Die Gartenlaube (1894)/Heft 5
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Nr. 5. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
An dem Burgpförtlein über dem Felsensteig hatte Sigenot den hölzernen Hammer gerührt. Ein Knecht Wazes öffnete. „Komm nur, der Herr wartet schon!“
Der Fischer zögerte. „Sind die Buben daheim?“
„Nein. Gestern vor Mittag sind sie nach dem Eismann hinauf ins Gemsgejaid. Ich weiß nicht, ob sie heut’ noch heimkommen“
Sie überschritten den wenig geräumigen Burghof; der Steinwall um das Haus war eng gezogen, nach dem alten Sprichwort: je kürzer die Mauer, so länger die Wehr’. An der Mauer entlang, unter den Pfeilscharten und Luglöchern, lief eine hölzerne Brustwehr mit Wächterhäuschen und kleinen Treppen; aber das Holzwerk war morsch und zerfallen. Wazemanns Haus hatte nie einen Angriff erfahren und schien auch keinen mehr zu befürchten. In die Ecken der Mauer waren Schuppen und Scheuern eingebaut, und die Wächterhäuschen dienten als Trockenkammern für die Wilddecken. Ein paar alte Ulmen standen im Hof, von Holzbänken umzogen und an den Stämmen behängt mit verwitterten Hirschgeweihen und Steinbock- und Gemshörnern, welche zumeist noch auf den weißgebleichten Schädeln saßen. Zwischen den Bäumen erhob sich ein aus dicken Fichtenstangen gefügter Käfig, in welchem ein brauner Bär, ein Wolf und eine Luchskatze einträchtig hausten, träg und schläfrig, mit abgeschundenem Fell. Nicht weit davon, in einer Ausbuchtung der Ringmauer, befand sich der hochvergitterte Hundezwinger, in welchem die Bollbeißer und Saufinder bei Sigenots Eintritt einen tollen Lärm erhoben.
Inmitten des Hofes stand, wie ein plumper riesiger Block, Herrn Wazes Wohnhaus. Der Unterbau war aus unbehauenen Felsbrocken gemauert und umschloß die Küche, die Falkenkammer, die Gesindestübchen, den Keller und die Bußlöcher, von deren zweifelhafter Wohnlichkeit so manch ein Bäuerlein im Gadem
[70] erzählen konnte. Der Oberbau, den ein steiles, gebrochen vorspringendes Schindeldach bedeckte, war aus Balken gefügt. Eine hölzerne Freitreppe führte in eine Vorhalle; hier standen zwei lange Tische mit Holzbänken und dreibeinigen Stühlen; Jagdnetze, Schneereifen und eiserne Raubtierfallen hingen an der Wand. Saufedern und Grießbeile lehnten in den Ecken, und an den höheren Balken reihte sich eine Trophäe an die andere. Eberköpfe, Bärenhäupter, Hirschgeweihe und Luchsköpfe. Von dieser Halle führten zwei niedere Thüren in das Haus, und aus der einen, welche offen stand, hörte man zwei Stimmen, rauh und zornig die eine, die andere scheu und stammelnd.
„Der Herr ist drin, geh’ nur hinein!“ sagte der Knecht zu Sigenot, nickte und ging davon.
Der Fischer trat über die Schwelle. Der Raum vor ihm, das war die Herrenstube in Wazemanns Haus; sie hatte vier Fenster, aber der Schliem[1], mit dem die Fensterrahmen überzogen waren. ließ vom späten Licht des Abends nur noch eine trübe Helle ein. Gebräunte Balken bildeten die Decke, von welcher an Ketten ein eiserner Reif mit aufgesteckten Hirschtalgkerzen niederhing. Darunter ein Tisch mit Stühlen; in einer Ecke der massige Lehmofen. Die von Geweihen starrenden Balkenwände waren rauh mit Mörtel beworfen und geweißt. Entlang der Mauer liefen Holzbänke. unterbrochen von Truhen und drei niederen Thüren. Hier ein Sattelbock, dort ein Gestell mit Waffen und Jagdgerät, und dazwischen in der Wand ein alkovenartiger Ausbau mit dem Spanbett, in welchem Herr Waze die Nachtruh’ zu halten pflegte, seit Frau Friderun, sein Eheweib, das Zeitliche auf blutigem Weg gesegnet hatte.
Heute aber schien die Stunde, um welche sich Herr Waze nach Schlaf und Ruhe sehnte, noch lange nicht gekommen. Seine Stimme klang in dem Raum wie Bärengebrüll in der Grube; mit beiden Fäusten hielt er den Bauer, welcher stotternd vor ihm stand, am Bart gefaßt, rüttelte und schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht. „Wart’, Du, wart’! Dir will ich zeigen, wer Dein Herr ist! Du sollst mir den Zinstag merken! Dir will ich’s einbläuen!“ Mit der Fanst holte er zum Schlag aus.
Da faßte Sigenot seinen Arm. „Aber Herr, lasset doch den Bauer aus! Ihr redet ein lützel gar zu grob! Wenn Ihr ihm das Hirn in die Ohren beutelt ... wie soll er denn hören?“
Herr Waze ließ den Bauer fahren und schrie: „Wer untersteht sich denn ...“ da verstummte er wieder. Er hatte den Fischer erkannt und schien Ursache zu haben, seinen Zorn gewaltsam zu bezwingen. Er packte die Säume seines langen Hausrockes, schlug sie über dem Leib zusammen und brummte: „Du? So? Du bist da?“
Sigenot wandte sich an den Bauer, in welchem er seinen Nachbar erkannte, den Marderecker. „Was hast denn angestellt?“
„Der Lump und Gauchdieb!“ schrie Herr Waze. „An Sonnwend’ hätt’ er zinsen sollen – und heut’, im halben Augst[2], kommt er und heult, ich soll noch warten bis nach der Albenzeit.“
„Aber guter Herr, habet doch Einsicht!“ stammelte der Bauer mit halb erstickter Stimme. „Wie hätt’ ich denn käsen sollen? In sechs Wochen hat mir der Bär vier Geiß’ gerissen, meine besten Milchgeiß’.“
„Freilich! Steiner frißt halt der Bär nicht.“
„Aber ich kann doch aus Steiner auch kein Schmalz machen!“
„Schau den an!“ schrie Herr Waze. „Spitzwörteln will er auch noch!“ Und wieder wollte er mit beiden Fäusten zugreifen.
Sigenot trat dazwischen. „Lasset ihn doch in Ruh’, Herr, der arm’ Hascher hat ja eh’ keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht. Und daheim bei ihm schaut’s grausig aus. Eine Kuh ist ihm umgestanden, und sein Weib kann nimmer schaffen.“
Herr Waze that einen langen Fluch, spuckte aus und griff nach der Metbitsche auf dem Tisch. Als er sie leer fand, klapperte er mit dem Deckel und schrie. „Ulla! Ulla!“ Eine greise Magd erschien, um den Krug zu holen.
Inzwischen fragte Sigenot den Bauer. „Wie viel macht Dein Zins?“
„Auf Sonnwend’ zwanzig süße Geißkäs’.“
„So komm’ halt morgen zu mir. Ich red’ mit meiner Mutter – die leiht Dir den Zins. Kannst ihn ja wieder heimgeben, aber Eil’ hat’s keine. Und wenn’s halt gar nimmer sein kann ... liegt auch nichts dran!“
Der Bauer fand kein Wort des Dankes, aber seine Augen redeten. Herr Waze lachte. „Die Käs’, Fischer, die hast gesehen! Aber thu’, was Du magst, es geht ja um Dein’ Sach’, nicht um das meinig’! Und Du“ – das ging den Bauer an – „Du mach’, daß Du weiter kommst!“ Ein Tritt, und der Marderecker brauchte die Thür nicht mehr zu suchen.
Die Magd brachte den Krug. „Steck’ die Kerzen an!“ brummte Herr Waze und wandte sich wieder zum Fischer. „Was ich sagen will ... die Ferchen sind sauber gewesen. Was willst denn haben dafür?“
„Stahlsteften könnt’ ich wieder brauchen auf Angelhaken.“
„Die sollst haben. Und meine Dirn’ hat einen Hirsch geworfen; von dem schick’ ich Dir eine Keul’.“
Sigenot schüttelte den Kopf. „Nicht von dem! Ich hab’ ihn sterbem sehen.“
Herr Waze stieß einen schmerzvollen Laut aus, als hätte er einen Stoß auf den Leib bekommen. „Die Leut’ sterben,“ schrie er, „die Hund verrecken ... aber der edle Hirsch verendet! Ein Fischer! Soll ein halber Jäger sein und kann nicht einmal reden! Und grausen thut ihm vor Wildpret! Meinetwegen!“ Er schüttelte den Kopf, und um seine Fassung wiederzufinden, griff er nach der Bitsche.
Auf dem Eisenring brannten die Kerzen, und ihr rötlicher zuckender Schein beleuchtete den Trinker. Der lange aus Hirschleder genähte Hausrock umhüllte eine klobige, vom Alter schon etwas gebeugte Gestalt, ein grauer langsträhniger Bart umrahmte die von Zeit und wüstem Leben zerstörten Züge; alles an diesem Gesicht war welk und schlaff, nur die grauen Augen hatten noch Glanz und festen Blick. Straffes Haar hing an den Schläfen und im Nacken, das Oberhaupt war kahl, doch über der Stirne sträubte sich ein vereinsamter Haarbusch, als hätte die Zeit ihn eigens verschont, damit ihn ein zausendes Schicksal doch endlich noch zu fassen bekäme.
Herr Waze hatte einen tiefen Zug gethan und stellte die Bitsche nieder; mit einem Augenwink wies er die Magd aus der Stube. „So, Fischer, jetzt laß uns reden miteinander! Komm’ her, hock’ Dich nieder!“ Sie setzten sich. „Und fürs erste ... da, trink!“ Herr Waze schob seinem Gast die Bitsche hin.
„Ich hab’ keinen Durst,“ sagte Sigenot und steckte seine Kappe hinter den Gürtel.
Herr Waze schielte den Fischer von der Seite an. „Meinetwegen!“ brummte er; dann legte er die Arme über den Tisch, blickte eine Weile schweigend mit spähendem Blick in Sigenots Gesicht, als prüfe er seinen Mann, und sagte: „Also, jetzt red’! Was meinst denn Du dazu.“
„Wozu? Ich versteh’ nicht!“
„Hast sie doch auch schon gesehen heut’!“
„Wen, Herr?“
„Die Kuttenlupfer! Bist ja dazugekommen, wie meine Dirn’ mit ihnen zusammengeraten ist.“
Langsam hob Sigenot die Augen; aber keine Miene zuckte in seinem Gesicht. „Wohl wohl!“
„Also! Jetzt red’! Was sagst dazu?“
„Ich? Und sagen? Was gehen denn mich die fremden Leut’ an?“
„Fremde Leut’?“ Herr Waze blinzelte. „So? Du bist aber schnell fertig.“ Er lachte und legte die unruhigen Hände um die Bitsche. „Wenn aber der Oberste von ihnen morgen kommt und sagt zu Dir: ‚Du, Fischer, jetzt paß’ auf, jetzt bin ich der Herr im Gadem, und Ihr all’ seid Kirchenknecht’, da giebt’s keinen Unterschied – und Fron und Zins und Steuer, alles gehört mir, mein ist der Wildbann, und das Fischrecht über Bach und See, das laß’ ich auch nicht aus, her damit!‘ Was sagst denn nachher, Fischer?“
Sigenot lächelte. „Da könnt’ ein jeder kommen und könnt’ so reden. Es fragt sich nur, wie viel er ausricht’ bei mir.“
„Gelt, ja? Gelt?“ lachte Herr Waze. Die Antwort schien ihm zu taugen. „Also? Was wirst denn sagen, wenn er kommt?“
„Da müßt’ ich mich erst besinnen. Aber ich mein’, ich find’ schon die richtige Red’.“
„Hast recht! Laß’ Dir nur nichts gefallen! Und wenn [71] Dir die Wort’ ausgehen, red’ nur gleich mit der Faust. Bei Dir giebt’s aus ... wo Du hinhaust, da wachst sieben Jahr’ kein Gras nimmer. Und ich, Fischer, ich halt’ zu Dir! Dich hab’ ich gern, das weißt. Du bist der einzig’ im Gadem, den ich stehen hab’ lassen wie Herr neben Herr. Das wirst mir zugeben – nie hab’ ich mit einem Finger an Dein Sach’ und Recht gerührt.“
„Das hat wohl einen guten Grund gehabt,“ sagte der Fischer trocken.
Herr Waze zog die Brauen hoch. „Wieso? Wie meinst Du das?“
„Ich mein’, es wär’ schiech ausgegangen. Kann sein, für mich ... für Euch aber auch! Wenn ein Baum fallt, Herr, giebt’s Trümmer.“
Herr Waze machte zu dieser Rede ein schiefes Gesicht, und dunkle Röte stieg ihm ins Antlitz. Aber er lachte und griff nach der Bitsche. Abermals that er einen tiefen Zug, klappte den Deckel zu und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Schau, Fischer, das gefallt mir, daß Du so redest! Wer was ist, den laß ich gelten! Und drum wär’s mir leid, wenn es Dir an den Leib ging’. Aber ich halt’ zu Dir.“
„Ich mein’, ich brauch’ keinen Helfer.“
„So? Paß’ nur auf! Du, freilich, Du bist noch nie hinausgekommen aus dem Gadem. Aber ich, Fischer, ich weiß, wie sie’s machen!“ Mit hohler Hand strich Herr Waze über die Tischplatte, als lägen goldene Schätze vor ihm, die er einstreifen möchte in seinen Schoß. „Beim Kleinen fangen sie an, schön langsam, und allweil schneller geht’s, und beim Großen hören sie auf. Mit Gotteslieb’ und Himmelsgnad’ aißen[3] sie die Gruben an, und was drauf hereinfallt, das kommt in den Klostersack. Und der hat kein Loch ... was da einmal drin ist, das bleibt!“
Sigenot schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin.
„Warum lachst Du?“ brummte Herr Waze, während draußen der erste brausende Windstoß um das Haus fuhr.
„Der Ramsauer Pfarrherr ist mir eingefallen, der alte Hiltischalk.“
„Was willst mit dem?“
„Der hat mich als Bub getauft ... das ist der einzig’, den ich kenn’. Und wenn die vier, die heut’ gekommen sind, dem Ramsauer nachgeraten, so könnt’ man allweil hausen mit ihnen. Denn vom Ramsauer hab’ ich noch nie gehört, daß er ’was eingestrichen hat in seinen Sack. Ich hör’ nur allweil, daß er giebt ... das letzte Haftl und das letzte Pfaid und Herz und Leib dazu.“
Herr Waze hatte regungslos gesessen, mit funkelnden Augen an dem Munde des Fischers hängend. Jetzt sprang er auf und warf den Stuhl beiseite. „Hol’ ihn der Teufel, den er predigt!“ schrie er mit zitternden Lippen. „Der gerad’, der ist von den Aergsten einer! Der weiß, wie man’s machen muß, daß die Roß’ nach dem Fuhrmann schlagen! Die ganzen Leut’ in der Ramsau hat er mir verdorben in Grund und Boden. Da steht ja einer neben dem andern wie Stein bei Stein in der Mauer!“
Sigenot erhob sich. „Ich mein’, Herr Waze, das hat ein anderer fertig gebracht als der Ramsauer Pfarrherr.“
Herr Waze hörte diese Worte nicht; der zweite Windstoß rauschte um das Haus, daß alles Gebälk erzitterte; an einem der Fenster riß der dünne Schliem, ein zischender Luftstrom fuhr in die Stube und machte die Kerzen flackern. Mit zorniger Faust stieß Herr Waze den Laden vor. „Und jetzt,“ so schrie er, „jetzt will sich gleich ein ganzes Bündel festsetzen im Gadem. Und eine Klaus’ wollen sie bauen, und aus der hölzernen Klaus’ soll ein steinernes Kloster wachsen mit Mauer und Türm’ ... und wie man der Sau das Blut ablaßt, langsam, aber sicher, so soll ich Stückl um Stückl herlassen, was ich halt’ in meiner Faust. Aber die sollen den Waze kennenlernen! Wenn ich nur wüßt’, wer hinter ihnen steht! Ob der Salzburger? Oder gar noch ein Stärkerer, der mir ans Fleisch kann! Wenn ich nur das wüßt’ ... dann möcht’ ich ihnen morgen ein Wörtl sagen, daß ihnen die Zung’ in den Hals fallt! Aber so ...“ Herr Waze schluckte die Worte und griff sich mit den Fäusten an die eigene Brust.
Sigenot stand schweigend, mit ernstem Blick. Keuchend trat Herr Waze an den Tisch und hob den Krug. Als er ihn niedersetzte, schnitt er ein Gesicht, als wär’ ihm die Zunge bitter geworden. „Was nur das wieder für ein Gesüff ist! Den Met hat der Schönauer gesteuert ... und hat mir mit Fleiß den Honig verdorben!“
„Nein, Herr!“ sagte der Fischer. „So was thut der Schönauer nicht. Aber wenn einer zu oft in den Immstock greifen muß und mehr vom Stock verlangt, als er geben kann, so sind die Immen bald nimmer heikel im Blumensuchen und heimsen auch auf schlechtem Kraut und auf Giftblumen. Das merkt man halt nachher im Met ... obenauf schmeckt er freilich süß, aber der Satz wird bitter auf die Letzt.“
„So? Meinst?“ brnmmte Herr Waze und roch in die offene Bitsche. Er stieß den Krug von sich und schrie: „Was mich am meisten ärgert, was mir alles umdreht im Leib –“ die beiden Fäuste schlug er an seine Stirn’ – „ich selber bin schuld, daß ich die Schermäus’ jetzt im Land hab’!“ Er trat vor den Fischer hin und mit fuchtelnden Armen begann er zu erzählen: „Vor Jahr’ einmal, da sind der Sulzbacher und seine Gräfin auf den Einfall gekommen, sie möchten Nachschau halten im Gadem. Ohne Troß und Knecht’ sind sie draußen weggeritten von der Herrenburg; und unterm Lokistein, wo der Goldenbach in die Achen fließt, sind sie in die Irr geraten. Da haben sie aus dem Sattel steigen müssen und zu Fuß weiter suchen. Und auf einmal, da bricht unter ihnen die Erd’ ein, und halb verschüttet sind sie in der brunnentiefen Grub’ gelegen, zwei Tag’ und eine Nacht. Und was sagst? Da muß mich mein Unstern dazuführen ...“ Herr Waze lachte zornig auf und streckte die Fäuste gegen die Decke.
„Unstern?“ Sigenot furchte die Brauen. „Es sind doch Menschen in der Not gewesen, und Eure Herrenleut’ dazu!“
„Paß’ nur auf, was weiter kommt!“ schrie Herr Waze. „Auf der Sauhatz hab’ ich die ledigen Roß’ gefunden, hab’ vom Sattelzeug richtig auf die Reiter geraten und hab’ mich mit meinen Leuten ans Suchen gemacht. Und finden hab’ ich sie müssen! Finden! Und hab’ noch eine Freud’ gehabt, weil ich gemeint hab’: jetzt, wo mir der Graf und die Gräfin ihr Leben danken müssen, hätt’ ich einen rechten Stein im Brett. Und weißt, was geschehen ist?“ Mit beiden Händen faßte Herr Waze den Fischer am Wams. „Wie der Graf und die Gräfin wieder daheim waren, hat der Burgpfaff angefangen, der Frau Adelheid ins Ohr zu reden: ihr Unglück und die Rettung ... hörst, Fischer, die Rettung! .. das wär’ ein Vermerk von Gott gewesen, daß Frau Adelheid das alte Gelübd’ ihrer Mutter erfüllen müßt’ und den Berchtersgadem hingeben an die Kirch’!“ Herr Waze schlug die Fäuste auf den Tisch und lachte mit bleichen Lippen. „Und wie schon allweil der Zwölfer fallt, wenn die Schwarzkittel ihre Knöchel werfen ... so hat’s nicht lange gedauert, da kommt das Siechtum über Frau Adelheid und auf dem Totenschragen hat sie den Eid gethan und zwölf Edelleut’ haben mitschwören müssen, daß der Berchtersgadem an das Kloster fallt!“
Sigenot hob den Kopf und zog die Kappe aus dem Gürtel. „So wär’ das richtig und wahr? Die Schenkung ist beschworen und gethan?“
„Ja, ja, ja!“ schrie Herr Waze. „Und das ist der Dank, den ich hab’! Was sagst, Fischer? Was sagst?“
„So muß ich sagen, daß die Leut’ ein Recht haben, wenn sie kommen ... daß sie die Herren im Gadem sind.“
„Was Herr? Wer Herr?“ klang die kreischende Antwort. „Ich bin der Spisar im Gadem, und ich bin nicht gefragt worden, ich hab’ der Schenkung nicht zugestimmt – und ich thu’s auch nimmer!“
„Wer hätt’ Euch denn fragen müssen? Wenn ich mein Wesen verschenken will, muß ich denn da mein Gesind’ erst fragen?“
Herrn Waze blieb die Antwort in der Kehle stecken; seine Augen erweiterten sich, und ein Zittern befiel seine Knie. Er lachte nur gepreßt und heiser. Mit zuckenden Fäusten zog er die Rocksäume über der Brust zusammen und schritt in der Stube auf und nieder. Draußen kam der Sturm gezogen. Es pfiff und heulte um das Haus, dumpf rauschten die Wipfel der Bäume, man hörte das Krachen brechender Aeste, das Geklapper fallender Schindeln, und in weiter Ferne rollte der erste Donner.
Herr Waze blieb vor Sigenot stehen, mit funkelnden Augen und fahlem Gesicht. „Fischer! Da steh’ ich vor Dir ... und [72] draußen beim Lokistein liegen die Klosterleut’ … zu wem willst halten?“
„Warum eine solche Frag’, Herr? Ich bin doch nur einer – kommt’s denn auf einen an?“
„Du gehst für hundert. An Dir hängen die Leut’ im Gadem wie die Schaf’ am Salz. Zu wem willst halten?“
„Fürs erste halt’ ich zu mir selber. Und wenn mich noch ein anderer braucht, so muß das allweil einer sein, bei dem ich ein Recht seh’.“
Langsam trat Herr Waze von Sigenot zurück und maß ihn mit stechendem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. „Fischer!“ Und drohend hob er den Finger. „Fischer, besinn’ Dich! Da steh’ ich vor Dir, und da draußen sind die andern. Schau fest hin! Auf welcher Seit’ ...“
„Ich seh’ nur Euch, Herr!“ unterbrach ihn Sigenot mit ruhigem Wort. „Daß ich mir die andern anschau’, dazu brauch’ ich Zeit!“
Wazemanns Augen blitzten, und ein tückisches Lächeln verzerrte seine Lippen. „Gut, Fischer, so haben wir ausgeredet miteinander … für heut’!“
„Wohl wohl, Herr! Und somit gut’ Nacht!“ Sigenot nickte und schritt der Thüre zu.
Als er im Dunkel der Vorhalle verschwunden war, eilte Herr Waze zu einer der beiden Thüren, welche in das Innere des Hauses führten, riß sie auf und that einen leisen Pfiff.
Ein Knecht kam gesprungen. „Herr?“
Wazemann besann sich; dann schüttelte er den Kopf und drückte die Thüre wieder zu. Er ging zum Tisch zurück; aber da sah er betroffen auf. Sigenot stand auf der Schwelle.
„Hast Dich besonnen, Fischer?“ kam es über Wazes Lippen gesprudelt.
Sigenot blickte zu Boden. „Herr dranßen geht ein schieches Unwetter los und mir ist eingefallen … Eure Tochter ist außer Haus.“
Herr Waze machte ein verblüfftes Gesicht. „Was geht meine Dirn’ Dich an? Die wird wohl wissen, wo sie bleibt!“ Damit drehte er dem Fischer den Rücken zu. Sigenot stand noch eine Weile; dann zuckte er die Achseln, warf einen zerstreuten Blick durch die Stube und ging.
Wazemann schielte ihm nach und lächelte. „Ich laß Dir freien Weg aus meinem Haus …geh’, Fischer, geh’ nur! Aber ich mein’ schier, Du gehst Deinem Vater nach.“
Graues Dunkel lag schon über dem Hof, als Sigenot aus der Vorhalle niederstieg. Jagendes Gewölk bedeckte den Himmel. An dem Pförtlein über dem Felsenstieg wartete der Knecht, der den Fischer ins Haus geführt hatte. „Willst heimzu nicht lieber den Reitweg nehmen?“ fragte er.
Sigenot schüttelte den Kopf. „Ich geh’ hinunter, wo ich herauf bin.“
„Der Sturm blast aber bös hin an die Wand.“
„Mich wirft er nicht! Mach’ auf!“
Der Knecht öffnete das Pförtlein und Sigenot betrat den steilen und dunklen Weg.
Von der Bergseite der Mauer her ließ sich wirrer Stimmenlärm vernehmen. Wazemanns Söhne kehrten von der Jagd zurück. Das Gesinde lief zusammen und zwei Knechte kamen mit Windfackeln, deren rußende, vom Sturm gepeitschte Flammen den Burghof mit rötlichem Schein erfüllten. Zwei Jägerknechte, welche mit heimkehrten, trugen ein schweres Stück Fahlwild[4] an einer Stange. Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig, die ältesten von Wazemanns Söhnen, warfen die Gemsböcke nieder, mit denen ihre Rücken beladen waren. Eilbert trug die Stahlbogen und Köcher der älteren Brüder. Gerold und Otloh, die beiden jüngsten, führten in ihrer Mitte einen Buben, dem die Hände auf den Rücken gebunden waren. Sie alle trugen, mit geringem Unterschied, das gleiche Gewand: die Marderkappe mit der Adlerfeder, das Lederwams, die kurze Berghose und am Gürtel den Wildfänger. Rauhe verwegene Gestalten, denen das wilde zügellose Leben, das sie führten, aus Gesichtern und Augen blickte.
Geschrei und Hundegeheul erfüllte den Hof und übertäubte das Schluchzen des gefesselten Buben, der sich kaum mehr aufrecht zu erhalten vermochte. Herr Waze kam von der Vorhalle herabgestiegen, und während ihm der Sturm den Bart zauste und den Hausrock um den Körper peitschte, musterte er beim Schein der Fackeln das erlegte Wild. Der erste Gemsbock schien ihm zu gefallen. „Der hat den Schuß auf dem rechten Fleck. Wer hat den Schuß gethan?“
„Ich!“ sagte Rimiger und stellte sich breit vor den Vater hin. „In voller Flucht ist mir der Bock gekommen und ist hergesaust durch die Latschen … ich hab’ schon geflucht und hab gemeint, ich muß ihn durchlassen ohne Schuß … aber grad’ noch hab’ ich ein Gaßl durchs Latscheret gefunden, hab’ die Senn’ klingen lassen, und wie vom Blitz erschlagen hat’s ihn hingehaut.“
„Recht so, Bub’, Du hast ’was gelernt von mir!“
Beim zweiten und dritten Gemsbock nickte Herr Waze nur. Jetzt aber sah er das Fahlwild und dunkle Zornröte schoß ihm ins Gesicht. „Höll’ und Pest! Wer hat mir das gethan! Das ist ja eine Geiß!“
„Ich kann nichts dafür, Vater!“ stotterte Eilbert. „Der Nebel ist eingefallen da hat mir das Stückl stärker geschienen, und ich hab’ gemeint, es wär’ ein Bock.“
„Gemeint hast, so, gemeint?“ schrie Herr Waze. „Ein Jäger soll nicht meinen, ein Jäger muß wissen! Wo sollen denn die Böck’ herkommen, wenn mir so ein Schinder wie Du die Geißen wirft! Da hast einen Merk!“ Und ein klatschender Schlag fiel auf Eilberts Wange. Alle andern lachten; Eilbert aber erbleichte bis in die Lippen, schoß einen funkelnden Blick auf den Vater und ging wortlos ins Haus.
Da gewahrte Herr Waze den gefesselten Buben. „Was soll’s mit dem?“
„Rühr’ Dich, Du!“ schrie Otloh und versetzte dem Buben einen Stoß ins Genick, daß er vor Wazemanns Füße taumelte.
Wieder lachten alle, während der Bub sich stöhnend aufrichtete. Er mochte kaum fünfzehn Jahre zählen; sein ganzes Gewand war ein alter Sack, der mit einer Weidenrute um die Hüften gebunden war und drei Löcher für den Kopf und die Arme hatte; das Gesicht war leichenfahl, die Lippen bluteten, und die vor Angst und Erschöpfung schlaffen Wangen waren von Zähren überronnen.
„Was hat der Bub gethan?“ fragte Herr Waze. Und Gerold sagte: „Unter der Eismannwand, mitten im besten Wildbogen, ist er uns in die Händ’ gelaufen.“
Wazemanns Brauen zogen sich zusammen. „Was hast Du auf dem Eismann zu schaffen, Du Rabenaas?“
„Ach, Herre, Herre,“ schluchzte der Bub, an allen Gliedern zitternd vor Angst, „ich hab’ ja nur meine Geißen gehütet, hinter dem Eismann drüben, bei der Oedhütt’, und zwei, Herre, zwei haben sich halt verstiegen … die hab’ ich doch suchen müssen!“
„Weißt Du nicht, daß der Eismann mein Bannberg ist, auf den mir keiner steigen soll und mein Fahlwild scheuchen, bei Leib und Leben?“ Der Bub rührte die Lippen, aber es wollte kein Wort mehr von seiner Zunge.
Herr Waze winkte einen Knecht herbei. „Pack’ ihn, und hinunter mit ihm ins Bußloch! Und daß ihm für ein andermal die Lust vergeht, auf meinem Bannberg herumzusteigen … stich ihm über den Fersen die Sehnen ab!“
„Herre, Herre! Habet doch Barmherzigkeit – ich thu’s ja nimmer, nimmer, nimmer!“ schrie der Bub in herzzerreißendem Jammer. Aber der Knecht packte ihn, riß ihn mit sich fort, und hinter den dicken Mauern des Unterbaues erstickte das Geschrei des Knaben.
Herr Waze stieg zur Vorhalle hinauf; er mußte auf der Treppe das Geländer fassen, mit so ungestümer Macht fuhr der Sturmwind auf ihn ein. Aus der Halle rief er herunter: „Schauet, daß Ihr bald hereinkommt in die Stub’! Ich hab’ mit Euch zu reden.“
Gerold und Otloh folgten ihm. „Was meinst denn, daß er hat?“ fragte der erstere den Bruder. „Was er hat? Schiech Wetter unter dem Hirndach!“ lachte Otloh. Hinter den beiden stiegen Rimiger und Hartwig die Treppe hinauf. Sindel, welcher mit Henning noch bei den Gemsböcken stand, fragte den Bruder mit halblauter Stimme: „Meinst nicht, der Vater hat’s mit dem Eilbert ein lützel zu grob gemacht? Was ein Vater darf, hat auch seine Grenz’, und der Bub ist doch ein ausgewachsener Mensch.“
„Die Maulschell’ hat ihm gehört! Warum wirft er eine Geiß!“
[73]
[74] „Er muß rein blind gewesen sein, oder er hat schon wieder eine Dirn’ im Kopf. Das macht ihn wirblig wie der Drehwurm die Gems. Ich mein’ schier, er hat’s auf die Fischerdirn’ abgesehen.“
Henning hob langsam das Gesicht. „Auf das Rötli? Da wird ihm wohl der Schnabel sauer bleiben.“
„Warum?“
„Das hat seinen guten Grund!“
Sindel schaute dem Bruder ins Gesicht und lachte. „Deinen Grund, den kann ich mir denken.“
Sie gingen der Treppe zu. Da fragte einer der Knechte, welche mit dem erlegten Wild beschäftigt waren, den an seiner Seite Schaffenden. „Wer ist denn der Bub, der da drin gebüßt wird? Kennst ihn Du?“
„Wohl wohl. Huze heißt er und ist dem Schapbacher hörig, dem er die Geißen hütet. Seine Mutter ist die Heilka gewesen, die Sennin. die man aus der Windach gezogen hat.“
Sindel blieb auf der Treppe stehen und stieß den Bruder lachend mit dem Ellbogen an. „Hast gehört? Die Heilka ist seine Mutter gewesen.“
„Laß mich in Ruh’!“ brummte Henning.
„Da solltest den Buben doch laufen lassen!“
„Was geht der Bub mich an! Ich hab’ seiner Mutter ...“ Ein tobender Windstoß erstickte die folgenden Worte. Henning und Sindel traten in die Herrenstube, in welcher ihre Brüder schon um den Tisch saßen.
„Jetzt sind wir all’ da, Vater!“ sagte Hartwig. „Aber wo ist denn die Schwester?“
„Gut, daß sie fort ist. Sie braucht nicht zu hören, was ich mit Euch zu reden hab’.“ Herr Waze trat an den Tisch und stemmte die Fäuste auf. „Wißt Ihr schon die neueste Botschaft?“
„Heraus damit!“ lachte Rimiger.
„Wart’ nur, gleich wirst nimmer lachen. Wir haben Gäst’ im Gadem. Die Schermäus’ sind gekommen. Draußen beim Goldenbach, unterm Lokistein, haben sie die Zelt’ geschlagen.“
Um den Tisch war lautlose Stille, nur einen Augenblick, dann sprang Henning auf, und sein Faustschlag dröhnte auf der Tischplatte. „Mein Roß her! Das giebt noch eine lustige Hatz auf die Nacht! Die Kutten sollen mir laufen, daß der Wind, der draußen wettert, zurückbleibt hinter ihnen!“
Die Brüder sprangen auf, die Stühle kollerten und wirres Geschrei erfüllte die Stube. Hennings Wort hatte die Meinung aller getroffen. Wie die Wespen aus einem Nest, in das der Fuchs gegriffen, so stoben sie auseinander.
„Ihr Narren! So bleibt doch!“ überschrie Herr Waze den Lärm. Ringsum an den Thüren blieben sie stehen und schauten den Vater an. „Her wieder an den Tisch!“
„Vater! Was soll denn das?“ rief Rimiger. „Willst gar Du uns die Händ’ binden, wo doch der Schlag am besten ausgiebt, wenn er gleich fallt?“
„Her an den Tisch!“ befahl Herr Waze, und seine Stirne wurde rot. Zögernd kamen sie und nahmen ihre Plätze wieder ein.
„Und jetzt haltet die Mäuler! Keiner soll mir dazwischen reden!“ Herr Waze atmete tief und warf sich auf einen Stuhl. „Gekommen sind sie – und fort müssen sie auch wieder. Aber wie? Mit Gewalt geht’s nicht, das hab’ ich mir lang gesagt. Sie haben die Kutten an, und wer hinrührt an den schwarzen Rock, der könnt’ sich bös die Händ’ verbrennen. Das Mittel, das Euch taugen möcht’, wär’ von allen das schlechteste. Schlagt die Viere nieder, und zehne wachsen nach ... schlagt die Zehne nieder, und zwanzig stehen auf. Nein, Buben, mit dem Schlagen und Jagen geht’s nicht ... von selber müssen sie wieder gehen.“
„Wenn sie nur mögen!“ lachte Henning.
„Daß sie mögen. das laß Du meine Sorg’ sein! Ich hab’ zwei gute Helfer: Hunger und Winter. Euch aber brauch’ ich auch dabei. Und so hat’s von morgen an ein End’ mit dem Gejaid einen Tag um den andern. Drei von Euch mögen hetzen und jagen wie allweil ... aber viere bleiben all’ Tag daheim. Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig. Ihr macht für morgen den Anfang. Vor Tag wird gesattelt und Ihr reitet hinaus ...“ Zwei Mägde traten ein, um den Tisch für das Nachtmahl zu bestellen. Herr Waze verstummte und gab seinen Söhnen einen Wink, zu schweigen. Er trat unter die offene Thür der Vorhalle und blickte hinaus in das Stürmen und Toben der sinkenden Nacht. „Henning!“ rief er und ging langsam in die Vorhalle. Der Aelteste folgte ihm. „Was willst, Vater?“
„Was meinst wohl, wer wird der Erste sein, der’s mit denen da draußen hält?“
„Gieb nur acht, Vater ... ich leg’ meine Hand dafür ins Feuer: der Fischer!“
Herr Waze nickte schweigend.
„Hast am End’ schon einen Beweis dafür?“ fuhr Henning fort.
„Ich hab’ geredet mit ihm. Und wie ich ihn gefragt hab’: willst zu mir halten oder nicht, da ist er gestanden wie ein Stock.“
Henning lachte. „Das ist der Dank dafür, daß Du alleweil die Hand über ihn gehalten hast!“
„Damit hat’s ein End’!“ sagte Herr Waze und wollte die Vorhalle verlassen. Aber Henning faßte ihn am Arm. „Vater! Wie soll das gemeint sein?“
„Wenn Du’s nicht verstanden hast, so horch ein andermal besser auf!“ Herr Waze löste seinen Arm und trat in die Stube. Henning aber stand und blickte durch die rauschenden Bäume hinunter auf das vom Sturm umtobte Fischerhaus. Er lachte und hob die geballte Faust.
Ein greller Blitz zuckte über die Wolken hin, und dumpfer Donner füllte das weite Bergthal.
Jede Insel, mag sie Korsika oder Irland, Rügen oder Capri heißen, bildet eine kleine eigenartige Welt für sich.
Sicilien erschien schon den an so viele Weltwunder gewöhnten alten Römern als eine ganz absonderliche Wunderwelt. Trotz ihrer protzigen Selbstherrlichkeit staunten sie die Naturerscheinungen des Landes an, besuchten es seines von dem des Festlandes so verschiedenen milden frühlinghaften Winters wegen, priesen die Schönheit und antike Berühmtheit seiner Städte. Jeder einigermaßen anständige römische Tourist mußte Sicilien besucht haben; noch heute ist es der Endpunkt der Reise unserer Italienfahrer.
Und noch heute ist ja die Sonne Siciliens eine andere als die der sonnigsten Striche des Festlandes, der Boden ist anders in seiner Gestaltung, die Vegetation mächtiger als selbst die Neapels, fast tropisch.
Auf Sicilien ist des Sommers lichtglänzendes, fruchtprangendes Reich, der Winter eilt flüchtigen Fußes über den Aetna hin, nur an den äußersten Hängen seine Stapfen mit Schnee füllend. In den immergrünen Thälern blühen die Rosen ohn’ Unterlaß und neben den Rosen reift der feurige Wein, auf den breiten Feldern die goldene Halmfrucht. Orangen, Citronen haben hier ihre eigentliche Heimat, und das Land trieft von Milch, Honig und Oel. Wo Wasser fließen, baut der fleißige Insulaner seine Baumwolle, Mais, Reis und Zuckerrohr. Auf den meilenbreiten hügeligen Weidestrichen des Innern gehen stattliche Pferdeherden, weiden Hunderttausende von Rindern, Ziegen und Schafen, während ein kühnes Fischer- und Schiffervolk den Strand und die Welle mit seinen Barken und Segeln belebt. Der vielbegehrte Thun- und Schwertfisch, die in alle Welt versandte Sardelle sind ihre Beute, wie sie in ihren Netzen auch die purpurnen Schätze der Korallen zu Tage fördern. Die Brüder daheim wühlen in Schächten und Gängen nach dem „Golde Siciliens“, dem kostbaren Schwefel, die Frauen und Mädchen betreiben mit Fleiß und Geduld die Zucht des Seidenwurms und haspeln die schimmernden Fäden.
Schöne, vornehme, durch eine bedeutsame geschichtliche Vergangenheit ausgezeichnete Städte, Palermo, Messina, Catania, Syrakus, Girgenti, bilden einen Kranz um die Küsten. Zwischen dem Neuesten, Modernsten malerische Reste altgriechischer, maurischer, [75] normannischer Vergangenheit. Und über dem Ganzen der tiefblaue segenstreuende Himmel ...
Auf dieser Insel also könnte das Glück wohnen, das aus aller Welt jetzt geflohen scheint?
Aber nein, auch Sicilien ist unglücklich: die Natur spendet mit so unendlich reichen Händen und die große Masse des Volkes darbt und hungert. Unter den drei Millionen Menschen, denen die Insel frohe Tafel decken könnte, sind nur wenige Tausende, die als Menschen leben, wenige Hunderte, die die Herren machen und schwelgen in Schlössern und Palästen, prunken in seidenen Kleidern, voll Gleichgültigkeit oder gar Hohn für die bleiche Armut ringsum. Diese Armut hat heute die tiefste Stufe erreicht, sie verschwistert sich mit dem Verbrechen, und ihr Gebahren stört bereits den Schlaf der Regierenden. Besondere Gewaltmaßregeln, Belagerungszustand und verstärkte Besatzung der Insel haben sich als nötig erwiesen.
Alles klagt und – droht. Der Kleingrundbesitzer will sein Stückchen Land los sein und gemeiner Feldarbeiter werden. Er hat drei Scheffel Ackerboden und bezahlt jedes Jahr an gemeinen Steuern 127 Lire. an Bodensteuer 100, andere Abgaben 50, mehr als 300 sodann für Wirtschaftsbetrieb, wogegen er im Mittel nicht mehr als 550 bis 600 Lire einnimmt.
Der Feldarbeiter klagt, er habe nur sechs Monate im Jahre Arbeit und verdiene 7 bis 8 Lire die Woche, wenn es nicht regnet. In der arbeitslosen Zeit geht er Grünzeug sammeln an Hecken und Bachrändern („va a erbe“, wie der Volksausdruck lautet) und brüht es, ohne Salz, mit heißem Wasser ab. Für ein schmutziges feuchtes Kämmerchen, das er mit seiner kleinen Familie bewohnt, zahlt er jährlich 70 Lire, Stroh bildet seine Lagerstätte; arbeitet er auf dem Felde, so schläft er unter freiem Himmel, ist er naß, muß ihn der Wind trocknen. Auf das schwarze Brot muß dennoch Verzehrsteuer gezahlt werden. Der Lohn wird in lauter Kupfermünzen, darunter so manche, die keinen Kurs mehr hat, ausbezahlt.
Geben die Besitzer, natürlich immer nur durch die Hand ihrer durchweg spitzbübischen Unterbeamten, einen Vorschuß, so geschieht es in schlechtestem Getreide, sogenannter „Solame“, das sind die auf der Tenne zusammengekehrten, stark mit Kalk und Erde vermischten Körner; bei der Zurückerstattung, die mit mehr als 25% Zinsen erfolgt, muß aber erste Sorte geliefert werden.
Auch der Bettler ist nicht frei von Steuern, wenn er nicht im Freien schläft. Für das schäbigste Maultier zahlt man jährlich 10 Lire Steuer, für jeden Esel 5. Das veranlaßt die Herren, die deren zwanzig und mehr besitzen, nur drei oder vier anzugeben, und danach kräht kein Hahn.
Ein sicilianischer Menschenfreund, eine Ausnahme, der Baron Mendola, hat mit seinen unglücklichen Bauern gerechnet; er versichert, daß es nicht möglich sei, die Bilanz einer sicilianischen Bauernfamilie zu machen, ohne mit einem Fehlbetrag abzuschließen. Davon erfahren aber die Grundbesitzer nichts, die sind von der undurchdringlichen Mauer ihrer Groß- und Kleinbeamten umgeben, ihre Beziehungen zu den Bauern sind die von Herren zu Sklaven.
Geregelt werden diese Beziehungen durch den dem Padrone zunächst stehenden Oberaufseher, meist einen rohen entschlossenen Menschen, emporgekommen nicht durch Fleiß, Treue, technische Befähigung. sondern durch seinen gewaltthätigen Charakter, seine ausgebreiteten Bekanntschaften in der Maffia[5], der er natürlich selbst angehört, und – ein paar für ihn gut ausgegangene Prozesse. Mit den ihm vom Herrn jährlich ausgeworfenen 300 Lire kann er nicht leben, aber er lebt dennoch sehr gut und macht sich reich. Er weiß genau gegen wen er sich freigebig oder rücksichtsvoll zu bezeigen hat, und entläßt die Gendarmen mit trockenem Munde, während er den Briganten prächtige Tafel hält und die Viehräuber unter seine Fittiche nimmt.
Es folgen, als ihm untergeben, der Magazinverwalter, der Brotmeister, der Pferdeknecht, der Viehaufseher, der Bardonaio (Führer von sieben Maultieren), der Verwalter der Ackergeräte, der Ochsenwärter, der Stutenwärter, eine ganze Schar von „Campieri“, die des Herrn Leibgarde bilden, etc. Sie sind in die Höhe gekommen, kraft ihrer moralischen und – strafrechtlichen Verdienste, welche die sicilianischen Gepflogenheiten nun einmal verlangen. Mehr als 90% behanptet der sicilianische Rechtsschriftsteller Alongi, mehr als 90% dieser Gesellen haben mit den Strafgesetzen, und mehrfach, zu thun gehabt.
Wie nun sieht es aus in einer solchen Ackerbaugemeinde im Innern der Insel? Scheffel singt:
„Ein Dorf, was ist’s? . . . Nur Mist und Rauch –“
und hat damit die Charakteristik der meisten Inseldörfer gegeben. Abgesehen vom Herrenschloß, das noch einigermaßen mittelalterlich anständig aussieht, und vier, fünf anderen Häusern, die noch etwas scheinen wollen, ist für die Baulichkeiten, die den Menschen beherbergen sollen, der Ausdruck „Stall“ viel zu fein gewählt, denn wir könnten dabei an die sauberen Kuh- und Pferdeställe unserer Gutsbesitzer denken. Unförmliche Steinhaufen, schwarz und ohne irgend ein Bindemittel zusammengefügt, mit Dächern aus Scherben, die dem Regen kein Hindernis bieten, ohne Fenster, nur durch einen Eingang als „Wohnung“ gekennzeichnet, einen Eingang, der zugleich als Fenster und Schlot dient – das sind die „Bauernhäuser“.
Hier leben und weben die Weiber und Kinder, von Millionen Fliegen und anderen dem Schmutz entstammenden Insekten umschwärmt. Wir treten ein: einen einzigen Raum enthält das Haus, eine Höhle ohne Fußboden, von Rauch und üblen Gerüchen erfüllt, denn dort in die Ecke hinein ist der Herd gemauert und neben dem erbärmlichen Strohlager der Familie steht in seinem selbstgeschaffenen Sumpfe der Esel, das Maultier, das vielgeliebte Schwein, hocken die Hühner und Tauben. Mit diesem unsauberen Getier zusammen in feuchter verpesteter Luft schläft Mann, Weib und Kind, groß und klein. Auch das Essen ist eine Schmutzerei in dem, wie es bereitet, und in dem, was gegessen wird. Fleisch kommt nur auf den Tisch. wenn man es verstohlenerweise von einem verendeten Stück Vieh auf die Seite bringen kann. Oft fehlt, des teueren Preises wegen (das Kilo ½ Mark), das Salz in diesen Häusern, noch öfter das Trinkwasser.
Auf diesem Boden, in dieser Luft wächst das Kind heran, ungewarnt allen brutalen Instinkten hingegeben. Von Liebe der Eltern ist keine Rede. Der Vater sieht „ein fressendes Maul“ in ihm, die Mutter hat nur für das säugende Kind eine gewisse wilde Zärtlichkeit bedenklichster Art. Das kleine Geschöpf wird mit tollen Küssen überfallen, und die Lippen der Mutter saugen ihm an den Armen, am Halse, an den Wangen gierig das Blut, herzlos und wollüstig beißen die Zähne in das zarte Fleisch. Unbekümmert um das krampfhafte Geschrei des dergestalt mißhandelten Würmchens. ruft sie immer und immer wieder leidenschaftlichsten Tones: „Brigantiellu miu, chi ssi duci, ti mangiu, ti rusicu tuttu.“ („Wie süß bist Du, mein Brigantchen, ich freß’ Dich auf, ich nag’ Dich ganz ab.“) Soll ein Größeres bestraft werden, so geschieht es in ähnlicher Weise. Die Mutter ruft bei irgend einem Vergehen dem Schuldigen auf offener Straße nach, reißt es zu Boden und beißt es in Arme und Wangen, bis aufs Blut, gleich einer tollgewordenen Bestie.
[76] Wie andre der rote Wein, so berauscht das Blut dies unerzogene Volk, und die Farbe des Blutes ist seine Lieblingsfarbe.
Das sind Reste uralter Barbarei und bis heute hat kein Gesetz gegen sie aufkommen können, auch die Kirche hat nichts zu bessern gewußt.
Und doch hat man in diesen ländlichen Behausungen, mit diesen Bauernbarbaren den tiefsten Schlamm, das größte menschliche Elend noch nicht erreicht. Das alles ist noch ein Idyll im Vergleich mit dem Leben und Leiden der Arbeiter in den ausgebeuteten sicilianischen Schwefeldistrikten, mit dem Höllenleben und Höllenleiden der „Zolfatai“!
Wer je eine Einsicht genommen in das Treiben der sicilianischen Schwefelarbeiter, der fühlt noch spät sein Herz sich zusammenziehen. Hier ist die menschliche Geduld, diese arme Sklaventugend, auf die Marterbank gespannt. Unsagbar traurig ist, unglaublich, was in gewissen Bezirken an Menschenentwürdigung geleistet wird. Der verlotterte Grubenbetrieb ist oft in den Händen der rücksichtslosesten Camorristen und Maffiosi, die, von niedrigster Geldgier geleitet, jeder Moral fernstehend, ihre Arbeiter, von denen ihnen einer weniger gilt als eine neue Hacke, hinsterben lassen, oder besser hinmorden, als wären’s Fliegen. Wer sich muckt, wird einfach beiseite geräumt, und auch danach kräht kein Hahn.
Die Obrigkeit kümmert sich auch nicht um das nunmehr in allen civilisierten Ländern beseitigte Trucksystem,[6] das hier noch in voller Blüte steht.
Unter diesem System leiden alle Arbeiter überhaupt, aber auch niedere Beamte. Sind die Löhne schon durch camorristische Vergewaltigung mager genug festgesetzt, so werden sie noch bezahlt mit elendestem, in den Niederlagen verdorbenem Getreide; dieses wird gemahlen verabfolgt, damit es noch bequem weiter gefälscht werden kann, verabfolgt nach falschem Maß und Gewicht. Soviel Mehl jedoch dient den Arbeitern nicht, sie brauchen auch bar Geld. Wer kauft ihnen das überschüssige schlechte Mehl ab? Wer es kauft, zahlt einen elenden Preis dafür, der dem ausbedungenen elenden Lohn lange nicht mehr entspricht. Auch mit Fleisch wird bezahlt, wenn etwa der Fall eintritt, daß dem „Herrn“ eine Kuh stürzt. Oder es verdirbt ihm ein Faß Wein: mit Gips wird die Säure gebrochen, die „Zolfatai“ erhalten dies Getränk an Lohnesstelle. Fernere Tauschmittel sind ranziges Oel, verschimmelter Käse, muffige Hülsenfrüchte. Sofortige Entlassung steht auf verweigerter Annahme. In den kleinen Gemeinden erhalten die Feldhüter, Schulmeister, Straßenkehrer u. a. ihre monatliche Besoldung von 25–50 Lire vom „Gemeindeschatzmeister“ sehr oft in schlechtem Korn ausbezahlt.
Unter den „Carusi“, wie die Schwefelminenarbeiter auch genannt werden (carusare, sicil. = den Kopf ganz kahl scheren, caruso = Kahlkopf, mit der Nebenbedeutung: in äußerste Armut verfallen), unter den Carusi sind neunzig von hundert körperlich und moralisch durchaus verkommen, unter ihnen walten die entsetzlichsten Laster. Und Kinder von sechs Jahren an arbeiten in den Schwefelgruben!
Der Dr. med. Alfonso Giordano, ein Menschenfreund der Provinz Girgenti, der die Kinderarbeit in den Gruben seit Jahren bekämpft, findet in Bezug auf die Körperentwicklung zwischen den armen kleinen Carusi und den ebenfalls armen gewöhnlichen Dorfkindern einen gewaltigen Unterschied zu gunsten der letzteren.
Bei den Carusi schlechteste Ernährung in verdorbener Luft, schlechtestes Blut, Mißverhältnis unter den Leibesgliedern, Rückgratsverkrümmungen, arme ausgemergelte, fortwährend mit Fußtritten mißhandelte Kinderleiber, die in der Entwicklung ganz auffallend zurückbleiben. Die aus diesen Bezirken sich stellenden Rekruten haben das Aussehen von 13-, 14jährigen Knaben.
Es kommt oft vor, daß geflohene Züchtlinge, verfolgte Verbrecher sich als Arbeiter in die der Obrigkeit unzugänglichen Gruben verdingen. Nach kurzer Zeit jedoch stellen sie sich wieder, des gräßlichen Maulwurfslebens müde, und erklären, lieber ihr ganzes Leben im Zuchthaus verbringen zu wollen, das mit der Grube verglichen ein Paradies sei.
Um es hier bei 14stündiger täglicher Arbeit auszuhalten, muß man sozusagen in der Grube geboren sein. Giovanni Verga, der Verfasser sehr poetisch behandelter sicilianischer „Dorfgeschichten“, hat in seinem „Rosso Malpelo[7]“ auch das Leben eines solchen verkommenen Caruso behandelt, dort lernt man die weiteren Schrecknisse kennen. Kennt man sie aber, so wagt man gewiß nicht, einen Stein gegen die Armen aufzuheben.
Jene Feldarbeiter und diese Carusi sind durchweg besitzlos. Ihnen gegenüber stehen die „proprietari“, die „padroni“, die „signori“ oder Herren, meist Nachkommen jener berüchtigten antiken Barone, die von den Vätern als Erbe die ungemessenen Landstriche bekommen haben, die Latifundien, die schon des alten Rom Verderben waren. Sie haben auch Sicilien so weit heruntergebracht: ökonomisch und sittlich. Durch ein solches Besitztum wandert man tagelang, ohne ein Haus oder eine Hütte zu finden, kein Baum ist zu sehen, kein Kornhalm, kein Brunnen, keine Blume, nichts, was auf das Dasein von Menschen könnte schließen lassen. Diese Latifundien sind aber die ungestörten Zufluchtsorte der Briganten, die Pflanzschulen des gemeinen Straßenräuberwesens. Der ganze Groll des Bauernvolkes, der tiefe Haß, der trotzige Widerstand einzelner und ganzer Verbindungen, vor allem der „fasci“, sind gegen diesen nichtsnutzigen Großbodenbesitz gerichtet. Alle Briganten, berühmte und unberühmte, sind aus dem Bauernstande hervorgegangen, ohne Ausnahme. Ohne Ausnahme auch bekennen sie, daß sie „tediati dalla mala vita“, überdrüssig ihres Hundelebens, sich nach und nach brigantenmäßige Kleidung und Waffen verschafft und eines schönen Morgens, nach feierlichem Abschied von Verwandten und Freunden, beneidet von diesen, mit Sack und Pack in das feindliche d. h. Räuberlager übergegangen waren, ihre Arme der „rivendicazione sociale“, der socialen Vergeltung, zu widmen.
Der auf Sicilien, neuerdings auch in der römischen Provinz, in den Abruzzen u. a. O. wieder sehr im Schwange stehende Brigantaggio ist die am klarsten ausgesprochene Form der vielberufenen Maffia. Freilich der mythische Typus des sicilianischen Briganten, wie ihn auch A. Dumas der Vater mit verlogenen Farben malte, als einen Kämpfer für das Recht der Unterdrückten gegen die Vergewaltigungen des Adels und der reichgewordenen Bürger, als Helfer der Dürftigen, Versorgungsvater armer heiratsfähiger Mädchen, wie ihn selbst Garibaldi in seinem Räuberroman noch hinstellte – dieser Typus hat längst seinen Glanz verloren, und der sicilianische wie der römische Brigant haben sich als ganz gemeine Halunken entpuppt. Denn wenn alle sicilianischen und römischen Hirten, Bauern, Winzer, Wirte, selbst Geistliche sich in den Dienst der „Herren der Campagna“ stellen und immer bereit sind, sie den Nachforschungen der Behörden zu entziehen, sie demgemäß in ihren Häusern und Ställen zu verbergen, ihnen schnelle Nachrichten von den Bewegungen ihrer Feinde zukommen zu lassen, sie mit Kleidern, Waffen, Nahrungsmitteln, Reittieren zu versehen, wenn der Brigant durchs ganze Land Vorschub findet, so ist das nicht auf seinen diesen Leuten gezeigten Edelmut zurückzuführen, sondern auf die ganz bedeutenden, nach Tausenden zählenden Löhne und Abfindungssummen, die er ihnen zahlt.
Der sogenannte „Brigantaggio militante“, das wohlgeordnete Bandenwesen, der „Malandrinaggio“, die gemeine Straßenräuberei, der „Abigeato“ oder Viehraub, die „Omerta“, das organisierte Falsch-Zeugniswesen, der „Manotengolismo“ oder die Hehlerei und alle andern Verbrechergenossenschaften der Insel: aus einer Wurzel stammen sie, aus der Maffia, dieser sicilianischen Camorra. Die Maffia hinwiederum wurzelt in der sicilianischen Geschichte, in den traurigen ökonomischen und politischen Zuständen – und diese Wurzel auszugraben, hat sich noch keine Regierung stark genug erwiesen: heute sitzt sie fester als je zuvor.
Mit den einstigen politischen Geheimbünden Italiens, die vor 1860 wie Pilze aus der Erde schossen, hat die Maffia nichts zu thun. Ich erinnere vorübergehend an jene dereinst der italienischen Idee dienenden, an die mit Katechismen, Satzungen und Ritualen wohlversehenen Carbonari, Calderari, Decisi (Entschlossenen), an „La giovine Italia“, wo der Dolch eine große Rolle spielte, an die „Selvaggi“ (Wilden), die „Unitá Italiana“, die ihre Mitglieder auf einen dreischneidigen Dolch schwören ließ und einen „Ausschuß der Erdolcher“ niedersetzte, an die „Compagnia di Morte“, die Todeskumpanei, deren Mitglieder gemeine Verbrecher waren unter dem Deckmantel der Politik, gerade wie die livornesischen „Ammazzatori“, die bolognesischen „Terroristen“, die „Sicarii“ von Faënza, die „Höllenbrüder“ von Sinigaglia. Diese alle – sie waren meist nicht so schlimm [77] wie ihre Namen – sind längst dahin. Heute faßt man das Verbrecherleben Italiens unter dem Gesamtnamen „Malavita“ zusammen.
Ihre Sonderarten sind, wie wir aus allerjüngsten Prozessen erfahren, in Andria „L’infame Legge“ (das schimpfliche Recht oder Gesetz), in Barletta die Verbrüderung der „Picciuotti“ (Jünglinge), in Bari und Neapel die speziell sogenannte „Malavita“, die richtigen Töchter der noch heute durch ganz Süditalien in Ansehen stehenden Camorra oder der sicilianischen Maffia, was schließlich auf eins herauskäme, denn diese wie jene sind Verbindungen oder Genossenschaften zum Zwecke des Verbrechens gegen das Eigentum und gegen die Personen.
Das ist die juridische Begriffsbestimmung, sie paßt auch auf alle Zweigverbindungen, sie mögen heißen, wie sie wollen; diese unterscheiden sich voneinander nur durch ihre Satzungen, deren Hauptgrundzüge aber überall die gleichen sind.
Blinder, rascher, unerschütterlicher Gehorsam gegen die Obern.
Unbedingtes Schweigen über die Mitglieder der Verbindung und über ihre verbrecherischen Unternehmungen.
Körperliche, moralische und pekuniäre Hilfe für die Genossen, besonders die eingekerkerten.
Ueber alles und jedes Benachrichtigung der Obern, unter keiner Bedingung Anrufung der Behörde.
Die Uebertretung einer dieser Hanptvorschriften gilt als Verrat und wird mit dem raschen, sicheren Tode bestraft.
Mitglied kann werden, wer einen „Notfall“ zu entschlossener Erledigung bringen will; erst muß er Beweise geben von Unempfindlichkeit, Tollkühnheit und – Unterwerfung worauf er sich einem längeren oder kürzeren Noviziat zu unterziehen hat.
Die Einführungsgebräuche sind in den verschiedenen Provinzen verschieden. Dypisch sind die bei den Maffiosi von Girgenti. Hier wird der Neuling den Sektionsvorstehern durch zwei wohlverdiente Mitglieder vorgestellt. In dem Zimmer tritt er vor den Tisch, auf dem irgend ein Heiligenbild liegt. Seine Paten stechen ihn in den Daumen der Rechten und lassen das Blut über das Heiligenbild tröpfeln. Darauf muß der Neuling den folgenden Eid leisten: „Ich schwöre auf meine Ehre, der Brüderschaft treu zu sein, wie die Brüderschaft sich mir treu erweisen wird. Wie man dieses Bild mit meinem Blute verbrennt, so werde ich mein Blut für die Brüderschaft vergießen, und wie diese Asche nicht wieder Papier werden und dieses Blut nicht wieder flüssig werden kann, so kann ich die Brüderschaft nicht wieder lassen.“
Hierauf wird das Bild an der angezündeten Kerze verbrannt. An anderen Orten kommt es vor, daß der neu zu Weihende auf ein Kruzifix einen Schuß abgeben muß, um darzuthun, daß er nicht zögern würde, irgendwelche Person, selbst die ihm teuerste, zu töten.
Die Mitglieder der Malavita in Bari leisteten folgenden Eid: „Mit einem Fuße im Grabe und mit dem andern an der Kette, schwöre ich, Vater und Mutter zu verlassen, um den Zweig der ‚Umiltà‘ (Demut, Unterwerfung im schlechtesten Sinne) zur Blüte zu bringen und die Sekte der Ehrlosen zu zerstören.“
Nach diesem Eide wird der Geweihte als „Gevatter“ begrüßt und hat die Ehre, der erste zu sein bei der nächsten von der Hauptversammlung beschlossenen Unternehmung.
Colacino berichtet noch mehr über die „Sprache“ der Verbündeten. Ist ein „Bruder“ in Gefahr, so ruft er: „Hundert hab’ ich durchgemacht und mit diesem hundertundeins!“ Hört ihn einer der Brüder, so muß er ihm Hilfe und Schutz angedeihen lassen. Um sich zu erkennen zu geben, dient die an den andern gerichtete Frage: „Habt Ihr ein Cigarrenstümpfchen? Mich schmerzt der Backenzahn.“ Die Antwort ist: „Ich hab’ eins.“
Oder das Gespräch nimmt folgenden Verlauf:
„Wie spät habt Ihr?“ – „Meine Uhr geht dreißig Minuten nach.“
„Seit wann geht sie so?“
„Seit dem 25. März.“
„Wo wart Ihr an jenem Tage?“
(Hier wird der Ort genannt, wo er eingeweiht wurde.)
„Wer war da?“
„Schöne Leute.“
„Zu wem betet Ihr?“
„Zu Sonne und Mond.“
„Wer ist Euer Gott?“
„Aremi“ – eigentlich „Oremi“, eine „Farbe“ im italienischen Kartenspiel, unserem „Schellen“ (Carreau) entsprechend.
Die Maffia hat ihre unmittelbaren Oberhäupter und ihre geheimen Beschützer, mittelbare Helfershelfer, die den Großhehlern im Brigantaggio entsprechen. Diese werden zu solchem Amte getrieben teils durch Furcht, teils durch Ehrgeiz, teils durch Bosheit oder durch all diese Gründe zusammengenommen. Sie gehören jener Klasse an, die ihren Einfluß gewinnt aus dem Namen und dem Reichtum, die voll leidenschaftlichen Ehrgeizes danach trachtet, die Uebermacht zu haben, die keine Beleidigung verträgt, sich grausam rächt und dabei auch einen unrechten Gewinn nicht verschmäht.
Wer auf Sicilien seine Ehre und seine Habe respektiert sehen will, muß eine bewaffnete Macht von einiger Bedeutung zur Verfügung haben und wissen und fühlen lassen, daß er sie hat. Dafür einige Beispiele in einem zweiten Artikel.
[78]
In welchem Reiche geht die Sonne nicht unter?
In meinem Reiche geht die Sonne nicht unter“ – fürwahr ein stolzes Wort, und zugleich der kühnste Traum aller hoffnungsvollen Kronprinzen. Zum erstenmale scheint der Ausdruck angewendet worden zu sein auf die einstige spanische Weltherrschaft, deren europäisch-amerikanisches Reich in der That eine Ausdehnung gewonnen hatte, die alles bisher Dagewesene in Schatten stellte. Ob aber die Gebietsteile der Spanier wirklich so lagen, daß jederzeit ein spanischer Unterthan die Sonne schauen konnte, wird neuerdings von den Gelehrten bezweifelt oder vielmehr widerlegt. Heutzutage dürften die Engländer die einzigen sein, die sich mit Recht der Unmöglichkeit eines Sonnenuntergangs in ihren Ländern rühmen können, wenn wir absehen von den unbedeutenden Besitzungen der Franzosen, Portugiesen etc., auf die näher einzugehen sich nicht lohnt. Denn wie wir weiterhin sehen werden, ist es unter Umständen ein sehr billiges Vergnügen, sich ewigen Sonnenscheins zu – erfreuen.
Derjenige Herrscher, der augenblicklich die ausgedehnteste zusammenhängende Ländermasse besitzt, ist der Selbstherrscher aller Reussen. Da der Wille des Zaren von der deutsch-russischen Grenze bis zur asiatisch-amerikanischen Meerenge gilt, so fehlt nicht viel, daß die Sonne, wenn sie in Polen untergeht, auf der Tschuktschen-Halbinsel aufgeht und, wenn sie den Tschuktschischen Robbenfängern ihren letzten Abschiedsgruß sendet, den Warschauern das Morgenrot zeigt. Vor einigen Jahrzehnten gehörte den Russen auch noch die nordamerikanische Halbinsel Alaska, die seitdem an die Vereinigten Staaten übergegangen ist. Damals erstreckte sich thatsächlich die russische Herrschaft über mehr als den halben Erdumfang in westöstlicher Richtung, über die Alte und die Neue Welt und durch nicht weniger als drei Weltteile in geschlossener Ländermasse. Aber selbst damals konnte man nicht sagen, daß die Sonne ihre Russen nicht verlasse. Nämlich – die Sache ist nicht so ganz einfach, weil die Sonne in ihrem Laufe zwischen den beiden Wendekreisen wechselt, nicht immer gerade über dem Aequator sich bewegt, oder mit anderen Worten: weil der Tag nicht immer und überall 12 Stunden währt, sondern schon in Deutschland zwischen etwas weniger als 8 und etwas mehr als 16 Stunden schwankt. Schon in der geographischen Breitenlage Deutschlands müßte daher ein Fürst über mindestens zwei Drittel des Erdumfangs (d. i. eines Parallelkreises) verfügen, um auch in den Wintermonaten zur Zeit der kürzesten Tage und längsten Nächte den Schein der Sonne nicht zu verlieren. Daher mußten die Russen selbst damals, als sie noch in Amerika saßen, während des Dezembers und Januars zeitweise auf die Sonne verzichten. Umgekehrt können sie auch heute im Juni noch immer behaupten, daß die Sonne auf irgend einen Russen scheine. Denn dazu gehören offenbar nur 120 Längengrade oder ein Drittel eines Parallelkreises.
Man kann schon daraus sehen, daß der Hauptwert hier weniger auf dem Praktischen als auf dem Theoretischen liegt. In jedem einzelnen Augenblicke beleuchtet die Sonne gerade eine bestimmte Halbkugel von der Erde, während die andere Halbkugel in dem Schatten der Nacht liegt. Faßt man daher zwei Punkte der Erdoberfläche ins Auge, die sich gerade gegenüberliegen, so wird stets der eine davon im Tageslicht, der andere im Nachtdunkel liegen, und wenn für den einen die Sonne untergeht, so geht sie für den andern gerade auf. Daraus ergiebt sich sofort die eigentümliche Thatsache, daß keine besonders ausgedehnten Ländergebiete nötig sind, um den Ruhm immerwährenden Lichtes zu erringen, sondern daß schon zwei Punkte dazu ausreichen. Wer sich zwei kleine Aecker an gerade entgegengesetzten Erdstellen kauft, darf sofort sagen: „Auf meinen Besitzungen geht die Sonne niemals unter!“ Denn in der That ist der Tag ununterbrochen, der Morgen der einen „Besitzung“ schließt sich unmittelbar an den Abend der zweiten.
Anderseits kann einer fast die halbe Welt besitzen, nämlich nahezu eine ganze Halbkugel, und er muß sich dennoch gefallen lassen, daß die Sonne, wenn auch nur auf kurze Zeit, nicht das mindeste Stückchen seines Reiches bescheint. So z. B. könnte ganz Amerika einen Staat bilden, ohne jenen stolzen Spruch auf sich anwenden zu können. Ja nicht einmal ein Herrscher könnte das, der ganz Europa, ganz Afrika, ganz Australien und fast ganz Asien, nur letzteres mit Ausnahme des kleinen östlichsten Teiles, besäße.
Aber auch damit ist die Zahl der Möglichkeiten oder auch nur der einfachsten Fälle noch nicht erschöpft. Es kann nämlich einer ein einziges zusammenhängendes Stück Land haben, das nicht einmal den zwanzigsten Teil der Erdoberfläche beträgt, und doch ununterbrochenen Sonnenschein. Dies ist nämlich der Fall, wenn man die Umgegend des Nordpols nimmt und dabei den Polarkreis etwas überschreitet, also etwa Island, Grönland und die nördlichsten Teile von Amerika, Europa und Asien, alles Landstrecken, die nahezu wertlos sind und es voraussichtlich in alle Ewigkeit auch bleiben werden. Auf diesem so umschriebenen Gebiete muß immer ein Fleck Sonne haben, deshalb, weil die Sonne niemals über den Südpol zu stehen kommt, was andere Planeten unseres Sonnensystems wirklich über sich ergehen lassen müssen. Bei einem richtigen Normalplaneten wandelt die Sonne stets nur über dem Aequator, ohne einen Schritt vom Wege nach Norden oder Süden abzuweichen. Dann würde schon das kleinste Grundstück auf nur einem der beiden Pole genügen, um sich unaufhörlich des Anblicks der Sonne erfreuen zu können. Allerdings würde man sie immer nur dicht am Horizonte schauen, so daß man wohl Licht hätte, aber schwerlich Wärme.
Auch Deutschland ist trotz seiner Kolonien in Ostafrika, Westafrika und in den australischen Inselfluren noch kein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht. Dazu würden noch Erwerbungen in Amerika nötig sein. Für die deutsche Zunge aber gilt die Wahrheit allerdings, denn sie erklingt in Chile, in Brasilien und in Nordamerika.
Ob England noch auf viele Jahre hin seine Machtstellung über
seine Kolonien und damit das Recht, jenes stolze Wort auf sich anzuwenden,
wird behaupten können, erscheint sehr fraglich. Denn immer
vernehmlicher und nachdrücklicher tönt es dem stolzen Albion entgegen:
„Amerika den Amerikanern,“ wie es die sogenannte Monroe-Doktrin
will. Kanadas Abfall scheint in der That nur noch eine Frage der Zeit
zu sein. Dann aber ist für John Bull die Zeit des Sonnenunterganges gekommen.
O. N.
Die Perle.
(4. Fortsetzung.)
Albrecht und Ilse schwiegen beide, als Kapitän Leupold sie allein gelassen hatte. Wenn man einander unendlich viel zu sagen hat, findet man schwer das erste Wort. Womit den Anfang machen? Wie das Uebermaß dessen, was auf unser Herz einstürmt, bewältigen? Sie sollten auf eine Zeit, die ihnen unglaublich lang erschien, Abschied voneinander nehmen; es konnte ein Abschied für immer sein. Die Verhältnisse lagen so ungünstig für sie, daß eine Vereinigung kaum denkbar, nur wie durch ein Wunder möglich erschien … und doch, wie glücklich sie aussahen, wie glücklich sie waren, diese beiden! Voll Entzücken ruhten Albrechts Blicke auf dem lieblichen Geschöpf, das er in seinen Armen, an seinem Herzen hielt. Wie viel Herrliches und Schönes hatte er auf seinen weiten Reisen schon gesehen – war sie nicht das Herrlichste, das Schönste? Und war diese wundersame Hülle nicht doch nebensächlich, wenn man ihr Herz kannte, das so treu, so lauter war? Mit einem raschen Kusse erwiderte Ilse seinen Blick. In ihrem starken festen Herzen lebte eine freudige Zuversicht, daß noch alles gut werden müsse, und wenn auch das Unglück ihrer Eltern und der Abschied ihre Seele bedrückten, so wollte sie das doch dem Geliebten nicht zeigen. Wenn sie ihm, der hinaus mußte auf das tückische Meer, in die Fremde, mit Thränen kam, mit Zittern und Bangen – war das nicht selbstsüchtig und feige von ihr? Und so lächelte sie ihn denn an mit ihren sonnigen Augen.
„Wie gut von Onkel Erich, daß er uns erlaubt hat, hierherzukommen! Er muß Dich sehr lieb haben.“
„Dich viel mehr, Liebling!“
Ilse schüttelte den Kopf. „Ich glaub’ es nicht. Die Frauen sind ihm weiter nichts als ein notwendiges Uebel.“
Albrecht warf den Kopf zurück, um anzudeuten, daß es gleichgültig sei, was der sonderbare alte Kauz über die Frauen im allgemeinen und über Ilse im besonderen denke, dann senkte er seine heißen dürstenden Lippen in das Goldhaar seiner Braut.
„Albrecht, wie soll das werden, wenn wir nun auf so lange Zeit voneinander getrennt sind?“
„Ich weiß nicht!“ Seine Stirn war gefurcht, er atmete schwer.
Sie strich ihm sanft mit der Hand über die Augen. „Es thut mir weh, Dich so zu sehen.“
Ein mühsames Lächeln verzog seine Lippen. „Verzeih’, Ilse! Ich will versuchen – versuchen … nun aber von Dir! Wie steht es daheim? Keine Aenderung zum Guten?“
„Zum Guten? Ach, wenn Du wüßtest!“
„Alles will ich und muß ich wissen.“
„Es geht zu Ende mit uns! Die ‚Perle‘ muß verkauft werden, die Mama –“
„Ilse – Geliebte … nicht weinen!“
„Nein, nein!“ Tapfer rang sie die aufsteigenden Thränen nieder. „Aber, Albrecht, sag’ – ist es nicht hart? Der arme Papa! Und Armin, der kein anderes Lebensziel, keinen anderen Wunsch hat, als einst die ‚Perle‘ zu bewirtschaften!“
„Und Du selbst, Ilse!“
„Ich! Bin ich nicht tausendfach glücklicher als sie alle? [79] Auch ich liebe die ‚Perle‘, aber hundertmal mehr noch hängt mein Herz an Dir!“
Er entgegnete nichts darauf, ihm war das Herz zu voll. Er konnte nur die Lippen und die Augen küssen, die ihm das sagten. „Und Du glaubst nicht,“ nahm er nach einer Weile das Wort, „daß jetzt, gerade jetzt der geeignete Zeitpunkt wäre, vor Deinen Vater zu treten und ihm zu sagen: hier ist ein Mann, der um Ihre Tochter wirbt, kein Millionär und kein Graf, aber einer, der sein Alles dransetzt, sie glücklich zu machen, dem nichts zu schwer und nichts zuviel ist für sie und die Ihrigen! Du glaubst nicht, daß es jetzt gut wäre, so zu sprechen? Du schüttelst den Kopf?“
Bittend faltete sie die Hände auf seiner Brust. „Ach, Liebster, wir müssen Geduld haben, müssen abwarten, wie sich alles gestaltet. Das ist schwer für mich, unendlich viel schwerer noch für Dich, den Mann, der sich sein Schicksal selbst schaffen möchte. Aber um meinetwillen, bitte, versuch’ es um meinetwillen, ruhig und geduldig zu sein! Ich kann es nicht über mich gewinnen, Leid um Leid auf den armen gebrochenen Papa zu häufen, und meine kranke Mama darf ich nicht verlassen, solange sie lebt – sie kann nicht ohne mich sein, ich weiß es! Der Arzt sagt, ihr Leben hänge an einem Faden; wie darf ich da ....“
„Sprich nicht weiter, Ilse! Du hast recht, ich muß versuchen, geduldig zu sein – um Deinetwillen! Darf ich doch den unerschütterlichen Glauben an Dich festhalten!“
„Das darfst Du, Albrecht! Ich danke Dir!“
Sie sahen einander tief in die Augen – da schlug die kleine helltönige Stehuhr die siebente Stunde. Ilse fuhr erschrocken zusammen und flüsterte: „Schon?“ Kamphausens Gesicht wurde trübe, seine Hand fuhr in eine Seitentasche seines Uniformrocks und brachte ein Sammettäschchen zum Vorschein, das er in Ilses Rechte legte. Fragend sah sie zu ihm auf.
„Es gehört Dir. Oeffne es nur!“
Innen, auf dem blauen Atlaspolster, lag eine feingegliederte Goldkette, daran ein Medaillon, in dessen Mitte ein einziger großer Brillant wie eine blitzende Thräne funkelte. Mit vorsichtigem Finger drückte Ilse auf den Deckel des Medaillons – Albrechts Züge, die den gewohnten, männlich kühnen Ausdruck trugen, blickten ihr aus der kostbaren Fassung entgegen.
„Albrecht – Du Lieber, Guter, wie soll ich Dir danken! Damit Du siehst, daß auch ich an Dich gedacht –“ sie zog ein Büchlein hervor, außen kunstvoll in Gold und Seide gestickt, die Innenseiten wiesen Ilses Photographie und eine Locke ihres Haares, die sorgsam mit Goldfäden befestigt war.
„Ilse!“ Kamphausen umschlang zärtlich die geliebte Gestalt. Im nächsten Augenblick jedoch ließ ein ingrimmiges Räuspern in der „Nebenkajüte“ die beiden auseinanderfahren. Mit schwerem wiegenden Tritt trat Kapitän Leupold ein. „Bitt’ unterthänigst um Vergebung! Komme, um meinem Fräulein Nichte etwas zu zeigen, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach interessieren wird. Komm’ ’mal her, Prinzeß Ilse, setz’ Dich neben mich – so! Ich werd’ Dich nicht beißen! – Uff!“
Er hatte einen ganzen Pack Land- und Seekarten unter dem Arm und ließ ihn jetzt schwer auf einen eichenen Arbeitstisch niederfallen – so ziemlich das einzige Möbel im ganzen „Achterdeck“, das kein ausländisches Gepräge an sich trug.
„Damit Du weißt, wo er bleibt, der Herzallerliebste! Da! Ich hab’ Dir seinen Kurs eingezeichnet und will Dir alles sagen. Wenn Du willst, schreib’ Dir’s auf!“
„Ob ich will! Das ist gut von Dir, Onkel!“
„Zu danken brauchst Du nicht, es geschieht bloß der Ordnung wegen, ’ne richtige Seemannsbraut, die muß doch wissen, woher und wohin – sonst taugt sie den Teufel ’was.“
Mit aufmerksamen Blicken folgte Ilse dem deutenden Finger des Alten und seinen Erklärungen. Er hatte alles am Schnürchen, zeigte, kramte allerlei Erinnerungen aus, während Ilse eifrig zuhörte und sich in ihrem kleinen Taschenbuch Notizen machte. Kamphausen warf hin und wieder ein erläuterndes Wort dazwischen, im ganzen war er schweigsam und ließ seinen alten Freund reden. Flüchtig, verstohlen streiften seine Lippen die Hand, das Haar, die Stirn seiner Geliebten. Ein paarmal schaute Leupold zufällig auf, wenn dies geschah, und eine herbe spöttische Grimasse legte Zeugnis von den Empfindungen ab, die ihn bei solchem Anblick bewegten.
Als die Belehrung beendet war und Ilse sich über das „Woher und Wohin“ ihres Verlobten gehörig unterrichtet zeigte, erhob sich der alte Kapitän schwerfällig, mit einem schmerzhaften Zucken des Gesichts – der Rheumatismus zwickte ihn trotz des schönen Frühjahrs tüchtig, was unfehlbar einen Umschlag der Witterung bedeuten mußte – packte seine Karten wieder zusammen und empfahl sich mit einem anzüglichen: „Viel Vergnügen, aber nur bis acht Uhr! Du weißt, Prinzeß Ilse, gleich nach Acht mußt Du pünktlich an Bord ... will sagen, bei Deinem Vater im Gasthof sein.“
Er ging ins Nebenzimmer, holte sich die neueste Reisebeschreibung hervor – er las viel, natürlich nur Bücher, die einigermaßen in sein „Fach“ schlugen – und vertiefte sich mit Eifer in die Seltsamkeiten, die der Verfasser, ein englischer Naturforscher, berichtete. Förmlich erschreckt fuhr er empor, als plötzlich die Thür, die zum „Achterdeck“ führte, ungestüm geöffnet wurde und Albrecht Kamphausen an ihm vorüberstürmte. Des jungen Mannes Gesicht war blaß, die Lippen hatte er fest zusammengepreßt und die Hand geballt. Die Augen glühten ihm wie im höchsten Zorn, und doch kämpfte er nur gegen die Thränen, die heiß aufquellenden Thränen. An seinem alten Freunde lief er vorüber, als sähe er ihn nicht, sein Blick ging wie drohend unter den finster gefurchtea Brauen in die Weite. Draußen angekommen, gab er mechanisch seinem „Korsar“ mit der Hand ein Zeichen, ihm zu folgen, und eilte mit fliegenden Schritten davon.
Erich Lenpold hatte keinen Versuch gemacht, Kamphausen zurückzuhalten; er wollte ihn ja morgen noch zum Bahnhof begleiten, und daß es heute, nach einem solchen Abschied, den Freund nicht mehr nach einem andern „vernünftigen“ Gespräch verlangte, das konnte sich der alte Seebär denken, wenn er es auch keineswegs billigte. Kopfschüttelnd setzte er sich aufs neue an seine Lektüre und wartete auf „Prinzeß Ilse“.
Es dauerte eine ganze Weile – sie kam nicht. Der Kapitän merkte endlich, daß er weiter und weiter las, ohne den Sinn der Worte zu fassen. Aergerlich warf er das Buch beiseite, horchte zum Nebenzimmer hin und „schlich“ sich dann „auf den Zehen“ zur Thür. Aber was der Kapitän „schleichen“ nannte, war immerhin noch ein so wuchtiger Schritt, daß die Dielen knarrten.
Die Thür zum „Achterdeck“ war halb offen geblieben, und durch den Spalt gewahrte Leupold, wie seine Nichte, hilflos auf einen Stuhl hingesunken, die Arme quer über die Platte des Eichentisches geworfen und das Gesicht darauf gelegt hatte. Goldene Sonnenstrahlen irrten über das schöne Haar und dies Haar zitterte und bebte, denn das Mädchen weinte, weinte leidenschaftlich und bitterlich, jetzt, da der Liebste von ihr gegangen, jetzt, da sie allein war.
Als sie das Kommen des Alten vernahm, richtete sie sich hastig empor, sah verwirrt um sich, wie wenn sie nicht recht wisse, wo sie sich befinde, und sagte dann mühsam, mit dem kläglichen Versuch, tapfer zu sein: „Verzeih’ mir, Onkel Erich!“
Der Angeredete hob die Achseln. „Du scheinst mich überhaupt für gar keinen Menschen anzusehen. Da es ’mal so weit kommen mußte, da er nun ’mal Dein Liebster ist und da es für Euch ’ne Trennung giebt, die vielleicht auf immer ist – so ist’s am Ende natürlich, daß Du“ – er wollte sagen: „heulst“, besann sich aber noch beizeiten und endigte: „daß Du in Thränen schwimmst. Wenn ich Dich aber daran erinnere, daß Dein Herr Papa im Gasthof sitzt und sich wahrscheinlich sehr über Dich wundert ... ich möchte nämlich nicht, daß er auf die Suche nach Dir ginge und Dich bei mir fände. Du weißt, mit Deinem Herrn Vater hab’ ich nun ’mal nichts im Leben zu teilen!“
Ilse erhob sich rasch. „Ich gehe, Onkel Erich. Du hast recht, wenn Papa Mißtrauen hat, wird uns das bißchen Glück in Zukunft noch viel schwerer gemacht. Also Du hältst Wort und vermittelst unsern Briefwechsel, und wenn Du etwas über Albrecht und das Schicksal der ‚Nixe‘ erfährst, dann läßt Du mich’s wissen – nicht wahr?“
„Was bleibt mir anderes übrig? Bin ich der Narr gewesen, solchen Unsinn zu versprechen, muß ich auch der Narr sein, es zu halten.“
„Tausend Dank, Onkel! Seh’ ich sehr verweint aus?“
„Und ob! Kein Wunder! Wenn man seinen Thränendrüsen soviel Arbeit giebt, setzt es allemal rote Augen!“
Sie hauchte hastig in ihr Taschentuch und führte es wiederholt an die Augen. Dann, mit einem schweren Seufzer, hielt sie dem Onkel die Hand zum Abschied hin.
„Willst Du das Ding da um den Hals behalten, damit Dein Herr Papa seine Freude dran hat?“ fragte der Kapitän und berührte mit einem Finger die neue Goldkette.
[80]
[81] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [82] „Um Gotteswillen, nein!“ Sie nestelte mit aufgeregt zitternden Händen die Kette los und verbarg sie samt dem Medaillon in ihrem Kleide. Einen schwermütigen Rundblick sandte sie noch durch den Raum, in dem er bis vor kurzem geweilt, in dem sie Abschied genommen hatte – dann klang die Thür, und sie war gegangen.
Ein paar stürmische und regnerische Tage waren gekommen ... Kapitän Leupolds Rheumatismus war doch ein guter Wetterprophet gewesen, „besser als irgend ein Laubfrosch“, wie sein Besitzer mit einem gewissen Stolz betonte. Heute zum erstenmal wieder versuchte die Sonne sich durchzukämpfen durch die grauen Schleier, welche das böse Wetter im Gefolge gehabt hatte. Zuweilen gelang es ihr auf einen Augenblick, aber zum rechten entscheidenden Sieg wollte es nicht kommen. Immer von neuem schoben sich Wolkenberge vor das leuchtende Auge der Sonne, das nur mit schüchternem Blinzeln zwischen den zusammengeballten Dunstmassen hervorsah. Die Blumen im Park und im Garten von Schloß „Perle“ ließen, schwer von Feuchtigkeit, die Köpfe hängen.
In den schönen luftigen Zimmern der Baronin sah es trübe aus. Die kranke Dame hatte seit jenem einen günstigen Tage das Bett nicht mehr verlassen; sie war verzagt und verstimmt und quälte ihre Umgebung mit hundert unausführbaren Wünschen und Einfällen.
Doßberg und seine Tochter saßen an ihrem Bett, das so bequem und praktisch wie nur möglich und aufs eleganteste mit blauen Seidenvorhängen, mit Spitzenüberwürfen und Schnitzereien ausgestattet war. Statuen, Büsten und Bilder, wie sie dem Geschmack der Baronin entsprachen, schmückten reichlich den hohen weiten Raum. Der Baron hielt zärtlich die feine schmale Hand der Gattin in seiner kräftigen Rechten und sah in das blasse Gesicht, das ihn dereinst so bezaubert hatte und ihn auch heute noch das Lieblichste auf Erden dünkte.
„Der Regen läßt gerade etwas nach. Was meinst Du, Elli, soll Ilse einmal rasch in den Garten hinunterlaufen und Dir ein paar frische Blumen holen?“
„Du bist merkwürdig, Hans Gottfried! Als ob ich an einem Tage wie heute den Blumenduft aushalten könnte! Immer und immer kommt Ihr mir mit Blumen – beinahe wie um mich damit zu reizen!“
„Verzeih’, meine arme Elli!“
„Wie soll ich Dir nicht verzeihen – Du meinst es ja gut! Aber Menschen, die immer gesund sind, die haben klug reden. Ilse, die Erdbeerlimonade!“
Ilse hatte bisher stumm am Kopfende des Bettes gesessen, mit aufgelösten Haaren, wie es ihre Mutter verlangt hatte. Mit einem freundlichen: „Hier, Mama!“ reichte sie jetzt der Kranken das Glas mit der Limonade und hielt es ihr geschickt zum Trinken hin.
„Danke! Nein, nein – ich will nichts mehr. Sieh mich doch an, Kind! Wenn ich nur wüßte, was das mit Dir ist! Und mit Papa auch! Alle beide seid Ihr verändert, alle beide!“
„O Mama, das kommt Dir so vor, weil Du krank bist.“
„Ja, krank bin ich – Gott sei’s geklagt, aber darum hab’ ich doch noch meinen Verstand! Ich merke ganz gut, daß Ilse ihren Frohsinn verloren hat, und daß Du, Hans Gottfried, sehr verstimmt aussiehst. Was in aller Welt kann Euch begegnet sein? Zwei gesunde, glückliche Menschen wie Ihr, die Ihr keine Krankheit, keine Sorge kennt ... oder wäre es mit mir schlimmer geworden und Ihr wollt es mir nicht sagen?“
„Liebe Elli, welcher Einfall!“
„Kein Gedanke daran, Mama!“
Die kranke Frau ließ beruhigt den erhobenen Kopf sinken. „Aber was ist es sonst, was kann es sein? Macht Armin etwa Dummheiten? Sein letztes Zeugnis war doch recht gut!“
„Armin ist ganz brav. Reg’ Dich nicht auf, mein Kind, und sprich nicht so viel!“
„Reden schadet mir gar nichts. Stillliegen und Denken ist viel schlechter. – Apropos, ich hab’, um Ilse zu erfreuen, durch Lina von unserem Pariser Lieferanten eines von diesen entzückenden weißen Tuchkleidern verschreiben lassen, wie sie jetzt getragen werden – sie sind in allen drei Modezeitungen, die ich mir halte, zu finden. Wär’ ich gesund, gleich schaffte ich mir solch ein Kostüm an; Weiß stand mir ja so gut, nicht wahr, Hans Gottfried? Nun muß Ilse es haben – es wird sie reizend kleiden – mit feiner Goldstickerei. Freilich ist es eine fabelhaft kostbare Mode, aber Papa bezahlt ja gern ein hübsches Kleid für sein Prinzeßchen – nicht so, Liebster?“
„Natürlich, mein Herz!“
Ilse gab ihrem Vater einen Wink mit den Augen, den er verstand. Lina hatte ganz gehorsam auf Wunsch der Baronin und in deren Beisein geschrieben, aber der Brief war nicht abgegangen. Das wurde in den meisten Fällen so gemacht. Die Baronin hatte nur noch ein schlechtes Gedächtnis; sie vergaß oft schon am nächsten Tag, was sie am vorhergehenden gewünscht hatte, und erinnerte sie sich je einmal einer derartigen Sache, so war es nicht schwer, sie zu vertrösten oder irgend eine Ausflucht zu ersinnen, welche die Erfüllung ihres Wunsches in Frage stellte.
„Noch etwas anderes hab’ ich mir ausgedacht in der langen schlaflosen Nacht,“ fuhr die Baronin fort. „Ilse reitet schon seit undenklichen Zeiten nie mehr vor meinen Fenstern Parade, und das war doch so hübsch früher, ich sah es so gern, denn es zerstreute mich. Taugt Deine ‚Fatime‘ am Ende nichts mehr, mein Kind? Ist sie steif geworden? Papa wird Dir gewiß ein neues Reitpferd anschaffen, ich denke, eine Rappstute – was meinst Du, lieber Freund? Oder ist ‚Fatime‘ noch zu gebrauchen? Was ist denn aus ihr geworden?“
Ja, was war aus „Fatime“ geworden, aus der reizenden arabischen Schimmelstute mit dem kleinen, fein geformten Kopf und der langen Seidenmähne? Sie war tadellos gewesen, ein kluges Tier, das seine junge Herrin an der Stimme kannte, den Kopf herumwarf und die rosafarbenen Nüstern blähte, sobald Ilse es beim Namen rief. Als vor einigen Monaten Baron Doßberg zögernd und traurig zu seiner Tochter gekommen war und ihr gesagt hatte, er müsse sich eine Zeitlang einschränken, und sie alle, mit Ausnahme der „armen Mama“ natürlich, hätten Opfer zu bringen – der Bestand seiner Rassepferde repräsentiere eine hohe Summe und auch für „Fatime“ sei ihm ein schönes Angebot gemacht worden ... da war Ilse äußerlich ganz tapfer gewesen. Sie war dem Papa um den Hals gefallen, hatte ihn gestreichelt und getröstet, bis ein mattes Lächeln auf seinem Gesicht erschienen war. Aber als er nachher in sein Zimmer ging, da sah sich Ilse scheu um, ob sie niemand beobachtete, und schlich sich dann auf Umwegen sachte in den Pferdestall. Dort wieherte „Fatime“ ihr erwartungsvoll entgegen, und das junge Mädchen faßte das edle Tier mit beiden Armen um den Hals und fing bitterlich an zu schluchzen. Sie war eine leidenschaftliche Reiterin, sie kannte kaum ein größeres Vergnügen als das, auf „Fatimes“ Rücken durch Wald und Feld zu schweifen, jetzt in beschaulichem Schritt, in allerlei Zukunftsgedanken versunken, jetzt in schlankem Trab über eine Brücke, ein Stück Landstraße, nun im verwegensten Galopp eine Hecke, einen Graben nehmend – „Fatime“ federkräftig, wie der Pfeil von der Sehne schnellt, hinüberfliegend, die Reiterin mit freudigem Zuruf sich im Sattel hebend, die Brust von Mut und Unternehmungslust geschwellt ... wie schön, o wie schön das war!
All diese Gedanken gingen Ilse blitzschnell durch den Sinn, während sie anscheinend gelassen erwiderte. „Ein neues Reitpferd für mich? Ach nein, Mütterchen, das ist nicht nötig! Der ‚Fatime‘ geht es sehr gut, sie ist noch dasselbe schöne kräftige Tier wie früher!“
Das war keine Lüge, denn einer der Gutsnachbarn Doßbergs hatte die Stute gekauft und hielt sie gut.
„Dann ist’s recht, dann kann ich meine Ilse bald wieder als elegante Reiterin bewundern!“
Es klopfte leise an die Thür; Lina meldete, es sei Besuch für den Herrn Baron gekommen. Doßberg erhob sich unruhig und vermied es, Frau und Tochter anzusehen. „Ich bin leider genötigt, Dich zu verlassen liebste Elli, Du wirst entschuldigen. Es handelt sich um geschäftliche Angelegenheiten –“
„So geh’ nur, geh’, Hans Gottfried, und komm’ mir ums Himmelswillen nicht mit Deinen schrecklichen Geschäftssachen! Und Du kannst Ilse gleich mit Dir nehmen, ich bin doch etwas ermüdet vom Sprechen und kann vielleicht ein Stündchen schlafen. Lina bleibt hier.“
Der Baron und Ilse stiegen stumm nebeneinander die Treppe hinab. Unten wartete Fink, der einzige noch übrige Diener des Hauses, mit einer silbernen Tablette, auf der drei Visitenkarten lagen. „Ich habe die Herren ins Arbeitszimmer geführt, Herr Baron!“
„Ganz recht, Fink!“
Ilse warf einen raschen Blick auf die Karten; zwei davon trugen bekannte Namen: „Sorau, Justizrat“ und „C. F. Melchior, [83] Landrat“. Auf der dritten Karte war eine siebenzackige Krone zu sehen, darunter der Name: „E. de Montrose.“
„Wohin gehst Du, Ilse?“
„Ich wollte in den Garten, Papa, um Blumen zu holen für mein Zimmer und für den Speisesaal. Oder wünschest Du, daß ich mich ganz zurückziehe?“
„Behüte, Kind, behüte – mach’s, wie Du willst, ganz wie Du willst!“ Doßberg sprach erregt und abgebrochen. „Das heißt – ich meine – wir werden wohl ausfahren. Sage Fink, er soll den Jagdwagen einstweilen anspannen lassen, und wenn wir zurückkehren, soll ein Frühstück in meinem Zimmer serviert werden – nein, nein, nicht im Speisesaal, bei mir!“
„Schön, Papa!“
„Und Deine Blumen – ja, Kind. wär’ es nicht besser, Du ließest sie doch noch einstweilen? Man könnte vielleicht den Garten sehen wollen – und ich, ich weiß nicht –“
„Aber gewiß, das eilt ja gar nicht! Also auf Wiedersehen, liebster Papa – und – und kaltes Blut!“
Doßberg lächelte schmerzlich; Ilse küßte ihn eilig auf die Stirn und verschwand dann in der Tiefe der Vorhalle.
Das Arbeitszimmer des Barons war ein großer Raum mit schön gewölbter Decke, die eichene Ausstattung ernst und gediegen. Der große Gewehrschrank in der Ecke, der früher die kostbarsten Schußwaffen enthalten hatte, war jetzt fast leer; eine aus prachtvollen alten Schilden und Waffen zuammengestellte Trophäe, die früher die Mittelwand geziert hatte, fehlte gleichfalls – ein Sammler hatte bemerkenswert hohe Preise für beides gezahlt.
Von den drei Herren, die den Baron erwarteten, hatte sich’s nur ein einziger bequem gemacht; er saß oder lag vielmehr in einem der tiefen braunen Ledersessel, die zu beiden Seiten des großen Sofas standen. Der joviale etwas beleibte Landrat Melchior liebte es nicht, sich zu „strapazieren“, die lange Fahrt war ihm nicht gerade gemütlich gewesen, daher dehnte er seine Glieder jetzt in ungeniertester Weise und gähnte ein paarmal herzhaft, worauf er freilich jedesmal ein: „Pardon, meine Herren!“ folgen ließ. Justizrat Sorau, ein jüngerer Mann mit üppigem Bart und einem bedenklich gelichteten Haupthaar, klein, beweglich, mit liebenswürdigen Formen, verfehlte dann nie, ein verbindliches: „Bitte, bitte, mein lieber Landrat!“ hören zu lassen, während sein Nebenmann sich ganz teilnahmlos verhielt.
Es war dies ein großgewachsener, gewählt gekleideter Herr, anscheinend in der Mitte der Fünfzig, ein wenig hager, ein wenig steif in der Haltung, aber offenbar vornehm und nicht uninteressant aussehend. Haar und Bart, sehr dunkel und nur leicht mit Grau durchsetzt, waren sorgsam gepflegt, desgleichen die auffallend schönen schmalen Hände, von deren einer er den Handschuh abgestreift hatte. Das Gesicht hatte einen kalten und hochmütigen Ausdruck, sobald die Augen gesenkt waren. Hoben sich aber die Lider und entschleierten die grauen Augen, so war der Eindruck ein anderer. Es war ein Paar merkwürdiger Augen, ausdrucksfähig und tief – sie konnten einen Zwang ausüben, den schon mancher als lästig, mancher als fesselnd empfunden hatte; in sie hineinsehen, ohne irgend eine Wirkung dabei zu spüren, das konnte schwerlich jemand. Herr von Montrose hob aber selten die Lider ganz, meistens zeigten seine Augen einen verschleierten Blick, so auch jetzt, da er stumm neben dem Justizrat stand und auf dessen lebhafte Bemerkungen nur ab und zu durch eine leichte Kopfbewegung antwortete.(Fortsetzung folgt.)
Blätter und Blüten.
Professor Heinrich Hertz †. Das Jahr 1894 hat gleich zu seinem Beginn in die Reihe der deutschen Naturforscher eine schwere Lücke gerissen. Am Neujahrstage starb zu Bonn der Professor der Physik Heinrich Hertz, noch nicht ganz 37 Jahre alt, der Mann, dessen Forschergeist es gelang, das Wesen jener geheimnisvollen Kraft zu erfassen, nach der man so gerne unser Zeitalter zu benennen pflegt, der Elektricität.
Man wußte schon längere Zeit, daß die Licht- und Wärmestrahlen sich in Form von Wellenbewegungen oder Schwingungen einer feinen durch den ganzen Weltraum verteilten Substanz (gewöhnlich „Aether“ genannt) fortpflanzen; dem Rätsel der elektrischen und magnetischen Fernwirkungen dagegen stand man noch zweifelnd und tastend gegenüber. Wohl hatte der englische Physiker Maxwell vor 30 Jahren aus theoretischen Erwägungen geschlossen, daß auch die Elektricitat auf solchen Schwingungen beruhe, aber es fehlte der Beweis, und Maxwells Lehre fand ebensoviele Gegner wie Anhänger. Hertz ist es gewesen, der die so überaus schwierige Aufgabe gelöst, den Zusammenhang zwischen Licht und Wärme einerseits, Elektricität und Magnetismus anderseits durch Versuche bewiesen und damit die Einheit zweier bisher als verschieden betrachteter Gruppen von Naturerscheinungen dargethan hat.
Durch diese That hat sich Hertz mit einem Schlage in die erste Linie unter den Naturforschern aller Kulturvölker gestellt. Und doch war er damals, als er seine grundlegenden Untersuchungen ans Licht der Oeffentlichkeit brachte, noch nicht einmal ganz 32 Jahre alt! Am 22. Februar 1857 zu Hamburg geboren, hatte er erst dem Baufach sich gewidmet, dann aber mehr und mehr in mathematische und physikalische Studien sich versenkt, so daß er schließlich den praktischen Beruf aufgab, um sich ganz seiner Wissenschaft zu widmen. Nachdem er in Berlin als Assistent von Helmholtz tiefgreifende Anregung erfahren, ließ er sich in Kiel als Privatdocent nieder, wurde dann Professor an der Technischen Hochschule zu Karlsruhe, von wo er 1889 an die Universität Bonn berufen wurde. Wie viel hätte man von seiner so überaus glänzenden Begabung noch erwarten dürfen! Aber es hat nicht sein sollen! Ein schweres Leiden, das ihn seit langem quälte, hat seinem Wirken ein schmerzlich frühes Ziel gesetzt.
Der neue Bühnenvorhang im „Malkasten“ zu Düsseldorf. (Zu dem Bilde S. 80 und 81.) Ende des Jahres haben die Leser mit uns dem „Malkasten“ einen Besuch abgestattet, seinen Garten bewundert und bei einer Festbowle die hervorragenden Mitglieder der Düsseldorfer Künstlervereinigung kennengelernt. Der Festsaal, in welchem jene Bowle und seitdem wohl noch manche andere getrunken ward, besitzt auch eine Bühne für scenische Darstellungen, und für diese Bühnne hat Karl Gehrts einen neuen Vorhang gemalt, der, selbst ein Kunstwerk ersten Ranges, würdig ist, ein Künstlerhaus wie den „Malkasten“ zu schmücken. Die ideale Frauengestalt in der Mitte ist der Genius der Kunst, der Künstlerpoesie. Mürrische Verdrießlichkeit wird nicht geduldet in ihrem Reich, darauf deutet der mit der Schalksnarrenkappe geschmückte Putto, der einen Kauz mit schwanker Gerte neckt. Ueber dieser Gruppe treibt ein reizvolles Amorettenvölkchen in der Luft sein Spiel mit den Gerätschaften der Malerei. Im Hintergrunde schwebt der Elfenreigen, der bei keinem Gartenfeste des „Malkastens“ fehlt. Links in der Ecke ein Paar in vertraulicher Zwiesprach: es ist die Düsselnixe, die einen fleißigen Maler mahnt, des Tages Arbeit zu schließen und sich der frohen Geselligkeit hinzugeben. Ihnen gegenüber wird mit Klarinette und Gießkanne Musik gemacht – zu welcher Zeit auch solche Töne im Malkasten vernommen werden, das verrät die zurückgestülpte Karnevalsmaske auf dem Haupte des einen der lustigen Musikanten. In ihrer Nähe ruft uns ein trinkfröhlicher bierkrugbewaffneter Genius ein kräftiges „Prosit“ zu. Die landschaftliche Scenerie des Ganzen aber vergegenwärtigt den berühmten Garten, den Stolz und den sommerlichen Haupttummelplatz der Malkästner, durchströmt von der munteren Düssel. Eine üppige Borte von Blumen und Früchten umrandet diese Gebilde echter Künstlerromantik, darüber grüßt von einem Spruchband die durch ihre sonderbare sprachliche Form auffallende Losung des „Malkastens“ „Ich komme doch durch komme ich doch“, während unten das Wappen des Vereins mit Bierkrug und Hausschlüssel angebracht ist.
Der Künstlerhumor zeitigt bekanntlich manch glücklichen Bühnenscherz, und die Düsseldorfer Malkästner sind besonders berühmt um ihrer mimischen Leistungen willen. Das ist aber von jetzt an besonders in der Ordnung. Denn ein so schöner Vorhang verpflichtet die Darsteller, vor denen er sich hebt und senkt, zu ganz besonderen Anstrengungen.
Fastnacht. (Zu unserer Kunstbeilage und dem Bilde S. 73.) Die Schellenkappe aufs Haupt und die Maske vors Gesicht, damit man die Lichtungen und die grauen Fäden in deinem Haare nicht sieht und nicht merkt, wie ernst du bist, Welt! Nur einmal weg mit dem ewigen Rechnen und Sorgen und Streben und Grübeln, einmal im Jahr magst du dir’s gönnen, so recht von Herzen leichten Sinnes zu sein und dich im Strudel tollen Humors gesund und frisch zu baden! Karneval, lustiger Eintagsprinz,
[84] schüttle dein Scepter, laß die Glöckchen erklingen. daß die Völker verzaubert dir folgen wie die Kinder von Hameln dem pfeifenden Rattenfänger! Bald ist Mitternacht da – und deine nächtliche Sonne neigt zum Untergange. Mit der Losung: „Demaskiert!“ klopft der nahende Aschermittwoch ans Thor, darum nütze die Stunde!
„Demaskiert!“ Erschöpft von so viel Lustigkeit und doch noch erwärmt von dem Feuer unverwüstlicher Heiterkeit. hat die anmutige Pierette, die unsere Kunstbeilage darstellt, in einer stilleren Ecke des Ballsaals auf ein Stühlchen sich niedergelassen und die Halbmaske vom Gesicht genommen Vergnügt schaut sie uns aus dunklen Schelmenaugen an, als wollte sie fragen: „Bin ich nicht hübsch so?“
Aber noch ist der Strudel des Festes nicht ganz zu Ende. Wem’s im Ballsaal zu heiß ward, der sucht sich in irgend einem Café Erholung und – Fortsetzung des karnevalistischen Ulks. Max Ebersberger führt uns mit seinem Bilde „Nach der Redoute“ in die weiten glänzenden Räume des Café Wittelsbach zu München. Dort wie in den andern großen Cafés der Isarstadt ist bis in den Morgen hinein zahlreiches Maskenvolk versammelt, um sich an einem Täßchen Kaffee oder einem stärkeren Getränke zu erlaben. Nur einzelne Herren tragen den steifen ceremoniellen schwarzen Frack, einer von ihnen, dem es passiert ist, daß er nach des Tages Last und Hitze auf seinem Stuhle in sanften Schlummer versank, muß es sich dafür auch gefallen lassen, daß sein wohlfrisiertes Haupt von einem übermütigen Harlekin mit der Clownmütze verziert wird, während der Cylinder auf das Haupt des Hanswursts wandert.
Das ist so Karnevalsrecht und Karnevalssitte, deren oberster Grundsatz, also lautet: „Es wird nichts übelgenommen!“
Und die Menschheit führe gar nicht so schlecht dabei, wenn sie von diesem Grundsatz ein bißchen mehr ins graue Leben der Alltäglichkeit hinübernähme.
Zwei Orang-Utans von der Insel Borneo. (Zu dem Bilde S. 77.). Wie oft hatte ich schon lebende Orang-Utans gesehen und wie gut glaubte ich das Tier zu kennen! Aber wie war ich verblüfft, als ich im Dezember vorigen Jahres in Brüssel zwei erwachsene alte Orang-Utans aus Borneo sah, welche dort gezeigt wurden! Diese Größe (1,44 und 1,39 m), solch langzottiges Fell, und vor allem diese mächtigen Köpfe mit den grau-schwarzen Gesichtern und den fabelhaften Backenwülsten, das war mir allerdings etwas ganz Ueberraschendes, ein neuer Beweis, wie wenig oft ein junges Tier das Bild des erwachsenen giebt.
Ein Bremer Lloyddampfer hatte diese mächtigen Affen gebracht. Der Schiffsoffizier, der sie in Ostindien erworben, hatte schon von Suez aus an verschiedene Leute die Kunde telegraphiert und daß der Dampfer auf der weiteren Rückreise an einem bestimmten Tage in Genua anlegen werde. Von allen Benachrichtigten war nur Herr Pinkert, der Inhaber des Leipziger zoologischen Gartens, dort, und jeder, der die Affen gesehen, wird es begreifen, daß er dieselben sofort kaufte. Die Uebernahme wurde für Antwerpen ausgemacht, von dort wanderten die Tiere zunächst nach Brüssel zur Ausstellung in dem Museum Castan, und dorthin wurden auch die großen eisernen Käfige gebracht, welche der Besitzer vorher schon in Leipzig bestellt hatte. Zwei Käfige, denn die gewaltigen Tiere, zwei erwachsene Männchen, von denen besonders das eine als sehr bösartig erkannt war, würden sich in einem Käfig sicher nicht vertragen haben.
Ich gestehe, daß mich ein unheimliches Gefühl beschlich, als ich, von dem Besitzer nach Brüssel eingeladen, dort den dämonischen Gestalten näher trat. Denn in der That, wie stumme, grimme gefangene Dämonen mußten sie dem Beschauer erscheinen. Besonders der jüngere, aber bösartigere Affe hatte, wenn er mit feindseligen Blicken und fletschenden Zähnen nach dem Nahenden sah und dann blitzschnell mit der gewaltigen Hand aus dem Gitter auf denselben losfuhr, etwa Grauenerregendes. Sein gewaltiges, noch gelbweißes Gebiß mit den mächtigen Eckzähnen wäre sicher imstande gewesen, einen menschlichen Arm zu zersplittern. Der andere wurde von dem Brüsseler Naturforscher de Pauw auf wenigstens 50 Jahre geschätzt; er verriet sein großes Alter nicht bloß durch sein schon ganz braunes Gebiß mit schwarzen Rändern, sondern auch durch die mächtigen Backenwülste, die dem Gesicht einen nicht mit Worten zu schildernden Anblick verleihen. Diese Backenwülste sind bei dem anderen Orang erst in der Entwicklung. Sie fehlen ganz dem Orang-Utan von Sumatra, der mit seinen Borneo-Vettern nur die große Brustwamme gemein hat. Noch auf ein Menge beachtenswerter Eigenschaften dieser zwei Tiere wäre hinzuweisen, z. B. auf die bei der übermäßigen Entwicklung des Oberkörpers offenbare Unmöglichkeit, aufrecht zu gehen, auf ihre merkwürdige Behaarung, ihre Nackenentwicklung, ihre Rechtshändigkeit etc.; aber das Gesagte dürfte im Verein mit dem Bild schon hinreichen, diese Affen nach ihrer ganzen absonderlichen Erscheinung als eine der größten nach Europa gekommenen Merkwürdigkeiten aus dem Tierreich zu kennzeichnen.
Leider ist der eine, der ältere von ihnen, vor kurzem in Paris verendet, wohin das Paar zu weiterer Schaustellung gebracht worden war. H. L.
„Die Frauenkleidung vom Standpunkt der Hygieine“. Mit beredten überzeugenden Worten weist die approbierte Aerztin Anna Kuhnow in einer kleinen, diesen Titel führenden Schrift (Hobbing, Leipzig) wieder einmal die Schädlichkeiten der verschiedenen pressenden Kleidungsstücke, vor allem des Korsetts, nach und sucht die Frauen von der unzweifelhaften Thatsache zu überzeugen, daß ein schlanker Wuchs das alles nicht braucht, ein starker aber durch Schnüren nicht schlank wird. Wenn man die Schilderung der vielen Leiden und Verbildungen liest, die alle dem Korsett zuzuschreiben sind, so versucht man unwillkürlich, sich die Frauenwelt einmal ohne dieses unglückselige „Kleidungstück“ vorzustellen. Schwer würde dessen Abschaffung allerdings durchzusetzen sein, unmöglich aber ist sie nicht. Thatsächlich tragen heute schon viele Mädchen und Frauen, und nicht zum Nachteil ihrer Erscheinung, gar keines oder ein „Reformkorsett“, das den festen Kleidersitz mit Bewegungsfreiheit für die inneren Organe vereinigt. Nähere Auskunft über dieses, von der Verfasserin warm empfohlene Korsett wird auf Anfrage von ihr selbst (Leipzig, Ranstädtersteinweg 13) gern erteilt. Ihr sehr gut und vernünftig geschriebenes Buch sollten Mütter und Erzieherinnen mit besonderer Aufmerksamkeit lesen. Bn.
Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (4. Fortsetzung). S. 69. – Zur Schlittschuhbahn. Bild. S. 69. – Nach der Redoute. Bild. S. 73. – Auf vulkanischem Boden. Zeitbilder aus Sicilien von Woldemar Kaden. I. S. 74. – Zwei Orang-Utans von der Insel Borneo. Bild. S. 77. – In welchem Reiche geht die Sonne nicht unter? S. 78. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (4. Fortsetzung). S. 78. – Der neue Bühnenvorhang im „Malkasten“ zu Düsseldorf. Bild. S. 80 und 81. – Blätter und Blüten: Professor Heinrich Hertz †. Mit Bildnis. S. 83. – Der neue Bühnenvorhang im „Malkasten“ zu Düsseldorf. S. 83. (Zu dem Bilde S. 80 und 81.) – Fastnacht. (Zu unserer Kunstbeilage und dem Bilde S. 73.) S. 83. – Zwei Orang-Utans von der Insel Borneo. S. 84. (Zu dem Bilde S. 77.) – „Die Frauenkleidung vom Standpunkt der Hygieine“. S. 84.
- ↑ Dünn gegerbte Netzhaut.
- ↑ August.
- ↑ ködern.
- ↑ Steinwild.
- ↑ Das Wort „Maffia“ findet sich im italienischen Wörterbuch und bedeutet „Elend, Unglück“. Aber das sicilianische „Maffia“ hat damit nichts zu thun, es ist ein Dialektwort von einer ursprünglich durchaus guten Bedeutung. In Palermo nannte man, ehe die Bedeutung sich so auf die schlimme Seite verschoben, ein nettes, sich in Kleidung. Gang und Haltung auszeichnendes Mädchen „maffiusa, maffiusedda“, ebenso war ein sauberes, freundliches Häuschen, das die Blicke auf sich lenkte, „maffiusedda, ammaffiata“, ja ein in die Augen fallendes hübsches Hausgerät war „maffiusa“, selbst Früchte und Besen wurden auf den Straßen als „maftiusi“ ausgerufen. So erzählt der Sicilianer Luigi Capuana. So wurde also mit dem Worte „Maffia“ die Idee von etwas Hübschem, sich aus dem gewöhnlichen Hervorhebenden verbunden, und wandte man es auf den „Mann“ an, so wollte es sagen: „Bewußtsein, Mann zu sein, Sicherheit des Geistes, Kühnheit“, nie aber „Prahlerei, Frechheit, Verwegenheit“ – gerade wie unser „schlecht“ ursprünglich „schlicht, grad, einfach, klar, sanft, freundlich“ bedeutete und erst in seiner Weiterentwicklung den schlimmen Sinn erhielt. So nahm das Wort „Maffia“ von 1800 ab seine böse Bedeutung an und behielt sie nach dem Drama eines gewissen Rizzotto: „I Maffiusi di la vicaria“, das in packend geschriebenen Scenen das Leben und Treiben der palermitanischen Camorristen schilderte. Bonfadini bestimmt die Maffia von heute so: „Die Maffia ist nicht durchaus eine genau präcisierte Geheimgesellschaft, sondern die Entwicklung und die Vervollkommnung der Gewaltthätigkeit, der das Böse Zweck und Absicht ist. Sie ist die instinktive, brutale, interessierte Solidarität, die zum Schaden des Staates, der Gesetze und der geregelten Organismen alle jene Individuen und socialen Schichten vereint, die es lieben, ihre Existenz und ihr Wohlbehagen nicht aus der Arbeit, sondern aus der Vergewaltigung. dem Betruge und der Einschüchterung zu ziehen.“ Die Maffia steht somit als eine gesetzlose Masse zwischen den großen Grundbesitzern und dem arbeitenden Volke mitten inne, beide gleichermaßen vergewaltigend und aussaugend. Die „fasci dei lavoratori“, die Arbeiter- und Bauernbünde, welche neuerdings auf Sicilien zu so großer Bedeutung gelangt sind, richten ihre Spitze sowohl gegen die Maffia als gegen den Großbodenbesitz, sie sind gleichsam eine Gegen-Maffia.
- ↑ Truck = Tausch. Der Arbeiter wird nicht in barem Geld, sondern in Naturalien u. a. abgelohnt.
- ↑ Deutsch von W. Kaden in „Sonnenbrut“, Dresden 1887.