Die Gartenlaube (1894)/Heft 4

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 4.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(3. Fortsetzung.)
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.


6.

Die Sonne tauchte hinter die Berge, alle Lüfte mit gelbem Schimmer füllend und das ziehende Gewölk verbrämend mit grellem Glanz. Ein langer Schatten schlich von den Gehängen hernieder und glitt über Hügel und Thäler, bis er den Schönsee erreichte. Da konnte er nimmer weiter dringen, denn der Falkenstein, über dem sich Wazemanns Haus erhob, versperrte ihm den Weg mit der kahlen Felswand, welche sich weit hineinschob in den See, von ihm einen kreisförmigen Weiher abschneidend gleich einem bescheidenen Flur vor dem großen Prunkgemach. Glatt und mit blaßgrünem Schimmer, die Felswand und über ihr das steile Dach von Wazemanns Haus und seine plumpe Ringmauer spiegelnd, lag die durchsichtige Flut über seichtem und sandigem Grunde. Von allen Seiten trat der Wald bis an das Ufer heran und ließ nur eine schmale Lände frei. Auf Steinwurfweite zog sich dichtes

Das Regierungsgebäude in Kamerun mit dem Grab Gustav Nachtigals.
Nach einer Originalzeichnung von F. Leuschner.

[54] Schilf in den Weiher und dunkles Röhricht umschloß auch die kleine Insel, welche, der Falkenwand zu Füßen, den Eingang in den See verschloß. Träumende Schattenstille lag über dem Weiher. Nur die zwischen dünnerem Schilf dem See entströmende Ache rauschte eintönig, und zuweilen klang, von Wazemanns Haus herunter, ein gellender Pfauenschrei oder das heisere Gekläff der Hunde.

In der Ecke zwischen See und Ache erhob sich aus dem Waldgrund ein freier Hügel, welcher rings um den Fuß von hohem Hag umzogen war. Nur wenige Bäume standen auf dem Hügel, aller übrige Grund war blumige Wiese; hier schwang ein Knecht die Sense, und eine Magd raffte das gefallene Gras in ein Stück Netz und trug es auf dem Kopf in den niederen Stall. Zwischen Stall und Wohnhaus lag ein ebener Platz, auf welchem die Geräte zum Fischfang unter einem langgestreckten Dächlein an Stangen hingen. Das Wohnhaus war aus mächtigen, vor Alter schon grau gewordenen Balken gefügt, plump und schmucklos, nach der Seeseite blickte die offene Thür; vor ihr war ein breiter Gang mit groben Felsplatten gepflastert, und ihr zu beiden Seiten zogen sich schwer gezimmerte Bänke an der Wand entlang. Ueber der Thüre, in einer Runse des Gebälkes, staken dürre Kräuter und Stäudlein, die „Heilbuschen“, welche das Haus vor Blitzschlag bewahren und die bösen Geister von der Schwelle scheuchen sollten. Unter den Bänken lagen die aus Weidenruten geflochtenen Fischreusen, die „Burden“, darüber waren zwei Fischgeier mit ausgespannten Flügeln und eine lange Reihe eingeschrumpfter Fischotterköpfe an die Wand genagelt.

Nah vor der Thüre war der Brunnen gegraben, ein Flechtwerk umzog den offenen Schacht, und unter einem Dächlein war die Winde angebracht, mit welcher der Eimer an dickem Hanfseil gesenkt und gehoben wurde. Nicht weit davon – wo der Hügel sich gegen die Lände senkte – stand eine Gruppe von sieben Eichen; die größte, zwischen deren knorrigen Wurzeln ein eckig behauener Stein hervorragte, mochte wohl zweihundert Jahre zählen, während die jüngste nur erst ein kleines Bäumlein war, kaum über die fünfzehn Jahr’ alt. Von den Eichen führte ein aus Balken und Aesten gefügtes Gerüst über den Abfall des Hügels hinüber zur Höhe des Hags, ein luftiger Altan mit einem Tischlein und zwei Bänken. Das war ein freundliches Plätzchen, gleich einer Laube vom niederhängenden Geäst der Eichen überwölbt.

Auf diesem Lugaus saß ein junges Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen, ein schlankes zartes Figürchen mit schüchtern knospenden Formen. Ein blau gefärbtes Röcklein aus körnigem Hanftuch floß bis auf die Knöchel nieder und ließ die mit zierlichem Geschick aus Bast geflochtenen Schuhe frei. Um die junge Brust spannte sich ein Miederchen aus braunem Hirschleder, welches locker genestelt war mit dünnen Riemschnüren, zwischen denen das weißgebleichte Pfaid mit kleinen Puffen hervorlugte. Eine Schnur mit blinkenden Otterzähnen hing als Schmuck um das schlanke Hälschen, und an den rosigen Ohrläppchen baumelten zwei bräunlich glänzende Beinringe, jeder gefügt aus den zwei krummen Nagezähnen eines Murmeltiers. Das war Edelrot, Sigenots Schwester, sie glich ihrem Bruder – freilich wie ein junger Trieb dem Baum. wie eine Quelle dem Bergbach. Ein Gesichtchen wie von Milch und Blut, mit träumerischen Kinderaugen und einem schwellenden Mündlein: lockig fiel das lichtbraune Haar um die Schultern, und mit den schimmernden Strähnen spielte der laue Windhauch, den der nahende Abend vor sich her schickte.

Edelrot saß über ihre Arbeit gebeugt; aus feinen hanfenen Fäden flocht sie eine Angelschnur. Während sie so saß, hurtig flechtend, kam drüben am Waldsaum ein junger Bursch unter den Bäumen hervorgegangen; er war ein Freier, denn das schwarze glänzende Haar war ungeschnitten und reichte bis zur Schulter; und der Sohn eines Bauern mußte er sein, denn er trug den grauen ärmellosen Spenzer aus zottigem Loden, den Ledergurt mit Messer und Maserlöffel in hölzerner Scheide, die kurze Berghose und die schweren Schuhe, deren Holzsohlen klumpig benagelt waren. Ein Sträußlein von Almenrosen schmückte die mit weißem Lammfell umsäumte Kappe und ein dicker Rosenstrauß war oben an den Schaft des langen Bergstocks, des „Grießbeils“, angebunden.

Hastig eilte der Bursche über die Lände hinweg – der weiche Sand dämpfte seine Schritte – und als er den Hag erreichte, duckte er sich und löste flink die Almenrosen vom Grießbeil. Rasch sich aufrichtend warf er sie mit beiden Händen in die Höhe, daß die Blumen, auseinanderfallend, wie ein blühender Regen über Edelrots Köpfchen niedergingen. Erschrocken sprang sie auf und blickte ratlos umher. Aber der Bursche konnte das Kichern nicht halten. Edelrot lauschte und streckte das Hälschen über den Zaun.

„Ruedlieb! Du! Hab’ mir’s doch gleich gedacht!“

Lachend gab sich der Bursch einen Schwung, haschte den Ranft des Gerüstes, und hui, saß er auf dem Tisch und ließ die Füße über den Zaun hinunterbaumeln. Da lachte auch das Mädchen. „Bei Dir geht’s aber flink! Gut, daß Du kein Wolf bist ... für Dich wär’ der Hag noch allweil nicht hoch genug.“

Seine ganze Antwort war wieder nur ein Lachen. Mit leuchtenden Blicken hingen seine Augen an dem Gesicht des Mädchens und folgten jedem Griff der kleinen Hände, welche die zerstreuten Blumen zusammenlasen. Als sie alle auf dem Tische lagen, eilte Edelrot zu den Eichen hinüber, pflückte ein paar lange Schmelen und begann die Röslein mit diesen Halmen aneinander zu winden.

„Gelt, die sind schön!“ sagte Ruedlieb, und als Edelrot nickte, streckte er die Hand hin. „Krieg’ ich kein Vergelt’s dafür?“

„Wohl wohl!“ Sie legte ihre Hand in die seinige. „Vergelt’s!“ Sie befreite ihre Hand, die er festhielt, und griff nach einer Rose. „Wie so was Schön’s nur wachsen kann aus der schwarzen Erd’.“

„Meinst wegen der Farb’? Weißt, die Almenros’ ist halt ein Blutblümel.“

Sie blickte fragend zu ihm auf. „Ein Blutblümel?“

„Ja. Oder weißt gar nicht, wo die Röserln herkommen?“

„Sie wachsen halt.“

„Jetzt, freilich, weil ein jedes wieder Samen tragt. Aber einmal, da hat’s eine Zeit gegeben, wo noch kein Almenröserl geblüht hat. Und selbigsmal, da hat eine junge Dirn’ gelebt, eine arme Wittib ist ihre Mutter gewesen, und das Dirndl war so gut wie ein Täuberl und so lieb zum anschauen, wie ... wie ... ich weiß nicht, wie!“ Ruedlieb fand keinen Vergleich, obwohl seine Augen an Edelrots Zügen hingen.

„Wie hat’s denn geheißen, das Dirndl?“

„Das weiß ich auch nicht. Aber ich mein’ halt, sie hat Rösli geheißen, weil die Blümerln da den Namen von ihr haben. Ja, und wie das Dirndl achtzehn Jahr’ geworden ist, da hätt’ sie einen Buben heuern sollen, den hat sie lieb gehabt, und der Bub das Dirndl auch, treu und fest. Und kein Glück hat’s noch auf der Welt gegeben, wie die zwei eins gehabt haben. Aber selbigsmal, da hat auch ein Jäger gelebt, ein Herrischer, der hat Unfirm geheißen und hat ein Aug’ auf das Dirndl geworfen.“

„Das muß aber einer gewesen sein! Recht ein schiecher!“

„Ja, Rötli, da hast recht! Das war einer! So einer, wie ...“ Ruedlieb verstummte und langsam blickte er über die Schulter hinüber nach Wazemanns Haus. „Auf Schritt und Tritt ist er dem Dirndl nachgegangen, aber sie hat von ihm nichts wissen mögen. Da hat die Mutter gefürchtet, ihr Dirndl möcht’ nimmer sicher sein, und hat es hinaufgeschickt auf die Alben. Aber der Unfirm hat das Dirndl aufgespürt und ist hinaufgestiegen auf die Alben. Das Dirndl, wie’s ihn kommen sieht, hat geschrien in der Angst, aber kein Mensch ist in der Näh’ gewesen, und so hat sie zu laufen angefangen und ist allweil zugelaufen und allweil zu ... und weil sie so arm gewesen ist, daß sie keine Schuh’ gehabt hat, so haben ihr die Stein’ und Stauden die Füß’ zerrissen. Das helle Blut ist davon getropft ... und wo ein Tröpfl hingefallen ist, hat der Boden das unschuldig Blut getrunken und ein Blümerl ist gewachsen, wie Blut so rot ... wohl wohl, und seit der Zeit sind die Albenröserln in der Welt.“

„Aber das Dirndl?“ stammelte Edelrot.

„Der Unfirm ist halt flinker gewesen, weißt ... und das Dirndl hat nimmer gewußt, wo aus und wo ein, und vor ihr sind die Wänd’ hinuntergefallen in den See. Da ist sie hinuntergesprungen, mit einem lauten Schmerzensruf, zu tiefst ins Wasser – und kein Mensch mehr hat von dem Dirndl ’was gehört.“

Edelrots Lippen zitterten, ihre Augen waren mit Thränen gefüllt. „Und der Bub’? Hat sich der denn gar nicht gerührt, daß er dem armen Dirndl geholfen hätt’?“

„Gelt, ja? Das hab’ ich auch gefragt, wie mir der alte Eigel die Geschicht’ erzählt hat!“ Ruedliebs Augen blitzten, und seine Wangen wurden heiß. „Wär’ nur ich der Bub’ gewesen, der Unfirm hätt’ was zu spüren gekriegt zwischen Ripp’ und Fleisch!“ Seine Hand zuckte nach dem Messer.

„Ruedlieb!“ stammelte Edelrot erschrocken und haschte die Hand des Buben, als sähe sie die Klinge schon blitzen, das Blut [55] schon fließen. Dann lächelte sie verlegen. „Geh’! Du bist ja selber ein rechter Unfirm!“ Sie griff nach den Blumen und begann an dem Kränzlein weiter zu flechten. Eine Weile war Stille. Endlich fragte das Mädchen. „Hast die Röserln weit hergebracht?“

„Von meiner Alben.“

„Hast droben nachgeschaut?“

„Wohl wohl, aber viel Gut’s hab’ ich nicht gefunden. Der Bär hat uns schon wieder ein Kalb gerissen, und eins dem Kaganhart, und Deinem Nachbar, dem Marderecker, zwei Geißen. Aber ich hab’ dem Untier einen Riegel geschoben ... ich hab’ ihm in der Reginwand eine Grub’ gestellt.“

Edelrot blickte scheu zu ihm auf. „Ruedlieb! Wenn sie das merken – droben in Wazemanns Haus!“

„Sie merken’s nicht. Der Bär wechselt durch eine schieche Wand auf die Alben ein ... und ich hab’ die Grub’ in der Wand drin aufgerissen. Da steigt von Wazemanns Buben keiner hinein, das lassen sie bleiben!“ Edelrot schüttelte bedenklich das Köpfchen und seufzte. „Ich hab’s für die armen Leut’ gethan,“ sagte der Bub mit ruhigem Ernst. „Sie sollen nimmer Schaden leiden von dem Untier! Und warum hat Herr Waze den Bären nicht gejagt? Die Leut’ haben ihn drum angegangen, aber er hat sie angeschrien: ‚Ich hetz’ den Bären, wann’s mir paßt, nicht, wann’s Euch taugt!‘ Jetzt soll er nur hetzen! Ueber eine Woch’, dann suchen seine Hund’ umsonst!“

„Wenn’s nur nicht aufkommt, Ruedlieb! ... Ich hab’ so viel Angst.“

Er strich mit der Hand über ihre zitternden Finger. „Hab’ keine Sorg’! Ich fürcht’ mich nicht! Vor denen da droben so wenig wie vor Berg und Wasser ...“

„Bered’ das Wasser nicht!“ flüsterte das Mädchen erschrocken. „Der Bid könnt’s hören!“

Mit unsicherem Blick streifte der Bub den See. „Meinst, er liegt heroben?“

„Freilich, schau nur hinüber zur Insel! Siehst im Röhricht nicht die Gasserln? Da steigt er aus und ein, wenn er sich warmen will in der Sonn’. Wird der Wassergeist in seiner Ruh’ gestört, so springt er im hellen Zorn in den See hinunter, daß alles Wasser sich aufbäumt und völlig weiß wird vor lauter Schaum.“

„Hast ihn schon einmal gesehen?“

„Aber Ruedlieb!“ Mit scheuen Augen blickte das Mädchen auf. „Wer den Bid gesehen hat, muß hinunter zu ihm, eh’ der Mond wieder voll wird!“ Erschrocken streckte der Bub die Hände, als möchte er Edelrots Augen bedecken, sie verstand ihn und lächelte; wortlos flocht sie an dem Kränzlein weiter, und Ruedlieb schaute ihr schweigend zu. Als das Gewinde vollendet war, sagte das Mädchen: „Schau nur, wie lieb das Kränzlein geworden ist!“

„Wie gewachsen für Dein Köpfl!“ meinte Ruedlieb; er nahm die Blumen und wollte mit ihnen die Stirne des Mädchens schmücken. Aber Edelrot wehrte ihn ab. „Laß, Ruedlieb, laß ... ich mag das Kränzlein nimmer tragen, seit ich die Geschicht’ von dem armen Dirndl gehört hab’ ... das müßt’ ja sein, als hätt’ ich ihr unschuldigs Blut im Haar!“

„Rötli!“ stotterte der Bub, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. „Das mögen die guten Stern’ verhüten ...“

„Was meinst?“ fragte sie verwundert. „Ja was hast denn auf einmal? Bist ja ganz weiß im Gesicht! Hab’ ich denn was Unsinnig’s geredt?“

Er schüttelte wortlos den Kopf.

„Komm, gieb das Kränzlein her!“ sagte sie und nahm das blühende Gewinde aus seinen Händen. „Ich weiß ihm schon ein Platzl!“ Sie eilte auf die kleinste der sieben Eichen zu und hob die Arme.

Mit bebender Stimme rief der Bub ihr zu. „Thu’s nicht, Rötli, thu’s nicht! Häng’ die Blumen nicht an Dein Bäuml!“ Doch eh’ er noch ausgesprochen hatte, lag das Kränzlein schon zwischen den schlanken Aesten der jungen Eiche.

„Aber geh’, was hast denn?“ fragte Edelrot. „Warum soll’s denn da nicht hängen? Schau nur, wie gut die Blumen meinem Bäuml stehen! Warum denn nicht ... ?“

„Weil – weil –“ Ruedlieb brachte die Antwort nicht heraus.

Da klang ein schrilles Gelächter aus dem Innern des Hauses.

„Hörst? Die Mutter hat gelacht!“ flüsterte das Mädchen. „Sie wiltl ’was, ich muß hinein.“ Einen Augenblick zögerte sie noch, als ginge sie jetzt nicht gerne. „Ich muß ... ich muß ja, die Mutter braucht mich!“ Sie nickte und eilte davon.

„Rötli! Rötli! So laß Dir doch sagen ...“ stotterte Ruedlieb und streckte die Hände. Doch Edelrot war schon im Haus verschwunden. Der Bub streifte mit der Hand über die Stirne; er blickte hinauf zu Wazemanns Haus und starrte wieder das Kränzlein an, wie Blutschimmer hing es an Edelrots Bäumchen, dessen junger Stamm in handbreiten Zwischenräumen siebzehn Kerbschnitte zeigte; sie waren alle vernarbt und schon wieder von Rinde überwachsen, bis auf einen, der noch frisch und weiß war; vor wenigen Wochen erst, an dem Tag, an welchem Edelrots Geburt sich jährte, hatte Sigenot diese Kerbe in den Baum geschnitten. „Ich weiß nicht, wie mir nur so ’was einfallen kann!“ murmelte Ruedlieb und atmete tief. „Hätt’ ich die Blumen nur niemals hergebracht!“ Da fühlte er einen leichten Gertenschlag an seinem Arm; als er aufblickte, stand Sigenot unter dem Hag, mit Angelrute und Lägel.

Der Bub wurde rot und ließ sich rasch zu Boden gleiten.

„Zeit lassen!“ grüßte der Fischer. „Was machst denn da?“

„Mit dem Rötli hab’ ich ein’ Weil’ geplauscht.“

„Was denn? Unsinniges Zeug, gelt?“

Ruedlieb schüttelte den Kopf und schielte nach der jungen Eiche.

Sigenots Brauen furchten sich. „Warum schaust denn auf die Seit’? Schau mir ins Gesicht!“ Der Bub hob die Augen; je länger der Fischer in sein offenes Gesicht blickte, desto freundlicher wurden seine Züge. „Bist wohl von der Alben gekommen, gelt?“

„Wohl wohl, zwei Tag’ und Nächt’ bin ich droben gewesen!“

„So geh’ halt heim jetzt! Ich hab’ eine Botschaft für Deinen Vater, den Richter. Sag’ ihm, heut’ sind sie gekommen, und draußen beim Albenbach haben sie auf Mittag Rast gehalten.“

„Wer?“

„Dein Vater weiß schon, wen ich mein’. Geh’ nur!“

Der Bub nickte und faßte sein Grießbeil. „Zeit lassen, Fischer!“

„Zeit lassen auch!“

Sigenot stand und blickte dem Burschen nach, der mit raschen Schritten davonging. Ein freundliches Lächeln glitt über seine Züge. „Der Bub möcht’ mir taugen für das Rötli wie keiner! Aber das hat noch Weil’!“ Er trat in den Hag. „Heia, Wicho!“ rief er laut.

Der Knecht kam aus dem Stall herbeigelaufen. „Was schaffst?“

„Da, nimm das Lägel und trag’ die Ferchen hinauf in Wazemanns Haus.“

„Wohl wohl!“ Der Knecht nahm das triefende Lägel auf die Schulter und wollte davongehen.

„Aber halt’ Dich nicht auf und laß Dich nicht ein mit den Burgknechten. Sonst kommst mir am End’ wieder heim mit blutigem Kopf wie das letzte Mal ... und ich müßt’ Dir wieder Unrecht geben. Wer Streit sucht, muß Hieb’ leiden.“

„Streit suchen! Wer hat denn Streit gesucht?“ brummte der Knecht und fuhr mit der Hand nach dem Hinterkopf, als wäre hier durch die Erinnerung ein schmerzliches Empfinden wachgerufen worden. „Hätt’ ich vielleicht ruhig stehen sollen, wie die Knecht’ allweil gestichelt und gespöttelt haben, Du wärst auch nur ein Freier, so lang’ ihr Herr ein Aug’ zudrückt?“

„Laß Du die Knecht’ reden, was sie mögen. Thut einmal Herr Waze oder einer von seinen Buben eine solche Red’, so will ich ihm schon die richtig’ Antwort geben.“

Murrend verließ der Knecht den Hag. Draußen nahm er das Lägel ab und öffnete den Deckel, Sigenot hatte seit Mittag fleißigen Fang gehalten, es wimmelte im Lägel von Forellen. „Eine fetter wie die andere!“ brummte Wicho und sah mißmutig nach Wazemanns Haus hinauf. „Und die soll er all’ wieder haben ... der da droben? Thät’ ihm nur eine Grät’ im Hals stecken bleiben!“ – –

Sigenot hatte die Angelrute an das Brunnendächlein gelehnt. Da hörte er vom Waldhang des Jennar herüber das Läuten zweier Jagdhunde. Ein Schatten flog über sein Gesicht. „Mir scheint, sie ist schon wieder um den Weg!“ Er lauschte gespannt. Die Hunde schienen ein wundes Tier zu jagen; bald gaben sie Standlaut, dann nieder näherte sich die Jagd unter hetzendem Gekläff, wandte sich bald zur Rechten, bald zur Linken, nun klang das Geläut der Hunde schon im Thalwald, und immer näher kam es dem See. Unter den Bäumen stolperte ein Hirsch auf die freie Lände hervor, das Wasser suchend, taumelnd und keuchend, mit pumpenden Flanken und hängendem Lecker; aus seiner Schulter ragte ein Pfeilschaft, in Fetzen hing zerrissenes Schlingwerk von dem mächtigen Geweih, und vom Aeser tropfte die helle „Roten“. Das Tier streckte den Grind nach dem See und schwankte vorwärts, aber schon waren die Hunde hinter ihm her, sprangen ihm an die Kehle und suchten den Hirsch in den Sand zu reißen.

[56] Sigenot stand mit finsterem Gesicht, und seine Hand zuckte nach dem Messer, ihn erbarmte das Tier, dem nur eine einzige Wohlthat noch zu spenden war: der Gnadenstoß. Aber er hatte noch keinen Schritt gethan, da hörte er Hufschlag im Wald. Auf ihrem schäumenden Rappen sprengte Recka auf die Lichtung hervor, das Antlitz brennend, das Haar zerrauft; mit jauchzendem Laut sprang sie aus dem Sattel, und während das wohlgeschulte Pferd keinen Huf mehr von der Stelle rührte, riß sie den blinkenden Genicker aus der Scheide und durchschnitt mit raschem Streich dem Hirsche die Sprungsehnen der Hinterläufe; stöhnend setzte sich das Tier – und da fuhr ihm auch schon der wohlgezielte Stoß ins Herz. Lachend sprang Recka zurück, um dem schlagenden Geweih zu entrinnen. Noch ein kurzer Kampf des erlöschenden Lebens, dann stürzte der Hirsch lautlos in den rotgefleckten Sand. Die Hunde ließen von ihm ab, gaben langgezogenen Standlaut, und von Wazemanns Haus herunter antwortete die Meute im Zwinger.

Recka schnitt dem Hirsch die Grauen aus dem Aeser, verwahrte sie hinter dem Gürtel und stieß den Genicker in die Scheide. Aufatmend warf sie das Haar zurück und preßte die Arme über die Brust, als wollte sie den ungestümen Atem jählings geschweigen. Dann wieder trat sie auf ihre Beute zu, legte die Hand auf die klaffende Wunde des Hirsches und berührte mit den rotgefärbten Fingern die Lippe. „Heil zum Gejaid!“ Es war alter Jägerbrauch, den sie übte: sie „trank die Roten“. Nun blickle sie am Waldsaum entlang, die Büsche musternd; aber sie schien nicht zu finden, was sie suchte; nach allen Seiten spähte sie und gewahrte die über den Hag des Fischerhauses niederhängenden Aeste der Eichen. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie rasch auf das Hagthor zu und streckte die Hand aus. Aber da trat Sigenot hinter dem Hag hervor und faßte ihren Arm. „Rühr’ den Baum nicht an!“

Eine dunkle Röte flog über Reckas Gesicht. „Laß meine Hand!“ Mit zornigem Ruck befreite sie den Arm. „Dort liegt der Hirsch, den ich geworfen, ich will meinen Eichbruch haben nach Weidgesetz!“

„Brich ihn, wo Du magst, aber nicht von diesem Baum! Das ist meines Vaters Jahrbaum.“

Während der Fischer sprach, war Edelrot aus dem Hause getreten und herbeigekommen. Schüchtern legte sie die Hand auf ihres Bruders Arm. „Sigenot!“

„Sie will einen Zweig brechen von Vaters Baum,“ sagte er, „und das leid’ ich nicht!“

Recka zögerte mit der Antwort; Edelrots Anblick schien das heftige Wort zu beschwichtigen, das schon auf ihrer Zunge lag. „Du bist dem Baum ein guter Hüter, das muß ich sagen ... aber das wird Deinem Vater wohl nimmer viel helfen!“

„Laß die Toten in Ruh’!“ sagte der Fischer mit finsterem Ernst. „Keiner soll einen Zweig brechen von dem Baum oder nur ein einzigs Blattl davon abstreifen und meines Vaters Schlafruh’ stören. Wenn Du Deinen Bruch schon haben mußt und der Weg in den Wald ist Dir zu weit ... dort steht mein Baum, reiß Dir einen Zweig von ihm ... und wär’s auch der letzt’, ich will’s nicht wehren.“

Ein spottendes Lächeln zuckte über Reckas Züge. „Dein Baum hat Ruh’ vor mir! Bist ja ein Fischer und mußt all’ Morgen auf sein vor Tag ... es müßt’ Dir schaden am Gesund, wenn ich Dir die Schlafruh’ stören möcht’!“ Lachend wandte sie sich ab.

„Recka!“ stammelte Edelrot, eilte auf ihr Bäumchen zu und brach einen Zweig, sie bemerkte nicht, daß das Almrosenkränzlein aus dem Geäst herunterfiel und über den Hügel niederrollte zwischen die Balken und Knorren, welche die Plattform des Lugaus trugen. Unter dem Hagthor holte sie Recka ein und reichte ihr den Zweig. „Nimm, da hast Du einen Bruch!“

„Ich dank’ Dir!“ sagte Recka, und freundlich streifte sie mit der Hand über Rötlis Lockenkopf.

Schweigend kehrte Sigenot sich ab und schritt dem Hause zu.

„Mußt ihm nicht harb sein!“ flüsterte Rötli. „Schau, er hat halt ein Herz, das hebt wie Stein und Eisen! Viel’ Jahr’ sind schon vergangen, seit der Vater im See versunken ist, und noch allweil hängt der Bruder an ihm mit heißer Lieb’ – wie Du an Deiner toten Mutter. Mußt ihm nicht harb sein! Schau, ich verrat’ Dir was dafür.“

„Und was?“ fragte Recka lächelnd.

Edelrot zeigte eine wichtige Miene. „Du, ich weiß ein Völklein Enten, dort im Weiher!“

„Das hör’ ich gern! Die wollen wir heut’ noch jagen, Rötli!“ „Heut’ noch?“ stotterte das Mädchen. „Aber schau doch, es schattet schon, und Gewölk zieht auf!“

Recka blickte zum Himmel. „Ein grob’ Wetter wird kommen zur Nacht. Aber ich mein’, es hat noch Zeit ... wir fahren vor Nacht den See ohne Müh’ noch auf und nieder. Wart’ auf mich, ich hol’ meine Falken.“ Sie ging auf ihre Beute zu, streifte den Eichenbruch über die von Blut umronnene Wunde und steckte ihn hinter die Reiherfedern auf ihrem Käpplein. Bellend sprangen die beiden Hunde um sie her. „An die Wach’!“ befahl ihnen Recka und deutete mit dem Finger zu Boden. Da verstummten die Bracken und legten sich vor dem Hirsch in den Sand. Mit einem Zungenschlag rief Recka das Pferd herbei. Leicht schwang sie sich in den Sattel, nickte dem Mädchen, das unter dem Hagthor stand, noch einmal zu und trabte davon.

Wicho kam mit dem leeren Lägel von Wazemanns Haus zurück. Als er den Hirsch liegen sah, riß er die Augen auf und wollte näher treten, aber mit gefletschten Zähnen fuhren ihm die Hunde entgegen; erschrocken wich er zurück und brummte: „Hui, hui, hui! Das sind die richtigen Wazemannshund’! Gleich beißen!“

Unter der Thüre kam Sigenot ihm entgegen. Wicho schob das Lägel unter die Hausbank. „Herr Waze laßt Dir Vergelt’s für die Ferchen sagen, und Du sollst heut noch hinaufkommen zu ihm.“

Betroffen blickte der Fischer auf. „Was will er von mir?“

Der Knecht zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht! Aber was Gut’s, mein’ ich, wird’s schwerlich sein, er hat gar so freundlich gethan. Sag’ ihm, er thät’ mir einen Gefallen, hat er gesagt – sag ihm, es wär’ mir lieb, wenn er heut’ noch käm’, hat er gesagt! Ich bin nur allweil gestanden und hab’ die Augen aufgerissen.“

Sigenot lächelte. „Das ist freilich eine ungewohnte Red’ an ihm. Da bin ich selber neugierig, was er will.“ Er besann sich. „Gut, ich geh’ hinauf zu ihm!“ Dann fragte er den Knecht. „Ist das Gras schon eingethan?“

„Wohl wohl!“

„Dann hast Feierabend für heut’.“ Sigenot nickte einen Gruß und wollte gehen.

„Willst Dein Schwert nicht umhängen?“ fragte der Knecht.

„Das braucht’s nicht. Ich hab’ meine Fäust’ bei mir.“

Zwei wilde Schwäne kamen über das Fischerhaus einhergestrichen. Sigenat hörte ihren rauschenden Flügelschlag und blickte zur Höhe. „Die bringen bösen Sturm!“ Er folgte mit den Augen den weißschimmernden Vögeln, sah sie über dem Seeweiher kreisen und niederfallen ins Röhricht. Dann machte er sich raschen Ganges auf den Weg. Vor dem Hag begegneten ihm zwei Wazemannsknechte mit einem Karren, um den erlegten Hirsch zu holen.

Zwischen dem schilfigen Ufer und dem vom Hag umschlossenen Hügel zog sich ein schmaler Waldstreif hin. Sigenot durchschritt ihn und kam zum Ausfluß der Ache; eine aus vier breiten Balken gefügte Brücke überspannte den rauschenden Bach. Er ging hinüber, und wieder nahm der Wald ihn auf. Ein breit ausgehauener Reitweg führte in weitem Bogen gegen den Berg und zu Wazemanns Haus empor; aber diesem Weg folgte der Fischer nicht, sondern einem schmalen Fußpfad, der am Seeufer hinlief und unter dem Falkenstein auf einer Lichtung mündete; ein Steig lenkte über die jähe Wand hinauf, mit schmalen, in die Felsen eingehauenen Stufen und einem dicken Seil als Halt und Stütze. Ueber der Felswand hob sich die plumpe Ringmauer aus wirrem Gestrüpp hervor, und ein niederes Thürchen führte in den Burghof.

Der Fischer wollte emporsteigen. Da öffnete sich droben das Pförtlein, und Recka betrat die Felsentreppe; sie hatte das Reitgewand abgelegt und trug ein weißes Unterkleid mit braunem Ueberwurf, dessen Säume mit dem zarten gelblichen Rauchwerk von der Kehle des Edelmarders verbrämt waren; ein Netz umschloß das aufgeknotete Haar, so daß sich der schöne stolze Kopf frei aus den Schultern hob, auf ihrer rechten Hand saß ein Habicht mit der Falkenhaube und ein zweiter auf ihrer linken Schulter; rasch kam sie, ohne das Seil zu berühren, über den steilen Pfad herabgestiegen. Sigenot trat zur Seite, um den Weg nicht zu sperren. Kaum merklich neigle sie den Kopf, als sie an ihm vorüberschritt.

Der Fischer betrat den Felsensteig; doch schon auf der ersten Stufe wandte er sich. „Recka!“ Sie drehte das Gesicht und sah ihn verwundert an. „Du willst auf die Beizjagd?“ fragte er. „Heut’ noch?“

„Frag’ Du um Deine Fische! Was kümmert’s Dich?“

„Nichts. Aber ich mein’ nur, grob Wetter steht am Himmel.“

Sie warf einen raschen Blick empor nach dem dicht ziehenden Gewölk, dessen Säume blutrot schimmerten. „Ich fürcht’ es nicht!“

„Es könnt’ aber doch wohl schneller da sein, als Du meinst!“

[57]

Ein mittelalterlicher Fastnachtsbrauch.
Nach einer Originalzeichnung von Ferdinand Leeke.

[58] „Dann schau nur, daß Du bald unter Dach kommst!“ Lachend drehte Recka dem Fischer den Rücken und schritt davon. Raschen Ganges gelangte sie zur Lände am See. Edelrot hatte sie schon gewahrt und kam mit einem Ruder aus dem Hagthor hervorgeschlüpft. „Ich hab’ eine Stang’ mitgebracht!“ flüsterte sie. „Aber ich mein’, wir sollten nimmer fahren. Horch’ nur, wie’s im Röhricht zischelt … Du, das ist kein gutes Zeichen!“ Und scheu blickte sie zum Himmel. „Der König Eismann hat schon die Haub’.“

Recka lächelte. „Hast Du Furcht?“

Edelrot schüttelte das Köpfchen. „Furcht nicht, aber der Bruder wird schelten.“

„So laß ihn schelten! Komm’!“ Mit dem Knie schob Recka den leichten Fischernachen, den „Gransen“, ins Wasser und bestieg das Schifflein. Edelrot folgte, und während sie im Spiegel des Nachens das Ruder in den Weidenring schob, setzte sich Recka auf das Schnabelbrett, legte das Federspiel mit den weißen Taubenflügeln, das sie in lederner Tasche getragen hatte, vor sich hin, nahm die unruhig gewordenen Beizvögel auf ihren Schoß und streichelte ihnen mit einer langen Feder Hals und Rücken.

„Gelt,“ fragte Rötli, „da ist Dein ‚Schätzel‘ nicht dabei?“

Recka lachte. „Schau doch, Du kannst ja schon den Stockfalk unterscheiden vom Edelfalk! Gieb acht, Du wirst noch ’was lernen! Mein ‚Schätzel‘ sitzt daheim … ich hab’ die groben Stößer mitgenommen, die taugen besser auf das Wasser und machen flinke Arbeit. Aber jetzt tauch’ an!“

Stehend führte Edelrot das Ruder, gleichmäßig und geschickt, wenn auch mit schwachen Kräften. Sachte, mit leisem Plätschern, glitt das Schifflein hinaus auf die glatte schattenstille Flut. Ueber dem Wasser webte der violette Schimmer des entschlummernden Tages, tiefblau lagen in der Ferne die Gehänge des Untersberges, und über die Zinnen des Göhl hin leuchtete noch ein letzter Anflug helleren Lichtes. Doch zwischen dem hochtreibenden Gewölk, dessen wallende Säume in allen Farben spielten, lag es schon wie dunkle Nacht. Eine finstere Wolkenhaube hatte sich über den Schneegipfel des König Eismann gestülpt. Dort oben quollen und wirbelten die Nebelmassen durcheinander wie Dampf über einem Kessel – aber im Thal und über dem Wasser rührte sich noch kein Lufthauch.

Da raschelte es im Röhricht, und ein leises Geschnatter ließ sich vernehmen. „Da drinnen sind sie,“ flüsterte Rötli.

„Die Enten? Die lassen wir heut’ in Ruh’. Ich weiß uns bessere Jagd! Ein Elbißpaar[1] ist eingestrichen in den See, von meinem Fenster hab’ ich sie erschaut. Halt’ hinüber in die Ecke, wo aus der Tiefe der kalte Brunn aufsteigt – dort liegen sie im Schilf.“

„Recka,“ stammelte Edelrot, den Gransen verhaltend. „Du wirst doch nicht die Elbiß’ beizen!“

„Was soll mich hindern?“

„Die Leut’ sagen: wo der Elbiß rauscht, da ist der Bid nicht weit.“

„Ich fürcht’ ihn nicht,“ entgegnete die Wazemannstochter lächelnd. „Fahr’ zu!“ Rötli zögerte. „Fahr’ zu!“ wiederholte Recka ungeduldig. Unter stockendem Atem tauchte Rötli das Ruder ein und schob den Gransen. Nahe bei der Insel kamen sie vorüber, und Edelrot lugte mit scheuen Blicken in das Röhricht. „Schau,“ lispelte sie, „dort schau hin! Siehst die kleinen Weglein im Geröhr? Da steigt er aus und ein, der Bid.“

Recka lachte. „Närrlein, das sind Ottersteige! Fahr’ weiter!“

Rötli gehorchte; der Nachen glitt über eine Stelle des Wassers, an welcher sich auf dem Spiegel kleine wallende Kreise zeigten; hier stiegen die Quellen auf. Immer näher glitt das Schiff dem Röhricht. Recka hatte sich auf die Knie erhoben und setzte die Stößer auf den rechten Arm; durch die Schleifen der Falkenhauben hatte sie eine Schnur gezogen, um die Kappen lösen zu können mit einem Ruck. „Mach’ Lärm mit dem Ruder!“ flüsterte sie. Rötli war bleich und zitterte; aber sie folgte der Weisung. Es rauschte im Röhricht, klatschende Flügelschläge ließen sich hören, und die beiden Singschwäne hoben sich schweren Fluges über das Schilf, mit offenen Schnäbeln fauchend, die Hälse lang gestreckt. Schneeweiß leuchtete ihr Gefieder in der dämmernden Luft. Rasch löste Recka die Falkenhauben und hob den Arm. Die Stößer drehten hastig die Köpfe, und ihre gelben, bösartig blickenden Augen funkelten … jetzt wurden sie starr, das Gefieder sträubte sich – sie hatten die Schwäne eräugt. Und in diesem Augenblick sprang Recka auf und unter jauchzendem Ruf warf sie mit kräftigem Armschwung die Vögel. Pfeilschnell schossen die Stößer ihrer Beute nach. Schon hatten sie den Schwänen die Höhe abgewonnen, da fiel ein Windstoß aus den Lüften und rauschte an der Falkenwand entlang.

Mit klagendem Laut teilten die Schwäne ihren Weg, der eine suchte das Land, den tieferen See der andere. Diesen hatten die Stößer zu ihrem Opfer gewählt und schlagend fielen sie ihm an den Hals. Im Fluge trug sie der klagende Schwan und tauchte mit ihnen um die Ecke der Falkenwand.

„Er fällt in den Weitsee!“ schrie Recka in brennender Erregung. „Gieb mir das Ruder … wir müssen nach, oder der Schwan ist verloren und meine Vögel dazu!“ Sie hörte nicht auf Rötlis Stammeln und Bitten, mit ungestümen Händen griff sie nach dem Ruder und schlug das Wasser, daß vor dem Schnabel des Nachens eine weiße Welle aufrauschte. Wieder fiel ein Windstoß aus den Lüften, dumpf und brausend, und über das ganze Wasser lief ein jähes Zittern.

Hinter der Insel verschwand das Schiff mit den beiden Mädchen.

Im Röhricht erwachte ein Glucksen und Plätschern, jählings war aller Glanz von der Flut gewichen, grau und finster lag das Wasser, überwirbelt von kleinen stoßenden Wellen. Und weit aus dem Thal herein, plötzlich, hörte man das Rauschen der Ache.

Es kam der Sturm.

(Fortsetzung folgt.)




Kochdünste.
Eine hauswirtschaftliche Skizze.0 Von C. Falkenhorst.

In einer der schönsten Lagen der Stadt, inmitten freundlicher Gartenanlagen, steht eine Reihe schmucker Wohnhäuser. Wir haben in einem derselben zu thun und treten in das Thor, nicht ohne ein stilles Gefühl des Neides; denn in dieser freien Lage muß es sich herrlich wohnen und die glücklichen Mieter müssen für Stadtverhältnisse die denkbar reinste Luft genießen können. Aber wie enttäuscht steigen wir die hohen Treppen zu den obersten Stockwerken empor! Die Fenster sind weit aufgerissen, und trotzdem empfangen uns allerlei sonderbare Düfte: im Erdgeschoß riecht es nach abgebrühtem Kohl; im ersten Stockwerk würzt das Aroma von gebratenen Zwiebeln jeden Atemzug, den wir schöpfen; im zweiten Stockwerk dringt uns vollends der unausstehliche Dunst von verbrannter Milch entgegen; immer schlimmer wird es, je höher wir steigen, und aus dem offenen Küchenfenster des dritten Stockwerkes läßt sich eine durchdringende Stimme vernehmen über die „Wirtschaft“, die da unten geführt wird.

Wir haben genug gerochen und gehört; in diesem schmucken Hause lagert in den Vormittagsstunden der dichte Nebel der Kochdünste und ballt sich anscheinend zu einer Gewitterwolke zusammen, die sich über den Häuptern der Hausfrauen zu entladen pflegt. Schade nur, daß die blitzenden Worte Unschuldige treffen, daß die guten Frauen sich befehden, anstatt vereint gegen einen anderen Missethäter vorzugehen!

Wir möchten wetten, daß in diesem Hause wie in vielen anderen die Hausfrauen die unschuldigsten Engel und an dem Mißstand der Kochdünste lediglich der Baumeister und Ofensetzer schuld sind, die nicht für den richtigen Luftwechsel in den Küchenräumen gesorgt haben. Es ist allerdings unvermeidlich, daß beim Kochen Dünste sich entwickeln, aber durchaus unnötig, daß sie sich in der Küche, in den Wohnräumen und im ganzen Hause ausbreiten. – In dem von uns aufgesuchten Hause, das von wohlhabenden Bürgerfamilien bewohnt wird, sind die Kochdünste noch verhältnismäßig leicht zu ertragen; sie gestalten sich aber zu einer schweren gesundheitlichen Schädigung in den Mietskasernen, wo die minder bemittelten Familien dichtgedrängt wohnen und die Hausfrauen aus Mangel an Mitteln gezwungen sind, in dem eigentlichen Wohnraume zu kochen. In solchen Zimmern mischt sich der Kochdunst mit den Ausdünstungen der oft zahlreichen Familie; man prallt förmlich zurück, wenn man, aus dem Freien kommend, einen dieser überfüllten Räume betritt, so dick und unrein ist in ihm die Luft, und es ist in der That kein Wunder, daß an einem derartigen häuslichen Herde ein blasses, kränkliches Geschlecht heranwächst.

Lange Zeit glaubte man, daß sich gegen diese Luftverderbnis in den kleinsten Wohnungen nicht ankämpfen lasse. Als aber der Sinn für gemeinnützige Thätigkeit erwachte und die hygieinische Wissenschaft fortschritt, fand man Mittel, diesen Uebelstand zu mildern, den Aufenthalt einer Familie in einem einzigen Wohnraum zu einem erträglichen, besseren zu gestalten.

Im Verlauf ihrer Bestrebungen, die gesundheitliche Lage der minder bemittelten Stände zu heben, erließen zwei Körperschaften, der Verein zur Förderung des Wohles der Arbeiter „Concordia“ und der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege vor zwei Jahren ein Preisausschreiben für die beste Konstruktion eines in Arbeiterwohnungen zu verwendenden Zimmerkochofens. Es wurden dabei an den Techniker ziemlich hohe Anforderungen gestellt. Der Musterofen sollte so eingerichtet sein, daß minder bemittelte Familien innerhalb ihres Wohnzimmers Speisen zubereiten könnten, ohne [59] daß Wasserdampf, Kochdünste und Heizgase in das Zimmer treten und ohne daß die Temperatur in einer der Gesundheit nachteiligen Weise gesteigert würde. „Der Ofen,“ hieß es in den Bedingungen der Preisbewerbung, „muß je nach Bedarf nur zum Kochen oder nur zum Heizen oder für beides gleichzeitig dienen können. Die hierdurch gebotene Einrichtung muß einfach, solid und für jedermann leicht zu verstehen und zu behandeln sein. Der Ofen muß den Raum, in welchem er steht, lüften, insbesondere muß er die aus den Speisen während des Kochens sich entwickelnden Dämpfe und Destillationsprodukte. ohne daß sie sich zuvor mit der Zimmerluft vermischen, mit Sicherheit abführen.“ Als Feuerungsmaterial waren Steinkohlen vorgesehen und die Leistungsfähigkeit des Ofens sollte für zwei Erwachsene und vier Kinder ausreichen.

Die deutsche Industrie beteiligte sich rege an der Lösung dieser gemeinnützigen Aufgabe und von den Preisrichtern wurde inzwischen dem Eisenwerk Kaiserslautern in Kaiserslautern der 1. Preis zuerkannt. Der neue preisgekrönte Zimmerkochofen stellt in der That eine beachtenswerte hvgieinische Errungenschaft dar, die in weitesten Kreisen Beachtung finden sollte.

Ein neuer Musterkochofen.

„Eigener Herd Goldes wert“ ist das schöne Motto, das er auf einer seiner Thüren trägt. Der Ofen sieht recht schmuck aus, wie uns schon ein flüchtiger Blick auf die beistehende Abbildung lehrt. Er wird in verschiedenen Größen geliefert, die kleinste Nummer hat eine Höhe von 95 cm, eine Länge von 73 und eine Breite von 45 cm.

Um das Kochen im geschlossenen Raume vornehmen zu können, oohne daß die Dünste ins Zimmer zu treten vermögen, ist der Ofen mit einem Aufsatz versehen, dessen Thüren behufs Beobachtung der darin stehenden Gefäße mit Glas ausgelegt sind. Im Inneren des Aufsatzes befindet sich eine Oeffnung, die in das Abzugsrohr der Feuerungsgase (links auf unserer Abbildung) mündet und durch welche die Kochdünste in den Kamin abgeleitet werden. Um den Durchzug noch zu unterstützen, sind die Thüren des Aufsatzes unterhalb der Glasscheiben mit Löchern versehen, durch welche frische Luft in den Kochraum eintritt und erwärmt zu dem Kamin emporstetgt. Aehnlich ist die Lüftung der Bratröhre eingerichtet, welche durch die große Thür in der Mitte des Ofens verschlossen wird. Das unter dieser sichtbare kleinste Thürchen bietet den Zutritt zu den Zügen und wird beim Putzen derselben geöffnet. Die links sichtbaren Thüren verschließen den Feuerungs- und Ascheraum. Das Kochen in diesem Ofen ist noch durch das Anbringen zweier Schieberplatten oben in der Decke des Auffatzes erleichtert; werden dieselben geöffnet, so kann man zu den Töpfen gelangen, ohne die Glasthür zu öffnen.

Betrachten wir den Ofen genauer, so bemerken wir am hinteren und rechten Rande des Aufsatzes eine Reihe von viereckigen Löchern; an diesen Stellen ist der Ofen mit einem Mantel, d. h. mit doppelten Wandungen, versehen, durch welche die Luft streichen kann, indem sie durch die Spalten des unten sichtbaren Kastengestells in den Mantel eintritt. Sind nun die Löcher offen, so wird kalte Luft aus dem Zimmer unten angesaugt und verläßt oben erwärmt den Ofenmantel; in diesem Falle heizt der Ofen die Stube durch Cirkulation. Die oberen Öffnungen können aber durch ein Schiebergestell geschlossen werden, alsdann wird im Ofenmantel eine Klappe, die in den Kamin führt, geöffnet, und die im Mantel erwärmte Luft gelangt nicht in das Zimmer, sondern entweicht in den Schornstein; der Ofen liefert also wenig Wärme und wird in dieser Weise während der Sommerzeit als Kochofen benutzt.

Schließlich möchten wir noch hervorheben, daß der unterste Teil des Ofenmantels mit einer durch die Mauerwand des Hauses nach außen gehenden, mit einer Klappe versehenen Röhre verbunden werden kann. Geschieht dies, so kann durch den Ofen frische Luft von der Straße oder dem Garten in den Ofenmantel angesaugt und in diesem gewärmt werden, worauf sie sich im Zimmer verteilt. Eine solche Zuführung völlig frischer Luft gilt als das Ideal einer zweckmäßigen Zimmerlüftung.

Aus dieser kurzen Darstellung ersehen wir zur Genüge, wie viel dieser preisgekrönte Ofen zur Erhaltung gesunder Luft in Wohnräumen beitragen kann, und es ist nur dringend zu wünschen, daß Hausbesitzer, die kleine Wohnungen an Arbeiterfamilien vermieten, sich zum Aufstellen solcher verbesserter Oefen bequemen möchten.




Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.
(3. Fortsetzung.)


Als die Geschwister Doßberg das freundliche Mädchengemach mit den hellgeblümten Möbelüberzügen und den schönen Stichen an den Wänden erreicht hatten, zog Ilse den Bruder neben sich auf ein kleines Ecksofa nieder. „Nun sage, nun sprich – was ist geschehen? So rede doch!“

„Natürlich rede ich, wozu hätt’ ich Dich sonst hierhergebracht!“ entgegnete Armin scheinbar ungeduldig. Er liebte seine Schwester schwärmerisch, schämte sich aber als echter Junge, das zu zeigen. „Also, ich traf mit Papa oben beim Pavillon zusammen, wir frühstückten miteinander, und ich sagte ihm ein bißchen meine Meinung über das Gut.“

„Armin! Das hättest Du nicht thun sollen! Du weißt, daß Papa augenblicklich in Verlegenheit ist! Wie nahm er Deine Worte auf? Was sagte er?“

„Nichts, so gut wie nichts. Er sah sehr sorgenvoll aus, und ein paarmal hat er geseufzt. Wir ritten zusammen weiter, ziemlich stumm ... Papa machte ein Gesicht, das mich nicht gerade zum Reden ermunterte. Und wie wir an die Waldecke kommen – Du weißt ja, wo die Blutbuchen stehen – da sieht Papa den alten Hinz und will ihm ’was sagen und ich soll unterdessen voranreiten. Das thu’ ich denn, geb’ dem Pony die Sporen, und weil das eigensinnige Vieh Lust hat, Galopp zu gehen, so geht es eben Galopp. Und da treff’ ich auf den alten Schäfer, den Klamm, der da mit seiner Handvoll Schafe und seinem Spitz herumweidet. Ich zieh’ die Zügel an und will mit ihm reden – ich kann ihn sonst gut leiden. denn er spricht so ’n kurioses Platt, und dann hat er immer einen langen Strickstrumpf in seinen braunen Pfoten – also ich will ihn eben etwas fragen, da sieht mich der alte Kerl aus seinen Schlitzaugen an und murmelt ganz deutlich. ‚Nu rid’ Du man! Du wardst det Längste hier riden! Nu galoppeer Du man, et hett sich för Di bald utgaloppeert!‘ Und wie ich ihn anschaue, weil ich natürlich denke, das alte Gestell ist rein verrückt geworden, da sieht er ganz frech zu mir in die Höhe und sagt: Ja, nu denkst Du woll, ik si nich richtig! Dat bün ick awerst, un ick segg’ Di: mit Di und de Parl’ – damit zeigte er auf den Gutshof – ‚da is dat nicks. Dat duert nich lang’, dann riden und galoppeeren hier andere Lüd, und Du kannst seh’n, wo Du bliwwst!‘“

„Ist das alles?“ fragte Ilse unruhig.

„O nein! Im ersten Augenblick war ich zwar außer mir, aber gleich darauf dachte ich, was können denn die verrückten Hirngespinste des alten Esels für mich zu bedeuten haben! Also ließ’ ich den Alten stehen, ritt dem Papa wieder entgegen und wir blieben zusammen bis zum Schloß. Wie wir ankamen, stand da ein Telegraphenbote und sagte zu Papa, er habe eben eine Depesche gebracht und warte auf die Bescheinigung. Im Treppenhaus trafen wir die Lina, die an Papa bestellte, sie habe die Depesche auf sein Zimmer getragen. Er nickte. sah aber so eigen vor sich hin – mit einem solchen Blick, daß ich mir dachte: Du gehst mit ihm! Denn mit einem Mal fiel mir auch der alte Klamm mit seiner Prophezeiung ein, und obgleich ich mir wieder vorredete, er müsse verrückt sein, ganz und gar verrückt ... es wollte nichts mehr helfen. Papa, der beachtete mich gar nicht, ich glaube, er hat nicht einmal bemerkt, daß ich mit ihm ging. Auf seinem Arbeitstisch liegt die Depesche – er reißt sie auf, liest und mit einem Mal wird er kreideweiß – er kommt ins Taumeln, so schnell, daß ich ihn nur noch auffangen und in seinen großen Lehnstuhl gleiten lassen kann. Da saß er denn ganz stumm und rührte sich nicht.“

Ilse hörte mit großen erschrockenen Augen zu; sie brachte kein Wort hervor, sie nahm nur ihres Bruders Hand und umschloß sie fest mit ihrer Rechten.

„Ich wußte mir nicht zu helfen, ich wollte Dich rufen, aber wie das anstellen. ohne die Mama aufzuregen? Also machte ich ihm die Kravatte los und suchte nach irgend etwas zum Riechen ... und dabei sah ich das offene Telegramm am Boden liegen –“

„Du hast es gelesen?“

Armin nickte.

„Und – und – was?“

Der Knabe konnte nicht sogleich antworten. Als er es endlich [60] vermochte, klang seine Stimme ganz heiser. „Unterzeichnet war es von Sorau – das ist Papas neuer Justizrat – Du weißt doch, daß Wahlborn, der lange Jahre alles für uns besorgt hat, im vergangenen Herbst gestorben ist?“

„Ja. ich weiß! Und was stand in der Depesche?“

„‚Sicherer Käufer gefunden. Erwarte Besprechung morgen nachmittag sechs Uhr bei mir.
 Sorau.‘“

Ilse schien wie betäubt von dem Gehörten. Sie atmete einigemal zitternd auf und sah um sich, als glaubte sie, zu träumen. „Und das – das ist?“ fragte sie zuletzt leise.

„Das ist die ‚Perle‘, die sie verkaufen wollen!“ rief Armin leidenschaftlich. Er warf den Kopf zurück, ballte die Hand zur Faust und setzte die Zähne fest aufeinander. Er wollte nicht weinen, vor Ilse nicht weinen, aber umsonst; als er das Wort ausgesprochen hatte, stürmte ein ungeheurer Schmerz auf ihn ein, der stärker war als sein Wille, ein krampfhaftes Schluchzen stieg aus seiner Brust empor, er warf die verschränkten Arme auf den kleinen Tisch, der vor ihm stand, ließ den Kopf darauf niederfallen und brach in lautes bitterliches Weinen aus.

Und Ilse, trotzdem sie die weitaus Stärkere war und viel mehr Selbstbeherrschung besaß als ihr junger Bruder, legte ihren goldlockigen Kopf neben den des Knaben und weinte mit ihm. Doch nur wenige Augenblicke. Was nun? Was wurde mit Papa? Diese und ähnliche Fragen stürmten auf sie ein und gaben ihr die Fassung zurück. Sie redete dem Bruder sanft zu und strich ihm liebkosend mit der Hand über den Kopf, wie sie es früher gethan hatte, wenn „dem Kleinen“ irgend ein Unfall zugestoßen war. Armin wurde ruhiger. Er lehnte die Wange an Ilses Schulter und sah aus den heißen verweinten Augen traurig zu ihr auf. Dann fuhr er entschlossen in seinem Berichte fort: „Ich ließ die Depesche fallen, als wenn ich mich daran verbrannt hätte. und spritzte Papa Wasser ins Gesicht, fand auch eine Flasche Cognac in seinem Schrank und träufelte ihm einige Tropfen in den Mund – aber alles das that ich erst, nachdem eine Weile hingegangen war, denn ich war anfangs vor Schreck wie gelähmt. Papa kam wieder zu sich, schien sich aber zuerst auf nichts zu besinnen, denn er sah ganz verwirrt aus und sprach kein einziges Wort. Und ich sagte auch nichts. Ich wollte nicht verraten. daß ich die Depesche gelesen hatte – und er fragte auch nicht danach. Lina hatte mir auf der Treppe mitgeteilt, daß Mama den Papa oben erwarte. diesen Auftrag richtete ich noch aus, und dann schlich ich weg, ohne daß er es beachtete. Ich mußte zu Dir. Du mußtest alles wissen! Aber ich sag’ es Dir, Ilse, ich leid’ es nicht, daß die ‚Perle‘ verkauft wird. Die ‚Perle‘ soll und darf nicht verkauft werden!“

Aus dem wird was!
Nach einem Gemälde von Emanuel Spitzer.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.


Ilse sah den leidenschaftlichen Knaben mit einem wehmütigen Lächeln an. „Ach, Armin, wie willst Du das hindern?“

„Ich weiß noch nicht – ich – ich werde mit Onkel Leupold reden, der ist praktisch und hat auch Geld, und er ist doch Mamas Bruder. Denkst Du nicht, daß er uns helfen kann?“

„Ich glaube nicht. Er –“

Ilse kam nicht weiter. Ein wohlbekannter Schritt wurde draußen hörbar. gleich darauf wurde leise an die Thür geklopft.

Die Geschwister sahen einander in die Augen. „Herein!“ sagte Ilse.

Der Baron trat rasch ins Zimmer, einen flüchtigen Blick nur warf er auf die verweinten Gesichter seiner Kinder, dann senkte er die Augen. Ilse war aufgesprungen, sie ging ihm entgegen, legte liebevoll den Arm um seinen Nacken und führte ihn zu dem eben von ihr verlassenen Platz. „Ist Dir besser, Papa? Soll ich Dir nicht ein Glas Wein holen?“

Er schüttelte stumm den Kopf und ließ sich schwerfällig in die Sofaecke nieder. Es dauerte eine Weile, ehe er imstande war, zu sprechen. „Ich bin gekommen, Euch ein Geständnis zu machen. Die Mutter darf nichts wissen, aber Ihr – Euch bin ich die Wahrheit schuldig.“ Er suchte nach einleitenden, vorbereitenden Worten – er fand keine. „Es steht schlimm mit mir, hoffnungslos! Ich kann das Gut nicht länger halten. Ich muß die ‚Perle‘ verkaufen.“

Ilse sah ängstlich nach Armin hinüber, sie fürchtete seinen leidenschaftlichen Widerspruch. Aber der Knabe schwieg. Angesichts des Vaters, der in gebrochener Haltung dasaß und mit tonloser Stimme einen Entschluß verkündete, der ihm ans Leben gehen mußte, fand er seine kühnen Worte und Vorsätze nicht wieder.

„Ihr sagt nichts, Ihr habt geweint – woher wußtet Ihr?“

„Armin hat die Depesche gelesen, lieber Papa!“ sagte Ilse sanft, da ihr Bruder beharrlich schwieg.

[61] Der Baron fuhr zusammen, und die Hand, die auf der Tischdecke lag, zitterte. Ilse neigte sich über diese zitternde Hand und küßte sie. Armin legte leise einen Arm um seines Vaters Schulter. „Solche Kinder heimatlos machen, sie enterben müssen!“ rief Doßberg, in plötzlich ausbrechendem Jammer. „Solche Kinder!“

„Nein, nein. Papa – nicht so! Nicht so aufgeregt, es schadet Dir! Sag’ uns alles! Dir ist ein Käufer vorgeschlagen durch den Justizrat? Wer ist es? Kennst Du ihn?“

Der Baron machte ein verneinendes Zeichen. „Ich war neulich bei Sorau; ich hatte zuvor meine Verhältnisse genau geprüft und wußte, mir war nicht mehr zu helfen. Ich weihte Sorau ein und sagte ihm, er möge sich unter der Hand nach einem Käufer umschauen; allerdings müsse ich meine Bedingungen stellen. Meine Gattin, Eure arme Mutter, dürfe von der bevorstehenden Veränderung nicht betroffen werden, dürfe, wenn es irgend moglich sei. gar nichts davon erfahren. Sie müsse daher auf dem Gut bleiben. ihre Zimmer lägen abgesondert von der ganzen Flucht der Hauptgemächer in einem Seitenflügel – und solange Eure Mutter lebe. müsse der neue Besitzer auch uns gestatten, bei ihr zu bleiben. Wir würden mit wenigen Zimmern in demselben Seitenflügel vorlieb nehmen ...“

Armin wollte auffahren, Ilse legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.

„Ich – ich wußte mir nicht anders zu helfen,“ murmelte Doßberg verzweifelnd.

Eine bange Stille. Durch das Epheulaub, das sich in einem vergoldeten Gittergeflecht innen am Fenster emporrankte, fielen tanzende Lichter in das helle freundliche Zimmer, draußen auf dem breiten Fenstersims zwitscherte ein Stieglitz aus heller Kehle, und Ilses Kanarienvogel machte schüchterne Versuche, dem musikalischen Kollegen da draußen zu antworten.

Aus dem wird nichts!
Nach einem Gemälde von Emanuel Spitzer.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Ilse hatte den Kopf in die Hand gestützt; sie wußte es nicht, daß Thräne um Thräne über ihre Wangen rollte – ihr war unsäglich weh ums Herz. Verstoßen aus der lieben alten Heimat, aus Barmherzigkeit vielleicht geduldet von dem fremden Besitzer, sie selbst samt ihrem Vater in ein unentwirrbares Netz von Ausflüchten und Unwahrheiten verstrickt gegenüber der kranken Mutter, die immer und überall die Ahnungslose bleiben sollte – wie würde ein solches Leben zu ertragen sein? Ach, und das eine noch, das Schwerste – ihr süßes und doch so trauriges Herzensgeheimnis, das nun auf unabsehbare Zeit ein Geheimnis bleiben mußte, da sie die Ihrigen jetzt unmöglich verlassen durfte! Wie sollte sie all das durchkämpfen, wie den ungeduldigen leidenschaftlichen Geliebten beschwichtigen, dem das eine Jahr, das vor ihnen lag, schon ein unerträgliches Hindernis schien, der nach Ablauf dieses Jahres sicherlich jede Schwierigkeit mit Ungestüm aus dem Wege räumen würde, um sich sein „gutes Recht“ zu holen! Welch ein Abschied stand ihr bevor, welch eine Zeit trostloser Oede! Und wenn sie dann an den armen Knaben, ihren Bruder, dachte, dessen ganze Seele an seinem künftigen Beruf, an diesem Besitztum hing, dann wurde ihr das Herz doppelt schwer und ein schwarzer Schatten schien sich langsam und unabwendbar herabzusenken auf ihr junges blühendes Leben.

Zuletzt brach Armin das trostlose Schweigen. „Könnte Onkel Erich nicht helfen, Papa?“

Doßberg schüttelte den Kopf.

„Ist Onkel Leupold nicht reich?“

„Nein, Kind, das ist er nicht. Erich war von Hause aus arm und hat sich allmählich ein Vermögen gesammelt, von dessen Zinsen er anständig leben kann – das ist alles. Hilfe – für die ist es jetzt zu spät. Freilich, ich hatte immer noch Pläne“ – unwillkürlich sah der Baron zu Ilse hinüber – „Pläne, die ich später zu verwirklichen hoffte, aber die Zeit drängt, und Eure arme Mutter – wie könnte ich sie mit Ilse zusammen verlassen?“

„Mit mir zusammen, Papa? Aber warum denn das?“

Doßberg strich mit der Hand kosend über das schöne Goldhaar seiner Tochter. „Ich hatte so meine stolzen Pläne mit Dir, Liebling, in aller Stille. Das ist zu Ende. Wenn es sich bestätigt, daß der Käufer sicher, das heißt zahlungsfähig ist und auf meine sonstigen Bedingungen eingeht, dann – dann muß ich –“

„Vielleicht irrt sich aber der Justizrat!“ fiel Armin hastig ein.

„Das glaube ich nicht. Sorau ist sehr vorsichtig, ein gewiegter erfahrener Geschäftsmann; er würde mir niemals dies Telegramm geschickt haben, wenn er des Käufers nicht sicher wäre.“

„Und Du willst hier auf dem Gut bleiben, Papa, und zusehen, wie ein Fremder hier schaltet und waltet?“ fragte Armin bitter. „Das hältst Du nicht aus, Papa!“

„Ich glaube, ich halte es noch weniger aus, fern von dem [62] Gut zu sein,“ erwiderte der Baron mit einem mühsamen Lächeln, das Ilse ins Herz schnitt. Seine Stimme war müde und bebte wie von unterdrückten Thränen.

Da pochte es leise, schüchtern an die Thür – Lina öffnete kaum handbreit, so daß sie nicht ins Zimmer hineinzusehen vermochte, und meldete mit ihrer ruhigen Stimme: „Die Frau Baronin schickt mich – die Herrschaften verzeihen. Die Frau Baronin läßt fragen, ob der Herr Baron nicht bald erscheinen werde.“

„Gut, Lina! Gehen Sie voran und sagen Sie, ich folge Ihnen auf dem Fuß!“

Und Doßberg trat vor Ilses hohen Stehspiegel, bürstete sich das Haar, zupfte sich die Kravatte zurecht und suchte eine lächelnde unbefangene Miene anzunehmen, damit seine Frau nichts ahne von dem Sturm, der über ihn hereingebrochen war.




5.

In der denkbar schlechtesten Laune ging Kapitän Leupold in seinem Häuschen von Kabine zu Kabine. Vor etwa zwei Stunden hatte ein Bote einen wohlverschlossenen Brief bei dem Alten abgegeben, in dem nichts als die Worte standen. „Lieber Kapitän! Um sechs Uhr heute abend wird meine Ilse bei Dir sein; eine Viertelstunde später komme ich auch. Besten Gruß!
 Albrecht.“

Diese Zeilen versetzten den Empfänger in einen stillen Grimm. Er bereute es, sich zu solchem „Blödsinn“ hergegeben zu haben, es kam ihm dumm und lächerlich vor, daß er, Erich Leupold, die Zusammenkunft eines Liebespaars begünstigen sollte, und die zwei Worte „meine Ilse“, die Kamphausen im Gefühl seines Glückes niedergeschrieben hatte, empörten ihn vollends. „Meine Ilse! Hat sich ’was! Wie will er sie denn kriegen? Entführen vielleicht und dem stolzen Herrn Papa, der sterbenskranken Mutter ’ne Nase drehen? Dazu soll ich wohl auch noch herhalten, vielleicht auch den Standesbeamten hierher einladen und in meinem Haus Hochzeit ausrichten? Da soll doch ....“

Das waren die menschenfreundlichen Gedanken, die dem Kapitän durch den Kopf gingen, während er jetzt wie ein gereizter Löwe im „Achterdeck“ auf und ab ging und hier und da einen zornsprühenden Blick auf seine „büßende Magdalena“ warf, wie wenn sie für das ganze Unheil verantwortlich wäre.

Dido, die ihrem Herrn in einem Zärtlichkeitsanfall von rückwärts unversehens auf den Rücken sprang und ihn liebevoll mit den kleinen behaarten Armen umhalste, wurde erbost weggeschleudert, Cato. der einen redseligen Tag hatte, wurde wütend angeschrien, sein „verfluchtes Geschnatter“ zu lassen, und Jan Grenboom, der mit einer harmlosen Frage kam, wurde einfach hinausgeworfen. Die Laune des Kapitäns gestaltete sich dadurch nicht besser, daß sich keiner seiner drei Genossen auch nur im mindesten an seinen Zorn kehrte. Dido schnitt despektierliche Gesichter und saß ihm nach fünf Minuten von neuem auf dem Nacken. Cato legte den Kopf auf die Seite, sah den Gebieter frech an und kramte unermüdlich sämtliche Schimpfnamen aus, die Jan Grenboom von seinem Herrn zu hören bekam und die der gelehrige Vogel abgelauscht hatte, und Jan Grenboom sang draußen in der Küche beim Abspülen der Kaffeetassen mit unverwüstlichem Vergnügen: „Freut Euch des Lebens!“

Eine kleine kostbare Stehuhr, die Leupold dereinst in New York eingehandelt hatte, holte zum Schlagen aus und ließ aechs rasche helle Töne hören. Der Kapitän lächelte verächtlich. „Sechs Uhr! Natürlich auch noch unpünktlich wie alle Frauenzimmer! Nicht einmal bei ihren Liebesgeschichten verstehen sie, Wort zu halten!“ Im gleichen Augenblick läutete es draußen, und man hörte Jan Grenboom seinen Gesang unterbrechen und irgend etwas knurren, was eine Begrüßung bedeuten sollte. Dann that sich die Stubenthür auf, und Ilse trat ein, in einem knapp sitzenden weißen Wollkleid, einen großen weißen Strohhut über dem Goldhaar, einen frischen Maiblumenstrauß an der Brust. Aber selbst dieser Anblick wirkte nicht besänftigend auf den alten Seebären, trotzdem – oder vielleicht weil es ein so reizender Anblick war.

„Grüß Gott, Onkel Erich!“

„Guten Tag, Ilse!“ Der Kapitän hielt das schmale Händchen brummend in seiner breiten Tatze.

„Viele Grüße von Mama!“

„Die weiß also, daß Du zu mir kommst?“

„Ja, das weiß sie!“

„Aber sonst weiß sie nichts?“

„Nein!“

„Natürlich! Deine Mutter ist ihr Lebenlang wie eine Wachspuppe behandelt und mit Handschuhen angefaßt worden, und dabei bleibt’s bis an ihr seliges Ende!“

Ilse antwortete nicht. Sie stand dicht neben dem Bilde der Magdalena; der Kapitän sah forschend von ihr hinüber zu dem Gemälde – nein. sie glichen einander nicht!

„Hast Du mir nichts zu sagen?“

„Ich – ja – viel sogar! Es steht traurig bei uns. Papa ist mit mir hierhergefahren, er ist bei Justizrat Sorau. Unser Gut ist nicht mehr zu halten. Onkel Erich, sie wollen die ‚Perle‘ verkaufen!“

„Hm! Und der Justizrat weiß einen Käufer?“

„Ja – er telegraphierte das an Papa.“

„Wenn der Käufer ’was taugt, könnt Ihr von Glück sagen.“

„Ach, Onkel! Glück! Unser Glück geht hin mit der ‚Perle‘!“

„Dummes Zeug! Solange Ihr das Gut auf dem Halse habt, kommt Ihr Euer Lebtag nicht ’raus aus der Patsche! Aber natürlich seid Ihr nun alle zusammen kreuzunglücklich, Dein Herr Vater und Du und der Junge – was?“

„Ja, sehr unglücklich! Die arme Mama! Sie darf gar nicht transportiert werden – und sie soll nichts wissen. Wir müssen den neuen Besitzer bitten, uns noch auf dem Gut zu dulden, bis – bis die arme Mama –“ Ilse konnte nicht zu Ende sprechen.

„Herrgott, so heul’ doch nicht!“ Leupold machte Anstalt, sich die Ohren zuzuhalten. „Gerechter Himmel! Nicht genug an der einen sentimentalen Geschichte – jetzt kommen sie mir auch noch mit der zweiten!“

Das junge Mädchen erhob den Kopf. „Ich hab’ mir das Unglück nicht bestellt! Nun wir mitten drin sind. müssen wir’s ertragen, da hast Du recht. Daß es Dir aber schon zuviel ist, bloß davon reden zu hören –“

Der Kapitän zog die Augenbrauen empor und sah seine mutige Nichte groß an. Er nahm ihr das, was sie sagte, nicht übel und fand, daß sie die Wahrheit spreche. „Halt!“ entgegnete er gelassen. „Wenn ich so ’was nicht gern hör’, so hab’ ich meine Gründe dafür. Lebte ich in solchen Verhältnissen, daß ich Euch ordentlich helfen könnte – dann wollt’ ich alles haarklein wissen und Du könntest Deine Litanei herbeten von Anfang bis zu Ende. Aber ich kann eben nicht helfen und darum ist mir’s zuviel, davon zu hören. Verstanden?“

Ilse nickte.

„Und nun zieh’ die Handschuhe aus und nimm Dir das Ding da vom Kopfe. Willst Du 'was zu essen haben?“

„Danke sehr!“

„Dann trink’ dies! Echter Madeira – zier’ Dich nicht! So ’was bietet Dir kein anderer Mensch an!“

Ilse zierte sich nicht und trank das Gläschen leer. Während dessen besah sich der Kapitän das junge Mädchen mit grimmiger Miene. „Hm – ja! So also sieht ’ne heimliche Braut aus? Schöne Geschichten machen wir hinterm Rücken der Eltern! Sieh mich ’mal an!“ Er schob ihr rundes Kinn leicht mit dem Finger empor und sah ihr prüfend in die Augen, in die er tief, tief hineinschauen konnte. „Nun sind wir wohl zum Sterben traurig, wie?“

„Nein, Onkel – glücklich trotz allem und allem !“ Um den süßen roten Mund wachte das Lächeln auf und ein warmer Strahl leuchtete in den schönen Augen.

Draußen erklang tiefes dröhnendes Hundegebell, ein rascher Schritt im Vorflur, eine männliche Stimme. Eine heiße Blutwelle schoß verräterisch in das zarte Gesicht bis unter die schimmernden Stirnlocken. Mit einer flinken Bewegung machte Ilse sich von dem Onkel frei, und rasch wie eine Schwalbe schoß sie davon, dem Eintretenden entgegen. Der alte Leupold, der gar nicht weiter beachtet wurde. zog sich samt Cato und Dido in das Vorderzimmer zurück und überließ das „Achterdeck“ dem Brautpaar.

(Fortsetzung folgt.)




[63]
Liebhaberinnen der deutschen Bühne.

Wir haben vor Jahresfrist ein Gruppenbild unserer Heroinen gebracht; heute lassen wir ihm eine Reihe hervorragender Vertreterinnen des Liebhaberinnenfachs folgen. Die meisten der ersteren sind hervorstechende Berühmtheiten, sie haben zum Teil schon eine abgeschlossene Künstlerlaufbahn hinter sich. Anders verhält es sich bei der Mehrzahl der ersten Liebhaberinnen; da finden sich auch jugendliche Kräfte, welche wohl schöne Erfolge errungen haben, aber noch keinen nationalen Ruhm, der in allen Kreisen des Volkes, in Nord und Süd als vollgültig anerkannt würde. Damit hängt es zusammen, daß das kritische Thürsteheramt, welches den Zutritt in den Kreis der Auserwählten bestimmt, schwierig ist. Es giebt junge Talente, denen die Aufnahme mit gleichem Recht gewährt werden könnte. Doch der Raum gebot Beschränkung für Bild und Text – keineswegs soll man glauben, daß die Blumen, die wir hier nicht zum Kranze gewunden, achtlos von uns beiseite geworfen wären. Sie hätten mit Farbe und Duft, Anmut und Talent diesen Kranz noch reicher gestaltet. Jedenfalls suchten wir die verschiedensten Richtungen darstellender Kunst im Fache der Liebhaberinnen zu berücksichtigen.

Auch nach den Heroinen hin ist die Grenze fließend: es giebt Darstellerinnen, welche beide Fächer beherrschen. Das galt schon von Pauline Ulrich, welche wir den Heldinnen zugerechnet, dies gilt ebenso von Franziska Ellmenreich, welche ihre glänzende Vielseitigkeit neuerdings auch dadurch bekundet hat, daß sie im höchsten Sinn tragische Rollen in ihr Repertoire aufgenommen und mit schönem Gelingen durchgeführt hat. Als wir im Jahrgang 1878 unseres Blattes ihr Bild und ihre Lebensbeschreibung brachten, da mochte sie für eine der hervorragendsten deutschen Lustspieldarstellerinnen gelten, die auch auf dem Gebiete der Tragödie die mittleren Aufgaben, die nicht allzu hoch auf dem Kothurn stehen, mit Glück zu lösen verstand. Jetzt ist sie auf dem ganzen Feld der Tragödie heimisch. Ihr Fleiß, ihre geistige Begabung, welche stets das Richtige erfaßt, befähigten sie zu dieser weitreichenden Herrschaft über verschiedene Kunstgebiete. Zwar die elementare Naturgewalt, durch welche sich einzelne Heldenspielerinnen auszeichnen, war ihr nicht gegeben, doch sie ersetzte dieselbe durch den leidenschaftlichen Zug ihres Wesens. Das Spröde, Schroffe, Grelle ist ihr fremd geblieben; sie kam vom Lustspiel her und verleugnete nie die Lustspielgrazie. Ihr Talent ist auf Harmonie gestimmt; immerhin läßt sie auch die Dissonanz, wo sie durch Charakter und Handlung geboten ist, zu ihrem Rechte kommen. Frau Ellmenreich besitzt viel Geist, aber er wirkt nicht aufdringlich störend auf ihre Kunstleistungen; er befruchtet nur ihr Talent mit neuen Eingebungen. Zum Lebenslaufe der Künstlerin haben wir nachzutragen, daß sie von Leipzig zuerst nach Hamburg und dann an das Dresdener Hoftheater kam, wo sie ein Liebling des Hofes und des Publikums wurde. Am 4. Dezember 1879 heiratete sie den Freiherrn Richard von Fuchs-Nordhoff, einen sächsischen Offizier. Damit hing es zusammen, daß sie das Dresdener Hoftheater verließ. Sie trat nun vier Jahre lang als Gast an größern deutschen Bühnen, später in Nordamerika auf, wo sie die „Maria Stuart“ sogar in englischer Sprache spielte. Sie fand auch jenseits des Oceans bei Kritik und Publikum großen Beifall. Dann gehörte sie noch einmal vier Jahre lang der Hamburger Bühne an; ihre außerordentliche Vielseitigkeit, ihre anmutige nie verkünstelte Spielweise machten sie zur beliebten Hauptvertreterin jener ersten Glanzzeit der Pollinischen Direktion, welche neben der Ellmenreich in Barnay und Friedmann künstlerische Kräfte ersten Ranges besaß. Seitdem ist sie nur einmal kurze Zeit, vier Monate lang, am Berliner Theater fest angestellt gewesen. Das Repertoire desselben bot ihr nicht den ausreichenden Spielraum. Dann unternahm sie von Berlin aus einzelne Gastreisen an hervorragende Bühnen. Gegenwärtig tritt sie im Wiener Volkstheater auf. Wie entwicklungsfähig das Talent dieser Darstellerin ist, das beweist die allmähliche Vervollständigung ihres Repertoires nach den verschiedensten Seiten hin. Sie war anfangs eine Stütze des deutschen feineren Lustspiels; ihre Adelheid in den „Journalisten“, ihre Katharina von Rosen in „Bürgerlich und Romantisch“ waren vorzügliche Leistungen; daran schlossen sich Aufgaben von mittlerer Tragik und Rollen der französischen Rührstücke, Maria Stuart, die Rutland in „Graf Essex“, Katharina Howard, die Kameliendame. Während ihres Hamburger Aufenthalts begann sie sich den großen tragischen Aufgaben zuzuwenden, und so spielt sie jetzt eine Brunhild und Theodora. Und daneben versagt ihr keineswegs der heitere feine Salonton. Jedenfalls ist Franziska Ellmenreich eine Zierde der deutschen Bühne.

Und das gilt auch von Frau Hedwig Niemann-Raabe, welche zwar den Ruhm der Vielseitigkeit nicht in Anspruch nehmen darf, aber dafür in ihrem Gebiete einzig und unerreichbar ist. Hedwig Raabe, in Magdeburg geboren, ging schon in ihrem vierzehnten Jahre zur Bühne. Sie trat zuerst am Hamburger Thaliatheater auf und wurde dann für das Berliner Wallnertheater gewonnen. Hier in Berlin wurde Frau Frieb-Blumauer, die eine lebhafte Teilnahme für das junge Talent empfand, ihre Lehrerin. Nach kurzen Engagements in Prag und Mainz war sie vier Jahre lang Mitglied des St. Petersburger Hoftheaters, und als sie nach Deutschland zurückkehrte, trat sie 1863 mit glänzendem Erfolg als Gast in Leipzig auf. Dies Gastspiel begründete ihren Ruf. Es war ein böses Jahr, ein Kriegs- und Cholerajahr; doch das Haus, das jetzige „Alte Theater“, damals das einzige in der Pleißestadt, war immer gefüllt. Das Publikum zeigte sich geradezu entzückt von der Quellfrische dieses Talentes, das zwar in die Fußstapfen der Friederike Großmann trat, aber doch dabei eine sehr anziehende Eigenart behauptete. Es waren Gestalten von holdseliger Mädchenhaftigkeit, welche Hedwig Raabe damals schuf. Charaktere, die wie ein unbeschriebenes Blatt waren, zeichnete sie meisterhaft; aber auch wo es eine kecke Natürlichkeit galt, wie im ersten Akt der „Grille“, wirkte sie mit den ihr eigenen Darstellungsmitteln. Der Ruhm, die erste Naive des deutschen Theaters zu sein, war ihr damals unbestritten. Im Jahre 1871 verheiratete sie sich mit dem gefeierten Sänger Albert Niemann und nahm in Berlin ihren festen Wohnsitz. Eine Zeitlang gehörte sie dem neugegründeten Deutschen Theater an, später tauchte sie auf als einer der Sterne, mit denen Barnay sein Berliner Theater ins Leben einführte. Gegenwärtig giebt sie in der Reichshauptstadt und außerhalb derselben Gastspiele. Natürlich sind die kindlichen Mädchenrollen von ihrem Repertoire verschwunden, dafür spielt sie jetzt Rollen des deutschen und französischen Salondramas vorzüglich; wir brauchen nur ihre Eva, ihre Cyprienne, ihre Hertha in „Ein Tropfen Gift“ zu erwähnen. Ihr Organ hat einen überaus sympathischen weichen Schmelz; ihr Spiel ist stets lebhaft, von bezaubernder Natürlichkeit, und wenn die Wolter ihren unnachahmlichen „Wolterschrei“ hat, so hat auch die Raabe etwas Unnachahmliches: ihr Lachen und ihr Weinen, das ihr noch keine andere Darstellerin abgelauscht hat.

Wie die Ellmenreich und die Raabe an keine Bühne gefesselt, als eine freizügige Künstlerin hat Marie Barkany in Deutschland, in Rußland, in Holland, in der Schweiz und in Amerika viel von sich reden gemacht. Marie Barkany ist ein Kind des Ungarlandes, in Kaschau geboren. Als Zögling des dortigen Ursulinerinnenklosters sah sie „Don Carlos“ und „Maria Stuart“ aufführen, und schon damals fühlte sie sich zur Bühne hingezogen. Als sie dann zur Vollendung ihrer Erziehung nach Wien geschickt wurde, ward sie die eifrigste Besucherin des Burgtheaters und Charlotte Wolter übte auf sie einen mächtigen Zauber aus.

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Liebhaberinnen der deutschen Bühne.
Der umrahmende Fächer nach einer Originalzeichnung von R. E Kepler.

WS: Liebhaberinnnen im Fächer von links nach rechts: Amanda Lindner; Stella Hohenfels; Agnes Sorma; Teresina Sommerstorff-Geßner; Louise Dumont; Lilli Petri; Franziska Ellmenreich; Hedwig Raabe; Marie Immisch; Maria Barkany; Charlotte Basté; Anna von Hochenburger; Clara Salbach; Clara Heese [65] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [66] Heimlich, ohne Wissen der Eltern, trat sie mit dem Schauspieler La Roche in Verbindung, der ihre Begeisterung für die Kunst nährte und ihren Eltern riet, sie die Theaterschule besuchen zu lassen. Ihre erste Anstellung war in Frankfurt a. M.; dann gehörte sie der Hamburger Bühne an, später dem Königlichen Schauspielhause in Berlin. Nach Hülsens Abgang trat sie von dieser Bühne zurück und begab sich auf Gastspielreisen, die nur noch einmal durch eine kurze Verpflichtung für das Lessingtheater in Berlin unterbrochen wurden. Marie Barkany hat den Typus einer feurigen Südländerin, große dunkle Augen und rabenschwarzes Haar, dabei eine elegante schlanke Erscheinung, die sie durch geschmackvolle und glänzende Toiletten zu heben weiß. Der berühmte Maler Adolf Menzel nannte sie die „redemächtige Muse“; sie beherrscht das Wort mit feinem Verständnis, aber auch die Gebärde ist stets im Einklang mit dem Worte, und ihr Spiel hat etwas Innerliches und Seelenvolles.

Auch Amanda Lindner ist in vielen deutschen und russischen Städten aufgetreten; aber sie hat diese Wanderschaft nicht allein unternommen, sondern als ein Mitglied des Meininger Hoftheaters, jener vielgerühmten Wandergesellschaft, deren Einfluß auf die deutschen Bühnen, besonders auf die Regiethätigkeit derselben, nicht hoch genug geschätzt werden kann. Jetzt freilich ist Fräulein Lindner wie alle die andern Künstlerinnen, die wir noch besprechen werden, fest angestellt und an eine hervorragende Bühne gebunden. Amanda Lindner ist ein Leipziger Kind und aus dem Ballett des Leipziger Theaters hervorgegangen. Die Ballettschulung hat sich für mehrere namhafte Künstlerinnen sehr vorteilhaft erwiesen, besonders was Grazie und Anmut des Gebärdenspiels betrifft. Wer Amanda Lindner als Preciosa, wer ihren Herodiastanz in der „Rose von Tyburn“ gesehen hat, der wird zugeben, daß es Rollen giebt, für welche jene Vorschule von großer Wichtigkeit ist. Von Leipzig kam die Künstlerin nach Koburg und von dort nach Meiningen, wo sie eine ausgezeichnete Lehre durchmachte; der Herzog und seine Gemahlin, welche, selbst früher Künstlerin, den Anfängerinnen die wichtigeren Rollen einzustudieren pflegte, ein Bühnenleiter wie Chronegk förderten die junge strebsame Kraft, die sich an den Triumphen der „Meininger“ bei ihren Gastreisen beteiligte und selbst wesentlich zu ihrem Glanze beitrug. Neben der Jungfrau von Orleans und dem Klärchen im „Egmont“, das besonders in der Marktscene eine hinreißende Wirkung ausübte, spielte sie auch jene zarteren Shakespeareschen Rollen wie Desdemona und Ophelia, Lustspielrollen wie die geistreiche Porzia und die trotzige Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“, auch Luise in „Kabale und Liebe“, Thekla im „Wallenstein“, sowie die verführerische Magdalena in der „Rose von Tyburn“. Ihre so erfolgreiche Darstellung der Jungfrau von Orleans bei Gelegenheit des Berliner Gastspiels der „Meininger“ hatte die Aufmerksamkeit der Berliner Hoftheaterleitung auf die Künstlerin gelenkt; nachdem die „Meininger“ ihre Rundreisen eingestellt hatten, wurde sie auf eine lange Reihe von Jahren für das Königliche Schauspielhaus gewonnen. Amanda Lindner ist eine durchaus sympathische Künstlerin, ihr Gesicht hat eingeschnittene Züge, ihre Gestalt ist schlank und anmutig, ihr Organ, obschon ursprünglich mehr für das Kräftige als für das Zarte angelegt, ist biegungsfähig und sie weiß damit ebenso das Milde, Weiche, Mädchenhafte auszudrücken wie den begeisterten Aufschwung.

Ebenfalls aus dem Leipziger Ballett ist Anna von Hochenburger hervorgegangen, jetzt wie Amanda Lindner eine Zierde des Berliner Hoftheaters. Dr. Förster entdeckte als Direktor des Leipziger Stadttheaters die Anlagen des Fräulein Jürgens und übernahm die Leitung ihrer ersten schauspielerischen Ausbildung. Sie trat zuerst als Luise in „Kabale und Liebe“ mit vielem Beifall auf und dann in anderen kleineren Rollen. Im Jahre 1883 ging sie an das Deutsche Theater in Berlin und errang sich namentlich als Julia die volle Gunst des Publikums, die ihr auch treu blieb, als sie 1887 an das Königliche Schauspielhaus übersiedelte. Die Anmut ihrer Erscheinung, das sinnlich Frische und doch Seelenhafte ihres Wesens machten sie zu einer hervorragenden Darstellerin der lieblichen Mädchengestalten Shakespeares. Die Julia war und blieb ihr großer Treffer auch am Hoftheater; ihr schlossen sich die Miranda in „Sturm“, die Desdemona in „Othello“ würdig an. Die Hero in „Des Meeres und der Liebe Wellen“, die Sulamith in Heyses „Die Weisheit Salomos“, die Nausikaa in dem Schreyerschen Drama, die Katharina in Doczis „Letzte Liebe“ fanden ebenfalls viel Beifall. In der letzteren Rolle tritt sie anfangs als junger Ritter auf, und Karl Frenzel rühmt ihr nach, sie habe ausgesehen wie eine von Ariostos Heldinnen, voll Jugendfrische und Lebendigkeit und Schwung in Sprache und Bewegung. Als Vasantasena hat sie dem altindischen Drama gleichen Namens vorzugsweise durch ihr Spiel einen schönen und nachhaltigen Erfolg auf der ersten Bühne des Deutschen Reichs gesichert.

Die Vertreterin des Fachs der ersten Liebhaberin am Stuttgarter Hoftheater, Luise Dumont, stammt aus einer ursprünglich in Italien, später in Südfrankreich ansässigen Familie. Sie wurde 1865 in Köln geboren; schon stand sie im Begriff, den Schleier der Karmeliterinnen zu nehmen, als ein plötzlicher Glückswechsel in ihrer Familie sie zwang, diesen Vorsatz aufzugeben, und sie von der Schwelle des Klosters auf die Bretter des Deutschen Theaters in Berlin führte. Hier sowohl wie in Reichenberg und Graz machte sie ihre ersten Studien, ohne geeignete Beschäftigung zu finden. Das wurde besser, als sie durch Adolf Wilbrandt für das Burgtheater gewonnen worden war; dort konnte, von ihm und Sonnenthal gefördert, ihr Talent sich freier entfalten. Immerhin wurde sie hier von einer Charlotte Wolter und den anderen Größen noch zu sehr in Schatten gestellt. Erst als sie nach Wilbrandts Rücktritt von der Leitung des Burgtheaters, nach Stungart übersiedelte, fand sie einen Spielraum für den ungehinderten Aufschwung ihrer Begabung. Eine glänzende Bühnenerscheinung, ein südliches Temperament, ein das Feuer desselben regelndes gründliches Verständnis ihrer Aufgaben sind die Vorzüge der Künstlerin, die in den Rollen des klassischen Repertoires wie Julia, Maria Stuart, Hero u. a. ebenso hervortreten wie in denen der modernen Dramatik eines Ibsen, Voß, Sardou, Sudermann, denen sie sich mit Vorliebe zuwendet.

Ebenfalls in Süddeutschland, am Münchener Hoftheater, hat eine andere Darstellerin ihr künstlerisches Heim gefunden, Clara Heese. In Dresden am Elbstrom erblickte sie das Licht der Welt als Tochter des verstorbenen Hofschauspielers Rudolf Heese, und nachdem sie die Schule der vortrefflichen Bayer-Bürck besucht, hat sie in Dresden selbst den ersten theatralischen Versuch gemacht. Von dort kam sie nach Hamburg ans Thaliatheater, wo ihr Maurice ein sehr wohlgesinnter liebenswürdiger Direktor war, dem sie sich zu dauerndem Dank verbunden fühlt. Im Jahre 1877 gab sie mit schönem Erfolg ein Gastspiel am Wiener Hofburgtheater, wo sie 1879 angestellt wurde und alsbald sich die Gunst des Publikums erwarb. Doch wurde ihr Vertrag nicht erneuert; sie kehrte 1882 Wien den Rücken, um von da ab dem Münchener Hoftheater anzugehören, dessen Zierde sie noch heute ist. Sie spielt mit Vorliebe Shakespearesche Lustspielrollen, doch ebenso die Claire in Ohnets „Hüttenbesitzer“, eine Dora und Fedora, eine Eva und eine Alexandra in den gleichnamigen Dramen von Sardou und Voß. Ihr letzter großer Erfolg war die Magda in Sudermanns „Heimat“. Die Kritik rühmt ihre herrliche Bühnenerscheinung, ihre Meisterschaft im Mienen- und Gebärdenspiel, die tragische Wucht der Rede, den aus dem Herzensgrunde heraufgeholten Ton der Empfindung.

Kehren wir von der Isar zurück an die Ufer der Spree! Hier finden wir in Teresina Geßner-Sommerstorff eine ebenso begabte wie liebenswürdige Darstellerin, welche seit 1885 dem Deutschen Theater angehört. Teresina Geßner wurde als die Tochter eines österreichischen Offiziers in Oberitalien zu Vicenza geboren; im Alter von zehn Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Wien. Bis dahin hatte sie sich mit der deutschen Sprache wenig vertraut gemacht, denn ihre Mutter war eine Italienerin. In Wien erhielt sie eine sorgfältige Erziehung, und da sie Neigung und Talent für die Bühne zeigte, so ließen ihre Eltern sie vom sechzehnten Jahre an die Schauspielschule des Wiener Konservatoriums besuchen. Darauf wurde sie zuerst in Brünn, später in Innsbruck und Graz angestellt, dann für das Deutsche Theater in Berlin gewonnen. Vorher trat sie mehrmals im Hofburgtheater auf, ohne ein Engagement im Auge zu haben, da sie schon in Berlin gebunden war. In Berlin vermählte sie sich 1888 mit dem tüchtigen Darsteller Otto Sommerstorff. Als Künstlerin vereinigt sie Innigkeit des Spiels mit südlicher Glut – Rollen wie Hero in „Des Meeres und der Liebe Wellen“, wie Julia in „Romeo und Julia“, wie Parthenia im „Sohn der Wildnis“ weiß sie mit einem Zauber [67] zu umkleiden, der etwas durchaus Gewinnendes, Eigenartiges hat. Dabei wird sie von einem klangreichen Organ, einer anmutenden Persönlichkeit unterstützt.

Ebenfalls dem Deutschen Theater gehört Lilli Petri-Anno an, welche längere Zeit Mitglied des Berliner Lessingtheaters war. Vorher hatte sie, nachdem sie die Theaterschule von Kürschner besucht hatte, an den Theatern von Weimar und Leipzig Anstellung gefunden. In Leipzig war sie ein Liebling des Publikums geworden, ihre reizenden Mädchenbilder sind dort noch unvergessen. Da war von Schablone nicht die Rede. Wenn der Darstellerin auch die deutsche Herzinnigkeit ferner lag, so wußte sie doch ihr „Aschenbrödel“ und ähnliche Charaktere stets anziehend zu gestalten durch den Liebreiz ihres Wesens. Ihre eigentlichen Triumphe aber feierte Lilli Petri auf dem Gebiete des modernen Salonstücks, und als Susanne in der „Welt, in der man sich langweilt“ hatte sie einen so nachhaltigen Erfolg, daß dadurch das Stück sich lange auf dem Repertoire erhielt. Ein eigentümlich feiner und würziger Duft lag über diesen und ähnlichen Rollen der Künstlerin, welche sich in Aufgaben der deutschen klassischen Dichtung fast nie versuchte. Nur ihr Götterknabe Euphorion ist den Leipzigern durch seine poesievolle Erscheinung in der Erinnerung geblieben. In Berlin hat sie sich dafür ein neues Gebiet erobert, auf dem sie es zur allgemein anerkannten Meisterschaft brachte: es sind dies die weiblichen Charakterrollen, und gerade die gewagtesten Aufgaben der neufranzösischen und skandinavischen Dramatik hat sie zu Kabinettsstücken ihrer Kunst gemacht. Außer in diesen großen Aufgaben zeigte Lilli Petri auch in kleineren Rollen ihre eigenartige Auffassung und die Gabe, zu charakterisieren, so als Suse in „Freund Fritz“, der sie einen sehr bezeichnenden bäuerischen Beigeschmack gab, so als die launenhafte verwöhnte Signe im „Fallissement“ von Björnson, als übermütige, abenteuerlustige und doch dabei innerlich nicht haltlose Cyprienne in dem Sardouschen Drama dieses Namens. Sie wurzelt ganz in dem Boden des neuen Gesellschaftsstückes; und je schwieriger eine Aufgabe, desto glänzender bewährt sie ihr ursprüngliches Talent in der Lösung derselben.

Eine Berlinerin ist Agnes von Mito-Sorma, welche seit dem September 1891 dem Berliner Theater angehört, nachdem sie von September 1883 bis Anfang 1890 Mitglied des Deutschen Theaters gewesen war. Ihre künstlerische Entwicklung, die sich vor den Augen des hauptstädtischen Publikums vollzog, bewegte sich in aufsteigender Linie. Sie begann mit den Rollen der Hedwig Raabe, als muntere Liebhaberin, gefällig, aber nicht bedeutend, bestechend durch ihr zierlich geschmeidiges Wesen, ihr bewegliches Mienenspiel, ihre glänzenden Augen; sie entwickelte sich aber von Jahr zu Jahr kräftiger und selbständiger. Jetzt ist sie für die Heldinnen des modernen Dramas eine hervorragende Kraft geworden; Ibsens Nora, Sardous Dora spielt sie mit Feuer und fein ausgearbeiteter Charakteristik. Ihre Haltung, ihre Spielweise und Auffassung sind modern realistisch ohne jede Spur eines großen Stils. Mit vielem Geschick weiß sie sich hervorragenden Mustern anzuschmiegen und dem Bilde doch zugleich eigene Züge hinzuzufügen. Sie ist temperamentvoll und wandlungsfähig und weiß die Affektscenen der neueren Dramatik oft in zündender Weise zur Geltung zu bringen.

In Frau Stella Hohenfels vom Wiener Hofburgtheater tritt uns eine sehr gewinnende Darstellerin entgegen, die von Jahr zu Jahr an der Wiener Hofburg festeren Fuß gefaßt hat. Sie ist 1857 zu Florenz geboren, in Paris erzogen und trat zuerst 1873 am Berliner Nationaltheater auf als Käthchen von Heilbronn und Luise in „Kabale und Liebe“. Nachdem sie von August Förster, der sich auf einer Rundreise nach jungen Talenten befand, dem damaligen Direktor des Burgtheaters, Dingelstedt, empfohlen worden war, führte sie sich als Desdemona erfolgreich ein und wurde dort dauernd gefesselt. Anfangs war ihr Wirkungskreis beschränkt; erst Adolf Wilbrandt als Direktor verschaffte ihrem Talent volle Geltung; seit 1887 ist sie mit lebenslänglichem Vertrag an der Burg angestellt. Im Jahre 1889 verheiratete sie sich mit dem damaligen artistischen Sekretär des Burgtheaters Dr. Alfred Freiherrn von Berger. Bezeichnend für die Bedeutung ihres Talents ist es, daß sie mit Nebenrollen Aufsehen zu machen wußte, so mit dem Ariel in Shakespeares „Sturm“ und besonders mit der Katharina in „König Heinrich V.“, die sie mit köstlicher Naivetät spielte. Zarte Mädchencharaktere wie Ophelia und Desdemona weiß sie mit Innigkeit darzustellen; frische Ursprünglichkeit, Heiterkeit, warme Herzenstöne und zugleich leidenschaftliches Spiel in der Eifersuchtsscene zeigte sie als Susanne in der „Welt, in der man sich langweilt“. Aber auch schlichte, deutsche Mädchenrollen wie die Thusnelda in den „Zärtlichen Verwandten“ von Benedix führt sie mit Gemüt und Grazie durch. Die willkommensten Aufgaben fand sie in Wilbrandts Lustspielen, als Helene in „Jugendliebe“, als Marianne im „Unterstaatssekretär“, und einen Triumph feierte sie in der Darstellung der fünf Frauenrollen des „Meisters von Palmyra“, die sie alle höchst charakteristisch durchführte.

Ueber die erste Liebhaberin des Dresdener Hoftheaters, Clara Salbach, haben wir bereits im Jahrgang 1888 (Nr. 6) biographische Mitteilungen gebracht; doch darf diese anmutige Blume im Kranze der gleichstrebenden Künstlerinnen nicht fehlen. Damals gehörte sie dem Leipziger Stadttheater an, zuerst als sentimentale Liebhaberin, die durch das Zarte, Innige, Liebliche ihres Spiels und ihrer Erscheinung die Herzen des Publikums gewann. Man traute ihr anfangs keine Rollen zu, die einen größeren Kraftaufwand verlangen; doch allmählich gewann ihr darstellendes Talent an Energie, ihr Rollenkreis erweiterte sich, und ehe sie Leipzig verließ, spielte sie Rollen, die an das Heroische streifen, mit schönem Erfolg. Und so spielt sie auch an der Dresdener Hofbühne nicht bloß Maria Stuart, sondern auch die Jungfrau von Orleans. Stellt man daneben ihre ausgezeichnete Leistung als Claire im „Hüttenbesitzer“, so sieht man, welchen weiten Kreis von Rollen ihr Talent umschreibt. Und überall ist ihr Wesen, ihr Spiel gleich harmonisch, nicht überwältigend durch dämonische Kraft, aber bestechend durch innigen Ausdruck des Gefühls und durch die künstlerische Haltung der Gesamtleistung.

Als Lustspielliebhaberin des Dresdener Hoftheaters hat die liebenswürdige Charlotte Basté durch ihre graziöse Erscheinung und Spielweise sich ein dankbares Publikum gesichert. Sie stammt aus einer Künstlerfamilie; 1867 wurde sie in St. Petersburg geboren und spielte schon als Kind in Schneiders „Kurmärker und Picarde“ die drollige Französin. Es regnete Bonbondüten und sonstige Geschenke auf die Bühne, und auch ein Lorbeerkranz fehlte nicht; Marie Seebach hatte ihn der jüngsten Debütantin gespendet. Diese bewies ihre künstlerische Pflichttreue dadurch, daß sie über eine platzende Bonbondüte hinweggelangte, ohne sich nach dem verstreuten Inhalt zu bücken; erst als das Stück beendet war und sie hervorgerufen wurde, sammelte sie die süßen, auf der Bühne umherliegenden Gaben ein. Im Alter von 15 Jahren trat sie zuerst am Berliner Hoftheater auf, war darauf zwei Monate in Leipzig, wo sie für die erkrankte Vertreterin ihres Faches einsprang, und wurde dann für St. Petersburg gewonnen, wo sie den Rollenkreis von Goethes Klärchen bis zu den Naiven neuesten Stils beherrschte. In St. Petersburg blieb sie zwei Jahre, dann wurde sie vom Dresdener Hoftheater unter sehr günstigen Bedingungen engagiert. Sie spielt vorzugsweise die Naiven, aber darin geht ihre Kunst nicht auf; sie gebietet auch über einen glücklichen Humor, über einen feinen geistreichen Salonton und hat Rollen wie die Marianne in Wilbrandts „Unterstaatssekretär“ mit glänzendem Erfolg gespielt.

Die jüngste dieser Darstellerinnen, die erste Liebhaberin der Leipziger Bühne, Marie Immisch, hat durch eine sich über das Durchschnittsmaß erhebende Künstlerschaft die einstimmige Anerkennung von Publikum und Kritik gefunden. Geboren 1868 in Weimar, hat sie ihre ersten Studien in Oldenburg unter Otto Devrients Leitung gemacht, war dann zwei Jahre in Danzig und gehört jetzt seit drei Jahren dem Leipziger Stadttheater an. Sie ist eine Darstellerin, die Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, ihre Rollen mit feinem Verständnis durcharbeitet und die zarteren mit echt poetischem Duft umgiebt; das gilt z. B. von ihrer Thekla, welche der idealen Gestalt des Dichters durchaus entspricht. Vorzüglich ist ihre Julia, ihre Bertha in Grillparzers „Ahnfrau“. Für das Zarte und Schwärmerische trifft sie einen sehr anmutenden Ton; aber sie ist auch hinreißend im Ausdruck einer starken Empfindung. Das schöne Talent dieser Künstlerin wird gewiß noch in weiteren Kreisen von sich reden machen. †      


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Blätter und Blüthen.

Wirren in Kamerun. (Zu dem Bilde S. 53.) Recht düstere Weihnachten haben diesmal unsere deutschen Kolonialbeamten in Kamerun gefeiert. Um die Mitte des Dezember vor. Jahres empörte sich plötzlich ein großer Teil, 60 Mann, der aus Dahomenegern bestehenden schwarzen Polizeitruppe, denen sich 40 bewaffnete Weiber anschlossen. Es gelang den Meuterern nicht nur, den Munitionsschuppen zu erbrechen und sich in den Besitz von Geschützen, Gewehren und reichlicher Munition zu setzen, sondern auch trotz fünfzehnstündiger heftiger Gegenwehr der Regierungsbeamten, des zu Hilfe geeilten Vermessungskommandos, sowie der treugebliebenen schwarzen Soldaten das Regierungsgebäude zu erobern. Erst mit Hilfe des am 21. Dezember von einer Erholungsreise zurückkehrenden Kreuzers „Hyäne“ war es möglich, das Verlorene wiederzugewinnen und die Bande der Aufrührer zu zerstreuen.

Soweit die spärlichen telegraphischen Nachrichten, die in dem Augenblick vorliegen, da diese Nummer zum Druck geht. Unser Bild zeigt dem Leser das auf der Höhe der Joßplatte über dem Kamerunfluß gelegene deutsche Regierungsgebäude, davor, von Palmen überschattet, das schöne von den deutschen Kaufleuten in Westafrika gestiftete Grabdenkmal Gustav Nachtigals, des hochverdienten Forschers, der einst vor zehn Jahren hier die deutsche Flagge gehißt hat, bald darauf aber, am 19. April 1885, ein Opfer seiner treuen Pflichterfüllung geworden ist. Erst wurden seine sterblichen Ueberreste auf dem Kap Palmas bestattet, dann aber zum Beginn des Jahres 1888 nach Kamerun übergeführt und dort in dem prächtigen Parke bei dem Regierungsgebäude aufs neue beigesetzt.

Zum Todesjahr des Königs Gambrinus. Wer das Bier erfunden hat, das wird ewig dunkel bleiben; die Volkssage will es allerdings wissen, sie schreibt dieses Verdienst einem flandrischen König Gambrinus zu. Die Entstehung dieser Sage verlegen die Geschichtsforscher in das 13. Jahrhundert n. Chr. Damals regierte Johann I. als Herzog von Brabant, in der Volkssprache hieß er Jan und lateinisch nannte man ihn Jan primus. Er war ein Schutzherr der Gewerbe und ließ sich auch bewegen, den Ehrenvorsitz der Brüsseler Brauergilde zu übernehmen. Die dankbaren Brauer haben infolgedessen in ihrem Innungssaale sein Bildnis aufgehängt, auf welchem der Herzog mit einem schäumenden Bierpokale in der Hand dargestellt wurde.

Jan primus wurde nun als der Schutzherr des Bieres gefeiert, um so mehr, als um jene Zeit das Bier in den Weinbauern starke Gegner hatte und vielerorts zum ersten Male die Biersteuer eingeführt wurde. Aus Jan primus wurde das Wort Gambrinus, aus dem Herzog ein König, dem man nicht nur die Beschirmung, sondern auch die Erfindung des Bieres zuschrieb. Jan primus, das Urbild des Gambrinus, starb gerade vor 600 Jahren, im Jahre 1294. Der Todestag ist uns nicht bekannt. – Wir möchten Freunde des Bieres auf dieses Jubiläum aufmerksam machen; es bietet Gelegenheit, dem verdienten Fürsten ein stilles Glas zu weihen. *     

Gehversuche.
Nach einem Gemälde von L. Deschamps.

Ein mittelalterlicher Fastnachtsbrauch. (Zu dem Bilde S. 57.) Es ist eine bekannte Thatsache, daß das Mittelalter reich war an Volksbräuchen, die sich durch eine für unser heutiges Empfinden mehr als befremdliche Derbheit auszeichnen. Das allgemeine Behagen an drastischer Belustigung trieb natürlich die tollsten Blüten zur Zeit der Fastnacht, wo ja auch in der sonst zarter fühlenden Gegenwart noch da und dort „die Bande frommer Scheu“ sich bedenklich lockern. Der Maler unseres Bildes schildert uns nun solch einen mittelalterlichen Fastnachtsbrauch, der auf dem Leipziger Boden zu Hause war. Dort mußte, so wird berichtet, jede Fastnacht ein Hagestolz mit einem Strohkranz um das Haupt einen Pflug lenken, dem alte Jungfern vorgespannt waren. Auch wir Heutigen sind ja geneigt, das ehelose Leben nicht als die idealste Erfüllung der menschlichen Bestimmung zu betrachten; insbesondere bilden die älteren Junggesellen auch heute noch den Zielpunkt manchen schlechten Witzes, sie müssen es sich sogar gefallen lassen, daß man ihnen mit einer eigenen Steuer droht. Aber das sind doch alles sehr harmlose Dinge gegen die grausame Verhöhnung, welche das fünfzehnte Jahrhundert für angebracht hielt. Und die Bitterkeit eines solchen öffentlichen Schimpfs wurde auch damals schon heiß empfunden. Im Jahre 1499, so wird erzählt, stach eine Jungfer den, der sie anspannen wollte, tot.

Fürsorge für sprachlich zurückgebliebene Kinder. Zu den schönen Errungenschaften der Neuzeit gehört es, daß man das Wesen vieler Sprachgebrechen ergründet und Wege gefunden hat, dieselben zu heilen. Am erfreulichsten ist dabei, daß dank der allgemeinen Schulpflicht und der Fürsorge der Behörden die erprobte Hilfe den weitesten Kreisen zu teil wird. Stotternde und stammelnde Kinder sind gegenwärtig noch sehr zahlreich; man rechnet, daß von hundert Kindern, die in die Schule aufgenommen werden, eins mit irgend einem Sprachgebrechen behaftet ist. Die allermeisten dieser Kleinen können recht wohl richtig sprechen lernen, wenn sie in eine zweckmäßige pädagogisch-gymnastische Behandlung kommen. Darum werden in verschiedenen deutschen Staaten Kurse abgehalten, in denen gelehrt wird, wie man mit derartigen Sprachkranken verfahren muß. In Berlin bildet seit dem Jahre 1885 Dr. Gutzmann Lehrer und Aerzte in der geeigneten Heilweise aus, und bis jetzt haben 206 Lehrer, 3 Lehrerinnen und 20 Aerzte von ihm Unterricht erhalten, um in verschiedenen Gegenden segensreich zu wirken. Nach einem neuerdings veröffentlichten Berichte sind von den Schulkindern, welche von diesen Lehrern behandelt worden sind, 80% dauernd von ihrem Uebel befreit worden. In manchen Städten sind die Stotterer und Stammler fast gänzlich verschwunden. Wenn man bedenkt, wie störend ein Sprachgebrechen im praktischen Leben ist, wie oft es den fleißigsten Menschen am Vorwärtskommen hindert, so muß man diese Fürsorge aufs wärmste anerkennen.

Aber wir dürfen auf dem einmal beschrittenen Wege nicht innehalten, sondern müssen rüstig vorwärtsschreiten, damit kein neuer Nachwuchs von Stammlern und Stotterern entstehe. In dieser Hinsicht hat das Haus wichtige Pflichten zu erfüllen. Sprachgebrechen werden um so eher geheilt, je früher sie in zweckmäßige Behandlung kommen. Eltern von Kindern, die mit Sprachgebrechen behaftet sind, sollten darum nicht versäumen, frühzeitig sachverständigen Rat einzuholen. Dies ist auch deshalb notwendig, weil es vorkommen kann, daß Kinder, die sprachlich zurückgeblieben sind, für geistig zurückgeblieben gehalten und in Anstalten gebracht werden, in welchen sie nicht die für sie erreichbare Bildungsstufe erhalten. Auf diesen Umstand wies neuerdings Moritz Weniger in der Flugschrift „Nicht geistig, sondern sprachlich zurückgebliebene Kinder“ (Karl Bauch, Gera) hin. Man findet in dieser Schrift vielfache Belehrung, nur möchten wir nicht empfehlen, auf brieflichem Wege Auskunft über die Natur des Sprachleidens zu suchen; die persönliche Untersuchung durch einen Sachverständigen, sei es Arzt oder Lehrer, ist unbedingt nötig, und einen solchen zu finden, dürfte gegenwärtig nicht mehr schwierig sein; die Leiter der in so vielen Städten bestehenden Heilkurse für sprachleidende Schulkinder werden gern die gewünschte zuverlässige Auskunft geben. *     


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

A. Z. in Ansbach. Besten Dank für Ihre Mitteilung! Die freundliche Gesinnung, die Sie uns aussprechen, beweist am besten, daß derlei Angriffe der „Gartenlaube“ nicht schaden können!

Nr. 1259. Die Antwort auf Ihre Anfragen finden Sie in der Polizeiordnung Ihres Wohnortes. Allgemeingültige derartige Vorschriften giebt es nicht.

Fr. G. in W. Entschuldigen Sie das Versehen in Rücksicht darauf, daß vierundachtzigjährige Männer zwar oft noch sehr gut, aber häufig nicht mehr sehr deutlich schreiben. So konnte es geschehen, daß wir den Namen des Komponisten der Struwwelpeterlieder „Haßla“ statt „Hußla“ lasen.

E. G. in T....r. Die Wörter „Post“ und „Apostel“ haben nichts miteinander zu thun. Das erstere hängt mit dem lateinischen Wort ponere = niederlegen zusammen, das letztere kommt aus dem Griechischen, wo das Zeitwort apostellein „absenden“, das Hauptwort apóstolos „der Abgesandte“ bedeutet.

Hausvater in Schivelbein. Wie man ein Schattentheater macht? Ja, verehrter Freund, das ist nicht mit ein paar Zeilen unseres Briefkastens zu erklären! Doch können wir Ihnen ein kleines Heftchen empfehlen, worin Sie eine gute und praktische Anleitung finden. Es betitelt sich „Ein neues Schattentheater. Anleitung zur Herstellung von Bühne und Figuren nebst dem Schattenspiel ‚Die Bremer Stadtmusikanten‘. Von M. Reymond“ (Hamburg, Richter). Nach dem dort beschriebenen Muster werden Sie, wenn Sie etwas Zeichner sind, mit leichter Mühe auch noch andere Stückchen eigener Erfindung einrichten können.


Inhalt: [ Verzeichnis des Inhalts von Heft 4/1894 - hier nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Wilde Schwäne.