Athapaska‘ heel[7] in de Elv herinner to bringen, Lüd! Ji wüllt mi awerst twingen, ünner Helgoland –“

„Twingen nich, Kaptein!“ protestierte Knüvnagel.

„Na, dat is en Dohn![8] Ji wüllt gegen mi utseggen[9], wenn dat in de Elv scheef geiht?“

Die Männer schwiegen.

„Good! Wi gaht ünner Helgoland, wenn – de Düvel uns nich vörher bie’n Kanthaken[10] nümmt! – All hands[11] up Deck!“

Dann ging der Tanz los. Als die „Athapaska“ an den Wind kam, legte sie der Schneesturm platt ins Wasser, und als sie sich endlich wieder aufgerichtet hatte, waren Boote, Schanzkleidung und Deckhütte fort. Dennoch war das Manöver ein Meisterstück gewesen, wie es nur der alte Bandholt fertig brachte. Er wies Dank und Lob seiner Untergebenen rauh zurück und knurrte: „Dat dicke Enn kümmt noch.“

Und leider sollte er recht behalten. Nach fünf Minuten brach der Klüverbaum, und damit geriet der Fockmast ins Wanken. Es ward unbedingt nötig, wieder abzuhalten.

„Stüerbord!“ brüllte Bandholt den Leuten am Ruder zu.

Das Schiff hatte aber dem Drucke noch nicht gehorcht, als gerade in diesem Augenblicke die Schneebö tückisch mit orkanartiger Wucht einsetzte. Und da geschah das Schrecklichste: der Fockmast neigte sich und stürzte, den Großmast mit sich reißend. So furchtbar heulte der Orkan, daß man das Krachen kaum aus dem Tosen heraushörte. Sturzseen, Finsternis und Schnee ließen die Hand nicht vor den Augen erkennen. Es war ein Augenblick, in dem die Hölle loszubrechen schien und der gewöhnlich geartete Mensch sich dem entfesselten Elemente gebrochen und verzweifelnd zum Opfer gegeben hätte. Aber der alte Bandholt stand mitten in der Zerstörung wie ein Löwe. Jetzt war er ruhig.

„Klart dat Wrack!“

Die Leute ermannten sich. Auf Leben und Tod wurde mit Messer und Beilen gearbeitet, das Deck frei zu machen; Bandholt immer allen voran, oft bis über den Kopf in See und Schaum. Nach anderthalb Stunden war das Werk gelungen. Am Stumpfe des Fockmastes hatte man mit Hilfe einer Bramraae ein Notsegel angebracht. Vor dem Sturme eilte das Wrack in die jetzt einzig mögliche Richtung – wieder auf die Elbmündung zu.

Bandholt wußte, daß der Großmast, als er noch an den Tauen gehangen, unter der Wasserlinie ein Loch in den Rumpf gestoßen hatte, und daß es nur eine schwache Möglichkeit für die Rettung gäbe: das schnell sinkende Schiff so hoch hinauf als möglich auf den Strand zu setzen.

Erschöpft, schier teilnahmlos arbeiteten die Leute im eisigen Wasser an den Pumpen. Wenn es nur Tag werden wollte! In solcher Nacht dünkt dem Menschen das Licht der einzige Hoffnungsstrahl zu sein. Ja, ein Licht kam wohl, aber nicht das des Tages, sondern das eines Küstenfeuers.

„Neuwerk!“ flüsterte Negenmörder gepreßt und biß die Zähne aufeinander. Bandholt ließ die Rettungsringe verteilen.

Da zitterte ein heftiger Schlag durchs Schiff, es hatte auf Grund gestoßen. Und wieder wurde es gehoben, stieß abermals und trieb von neuem, bis es endlich mit einem heftigen Ruck in der Brandung festlag. Das Feuer von Neuwerk blinkte jetzt schwach auf der anderen Seite. Man hatte nichts, um sich bemerkbar zu machen; kein Mensch konnte sich auf Deck halten. Unter dicht verschotteten Luken hockten sie alle, so trocken es ging, stumm aneinander geduckt im finsteren Raum, ihr letztes Vertrauen auf die Festigkeit des Rumpfes setzend.

Der Schneesturm fegte nach wie vor die brausenden Wogen heran; wie geifernde Tiger überstürzten sie sich und schmetterten in wilder Brandung unaufhörlich hinweg über das verlorene Wrack. Und plötzlich ging ein Krachen durch das ganze Gebälk. Instinktmäßig griff jeder nach seinem Korkring, und dann tasteten die Hände der Männer im Dunkeln nach einander und tauschten einen stummen Abschiedsgruß.


„Franz, Schlüngel, was hast Du Meta wieder aufzuwecken! Mach, daß Du von ihr abkommst!“ zankte Tante Schane.

Franz schlich schweigend aus der finstern Ecke, wo das Bett der kleinen Meta stand, und setzte sich auf den Holzstuhl ans Fenster – oder vielmehr auf seine Hände, eine ungeschickte Gewohnheit, die daher rührte, daß er auf diese Weise das Brennen von Tante Schanens Klapsen zu mildern oder auch ihnen ganz zu entgehen hoffte.

Eine feine Stimme aus dem Dunkel klagte: „Laß ihm doch, Tante! Morgen steh’ ich doch all wieder auf!“

Tante Schane saß strickend am anderen Fenster der dämmerigen Stube. Ihr langer Oberkörper wiegte dabei taktmäßig hin und her, als wäre sie begeistert durch eine nur von ihr gehörte Tanzmusik, was ihr in der ungewissen Beleuchtung etwas sehr Gespenstisches verlieh. Sie zog eine Nadel aus dem ellenlangen Wollstrumpf, stocherte sich damit im Haar herum, steckte sie dann wieder in die Maschen und ließ die Nadeln leise und emsig weiter klirren, bis sie endlich erwiderte: „Das is eins! Wenn Vater kommt, sollst Du wieder gut zu Wege sein! Du meine Güte, wo wär’ mir das woll gegangen, wenn ich Dir nich’ durchgekriecht hätte?“

Dann wendete sie das dünn behaarte, glatt gescheitelte Haupt zum anderen Fenster. „Junge, Junge, das wird wieder ’n schönen Weihnachten für Dich geben! So ’n richtigen Nagel zu Dein Vater sein Sarg bist Du doch! Wozu Dich der liebe Gott in die Welt eingesetzt hat, das soll ’mal einer raten!“

Franz war nachgerade vollständig überzeugt davon, daß er ein Nagel zu seines Vaters Sarg sei und daß niemand es erraten könne, er selbst mit inbegriffen, warum er auf die Welt gekommen wäre. Die Leute hatten es ihm längst erzählt, daß er seiner Mutter – jetzt vor zwölf Jahren – bei seiner Geburt das Leben gekostet hätte; und wie er, mit vier Jahren, dann seine Stiefmutter, Metas rechte Mutter, ins Grab gebracht hatte, stand ihm noch deutlich vor Augen. Die Stiefmutter war schwer krank gewesen; da hatte er in seinem Unverstand die Katze ins Schlafzimmer gelassen, damit die einjährige kleine Schwester mit ihr spielen sollte. Die Katze aber hatte sich nachts oben auf das Kind gelegt; und als nun die Mutter, da es so merkwürdig ruhig war, im Dunkel nach dem Kinde griff, war ihr das Tier ins Gesicht gesprungen. Meta aber lag ohne Atem da und es schien, als ob das kleine Herz bereits [831] still stände. Darüber hatte sich die junge Mutter so entsetzt, daß sie nicht mehr aufkam.

Schläge hatte Franz damals nicht erhalten – er mußte bloß immer still in einem Winkel sitzen, wo sich niemand um ihn kümmerte. Nur die Katze war zu ihm gekrochen. Da aber hatte der Vater die Katze gepackt und gegen die Wand geworfen, daß sie mit gebrochenem Genick liegen blieb; und Franz hatte einen Fußtritt bekommen, der ihm beinahe dasselbe Schicksal bereitet hätte. Dann war das ganze Haus schwarz gewesen, und Metas Mutter war in einem gelben Sarg mit weißen Spitzen aus dem Haus getragen worden, und sein Vater hatte sich über den Sarg geworfen und laut geweint.

Und das war alles, alles seine Schuld!

Ein grauer Wasserdunst, in dem die Laternen der Brücke rötlich und trübselig glimmten, lastete über dem Fleet, eingeklemmt zwischen den schwarzen, hölzernen Speichern und den auf gesenkten Pfählen ruhenden Rückseiten der alten Häuser. Franz saß noch immer auf seinen Händen; er starrte zu dem kupfergrünen Dache von St. Katharinen empor, wo er noch eben den die Turmspitze umschließenden Kronreif erkennen konnte. Der war aus Gold geschmiedet, das man dem großen Seeräuber Störtebeker abgenommen hatte; Franz wußte das genau. Wenn er doch auch Seeräuber werden und so viel Gold sammeln könnte! Er würde es dann dem Vater schenken, der ja immer in Geldsorgen lebte. O, vielleicht würde der Vater ihn dann auch lieb haben! Meta sollte zu ihm aufs Räuberschiff und ihm ’was kochen und es überhaupt sehr gut haben. Und Tante Schane? Ja, ein Jahr mindestens mußte sie angekettet bei den Geistern, Schlangen und Molchen im Keller seines Raubschlosses liegen. Wenn sie ihn dann um Verzeihung bitten würde, wollte er sie, mit einer Hand voll Gold zu ihrem Lebensunterhalt, laufen lassen. Er wollte auch kein gottloser Räuber sein, nur die reichen .….

Tante Schanes Aufstehen, bei dem sie immer länger und gespenstischer ward, unterbrach seine schönen Träume. Tante Schane erinnerte sich nämlich mit einem entsetzten: „Ach Du mein Großmächtiger – wat bün ick wedder för’n Blau-Ackermann!“[12], daß sie vergessen hatte, Petroleum in die Lampe zu gießen. Eilfertig schlürfte sie in die Küche; da sie dabei ihr heruntergefallenes Strickzeug hinter sich herschleifte, so ließ sich der Vergleich mit einer zierlichen Bachstelze kaum für sie aufrecht halten – sie sah eher aus, als ob sie unseligerweise bereits im Burgverließe mit der Kette am Bein umherirre.

Knapp befand sie sich draußen, so schoß Franz an das Bett. Die Geschwister umschlangen sich und legten ihre Waagen aneinander.

„Meta, weißt Du, was ich Vater zu Weihnachten machen will?“

„Nee!“ sagte Meta.

„Die ‚Athapaska‘! Der Rumpf ist schon fertig!“ rief Franz, und man merkte der Stimme ordentlich an, wie seine Augen strahlen mußten.

„Jungedi, kannst Du das?“

„Können?“ meinte Franz verächtlich. „Es kostet man ’ne Masse Geld. Zwei Mark hab’ ich mir all vom Sommer her gespart.“

„Dann hast Du woll all die Zeit ohne Frühstück in der Schule gesessen?“ rief Meta bestürzt.

„Warum nich? Verhungert bin ich da auch nich bei.“

„O, wenn Tante Schane das wüßte! Die haute Dir halbtot!“

Franz zuckte die Achseln. Dem Schwesterchen aber kam das kühne Unterfangen entschieden nicht ganz geheuer vor. Wie sie noch so hin und herredeten, ging draußen hastig die Treppenthür. Die Kinder hörten ein Schluchzen und eine fliegende jammernde Stimme. Das konnte nur Wiesche Negenmörder sein, die rothaarige Schwester des rothaarigen Steuermanns – die hatte so eine wehleidige Stimme. Aber was war das? Den Kindern stockte das Blut. Abgerissene Worte drangen herein: „Athapaska – Depesche von Neuwerk – alle, alle –!“

Und dann kreischte Tante Schane laut auf, und ebenfalls aufschreiend war Meta mit einem Satz aus den Kissen gesprungen und barfuß hinaus, während Franz, vor Schreck unfähig, sich zu regen, an dem Bettrand auf den Knien liegen blieb.

*               *
*

Aus dem Reste des schmelzenden Talglichts ragte der Docht seitwärts lang heraus und beleuchtete mit seiner rötlich schmauchenden Flamme die steifgefrorenen Finger des kleinen Franz, sein zierlich getakeltes Schiffchen, die Dachsparren, das alte Bett mit der durchlöcherten karrierten Pferdedecke, während es in dem mit Eiskrystallen bedeckten schrägen Dachfensterchen sich glitzernd spiegelte. Franz schauderte vor Kälte.

Da klopfte es leise dreimal an die Thür. Der Knabe schob von seinem Stuhl aus den Riegel zurück. Meta, mit wirrem Haar, im kurzen Flanellröckchen, ein Tuch um die Schultern geschlagen, schlüpfte herein.

„Gleich geht Dein Licht aus! Bist Du nicht bang?“ wisperte sie, furchtsam in die dunkle Kammerecke starrend.

„Nee!“ flüsterte Franz stolz. „Meinst Du, daß Störtebeker bang gewesen ist?“

„Du bin auch noch lang kein Störtebeker!“

„Kommt noch, mein Deern!“

„Nee, so’n alten gräsigen Seeräuber, den sie sein’ Kopf abhauen, sollst Du nich werden!“

Franz spitzte überlegen die Lippen. „Guck ’mal!“

Er blies zur Erwärmung in seine zusammengelegten Hände und winkte mit den Augen nach seinem Schiffe hin.

„O du mein, is das fein geworden! Da kann Vater sich ’was über freuen! Aber weißt Du, rechten Weihnachten wird das diesmal doch nich.“

„Kriegen wir kein’ Baum? Bitt’ Vater doch noch ’mal!“

„Ach, das hilft ja nich! Er spricht ja nu mit mir auch nich mehr! Und heut’“ – sie blickte scheu nach der Thür und näherte ihren Mund dem Ohre des Bruders, „heut’ soll er vor Gericht!“

[832]

Die Heimkehr.
Nach einem Gemälde von Jos. Weiser.

[833] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [834] Des Knaben Kopf fuhr mit weit geöffneten Augen zurück. „Vor Gericht? Bist verrückt? Vors Seeamt kommt er! Na, das is doch nich schlimm!“

Meta verzog das Gesicht zum Weinen. „Nee, nee! Wiesche Negenmörder hat zu Tante gesagt, daß Herr Voß gesagt hätte, daß Vater zu Loch käme!“

„Deern, man nich so laut, sie hört uns ja! – So’n Unsinn! Wie kannst da bloß ’an glauben?“

„Doch, doch! In der ersten Zeit, als Vater kam, hat er mich ja von sein Schoß gar nich runter gelassen, und jetzt schiebt er mir immer ab und guckt mir immer an, als ob ich schuld an ’was wär’!“

Franz versank in ernstes Nachdenken, dann sagte er: „Du bist an nix schuld; das werd’ ich woll wieder sein, das is ja immer so gewesen.“

Das Docht-Ende des Lichtes hatte sich mittlerweile zischend auf die Seite gelegt; die Flamme zuckte noch einigemal auf und erlosch dann. Gleich darauf dröhnte es dumpf vom Katharinenturm herunter. Sieben Uhr! Die Kinder erschraken. Meta glitt wie ein Wiesel aus der Kammer; Franz aber kroch noch auf ein paar Minuten zur Erwärmung ins Bett. Zitternd wickelte er sich dicht in die alte Decke, indem er seine Knie bis an die Brust hinaufzog.


„Die ‚Athapaska‘ hielt wunderbarerweise auch diese letzte furchtbare Grundsee aus und nach fünfzehn Stunden wurden wir endlich von dem Rettungsboot geholt. Weiter weiß ich nichts mehr auszusagen; wir alle aber bedauern, daß gerade unserem Kapitän dies Unglück zustoßen mußte.“ So schloß Negenmörder seinen Zeugenbericht.

Nachdem auch die anderen Zeugen verhört waren und der Reichskommissar sehr scharf gesprochen hatte, zogen die Mitglieder des Seeamtes sich zurück, um bald wieder zu erscheinen. Der Vorsitzende erklärte: in Anbetracht des vorzüglichen Verhaltens des Schiffers Bandholt unmittelbar vor und nach der Strandung sei auf eine Entziehung des Schiffsführerpatentes nicht erkannt worden, wohl aber müsse dem Schiffer wegen zu unvorsichtiger Navigierung, nachdem er das Gebiet der Nordsee erreicht hätte, eine ernste Rüge ausgesprochen werden.

Bandholt stand noch mit gesenktem Kopfe da und ließ seinen weichen, schwarzen Filzhut durch die rauhen Finger gleiten, als ein kleiner, alter Herr mit weißem Backenbart sich hastig an ihm vorbeischob, Negenmörder flüchtig die Hand gab und in der Thür verschwand. Der Kapitän zuckte zusammen. Diese Nichtbeachtung seiner Person war erst der entscheidende Spruch gewesen! Er kannte den Grundsatz seines alten Reeders, keinem Kapitän wieder ein Kommando zu geben, der einmal ein Schiff verloren hatte. Aber innerlich hatte er sich bis zum letzten Augenblick an die Hoffnung geklammert, daß Herr James Voß dieses einzige Mal eine Ausnahme machen würde. Er hatte nichts ersparen können; er wußte, daß er nach diesem amtlichen Tadel von keinem andern Reeder angestellt werden würde. Er sah seinen Ruin vor Augen. Und das hatte er selbst seinem Abgott, seiner kleinen Meta zugefügt!

Der Tag nach der Verhandlung war der 24. Dezember. Es war aber kein Weihnachtswetter, es regnete ununterbrochen, und noch früher als sonst brach die Dämmerung an. Die Kinder lagen in der Bodenkammer platt auf dem Fußboden, mit dem Ohr auf der Dielenritze. Jedes Wort hatten sie verstehen können, das zwischen dem Vater und Negenmörder gewechselt wurde. Sie wußten jetzt, daß der Vater nicht „zu Loch käme“, aber daß Herr Voß ihm seinen Posten kündigen wollte und daß er dann ein „verlorener Mann“ wäre. Sie konnten sich nicht recht vorstellen, was ein „verlorener Mann“ sei, nur daß es etwas Entsetzliches sein müsse, sagten sie sich. Es ward ihnen furchtbar bange. O, wenn sie ihm doch bloß hätten beistehen können!

Mit einem Mal schnellte Franz empor. „Meta, ich weiß ’was!“

Meta wischte sich Augen und Nase mit dem Handrücken und sagte ungläubig und kläglich: „Na?“

„Wir wollen zu Herrn Voß und für Vater bitten!“

„Meinst Du? Sie sagen ja aber alle, daß Herr Voß nix umsonst thut,“ wandte Meta weltklug ein.

„Soll er auch nicht! Ich schenk’ ihm die ‚Athapaska‘ zu Weihnachten!“

„Dann kriegt Vater ihr ja nich!“

„Dumme Deern, wenn er sich tot macht, weil er nu kein Schiff mehr hat, könnte er doch auch nix mit ihr anfangen! Komm flink! Um fünf Uhr fährt Herr Voß nach Harvestehude hinaus und denn können wir ihm nachflöten!“ –


„Wenn die Kinder meinen, daß sie wirklich so ’was Wichtiges haben, so lassen Sie sie hereinkommen!“ sagte Herr James Voß zu dem wartenden Diener, während er etwas verdrießlich ein Schriftstück zurückschob, zu dem er sich nur sehr ungern endgültig entschlossen hatte und das er erst nach dem Feste abschicken wollte. Es war an den Schiffer Herrn A. Bandholt, hierselbst, gerichtet.

Gleich darauf traten Franz und Meta ein und blieben nach einem heiteren „Guten Abend“ stumm an der Thür stehen. Herr James Voß drehte sich mitsamt seinem Sessel halb herum, setzte seinen goldenen Kneifer auf die Nase und starrte ins Halbdunkel.

Kühnen Entschlusses kam Franz mit dem enthüllten Schiffe näher; zaghaft trippelte Meta nach. Herr Voß warf einen flüchtigen Blick auf das Schiff.

„Unser Vater is Kapitän Bandholt, und wir wollten Ihnen gern ’was zu Weihnachten schenken, Herr Voß.“

„Mir? Das Ding da? Hat euer Vater euch geschickt?“ fragte Herr Voß scharf.

„Nee, Vater weiß da nix von,“ sagte Franz, dem es bereits unheimlich wurde.

Der Kaufmann betrachtete streng prüfend den Knaben. Nein, er konnte an der Wahrheit nicht zweifeln; aus dem unschönen Kindergesicht sah ihn ein Paar außerordentlich treuer ehrlicher Augen fest an.

„Na, Jung’, wie kommt Ihr denn dazu?“

Franz hatte sich die Sache ganz anders vorgestellt gehabt. Mühsam das aufsteigende Weinen bekämpfend, stieß er hervor: „Damit Sie Vater als Kapitän behalten!“

Herr James Voß sprang auf und stellte sich, die Hände in den Taschen, die Rockschöße über den Armen, vor die Kinder hin, die erschreckt einen Schritt zurückwichen. Meta, der die hellen Thränen über die Wangen rannen, zupfte Franz heimlich an der Jacke – es schien ihr die höchste Zeit, auszureißen. Aber Franz blieb standhaft.

[835] „Bengel, Du willst mich wohl bestechen?“

„Jawoll,“ sagte Franz ehrlich, da er glaubte, daß das ihm nur halb verständliche Wort ungefähr zutreffen könne.

Herr Voß lachte kurz auf. „Deern, verkriech’ Dich doch nicht; meinst Du, ich will Dich spießen?“ wendete er sich dann an Meta. „Um Deinetwillen hat Dein Vater woll so verrückt gesegelt? War ’n schöner Unsinn, Du siehst ja jetzt wieder aus wie das reine Leben!“

Meta hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, nicht wie das reine Leben auszusehen.

Und wieder Franz zugekehrt, fuhr der Kaufmann, auf das Schiff deutend, fort: „Setz’ das Dings ’mal unter die Lampe, daß man es sehen kann!“

Franz gehorchte nur widerstrebend; eine Hand behielt er daran. Sein Geschäft schien ihm auf recht unsicheren Füßen zu stehen.

Herr Voß zeigte ein höchst überraschtes Gesicht.

„Donnerwetter noch ’n Mal, Jung’, das ist so die ‚Athapaska‘! Du denkst woll, wenn der Vater die große verloren hat, nehm’ ich die kleine vom Sohn als Ersatz dafür? Wo hast Du das Modell hergekriegt?“

Der Künstlerstolz ließ den Busen des Jungen schwellen. „Das hab’ ich selbst gemacht!“

„Du? Na, na!“

„Ja, bloß bei’n Rumpf hat Schiffszimmermann Thomsen mir bei geholfen.“

„Das wär’! Wenn Du das nicht sagtest, würd’ ich es nicht glauben.“

Eine Pause entstand, worauf Herr Voß mit weicherer Stimme fortfuhr. „Na, geht man wieder nach Haus, Kinder! Dein Schiff kannst Du hier lassen, Jung’. – Was meinst Du, was ich Dir bezahlen soll?“

Da fuhr aber der sonst so verschüchterte Franz mit erregter Stimme auf. „Nein, Geld will ich nich, Herr Voß! Wenn Sie Vater nich behalten wollen, denn will ich auch mein Schiff wieder!“

Herr James Voß riß die Augen auf.

„Hallo, hallo, Jung’! Denkst Du, Geld ist nichts in der Welt? Da irrst Du Dich gewaltig! Aber – ich muß wenigstens die Sache noch überlegen.“

Doch Franz schüttelte den Kopf. „Ich will es doch man lieber so lang mitnehmen,“ meinte er und hob den kostbaren Gegenstand wieder auf den Arm, ohne daß Herr Voß ihn daran hinderte.

„Komm, Meta!“

Die Kinder schritten zur Thür, brachen aber gleichzeitig in heftiges Schluchzen aus.

„Halt’ noch’n Mal!“

Die Faust auf die Schreibtischkante gestützt, stand der Reeder sinnend da. Er besaß selbst keine Kinder und hatte sie bis zu diesem Augenblicke nie vermißt. Aber jetzt ging ihm mit einem Male die Erkentnis auf, was für ein Schatz sie seien. Zum erstenmal empfand er auch, welcher Jammer es für ein Kind sein müsse, den Vater leiden zu sehen.

Er räusperte sich. „Hm! Stell’ das Schiff nur wieder hin, Jung’! Ich will einen Brief an Deinen Vater schreiben, daß er in Gottes Namen seine Stelle behalten soll.“

Die Kinder sahen sich still mit leuchtenden Blicken an, während die Feder des Kaufmanns über das Papier flog.

„So! Nun macht, daß Ihr wegkommt, ich muß auch fort! Vergnügtes Fest!“ – –

Wie die Beiden nach Haus kamen? Natürlich wie unsinnig springend und tanzend.

Auf der Treppe, die unmittelbar von der Straße nach oben führte, verlor Franz aber urplötzlich allen Mut. „Du, Meta, wenn ich ihm den Brief geb’, denn is da am Ende doch was nich recht an.“

Zögernd nahm Meta den hingehaltenen Brief. Da streckte sich auch schon Tante Schanens spitze Nase über das Treppengeländer vor.

„Meine Güte, wo bleibt Ihr denn bloß wieder heute? Flink in die Schlafstube, Meta! Und Du, Franz, machst, daß Du nach oben kommst, bis Du gerufen wirst!“

Franz schlich in seine kalte dunkle Kammer; ihm war es höchst zweifelhaft geworden, ob er dem Vater zu Dank gehandelt habe oder nicht. – Die Regenwolken hatten sich verzogen, das Mondlicht funkelte auf Störtebekers Krone. Und mit einemmal fingen die Glocken an zu läuten, nah und fern, von St. Katharinen und St. Petri, von St. Jakobi, St. Nikolai und St. Michaeli. Dem Jungen ward ganz feierlich zu Mute. Er faltete die Hände und betete: „Lieber Gott, laß mich doch bloß besser werden, und wenn Du kannst, dann mach’, daß Vater mich lieb hat!“ Und nun war es ihm, als sähe er den heiligen Stern und darunter die Krippe mit dem Christkind, von dem ein Glanz ausging, tausendmal heller als von der goldenen Krone.

„Franz, Franz, schnell!“ Meta rief’s, die Treppe so eilig heraufpolternd, daß sie immer die Stufen verfehlte.

„Ich komme ja schon! Was is los?“

„Das sag’ ich nicht!“ Und sie zog den Bruder mit hinunter.

Die Wohnstubenthür öffnete sich, und Franz stand ganz verdutzt da. Nicht, daß es in der That so großartig gewesen wäre, was sich seinen Blicken bot, nein, das nicht! Nur das Unerwartete, das Hinüberspinnen seiner Phantasie von der leuchtenden Wiege des Christkindes zu dem im Lichterschmuck strahlenden kleinen Tannenbaum machte es. Negenmörder und seine Schwester, die auch im Zimmer waren, hatten den Kindern das Bäumchen beschert.

Aber es war doch nicht der Baum, was Franz am allermeisten in Erstaunen setzte. Wie gebannt hing sein Blick an seinem Vater, der ihn mit ausgebreiteten Armen erwartete – ihn, den ungeliebten Franz! Er vermochte es nicht zu fassen.

„Franz, Franz! Mien lewe, lewe Jung’!“

Da stieß Franz einen ganz sonderbaren Glücksschrei aus und warf sich zum erstenmal im Leben an die Brust seines Vaters, wo er in ein heftiges Schluchzen ausbrach. Der Vater bettete den Erregten selbst auf das Sofa, und allmählich erholte sich Franz. Seine Blicke wanderten hin und her zwischen den Lichtern am Baum und dem Vater und Meta, die seine Hände streichelten. Ein von der Flamme erreichtes Zweiglein flammte knisternd auf und verbreitete einen köstlichen Duft. „Vater, Vater!“ flüsterte der Knabe immer wieder.

Die lang verschmachtete Kinderseele schien sich an dem süßen Klange dieses Wortes gar nicht ersättigen zu können.

Das war Franz Bandholts Weihnachten!


[836]

Vor der Bescherung.
Nach einer Originalzeichnung von Hermann Koch.

[837]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Weihnachtsgeheimnisse.

Von Alexander Tille.

Wenn irgend eine Zeit im Jahre von Geheimnissen umsponnen ist, dann ist es die Weihnachtszeit. Wenn die Tage kürzer und kürzer werden und die Abende länger, wenn allabendlich die Lampe für Stunden im traulichen Kreise brennt, dann bereitet sich eine ganze Welt von Geheimnissen vor; heimlich beraten die Eltern, und die Kleinen flüstern, ratend, was es wohl zu Weihnachten geben werde, und ratschlagend, was sich Mutter wohl am meisten wünsche, einen gestrickten Waschlappen oder einen ausgesägten Zwirnwickel? Und wenn dann das Fest näher kommt und all die Pläne zu wohlvorbereiteten Ueberraschungen ausreifen, hüben die Arbeit wächst und drüben die Spannung, wenn die „gute Stube“ beharrlich verschlossen bleibt, und die Kleinen früh unterm Sofatisch der Wohnstube bunte Papierschnitzel und Spuren von Flittergold finden; wenn spät abends noch die Hausthür klingelt und frühmorgens eine wohlverschlossene Kiste im Hausflur steht, deren Herkunft unbekannt bleibt; und wenn dann der Heilige Abend kommt, mit seiner letzten großen Aufregung; wenn die Kleinen zusammen im verschlossenen Zimmer hocken, während es draußen rumpelt und poltert und pocht und stößt – dann ist der große Tag der Weihnachtsgeheimnisse erst recht gekommen und zugleich der Tag ihres Endes. Dann plaudert der Bescherungstisch rücksichtslos alles aus, und die Weihnachtsgeheimnisse verduften mit dem Rauch, der von den leise glimmenden Tannenzweigen aufsteigt. Andere treten an ihre Stelle: Ob der heilige Christ wirklich all die schönen Sachen gebracht hat? Also ist es doch nicht wahr gewesen, daß er dies Jahr wegen des Glatteises nicht hat umfahren können, und schließlich hat sein Esel dabei gar kein Bein gebrochen? Und der Knecht Ruprecht? Ob das wirklich der echte Knecht Ruprecht gewesen ist? Er spricht doch wirklich dem Onkel recht ähnlich.

Einsame Weihnachten.
Nach einer Originalzeichnung von F. Müller-Münster.

Das sind die Weihnachtsgeheimnisse der Kleinen, aber auch für die Großen giebt es noch solche, nachdem die Klingel zum Bescherungstisch gerufen hat. Wenn das Weihnachtsfest reden könnte, so könnte es ihnen mancherlei aus seinem Leben berichten, das sie arg verwundern würde. Wenn es vor sie hinträte und fragte: wißt Ihr denn, wie alt ich hin – wer würde ihm antworten: Du bist heute 1540 Jahre alt, heute ist ja Dein Geburtstag! Dann würde das Weihnachtsfest sagen: Ja, das ist richtig. Und ich will Euch erzählen wie das kam, daß ich im Jahre 354 zu Rom geboren wurde. Jahrhundertelang hatten sich die Christen nicht um den Geburtstag ihres Religionstifters gekümmert. Niemand wußte ihn, und niemand weiß ihn heute; er ist eine jener geschichtlichen Thatsachen, die rettungslos im Meer der Vergessenheit untergegangen sind. Auf den 17. November setzte ihn der eine, auf den 28. März der andere, und einer hatte dazu so wenig Grund wie der andere. Da kam im Anfange des vierten Jahrhunderts eine neue Ansicht auf. Hatte man bis dahin den 6. Januar als den Gedenktag der Taufe Christi im Jordan gefeiert, so beschloß der römische Bischof Liberius nunmehr, auch seiner Geburt an einem kirchlichen Festtage zu gedenken, und setzte diesen auf den 25. Dezember, den der volkstümliche Kalender als den Wintersonnenwendtag, als den Tag der unbesiegten Sonne auszeichnete. Am 25. Dezember 354 ließ er ihn in der alten Hauptstadt des römischen Reiches zum erstenmal mit allem kirchlichen Pomp feiern und in den Kalender unter diesem Tage eintragen: „Christus geboren zu Bethlehem in Judäa.“ Damit war das Jesusgeburtsfest geschaffen, und es bedurfte nur noch seiner Ausbreitung über die christlichen Lande am Mittelmeer und später, als das Christentum auch zu den Germanen weiter nordwärts gekommen war, auch dorthin und noch später weiter über den Ocean in ferne Erdteile.

Aber kannten denn die Germanen Deutschlands nicht schon ein Fest am 25. Dezember, das Fest der Wintersonnenwende, das Julfest? Auch darauf kann das Weihnachtsfest eine bündige Antwort geben. Nein! Ein deutsches Wintersonnwendfest hat es in geschichtlicher Zeit niemals gegeben; die alten Deutschen kannten keine Art Sonnendienst und teilten ihr Jahr nicht nach astronomischen Beobachtungen, sondern nach den Wirtschaftsverhältnissen ein in Frühsommer, Spätsommer und Winter. Eine vierte Jahreszeit wie die Römer kannten sie nicht. Sie feierten am 25. Dezember niemals ein Wintersonnwendfest und wußten von einer Sonnenwende überhaupt nichts. Dafür hatten sie zu Winters Anfang eine große Festzeit, deren Reste uns im Martinstag, Andreastag und Nikolaustag erhalten sind, eine große Schlachtzeit, in der alles Vieh, das sie nicht überwintern konnten, dem Beile zum Opfer fiel. Erst im fünfzehnten Jahrhundert gelang es den Bemühungen der christliche Kirche, ihr Jesusgeburtsfest ein wenig volkstümlicher zu gestalten, indem sie einen Teil der auf den Winteranfang bezüglichen Bräuche und Anschauungen von jenen Festen herübernahm und es so zur deutschen Weihnacht umbildete. Das deutsche Wintersonnwendfest ist das Erzeugnis der Phantasie einiger Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts, denen eine nunmehr gänzlich veraltete Richtung der [838] germanischen Mythologie und Volkskunde ihre Einbildungen unkritisch geglaubt hat.

Aber die Zwölfnächte der Weihnachtszeit? Das deutsche Mittelalter kennt weder den Ausdruck noch die Sache. Wo es die Zeit um Weihnachten bezeichnen will, sagt es: Zu Weihnachten, oder: In den Weihnachten, und dieser Ausdruck bedeutet die kirchlichen Feiertage, an Zahl meist vier, hier und da auch mehr. Epiphanias dagegen heißt ganz allgemein: der zwölfte Tag (nämlich nach Weihnachten, mit welchem Tage das kirchliche Jahr begann und auch vielfach das staatliche und bürgerliche). Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts geben deutsche Volkskalender Wetterregeln über die Weihnachtszeit, in denen die zwölf ersten Tage des Jahres als vorbedeutend für die zwölf Monde des Jahres aufgefaßt werden. Aus dieser Kalenderlitteratur gehen die „zwölf Nächte“ in den deutschen Volksglauben über und werden selbst ein Stück Volkstum, so daß gelehrte Sammler im neunzehnten Jahrhundert sie für einen Rest einer heiligen Zeit der alten Deutschen halten konnten.

Wenn heute am Heiligen Abend des Nachts die zwölfte Stunde schlägt, dann geht nach dem modernen Volksglauben ein Blütentraum durch die Natur. Mitten aus Schnee und Eis schießt der Hopfen in fingerlangen Sprossen hervor, die Bäume schlagen aus und blühen, auf den wilden Apfelbäumen im Walde reifen in einer Stunde winzige Aepfelchen, und die Rose von Jericho erblüht das einzige Mal im Jahre. Auch das ist kein Stück alten Germanenglaubens, sondern es gehört den wandernden Sagenmotiven an, die aus dem fernen Osten, namentlich aus Indien kommend, etwa seit dem zehnten Jahrhundert die volkstümliche Einbildungskraft in Deutschland befruchteten. Die meisten unserer Kinder- und Hausmärchen, die den Brüdern Grimm noch zum Teil für Reste deutscher Göttersagen galten, sind auf diese Weise zu uns gekommen und haben sich dann von Mund zu Mund fortgepflanzt, bis seit dem sechzehnten Jahrhundert die gedruckte deutsche Volkslitteratur sie aufnahm und dem Volksbewußtsein immer aufs neue vor Augen hielt. Die blühenden Bäume der Weihnacht kommen zuerst in einer arabischeu Quelle des zehnten Jahrhunderts vor, und von Nordafrika aus kommt dieser Zug dann über Spanien und Frankreich nach Deutschland. Hier greift ihn die Kirche auf, die eben den Versuch macht, ihrem Jesusgeburtsfest wirkliche Volkstümlichkeit zu geben. Sie thut das in der Weise, daß sie volkstümlichen Glauben auf das kirchliche Fest zu übertragen versucht und die Heilige Nacht mit einer Reihe von Wundern ausschmückt, die auf die Einbildungskraft des Volkes wirken sollen. Da kommen ihr die blühenden Bäume denn äußerst gelegen, und bald genug erzählt die mittelalterliche kirchliche Tendenzsage Geschichten, wie ein Bischof in der Christnacht in den Wald ging und dort einen Apfelbaum blühend fand, der unmittelbar darauf seine Blüten zu Früchten reifen ließ. Der älteste deutsche Beleg für blühende Bäume der Weihnacht findet sich im „Leben der heiligen Hedwig“, die um 1180 in Franken geboren war. Da wird uns berichtet: „Einst, als sie noch jung war, kam am Weihnachtstage jemand herein und sagte in ihrer Gegenwart, während sie auf dem Tische saß, daß ein Kirschbaum im Garten in frischem Blütenschmuck stehe. Sie hörte dies und schickte ihn zurück, um zu beobachten, ob die vorerwähnten Blüten am unteren oder am oberen Teile des Baumes sproßten. Er ging und meldete zurück, daß der Baum an seinen untern Aesten blühe. Jene aber sprach: ‚Das ist ein Zeichen künftigen Sterbens. Viele Arme werden dieses Jahr sterben.‘ Und wie sie vorausgesagt, so geschah es.“

Von dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts an läßt sich diese Sage oder dieser Glaube durch die populäre Litteratur in ununterbrochener Kette bis zur Gegenwart verfolgen, und an mehr als einer Stelle münden in diesen Strom volkstümliche Zuflüsse ein, die sich da und dort aus jener kirchlichen Sage gebildet haben.

Wer hat je den Geburtsschein des Knecht Ruprecht gesehen? An dieser Frage läßt sich mancherlei aussetzen. Einmal giebt es nämlich viele Knecht Ruprechte, und sodann ist es fraglich, ob zu der Zeit, in welcher der Knecht Ruprecht zuerst auftaucht, schon Geburtsscheine üblich waren. Der Knecht Ruprecht gilt überdies gemeinhin für einen Gott, für einen Rest des Gottes Wuotan, der mit einem Beinamen Hruodperaht, d. h. der Ruhmglänzende, geheißen haben soll. Ein so schöner Beiname ist einem Gotte, der wahrscheinlich in weiten Strichen der deutsche Zunge ein bloßer Sturmdämon war, gewiß zu gönnen, indessen der Knecht Ruprecht stammt nicht von ihm ab. Der Knecht Ruprecht ist trotzdem volkstümlich deutschen Ursprungs, wenn er auch eigentlich mit Weihnachten nichts zu thun hat. Er ist nämlich der Typus eines Knechtes und erscheint zuerst in einem volkstümlichen Bettelspruch, einem Wechselgespräch zwischen Herr und Knecht. Der Herr beklagt sich, daß die Bauern nichts mehr geben wollen, und der Knecht berichtet darauf, sie hätten sich doch noch besonnen und allerlei in die Küche geliefert. Weiter kommt er in einem „Gespräch von dem gemeinen Schwabacher Kasten“ vor, das um 1530 gedruckt ist. Die Abbildung zeigt ihn mit dem Meister Tuchmacher am Webstuhl. Er könnte ebensogut bloß „Knecht“ heißen. Er hat keine Beschäftigung, die darüber hinaus geht. Der ins Ohr fallende Reim: Knecht – Ruprecht scheint der Anlaß zu der Zusammenstellung und der Grund gewesen zu sein, weswegen der Name nicht in Vergessenheit geriet. In den im sechzehnten Jahrhundert gebräuchlichen kirchlichen Weihnachtsumzügen, in denen schön gekleidete Gestalten als Jesus, Petrus, heiliger Nikolaus etc. auftraten, erscheint eine solche Gestalt noch nicht. Aber in ähnlicher Weise, wie das mittelalterliche Jesusgeburtspiel immer volkstümlicher wurde, indem es volkstümliche Gestalten und Züge in sich aufnahm, werden auch diese Weihnachtsumzüge volkstümlich, welche eigentlich vom Martins- und Nikolaustag stammen und daher auch stets diese Heiligen noch aufweisen. So wird in diese Umzüge dem heilige Christ ein Knecht beigegeben, der in einem 1668 gedruckten Umzugsspiel neben Ruprecht noch Acesto heißt, bald aber allein mit dem Namen Knecht Ruprecht bezeichnet wird. Er bildet in dunkler, schrecklich aussehender Vermummung ein düstres Gegenstück zu der Lichtgestalt des heiligen Christ, und das Volk findet an ihm bald solches Wohlgefallen, daß es statt seiner eine ganze Reihe Ruprechte den heilige Christ begleiten läßt. Als man dann gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Umzüge eines heiligen Christ vielerorts als anstößig zu empfinden begann, wurde seine Gestalt beseitigt. Der Knecht Ruprecht aber blieb unangetastet. Er konnte kein feiner gestimmtes religiöses Empfinden verletzen, und so zieht er in Stadt und Land vielfach noch heute herum, mit Rute und Sack bewaffnet, und spendet den artigen Kindern Aepfel, Nüsse und Pfefferkuchen und den schlimmen Hiebe.

Mit den ursprüuglich rein kirchlichen Winteranfangs- und späteren Weihnachtsumzügen hängt auch die Entstehung der Weihnachtsbescherung zusammen, wenn in letzter Linie auch noch ein anderer Bach volkstümlicher Ueberlieferung in sie eingemündet ist. In dem gesamten römisch-gallsch-deutschen Sprachgebiete bestand von altersher der Brauch von Neujahrsgeschenken, die zum Teil in eine freundlichere Form gekleidete Abgaben waren, auf die man aber ebensogut rechtlichen Anspruch hatte wie unsere Dienstboten auf ihre Weihnachtsgeschenke und viele Beamte auf sogenannte „Weihnachtsgratifikationen“. Es war ein römischer Brauch, der vielleicht durch Uebertragung ähnlicher deutscher Züge vom Wintersanfang auf den neuen Jahresanfang verstärkt wurde. Jedenfalls finden wir seit dem fünfzehnten Jahrhundert Weihnachtsabgaben in der Form von Weihnachtsgeschenken ziemlich häufig. Wo sie Gaben der Oberen an die Unteren sind und einen bestimmten Lohn vertreten, erscheinen sie meist als Geschenke zum Dank für einen dargebrachten Weihnachts-Neujahrs-Wunsch. Diese beiden Wünsche fallen für das ausgehende Mittelalter in Deutschland ja zusammen wie noch heute in England. Kinder erhalten hier und da nur eine kleine Gabe, wenn sie die Träger des Glückwunsches sind, und noch im sechzehnten Jahrhundert belohnen Eltern ihre Kleinen für die Gratulation mit einem Pfenning. Eine eigentliche Weihnachtsbescherung giebt es noch nicht, diese entwickelt sich, wie bemerkt, erst gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts aus den volkstümlichen Weihnachtsumzügen. Die umziehenden Gestalten, welche in den einzelnen Häusern eine kleine Aufführung abspielen, sammeln hinterher Gaben ein. Wie sich dann die Aufführung immer mehr an die Kinder wendet, die in dem „heiligen Christ“, der sie examiniert, den wirklichen Christus sehen und in seinen Begleitern dessen Heilige, bringen die Umziehenden den Kindern, den artigen wenigstens, auch selbst Kleinigkeiten mit, um dafür desto mehr von den Elten zu erhalten, oder draußen vor der Thür wird ihnen auch von den Eltern eingehändigt, was sie drinnen den Kleinen bescheren sollen. Wie ferner die protestantische Kirche namentlich in Mitteldeutschland die Umzüge selbst beseitigt, bleiben doch jene kleinen Gaben. Früh beim Erwachen finden die Kinder neben dem Bett ein Bündel, in das allerhand kleine Geschenke eingebunden sind, und [839] es wird ihnen gesagt, der heilige Christ habe dasselbe über Nacht gebracht. Das Bündel heißt „Christbürde“ und dabei fehlt niemals die „Christrute“, die vordem der Heilige Christ als Nachfolger des heiligen Martin und Nikolaus geführt hatte. Ursprüglich ein Segenszweig oder Segensbäumchen, hatte sie dann die Bedeutung eines Zuchtmittels bekommen und steht neben anderen Schulsachen, welche den Kindern geschenkt werden. Dann erhalten die Kinder ihre Geschenke auch im Abendgottesdienst selbst. Eine Liste aus dem Jahre 1584 zählt davon auf: Klappern, Kästchen, Kleidet, Störche, Schäfchen, Pferdchen, Wägelchen, Aepfel, Birnen, Nüsse und Honigkuchen. Nach und nach werden die Weihnachtsgeschenke für Kinder zum Luxusartikel. Die aufblühende Industrie bemächtigt sich ihrer und gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts hin wird der alte Nikolausmarkt zum Weihnachtsmarkt und bietet eine übersichtliche Schaustellung alles dessen, was Große schenken können und was Kleine erfreut. Zahl und Umfang der Weihnachtsgaben wachsen, und damit wird es zur Unmöglichkeit, die Gaben in Bündel einzuschnüren und sie die Kleinen früh beim Erwachen am Bettchen finden zu lassen. Auf dem Tische bauen sie sich nunmehr auf, erst in Schüsseln, dann auf weißem Tuche, und so entsteht zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts die moderne Weihnachtsbescherung mit ihrer aufgebauten Gabenfülle, ihrem Lichterglanz und ihrem – Weihnachtsbaum.

Wie alt ist der Weihnachtsbaum und wo ist seine Heimat? so habe ich die Leser der „Gartenlaube“ vor sechs Jahren an dieser Stelle gefragt (in Nr. 49 des Jahrganges 1888) und ihnen erzählt, was ich davon wußte. Dann bin ich noch einmal darauf zurückgekommen („Noch einmal auf den Spuren des Weihnachtsbaumes“, 1889, Nr. 51), ohne eine endgültige Antwort darauf geben zu können. Was die Forschung bis in das vorige Jahr darüber festgestellt hatte, konnte ich dann in meinem Buch „Die Geschichte der deutschen Weihnacht“ zusammenstellen, das inzwischen im Verlag der „Gartenlaube“ erschien. Heute weiß ich, woher der Weihnachtsbaum stammt, und daher will ich den Lesern der „Gartenlaube“ zu den anderen auch noch dies Weihnachtsgeheimnis verraten.

Das Aufrichten eines Segensbäumchens zum Schutze gegen unholde Gewalten ist ein alter Brauch der arische Völker. Der Brauch scheint an keine bestimmte Zeit im Jahre gebunden gewesen zu sein, sondern war an festlichen Tagen aller Art üblich. Der Maibaum und der Erntemai, das Eierbäumchen der Osterzeit und das Martinsbäumchen, sie alle stammen von jenem alt-arischen Segensbäumchen ab, und die Dorflinde als Ortsheiligtum, als Mittelpunkt der Gemeinde, als Ratsstelle und als Schirm des Tanzplatzes ist wohl ebenfalls mit ihm verwandt. Im Frühling wird das Segensbäumchen dargestellt durch einen blühenden Busch, im Herbste durch einen blättertragenden Zweig, den Bänder schmücken, und im Winter durch ein immergrünes Nadelholzstämmchen, an dem allerhand bunte Flitter hängen, oder auch durch ein künstliches Gebäu aus kahlen Ruten oder Aesten, an dem Wintergrün, bunte Eier, Schnitzel und Lichter befestigt sind. Die Sage von den blühenden Bäumen der Weihnacht verbindet den blühenden Busch zuerst mit der dunkelsten Zeit des Jahres, und der 24. Dezember als der Tag „Adam und Eva“ giebt mit seinen kirchlichen Paradiesspielen und ihrem Lebensbaum einen weiteren Anlaß zur Verknüpfung des blühenden oder Frucht tragenden Busches mit dem eben entstehenden deutschen Weihnachtsbaum. Als sich dann seit dem fünfzehnten Jahrhundert eine ganze Fülle Winteranfangsbrauch und Winteranfangsglaube vom Martinsfest auf Weihnachten zu verschieben begann, da brachte der heilige Martin, der bis dahin nur an seinem eigenen Tage sein Martinsbäumchen herumgetragen und es schließlich im Hause aufgepflanzt hatte, dasselbe auch mit nach Weihnachten. Und als er dann zum heiligen Christ umgewandelt wurde, behielt er’s bei, und es ward in seiner Hand zur Christrute, die wir samt ihrer neuen pädagogischen Bedeutung schon kennenlernten. Hier und da bekamen die Kinder den Busch mit den Christbürden zum Spielen und zur Vermahnung. Anderorts ward er schön geschmückt im Hause aufgerichtet und von den Kindern bestaunt, begrüßt und schließlich – abgeleert. Statt der alten Schnitzel fand sich jetzt Zuckerwerk, fanden sich Aepfel und Nüsse auf seinen stachligen Zweigen. Der erste solche Weihnachtsbaum ist uns 1604 in Straßburg bezeugt. Vier Menschenalter später sind die Lichter, die ehedem unter ihm brannten, auf seine Zweige emporgestiegen, und nach weiteren fünfzig Jahren giebt ihm Goethe in den „Leiden des jungen Werther“ eine weltweite Verbreitung.


Blätter & Blüten.

Zu unseren Weihnachtsbildern. Bricht der Weihnachtsabend herein, senkt er die frühe Winternacht aus die Erde, dann beginnen für die Schar der Kleinen die Stunden des seligsten „Langens und Bangens in schwebender Pein“. Freilich nicht alle hat das Christkind in gleicher Weise bedacht und manche kleine Hand streckt sich vergebens nach den erträumten Herrlichkeiten aus. Vielfach aber hat die Volkssitte dafür gesorgt, daß auch die bedürftigen Kinder an dem frohen Feste nicht leer ausgehen, namentlich auf dem Lande erinnern von alters her allerlei weihnachtliche Bräuche die Herzen an die Freude des Gebens. So besteht seit langer Zeit in einigen märkischen Dörfern bei Spandau, in Pichelsdorf und Tiefwerder, die hübsche Sitte, daß die unbemittelten Kinder einige Tage vor Weihnachten beginnen, beim flackernden Schein einiger Laternen, in Begleitung des Nachtwächters, vor den Häusern das Fest „einzututen'. Bis zum Heiligen Abend wird der eigenartige Brauch ausgeübt und endet dann, wie unser Bild „Weichnachtstuten in der Mark“ S. 828 weist, mit einer Belohnung der eifrigen Musikanten von seiten der Einwohner.

Freundlicher hat es das Leben mit den drei Geschwistern gemeint, die uns der Künstler S. 836 „vor der Bescherung“ zeigt. Sie können es kaum erwarten, bis die Tante sie aus ihrem Versteck hinter der Portiere erlöst, bis Vater und Mutter den Christbaum angezündet und die vom Christkind erbetenen Gaben geordnet haben – die wohlbewehrte Burg, die Arche Noäh, die Kutsche mit dem feurigen Zwiegespann. Und wenn sie dann jubelnd hervorstürzen dürfen, wenn sie mit leuchtenden Augen im Glanz der Lichter ihre Geschenke bestaunen, dann wird das trauliche Zimmer erfüllt sein von einem echten Weihnachtsglück.

Neben diesem fröhlichen Familienbild die „einsamen Weihnachten“ – welch ein Gegensatz! Und doch wirft auch in das Junggesellenstübchen dieses Einsamen ein Weihnachtsbäumchen, von der Hand der sorglichen Hauswirtin angezündet, seinen freundlichen Schimmer. Vielleicht daß der, der da so verlassen an seiner Arbeit sitzt, am heutigen Abend daheim von Eltern und Geschwistern schmerzlich erwartet wird, allein seine Lage gestattet ihm nicht, die Seinen aufzusuchen. Ihm wird es nicht so gut wie dem jungen Weltreisenden auf unserem Bilde S. 832 und 833, dessen „Heimkehr“ zum Weihnachtsabend das willkommenste Geschenk für seine Eltern ist. In banger Sorge haben Vater und Mutter und Schwester die Briefe gelesen, in denen er von seinen Abenteuern im fernen Afrika berichtete, und selbst die kleine Nichte hat kindlich teilgenommen an dieser Sorge um den „großen Onkel“. Und nun steht er mitten im Kreis der Seinen, wohlbehalten mit offenen Armen von allen begrüßt. Auch der alte Diener des Hauses nimmt tief gerührt Teil an dem frohen Ereignis, wenn er auch seine geheimen Bedenken über den schwarzen Konkurrenten hegt, den ihm sein Herr zu Weihnachten mitgebracht hat. Aber dieser verborgene Druck wird bald von seiner Seele gewichen sein, wenn er erkannt hat, wie willig sich der neue Ankömmling von ihm kommandieren läßt, und auch in der Gesindestube wird dann zu finden sein, was das Weihnachtsfest überall bringen soll: Frieden und Wohlgefallen. – Eitel Wohlgefallen hat das Fest auch dem schneidigen Einjährig-Freiwilligen gebracht, den unsere farbige Kunstbeilage auf der Schlittschuhbahn zeigt. Diensteifrig benutzt der junge Bayer seinen „Weihnachturlaub“ dazu, im Glanz seiner Uniform und einer unbegrenzten Liebenswürdigkeit das Herz seiner hübschen Cousine zu erobern, und wer weiß – vielleicht erringt er sich da ein Weihnachtsgeschenk für das ganze Leben!

Der Cottasche Musenalmanach hat sich in der künstlerisch anmutenden Gestalt, die er bei seinem Wiederaufleben im Verlage der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger erhalten hat, so viele Freunde erworben, daß der eben erschienene fünfte Jahrgang sich von vornherein warmer Sympathien erfreuen darf. Die kritische Prüfung des schönen Bandes, der

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wie die früheren von Otto Braun zusammengestellt ist, bestätigt die ihm entgegengebrachten Erwartungen. Die Erzählungen in Prosa eröffnen wie immer die Sammlung. „Rafaela“ von Frau Henriette Keller-Jordan hat tropische Farbenpracht; die Muse der Verfasserin ist ja in Mittelamerika zu Hause. Tropisch sind auch die Frauencharaktere. „Der edle Ferdinand“, eine Novelle von Ernst Lenbach, erinnert an die westfälischen Charakterköpfe, wie sie Levin Schücking in seinen Romanen in humoristischer Beleuchtung gezeichnet hat. Auch die Erzählung von Ernst Eckstein „Pastor Vigelius“ genießt des Vorzugs eines fein gestimmten Humors. Unter den poetischen Erzählungen und Balladen finden sich Erzeugnisse unserer beliebtesten Dichter. Georg Ebers erzählt uns ein Märchen in Versen, „Engelshilfe“, oder vielmehr eine Legende, die mit einer reizenden Vignette, den Rosengesichtern der Kinder unter dem Rosenflor des Häuschens, beginnt. Die Seele eines gestorbenen Schwesterchens wird der Schutzgeist des ihr nachweinenden Brüderchens. Es folgt ein Gedicht von Adolf Wilbrandt, „Am Kamin“, tiefsinnig und reich an genialen Wendungen; dann ein ergreifendes Gedicht: „Wie die Jugend liebt“, von Isolde Kurz, eine Heiligengeschichte mit nordischem Kolorit von Heinrich Kruse, „Die Bekehrung“, „Das Begräbnis“ von Karl Woermann, eine Künstlergeschichte in feierlichen Terzinen, „Der Prophetenschüler“ von Adolf Stern, mit mächtigem Psalmenschwung, „Guido Reni im Kerker bei Beatrice Cenci“, ein Gedicht Hermann Linggs von leidenschaftlicher Bewegtheit, und andere. Daß unter den lyrischen und vermischten Gedichten auch die höhere Kunstform vertreten und gewahrt ist, beweisen die formschönen Sonette aus Palermo von Julius R. Haarhaus, die antiken Oden von Ferdinand v. Saar und Karl Weitbrecht; doch auch sonst sind die Gedichte fast alle tadellos, im strophischen Aufbau, ini metrischen Fluß. Es sind ja auch hier unsere besten Dichter vertreten. Der „Nestor der schwäbischen Dichter“, J. G. Fischer, und sein ihm ebenbürtiger Landsmann Ed. Paulus fehlen ebensowenig wie der Sänger des Rheins, Emil Rittershaus, und der in München eingebürgerte Wilhelm Hertz, dessen gedankentiefe Apostrophe an die „Sternennacht“ diese Abteilung weihevoll einleitet. Wenn wir noch die Beiträge von Felix Dahn, Arthur Fitger, Max Kalbeck, Alb. Möser, Graf Wickenburg, Ernst Ziel, Angelika v. Hörmann, Karl Busse, Max Hartung hervorheben, so ist das Rühmenswerte damit doch keineswegs erschöpft. Wie die Ausstattung des stilschönen Seideneinbands sind auch die sechs Kunstbeilagen, teils stimmungsvolle Landschafts-, teils Figurenbilder von alten und neuen Meistern, eine treffliche Ergänzung des poetischen Inhalts. Für Freunde der Poesie ist der „Musenalmanach“ eines der empfehlenswertesten Festgeschenke.


Die Sixtinische Madonna. (Zu dem Bilde S. 824 und 825.) Eine Festgabe will unser heutiges Blatt in doppelter Beziehung sein: nicht allein das in der Christnacht auf Erden erschienene Jesuskind will sie den Lesern vor Augen führen, sondern seine Verkörperung durch jenes Bild, dessen mächtiger Eindruck auf die Menschenseele ganz ebenso wirkt wie das hohe Fest selbst: der Lärm des Werkeltages verstummt vor ihm, und andachtsvolle Stille, ein beglücktes Gefühl der Erlösung von Erdenschwere breitet sich friedevoll in der Seele aus. Dies empfindet jeder, der in den Raum der Dresdener Gallerie eintritt, den die Sixtinische Madonna mit ihrer überirdischen Schönheit wie ein Heiligtum verklärt.

Rafael selbst, so viele Madonnen er vorher und nachher malte, hat den Gipfel dieser Leistung nicht zum zweitenmal erreicht; es müssen die glücklichsten inneren und äußeren Umstände seines vom Schicksal so reich begünstigten Lebens zusammen gewirkt haben, um einen solchen Guß aus dem Vollen, eine solche höchste Verkörperung menschlichen und göttlichen Wesens in einem Zuge aus der Schöpferkraft seines Innersten hervorbrechen zu lassen.

Die glücklichen ersten Besitzer waren die Benediktiner des Klosters S. Sisto in Piacenza, welche bei Rafael das Bild der Madonna mit dem heiligen Papst Sixtus und der heiligen Barbara als Altarblatt bestellten. Gemalt ist das 2,65 m hohe und 1,96 m breite Bild um das Jahr 1515. Man setzte seine Entstehung früher in das Jahr 1518–19, kurz vor Rafaels Tod, weil man gern annahm, daß dieses höchste seiner Madonnenbilder auch das letzte gewesen sei; diese Annahme ist jedoch, wie Springer in seinem Werke „Rafael und Michelangelo“ mit zwingenden Gründen nachweist, irrig. Zweifellos ist das Ganze von seiner eigenen Hand gemalt, obwohl ihn damals schon der ungeheure Andrang von päpstlichen und andern Bestellungen nötigte, die angelegten Entwürfe von Schülern ausführen zu lassen. Die Farben dieses herrlichen Bildes sind mit so leichten und breiten Strichen aufgetragen, daß es, gegen das Licht gesehen, transparent erscheint.

Die Madonna thront nicht, wie auf anderen Bildern Rafaels, umgeben von Heiligen, mit dem Jesusknaben auf dem Schoß, sondern sie schwebt, gleichsam in einer Vision angeschaut, aus dem Hintergrund des von unzähligen Engelsköpfchen erfüllten Himmels hervor. Der zu beiden Seiten zurückgezogene Vorhang gestattet irdischen Blicken das Eindringen in die himmlische Herrlichkeit. Die Jungfrau trägt den herkömmlichen blauen Mantel über rotem Unterkleid, ein lichtgrauer Schleier wölbt sich, durch den Luftzug gespannt, vom Haupt über die Schultern nieder. Die großen Augen sind geradeaus gerichtet mit einem von keiner Nachbildung erreichten wunderbaren Ausdruck von Unschuld und stiller Hoheit. Sie hält auf den Armen den Welterlöser in Kindesgestalt, sie drückt ihn nicht mit mütterlicher Zärtlichkeit ans Herz, sondern trägt ihn der Menschheit entgegen. Aus seinen ebenfalls dem Beschauer voll entgegenleuchtenden Augen spricht rein und groß die göttliche Natur, der schöne Kinderkörper hat bei aller Weichheit nichts mit kindlicher Hilflosigkeit gemein. Rechts von der Madonna kniet der prachtvolle päpstliche Greis im Goldbrokatgewand, er hat seine Tiara auf die Schranke gestellt, welche den himmlischen Vorgang von der irdischen Welt scheidet, mit erhobenem Haupte deutet er fürbittend heraus auf die gläubige Gemeinde. Die heilige Barbara hält, in Andacht versunken, demutsvoll die Blicke gesenkt. Unten aber auf die Schranke stützen sich die beiden liebreizenden Engelknaben, deren naive Anmut die erschütternde Großartigkeit des Bildes so überaus wohlthuend abschließt.

Die Sixtinische Madonna wurde schon bei Lebzeiten Rafaels von der Bewunderung der Italiener als einzig und unübertrefflich gefeiert, sie blieb als teuerstes Besitztum des Klosters S. Sisto auf ihrem Altar bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. Damals faßte der kunst- und prachtliebende Kurfürst August III. v. Sachsen den Plan, die schon unter August dem Starken sehr ansehnliche Dresdener Galerie glänzend zu vermehren. Sein in andrer Beziehung berüchtigter Minister Brühl war in der Wahl der Unterhändler so glücklich, um sehr bald eine Fülle herrlicher Bilder, ja ganze Privatgalerien in Italien und anderwärts zusammenkaufen zu können, so daß die Dresdener Sammlung bald alle anderen in Deutschland verdunkelte. Die Krone aller Erwerbungen aber bestand in dem weltberühmten Bild Rafaels, welches der findigste jener Agenten, der Maler Giovannini, den Mönchen von S. Sisto um die für jene Zeit sehr hohe Summe von 20 000 Dukaten (180 000 Mark) abhandelte. Sie begnügten sich mit einer Kopie, die noch heute dort hängt, und ließen das Bild ziehen, um welches wohl von den heutigen Italienern Deutschland schmerzlich beneidet wird, das aber diesem um Millionen nicht mehr feil wäre und seine alte Bestimmung, Menschenherzen zu erbauen und aufzurichten, am heutigen Standort jedenfalls nicht weniger erfüllt als an dem ehemaligen der Klosterkirche von S. Sisto. R. A.     



Inhalt: Weihnachtsträume. Ein Idyll von Carl Busse. S. 821. Mit Abbildungen S. 821, 822 und 823. – Die Sixtinischc Madonna. Bild. S 824 und 825. – Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (13. Fortsetzung). S. 826. – Weihnachtstuten in der Mark. Bild. S. 828. – Franz Bandholts Weihnachten. Von Johannes Wilda. S. 829. Mit Illustrationen S. 829, 830, 831, 834 und 835. – Die Heimkehr. Bild. S. 832 und 833. – Vor der Bescherung. Bild. S. 836. – Weihnachtsgeheimnisse. Von Alexander Tille. S. 837. – Einsame Weihnachten. Bild. S. 837. – Blätter und Blüten: Zu unseren Weihnachtsbildern. S. 839. (Zu den Bildern S. 828, 832 und 833, 836, 837 und zu unserer Kunstbeilage.) – Der Cotta’sche Musenalmanach. S. 839. – Die Sixtinische Madonna. S. 840. (Zu dem Bilde S. 824 und 825.)


manicula 0 Hierzu Kunstbeilage XIII: „Im Weihnachtsurlaub.“ Von L. Blume-Siebert.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. halten.
  2. welche.
  3. sollten.
  4. beidrehen.
  5. gewartet.
  6. versucht.
  7. heil.
  8. ein Thun = einerlei.
  9. Vor Gericht aussagen.
  10. Beim Schlafittchen.
  11. Alle Hände = alle Mann.
  12. Eine Bachstelze.