Die Gartenlaube (1894)/Heft 51

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 51.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (15. Fortsetzung.)

Unaufhaltsam forschte ich weiter: „Base, und als Sie das von dem Meineide Wollmeyers erfuhren, da konnte die Frau mit der Erkenntnis solcher Schuld – da konnten Sie neben dem Manne leben? Konnten das Brot seines Tisches essen und die Luft seines Hauses atmen? Wäre ich Frau Hannchen gewesen, ich hätte in der nämlichen Stunde –“

„Das hätten Sie nicht gethan an Hannchens Stelle,“ unterbrach mich die alte Frau ruhig und bestimmt, „denn, Fräulein Anneliese, sie hat ihren Mann doch geliebt. Wissen Sie, was es für eine Frau heißt, zu lieben? Das heißt alles ertragen, das heißt dulden, zittern, beten für ihn, sich selbst opfern, um den zu retten vor Schmach und Schande, dem man einmal in seinen schönsten Tagen gut geworden ist.“

Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie, tief Atem holend, fort: „Mein Tag werde ich’s nicht vergessen, wie sie im weißen Kleide neben ihm saß unter der Linde. Ich wußte nichts von


Das nach Ostasien entsendete deutsche Kreuzergeschwader.
Nach einer Originalzeichnung von W. Stöwer.

[858] ihrem eben geschlossenen Bund; ich trat leise in die Hausthür, weil ich glaubte – weil –“ Wieder hielt sie inne.

„Base,“ fragte ich ängstlich, „was ist Ihnen denn?“

„Nichts – es ist nur – – keinem Menschen hab’ ich’s je gesagt, und Ihnen thu’ ich es jetzt nur erzählen, damit – damit Sie nicht meinen –“

„Base,“ flehte ich, „wenn es Ihnen schwer wird; ich weiß ja, Sie verachten ihn.“

„Ja! Aber lassen Sie mich reden, Annelieseken,“ beharrte sie, „es ist auch gut für meinen alten Kopf, wenn’s ’mal herauskommt. Ich sagte, ich kam leise aus der Thür, weil ich glaubte, daß mein Schatz auf mich warte. Sie sehen mich erstaunt an? Ja, ja, Anneliese, auch ich hatte einen Liebsten, auf dessen Treue ich Häuser gebaut hätte. Hübsch war ich, glaub’ ich, obschon sechsundzwanzig Jahre alt, aber arm, arm wie eine Kirchenmaus, und deshalb, sagte er, müßten wir heimlich zuwarten, bis daß er eine bessere Stelle und besseres Gehalt bekäme. Das leuchtete mir ein, und unbeschreiblich glücklich war ich arme Waise mit meiner stillen heimlichen Liebe. Ich hatte den Tag, von dem ich rede, tüchtig Arbeit gehabt, denn es war viel Pfingstbesuch auf die Mühle gekommen, aber es flog mir alles nur so von den Händen, weil ich wußte, auf den Abend würd’s so schön, da würde ich neben ihm sitzen droben am Waldrand, wo wir uns immer trafen, und würde seinen Arm um mich fühlen, den Arm, der mich stützen und tragen sollt’ durch das ganze Leben – ach, Anneliese, Sie wissen’s leicht besser, als so eine arme alte Person es beschreiben kann, wie schön Lieb’ und Hoffnung beieinander sein können. Ich bin aber nicht aus dem Haus getreten jenen Abend, denn mein Schatz wartete nicht auf mich, der saß bei einer andern! Mein Schatz, der seiner Seele Seligkeit verschworen hatte, falls er mir untreu würde, der saß neben Hannchen und nannte sie ,sein’ und ,Liebste’, wie er mich auch genannt.“

„Base,“ rief ich empört, „Wollmeyer war – –“

„Ja, Anneliese. Ich stürzte nicht hin und riß sie auseinander, o nein; ich sank auf der Schwelle nieder, und was ich zuerst gedacht und beschloß, ich weiß es nicht mehr. Möglich, daß ich mir vorgenommen habe, Hannchen zu sagen: „Dein Bräutigam ist ein Ehrloser, ein Schurke, er betrog Dich und mich.“ Aber ich that es nicht. Deutlich, ach so deutlich klang mir Hannchens glückliches Schwatzen ins Ohr: es sei ihr zu Mute, als hätte ihr jemand die ganze Welt geschenkt, und gleich beim ersten Sehen sei sie ihm gut geworden, und wie thöricht er doch gewesen, sich vor ihrem Gelde zu fürchten; sie wäre so froh, daß sie es habe, und nun wollten sie auch recht fleißig und rechtschaffen miteinander wirtschaften, denn gerade seine Gewissenhaftigkeit und Zurückhaltung habe ihr gefallen – ach, ich weiß nicht mehr, was sie alles schwatzte in ihrem jungen Glück; sie war eben achtzehn Jahre geworden. Und gerade so, wie er mir gethan, that er ihr; er umfaßte sie und drückte sie an sich und nannte sie das Liebste, was er habe.“

Die alte Frau schwieg; todesstill war es in der Stube. Ich hatte unwillkürlich die Faust geballt. Dieser Mensch, dieser fürchterliche Mensch!

„Und,“ berichtete die alte Frau weiter, „was ich sagen wollte, Anneliese, der Hannchen ist’s gegangen wie mir, als sie innewurde, wes Geistes Kind er sei – sie schwieg. Man klagt einen Mann nicht an, neben dem man so gesessen, dem man so gut war, man kann’s nicht, Anneliese. Man lernt ihn verachten, hassen, und das ist furchtbar, aber den Mut, ihn preiszugeben, den findet man nicht; es ist, als hielten einen tausend Hände. Ich hab’ dem Hannchen nichts verraten können, hab’ kein Wort des Vorwurfs für Wollmeyer gehabt, und als er nachher seine Frau, seinen Schwager, seine Schwägerin ins Unglück riß und ich, alles vergessend, das Verbrechen aufdecken wollte, da hielt mir Hannchen die Hände fest. ‚Erbarme Dich,‘ hat sie gefleht, ,wüßt’ ich ihn im Gefängnis, ich nähme mir das Leben‘.“

Sie brach plötzlich ab und wandte den Kopf. Auch ich schwieg lange. Die alte vergrämte Frau erschien mir in einem ganz neuen Lichte. Wie mochte sie gelitten haben, erst durch den Verlust des Geliebten, dann, indem sie ihn verachtete – und trotzdem immer um ihn, alles mit ansehend, sein junges Eheglück, seinen Fall, sein sittliches Sinken, seine Heucheleien! War es möglich, das zu ertragen, ohne siech zu werden an Körper und Geist? Welche Widerstandskraft, welche Seelengröße wohnte in dieser einfachen Frau! Nie hatte ich sie anders erblickt als still und fleißig ihre Pflicht thuend; immer war sie nur für andere da.

Ich rückte näher zu ihr und streichelte die welken Wangen. Sie wischte sich die Augen und, gewaltsam sich aufraffend, sagte sie: „Ja, ja, Anneliese, Sie lachen vielleicht über die alte hölzerne Base. Doch nein, Sie nicht! Und nun will ich in die Küche und Ihnen den allerschönsten Blattsalat anrichten, den Sie je gegessen haben.“

Ich schlang die Arme um ihren Hals. „Base, Sie sind die liebste beste alte Seele von der Welt, und wenn ich den Wollmeyer bis heute schwärmerisch geliebt hätte – jetzt, nachdem Sie mir das erzählt haben, würde ich ihn glühend hassen. Aber nun haben Sie mir soviel gesagt, Base, nun müssen Sie mir noch etwas berichten – existiert der Beweis noch, das, was Hannchen damals fand?“

„Ja, und auch ein Schriftstück von Hannchen, in dem sie bekennt, wie es zuging mit dem Vermögen des Robert Nordmann. Aber sie wollte, daß nur im Notfalle, im äußersten Notfalle Gebrauch davon gemacht werde, nur dann, wenn er sich weigern sollte, Robert zu entschädigen. Doch nun fragen Sie mich nicht weiter, Annelieseken.“

„Weiß er das?“ forschte ich trotzdem.

„Er ahnt es sicher.“

„Base, Sie sind eine Seele, ein guter Engel, aber in einem haben Sie doch gefehlt: als Sie merkten, daß er sich um Mama bewarb, da mußten Sie dazwischen treten.“

Sie lächelte trübe. „So wahr ich die gnä’ Frau und Robert und Sie liebe, Anneliese, ich hab’ ihm solche Frechheit doch nicht zugetraut. Erst zuletzt, erst zu allerletzt hab’ ich’s gemerkt, und da ging ich zu ihm und hab’ ihm ins Gewissen reden wollen, aber da war’s zu spät, es war schon geschehen, und still ging ich wieder hinunter in meine Stube. Glauben Sie mir, es war nicht das Leichteste, das mit anzusehen.“

Sie nickte mir ernsthaft zu, dann verließ sie die Stube und ich hörte sie draußen mit dem Schlüsselbund rasseln.


Die Zeit, die nun für mich begann, war die traurigste meines Lebens. Ich hatte nur den einen Gedanken: wann kommt die Vergeltung für diesen Menschen, neben den mich das Schicksal gestellt, der mir ein Grauen einflößte, wenn ich nur an ihn dachte. „Mein ist die Rache, spricht der Herr,“ tröstete die Base, „wir dürfen nicht Wollmeyers Ankläger sein, Annelieseken.“

Ach, es giebt schreckliche Martern in der Welt! Diese Mahlzeiten mit Wollmeyer! Als ob ein harmloses Wort ein Verbrechen wäre, auf dem Todesstrafe ruhte, so schwiegen wir; nichts als das Klappern der Messer und Gabeln und die nicht eben manierlichen Geräusche, die mein Stiefvater beim Essen hervorbrachte.

Sein Appetit hatte sich nicht vermindert, er sah überhaupt viel wohler aus, und seine gute Laune kehrte zurück. Er schnauzte Friedrich an, wenn der Wein nicht richtig gekühlt war, er schickte Schüsseln zurück, die ihm nicht schmeckten, mit einem Kompliment an die Base, und er kommandierte mich zum Spazierengehen. Ich mußte mit an Mamas Grabe stehen und den fürchterlichen weinenden Marmorengel bewundern, den er wider meinen Willen darauf gesetzt hatte. Jeder Mensch tritt mit heiliger Andacht an das Grab seiner Mutter; in meines Stiefvaters Gesellschaft verwandelte sich mir die Andacht in ein wildes Schmerzgefühl, in Sehnsucht nach Rache, und elend und erschöpft kam ich dann heim.

So viel wie irgend möglich suchte ich allein zu sein in meiner eigenen Stube, aber auch dies Alleinsein ward mir am Ende zur Pein. Ich begann Klavier zu spielen, zu üben – sofort erschien Friedrich mit der Bitte, aufzuhören; Herr Wollmeyer könne Musik nicht vertragen. Ich wollte lesen, aber was? Papas Bibliothek kannte ich in- und auswendig, die alten zerlesenen Romane des Westenberger Leihinstituts lockten mich nicht, die Bücherei der Komtesse hatte ich längst ausstudiert; sie bestand aus Schulzes „Bezauberter Rose“, Tiedges „Urania“, einigen Werken von Jean Paul, den „Nachbarn“ von Friederike Bremer, und selbstverständlich waren auch Schiller und Goethe da. Ich hätte gern an Papas Buchhandlung in Berlin geschrieben, aber ich besaß kein Geld, keinen Groschen.

Meine Bekannten besuchten mich zuweilen. Friedrich führte sie dann in Mamas Empfangszimmer, ich saß’ mit ihnen auf dem Sofa, und der ganze Erinnerungsschmerz, den diese Räume und der Anblick der von ihr benutzten Gegenstände in mir aufwühlten, machte mich unfähig, freundlich und zuvorkommend zu sein. Sie blieben alle nicht lange, weder die kleine Käthe Tollen und ihre Genossinnen, noch die alten Damen. „Besuchen Sie uns doch auch,“ hieß es, „Wenn Sie erlauben –“, antwortete ich, aber ich dachte [859] nicht daran, auszugehen, um Gleichgültiges zu schwatzen. Ach, laßt mich, laßt mich allein! hätte ich schreien mögen. Zuweilen kam die Komtesse, aber gleich in meine Stube, und dann saß sie im Stuhl auf dem Fenstertritt und ich ihr zu Füßen. „Nun sag’ ’mal Kind,“ neckte sie mich eines Tages, „alle Welt weiß, Du seiest heimlich verlobt – nur ich weiß nichts davon!“

„Ich? Das ist nicht wahr! Tante, wer hat es erzählt?“

„Ich glaube, in der Stadtverordnetensitzung ist es zur Sprache gekommen; Wollmeyers Neffe, der einige Milliönchen besitze, sei der Glückliche. Das ist doch wohl dieser Robert Nordmann, Anneliese, an den Du damals geschrieben hast? Nun, die Menschen wissen ja immer mehr als wir selbst. Mir trug Melitta Tollen die Neuigkeit ins Haus; Du siehst, ich bin da, um Dich zu fragen.“

Ich war nachdenklich; sollte mein Stiefvater davon gesprochen haben? Beim Abendessen ward es mir klar. Es mußte ihm etwas Angenehmes widerfahren sein, vielleicht war es auch die ausgesucht besetzte Tafel, an der wir uns niederließen – Kiebitzeier, der erste Spargel, Lachs, frische Morcheln, die zartesten Radieschen, und dazu köstliches Salvatorbier, das Friedrich in die geschliffenen Pokale goß. Ein Strauß Waldmeister stand auf dem Tisch und durchduftete den behaglichen Raum. Im Nebenzimmer hatte man die Fenster geöffnet.

Es war ein trüber, sehr warmer Frühlingsabend, ein Wetter, in dem man förmlich die Blätter wachsen und die Blüten sich entfalten sieht.

„Nun geht’s mit Macht dem Mai zu,“ begann mein Stiefvater und dressierte sich kunstgerecht ein Kiebitzei, „ehe wir’s uns versehen, wird Pfingsten da sein, Anneliese.“

Ich sah ihn erstaunt an und schwieg.

„Da oben in der Mühle ist Pfingsten noch schöner als Weihnachten,“ sprach er, indem er seinen Bart mit der Serviette kreuz und quer wischte – er hatte mit einem Zuge das Glas geleert. „Wer hat denn das grüne Zeug dahingestellt?“ erkundigte er sich, auf die Maikräuter zeigend. „Ist das bloß zum Riechen? Friedrich, die Base soll Moselwein schicken und Zucker und was sonst noch zur Bowle gehört! Es ist durstiges Wetter, Anneliese. He, hat die Base schon Nachricht von dem Robert bekommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Er legte sich in den Stuhl zurück und lachte.

Das soll man glauben, das soll ich Ihnen glauben? Na, mag’s drum sein – Heimlichkeiten sind bei der Liebe der größte Zauber. Prosit, Anneliese, er soll leben!“

Er trank sein Glas abermals bis zur Neige leer; ich rührte mich nicht.

„Den einen,“ fuhr er fort, „haben Sie nun mit Ihren braunen Hexenaugen in die Ferne getrieben, den andern halten Sie hoffentlich damit für immer in der Heimat fest.“ Und er lachte über seinen Witz.

„Sie wissen ja,“ sagte ich sehr langsam und ergriff eine Schüssel, um mir etwas vorzulegen, „ich nehme keinen Mann, der einen Makel auf seinem Namen trägt, das bin ich meinem Namen schuldig.“

„Was kann der arme Kerl dafür, daß sein Vater einen Irrtum beging? Bah, das ist auch längst vergessen!“

„Er kann nichts dafür, aber er muß darunter leiden. Uebrigens ist das so vergessen nicht, wie Sie glauben, besonders nicht in seiner Heimat; die ganze Geschichte ist da so frisch, als wäre sie gestern passiert.“

„Die ganze Geschichte? Was für eine Geschichte?“ fragte er.

„Die Geschichte von Nordmanns Unglück!“

„Liebe Anneliese,“ sagte er würdevoll, „von einer ganzen Geschichte ist gar keine Rede, es sind höchst einfache Thatsachen.“

„Das müssen Sie mir nicht erzählen; Sie müssen immer bedenken, daß ich bei Mama im Zimmer war, als sie krank wurde.“

Er sah plötzlich leichenblaß aus, sprang auf und wickelte die Serviette um seinen Finger, dann stürzte er aus der Stube.

Die Base trat gleich darauf ein, mit der Krystallbowle, mit Zucker und Orangen. „Was ist denn geschehen?“ fragte sie.

„Ich glaube, Herr Wollmeyer hat sich in den Finger geschnitten,“ antwortete ich.

„Ihr habt Euch gewiß turniert?“ meinte sie in ihrer komischen Ausdrucksweise.

Eben wollte ich ihr den Hergang erzählen, da kam mein Stiefvater zurück. „Es ist gut, daß Sie da sind, Base,“ sagte er, „binden Sie mir das Leinwandstreifchen fest um den Daumen – so, danke schön! Na, setz’ Dich dahin, Alte, und trinke einen Schluck Bowle mit!“ fuhr er leutselig fort, sie zur Abwechslung einmal wieder duzend. „Und nun gieb mir ’mal eine vernünftige Antwort – was hat Robert erwidert auf den Pfingstvorschlag?“

Die alte Frau, die eben eine Flasche Wein in die Bowle goß, sah an ihm vorüber. „Ich hab’ ihm nichts davon geschrieben,“ antwortete sie, „das war doch wohl nur Spaß, Herr Stadtrat?“

„I, Gott bewahre! Ich bitte, schreiben Sie ihm heute abend!“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht meines Amtes.“

„Ach, ich soll wohl zu Kreuze kriechen und selbst schreiben?“ fragte er gereizt.

„Das verlange ich wahrhaftig nicht,“ erwiderte sie, „im Gegenteil, ich würde Ihnen abraten, denn kommen thut er doch nicht.“

Er ließ die Gabel, die er zum Munde führen wollte, sinken und sah sie an, als wollte er sie durchbohren. „Woher wissen Sie das?“

„Das denke ich mir so.“

„Sie denken zu viel, liebste Base; Sie sowohl wie hier das gnädige Fräulein sollten die Thätigkeit ihres werten Kopfes etwas einschränken. Anneliese scheint so wie so bereits an Sinnestäuschungen zu leiden, denn sie kommt mir immer mit Dingen, die sie gehört haben will an dem Tage, an dem ihre Mutter starb. Ich habe bereits mit dem Sanitätsrat darüber gesprochen, der stellt Ihnen eine bedenkliche Prognose, liebes Kind. Da hilft nur, sich recht zusammennehmen, sonst kann man krank werden – hier!“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. „Verstanden, mein Töchterchen?“

Es lag ein eigentümlich höhnischer Ton in den Worten, so daß mir der Zorn heiß zu Kopfe stieg. Und mit der alten Unbesonnenheit rief ich: „Es ist nur gut, daß ich nicht allein an dieser Sinnestäuschung leide, daß auch noch andere Leute davon befallen sind und daß diese Hallucination sogar schwarz auf weiß existiert!“

Die Base packte mich plötzlich an der Schulter. „Sie wissen nicht, was Sie schwatzen, Kind! Das Bier ist vielleicht zu stark gewesen – kommen Sie, kommen Sie, Sie sind nervös, und es ist gewitterschwüle Luft.“

Sie zog mich empor und schob mich dem Ausgange zu und über die Schwelle. Heftig fiel die Thür hinter uns ins Schloß. Wollmeyer hatte sich nicht gerührt; wie er aussah, konnte ich nicht erkennen, es war zu tiefe Dämmerung im Zimmer. Ich fühlte, ich hatte irgend etwas Unkluges gethan, hatte ihm einen Wink gegeben, auf seiner Hut zu sein, hatte ihm verraten, daß mit Brankwitz’ teuer erkauftem Briefe noch nicht alle Zeugen des Verbrechens aus der Welt geschafft seien.

„Aber, Anneliese!“ flüsterte die Base vorwurfsvoll.

Da wurde ich heftig und klagte sie an und Robert. Worauf er denn noch warte? Ehe er nicht handle, würde ich nicht frei sein, und ich wolle frei sein, wolle fort, auf eignen Füßen stehen, fort aus dieser Sklaverei, aus dieser Luft voll Schuld und Gemeinheit. Und wenn er nicht bald komme, würde ich krank werden, und dann könnte mich Herr Wollmeyer ja nach seinem Gusto ins Narrenhaus sperren lassen. Ich riß ein Tuch vom nächsten Stuhl und lief in den dunklen Garten. Das altertümliche Gebäude lag schweigend und finster hinter mir wie ein rechtes Unglückshaus. Der Garten hatte selbst im Sonnenschein etwas Düsteres, heute kam er mir fast unheimlich vor. Die Wasserfläche des Teiches ruhte bewegungslos, den dunklen Himmel wiederspiegelnd; schwül, drückend war die Luft und in der Ferne grollte leise der Donner.

„Mama, Mama, wär’ ich bei Dir!“ rief es in meiner Seele. Dann blieb ich stehen und lauschte; eine Nachtigall begann zu klagen und zu schluchzen, und der ganze berückende sehnsüchtige Zauber einer Frühlingsnacht packte mein einsames Herz. Warum zögerte Robert, wenn er mich wirklich liebte? Er mußte ja wissen, daß ich vergehen würde in diesem Hause, er mußte ja verstanden haben, daß ich ihn nur aus Pflichtgefühl zurückgestoßen hatte. Wenn er in dieser Stunde vor mir gestanden hätte wie in der Sterbenacht Mamas, ich wäre in seine offenen Arme geflüchtet und hätte gesagt: „Ja, Du hast recht, was gehen uns die Toten an, was die Heimat, die uns doch keine ist? Wir leben, wir finden drüben eine andere freundlichere Heimat, komm, komm fort, ach, nur fort von hier!“

Nie hatte ich die Vereinsamung, die Schutzlosigkeit meiner Lage so empfunden wie in dieser Stunde.

Im Stübchen der Base flammte jetzt die Lampe auf; ich sah durch meine Thränen die alte gebückte Gestalt hin und her huschen in dem Lichtscheine, wie ich das schon als Kind so oft beobachtet hatte von dem nämlichen Platze aus, der großen Linde, deren Stamm sich über Manneshöhe gabelte zu zwei himmelanstrebenden Bäumen [860] und an diesem Punkt einen prächtigen Sitz bildete. Heute war ich auch von dem Bänkchen zu diesem natürlichen Sessel emporgestiegen und starrte zu der Base hinüber. Sie schien an ihrer Kommode beschäftigt, bückte sich und erhob sich wieder, und dann ging sie zu dem Tisch und blieb dort sitzen, das Haupt gebeugt, als lese oder schreibe sie; ihr Schatten fiel über die ganze Hinterwand der Stube, ein wunderlich geformter Schatten. Vor den zwei Fenstern befanden sich Gitter, wie überhaupt vor allen Parterrefenstern des Gebäudes, schwere schmiedeeiserne Gitter mit kunstvollen Schnörkeln an dem unteren Teil. Ich hatte diese verschlungenen distelähnlichen Blumen einmal nachgezeichnet, die Distel war die Wappenblume der Serrenburgs. Nun nahm ich mir vor, das ganze alte Haus zu zeichnen, so, wie ich es jetzt vor mir sah, düster, in Abendbeleuchtung, und dann noch im lichten Sonnenschein; ich hatte ja in ihm das ganze Glück und das ganze Unglück meines Lebens ausgekostet – es sollte eine Erinnerung für mich sein.

Am liebsten wäre ich die Nacht über hier sitzen geblieben, aber die Unruhe der alten Frau dort drinnen – sie ging jetzt wieder im Zimmer umher – schien mir ein Zeichen, daß sie sich zum Schlafengehen rüsten wolle; so glitt ich denn von meinem Lieblingsplatz herunter und schlug langsam den Weg nach dem Hause ein. Ein paar Tropfen sprühten mir ins Gesicht, es begann zu regnen. Wenn es regnet, schläft man so schön, hatte Mama immer gesagt; ich war müde, todmüde, trotzdem machte ich noch einen kleinen Umweg, ehe ich den Garten verließ. Als ich in mein Zimmer trat, sah ich die alte Frau nicht, aber auf dem Tische neben der Lampe und dem geöffneten Tintenfaß stand ein Teller mit zwei großen, tauig beschlagenen Pokalen mit duftender Bowle. Eine Sekunde streckte ich die Hand danach aus, ich war sehr durstig, dann ließ ich es, und in diesem Augenblick kehrte die Base zurück.

„Sie trinken doch auch nicht, Anneliese?“ fragte sie und ergriff die Gläser, um sie hinauszutragen. „Es ist so süßes fades Zeug; er liebt es so süß. Ich bringe es hinaus, mögen die Leute es sich nehmen!“

Ich gab ihr recht, und als sie wieder hereinkam, sagte sie: „Wenn Sie so denken wie ich, Annelieseken, dann gehen wir schlafen.“

Ich suchte jetzt schon immer um neun Uhr mein Lager auf. Was sollte ich auch thun? Der einzige Augenblick, wo ich mich ruhig und geborgen fühlte, war der, wenn die Base abends den Schlüssel an unserer Stubenthür herumgedreht hatte. Ich streichelte ihr beim Gutenachtsagen über die Wangen; sie waren naß, und auf dem schwarzen Haubenband lagen noch glänzende Tropfen verstreut.

„Sind Sie draußen gewesen, Base?“ fragte ich erstaunt.

„Ja!“ bestätigte sie. „Nur über den Hof hinüber zum Gärtner, wegen dem Spargel für morgen.“

Ich saß schon halb entkleidet auf dem Bettrand, als ich sie rufen hörte, sie könne den Schlüssel zu ihrer Thür nicht finden, die auf den Flur mündete; ob ich nicht einmal nachsehen wolle, ich habe doch junge Augen.

Drei, viermal leuchteten wir umher, hoben die Matte vor der Thür auf, es fand sich nichts. Es waren altmodische Schlösser, der Schlüssel riesengroß, er konnte sich unmöglich verstecken.

„Das ist doch sonderbar, Base!“

„Ich weiß auch gar nicht – ich hab’ ihn heute nicht von außen stecken lassen, weil ich gar nicht fort gewesen bin. Und vorhin, als ich da hinüber lief, da habe ich ihn doch noch im Schloß gesehen.“

„Was machen wir nun?“ fragte ich.

„Nichts, Kindchen; wir schlafen bei offener Thür. Oder fürchten Sie sich?“

„Ich? – Nein!“

„Dann legen Sie sich getrost hin; wer bei Ihnen stehlen will, muß erst durch meine Zimmer, Anneliese.“

„Sprechen Sie davon nicht, Base,“ sagte ich und löschte mein Licht aus.

Aber schlafen konnte ich nicht; Gott weiß, was mir für abenteuerliches Zeug im Kopfe umherging. Bald glaubte ich Tritte zu hören, bald ein Rascheln und Atemholen. Thörichtes Mädchen! schalt ich mich selber. Die Base nebenan hustete zuweilen, es klang so tröstlich. Draußen rauschte der Regen mächtig hernieder, das einförmige Geräusch machte wirklich müde, ich schlief ein.

Plötzlich erwachte ich – wodurch, kann ich nicht sagen; im nächsten Augenblick saß ich aufrecht im Bett und lauschte. Von der Marienkirche drüben schlug es zwei Uhr; der Regen plätscherte immer noch. Aus der Stube der Base kam es, das Rascheln und Räumen, ein leises vorsichtiges Tasten und ein Knistern wie von Papier oder dergleichen. Ich schlich, notdürftig angekleidet, mit verhaltenem Atem und furchtbarem Herzklopfen auf meinen weichen Filzpantoffeln hinüber zur halb angelehnten Thür – Was mochte die alte Frau dort treiben?

An der Kommode sah ich eine Gestalt, eine dunkle Gestalt, eifrig bemüht, in der aufgezogenen Schublade zu krämen. Die Base schloß ihre Fensterläden nie, es war deshalb ein dämmeriges Licht in dem Raume. Die alte Frau lag im Bette und schlief.

Mir wankten die Knie, und die Zunge ward mir schwer wie Blei. Dann schlug ich die Thüre zu, daß es dröhnte, und sprang an die elektrische Klingel; unheimlich gellte der schrille Klang durch das Haus. „Hilfe!“ schrie ich aus meinem Zimmer auf den Flur hinaus, „Diebe! Diebe!“

Eine dunkle Gestalt flüchtete dem Hausgang zu; ich ließ noch immer die Klingel gellen.

Dann lief ich zur Base hinüber. „Um Gottes willen, wachen Sie doch auf! Wachen Sie auf!“ Mit zitternden Fingern machte ich Licht. Sehen Sie doch, es waren Diebe hier, Sie sind bestohlen!“

Die alte Frau saß aufrecht im Bette, ohne jedes Zeichen von Ueberraschung.

„Sehen Sie doch!“ wiederholte ich ungeduldig.

„Ja, ja,“ murmelte sie – „ich bitte Sie, Anneliese, ziehen Sie sich an, Sie erkälten sich sonst; ich will gleich aufstehen.“

Im Hause wurde es lebendig, das Stubenmädchen erschien und die Köchin; die alte Frau hatte sich rasch angekleidet. Man beleuchtete nun die geöffnete Kommode, aus deren oberster Schublade der Inhalt zum Teil herausgerissen war, zum Teil unordentlich hervorsah, und bestürmte die Base mit Fragen.

„Ja, wie kann er denn hereingekommen sein, der Dieb? Einsteigen ist doch nicht möglich! Schickt auf die Polizei und weckt den Herrn – der Herr muß doch kommen! Wo ist Friedrich?“ riefen die Mägde durcheinander.

„Der schläft,“ sagte das Stubenmädchen.

Die Köchin lief hinauf, den Herrn Wollmeyer zu wecken. Nach einigen Minuten erschien mein Stiefvater auf dem Platze. Er begann die Base auszufragen, mit gerunzelter Stirn und der verdrießlichen Miene, die Leute haben, die unsanft aus ihren süßesten Träumen aufgestört sind.

„Ist denn thatsächlich gestohlen?“ forschte er, „was vermissen Sie, Base?“

„Nichts!“ antwortete die alte Frau, „wahrscheinlich fand der Dieb nicht, was er suchte.“

„Ist das Sparkassenbuch da?“

„Jawohl, das wird schon da sein; bin auch gar nicht bange, daß der Mensch es mir hat stehlen wollen.“

„Na, aber was denn sonst, Base?“ rief eines der Mädchen.

„Ja, was weiß ich!“

Herr Wollmeyer sah sich im Zimmer um. „Zum Fenster kann doch niemand herein? Es muß sich also jemand im Hause versteckt gehalten haben. Bemerkten Sie denn kein verdächtiges Geräusch oder das Aufbrechen des Schlosses? Schliefen Sie so fest?“

„Ich war wach, und die Thüre war offen,“ berichtete die Base, „ich habe den Mann hereinkommen sehen und alles beobachtet.“

„Warum haben Sie denn nicht um Hilfe gerufen?“ fuhr die Köchin sie an, „der Kerl hätte seine gesalzene Tracht Prügel heimgetragen.“

„Nun, ich wollt’ ihm gerade sagen, daß er nicht finden würde, was er suche, und daß er machen solle, fortzukommen, da klingelte Fräulein Anneliese.“

„Diese Seelenruhe begreife ein anderer!“ bemerkte Herr Wollmeyer, und seine zwinkernden flimmernden Augen suchten mich. „Legt Euch schlafen, Kinder, morgen früh lasse ich die Polizei holen.“

Ich konnte nicht sprechen vor Aufregung, wandte mich um und ging in mein Zimmer zurück. Bald darauf war die Stube leer, und die Base kam zu mir. Mitleidig sah sie mich an.

„Beruhigen Sie sich, Annelieseken, schlafen Sie schön! Morgen wird anderer Rat.“

„Warum riefen Sie mich nicht, Base?“

„Wozu denn? Ich wußte, der Dieb würde nichts finden; da that ich, als schliefe ich.“

[861]

Schwerer Dienst.
Nach einer Originalzeichnung von Fr. Stahl.

[862] Sie brachte mich zu Bette, gab mir Wasser zu trinken und hielt meine zitternden Hände. „Armes Kind! Armes Kind, was müssen Sie alles erleben!“

„Ich halte es nicht mehr aus, ich sterbe hier!“ rief ich. „Wenn wir übermorgen hier ermordet werden, ist’s kein Wunder!“

Am andern Morgen war ich halb krank.

Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde von dem versuchten Diebstahl bei Wollmeyers in der Stadt verbreitet; die einzige, die gelassen blieb, war die Base. Die Komtesse kam; „wie ich gehe und stehe,“ entschuldigte sie sich, „im Morgenkleid.“ Sie besah sich die geöffnete Kommode, in dem die saubern Knüpftücher der alten Frau, verschiedene Pappschächtelchen, ein perlengesticktes Brillenfutteral, Briefschaften u. s. w. durcheinander gewühlt lagen, schüttelte den Kopf und prophezeite den Untergang der Welt, wenn überhaupt erst so etwas vorkommen, in Westenberg vorkommen könne. Daß der Dieb nicht das Sparkassenbuch mitgenommen habe, das offen obenauf lag, das begriff sie nicht. „Habt Ihr schon nach der Polizei geschickt?“ fragte sie.

Die Base verneinte.

„Da hört doch alles auf!“ fuhr die Komtesse sie an, und als in diesem Augenblick Wollmeyer eintrat, um sich notgedrungen zu erkundigen, wie denn der gestrige Schreck abgelaufen sei, entspann sich in meinem Wohnstübchen ein heftiges Wortgefecht zwischen den beiden, in dem diesmal Wollmeyer unterlag, denn die resolute Dame erklärte ihm, wenn er die Sache nicht anzeigen wolle, so werde sie es thun; im Interesse von ganz Westenberg müsse das geschehen. Und obgleich sie durchaus kein Recht besaß, diese Drohung auszuführen, wirkte sie doch auf meinen Stiefvater. Er schickte Friedrich nach dem Rathause. Unverkennbar war er in sehr schlechter Stimmung; er zuckte die Achseln, nannte die ganze Geschichte eine Bagatelle und den Anteil, den man daran nahm, übertriebene Sucht nach Sensation. Als dann aber auch der Sanitätsrat noch dazu kam und der Komtesse zuflüsterte, man sei die strengste Untersuchung der ganzen Stadt schuldig, machte er eine halbwegs anständige Miene zu der Sache.

Der Kommissar, Herr Braunberg, erschien höchstselbst mit dem Stadtsergeanten und mein Stiefvater erklärte, es sei ein unbegreiflicher Vorfall und er müsse beinahe die Begebenheit für eine krankhafte Sinnestäuschung der beiden Beteiligten halten.

Der sehr gefällige Beamte besah sich zunächst den Thatort, erfuhr die Schlüsselgeschichte, schüttelte den Kopf, als er hörte, daß nichts gestohlen sei, und verlangte auch mich zu sprechen.

Tante Komtesse half, mich anzukleiden. In der Stube der Base war das gesamte Personal des Hauses versammelt; wir traten nun auch ein.

„Bemühen Sie sich doch nicht,“ sagte die Base gerade zu dem Polizeikommissar, „Sie fangen ihn doch nicht!“

„So? Das warten Sie ab! Haben Sie einen Verdacht?“

„Was heißt Verdacht?“ murmelte sie. „Ich sage nur, gestohlen ist nichts, also wozu die ganze Geschichte? Ich glaub’, der Dieb war gar kein Dieb, sondern einfach ein neugieriger Mensch.“

„Schwatzen Sie nicht Unsinn!“ fuhr mein Stiefvater sie an.

„Wer von den Leuten kam zuerst auf Ihr Klingeln?“ fragte der Kommissar nun mich.

Köchin und Stubenmädchen meldeten sich: „Wir!“

„Wer ist noch im Hause?“

„Hier, der Diener.“

„Kam der Diener auch gleich?“

„Nein, der schlief; wir konnten ihn gar nicht ermuntern,“ sagte die Köchin. „Das machten die zwei großen Gläser Bowle, die er sich zu Gemüt geführt. Das Fräulein und die Base hatten nichts getrunken, da mußte der Gierschluck die Bowle gleich hinunterschütten.“

Friedrich erklärte, er sei nach dem Genuß des Weines völlig betrunken gewesen und habe sich kaum mehr aufrecht erhalten können; noch jetzt sei er wie benommen im Kopf. So ’ne Maibowle habe es in sich und er sei Wein nicht gewohnt, setzte er entschuldigend hinzu.

„Wahrscheinlich sehr schwerer Wein?“ bemerkte der Polizeikommissar.

„Nein, durchaus nicht! Eine Flasche leichten Sekts, zwei Flaschen Mosel,“ lachte Herr Wollmeyer.

„Und die Tropfen, Herr Stadtrat,“ erinnerte der Diener, „die ich aus dem Schlafzimmer holen mußte.“

„Was für Tropfen?“ fragte der Beamte.

„Die Orangenessenz,“ warf Herr Wollmeyer leicht ein. „Ich nehme immer Orangenessenz zur Maibowle; versuchen Sie es nur ’mal, Braunberg; delikat, sage ich Ihnen.“

„Haben Sie Verdacht auf den Diener?“ fragte der Polizeikommissar die Base, nachdem Friedrich und die Mädchen sich entfernt hatten.

„Gott bewahre, der ist die ehrlichste Haut unter der Sonne,“ erklärte diese rasch.

„Erinnern Sie sich der Gestalt des Menschen?“ wandte er sich jetzt wieder an mich.

„Ja; ungefähr wie Herr Wollmeyer, breit, gedrungen, was man so ,untersetzt‘ nennt,“ erklärte ich.

Herr Wollmeyer lächelte. „Sehr schmeichelhaft!“

„Anzug, gnädiges Fräulein?“

„Weiß ich nicht; jedenfalls dunkel. Ich erkannte kaum mehr als die Umrisse der Gestalt.“

Der Beamte fragte nicht mehr; er betrachtete nochmals die Fenster, öffnete und schloß sie und schüttelte den Kopf. „Ein Einsteigen ist ausgeschlossen,“ sagte er, die starken eisernen Gitter musternd, „es ist also entweder jemand vor dem Schließen der Hausthür eingedrungen und hat sich versteckt gehalten, oder aber –“ er stockte und sah die Base an – „es ist ein Hausdieb gewesen. Fräulein Himmel, was für Wertsachen haben Sie im Besitz?“

„Mein Sparkassenbuch, das obenauf lag; es wurde nicht genommen. Ferner eine altmodische Brosche, eine Uhr aus Silber, einige silberne Löffel.“

„Das ist alles noch vorhanden?“

„Ja.“

„Besitzen Sie nicht etwas, das, an und für sich vielleicht unscheinbar, für eine bestimmte Persönlichkeit von großem Werte ist?“

Die alte Frau zögerte einen Augenblick. „Ja,“ sagte sie dann laut.

„Nur für eine ganz bestimmte Person?“

„Für zwei Personen, Herr Kommissar.“

„Befinden sich diese Personen hier im Hause?“

„Eine davon, ja!“

Mein Stiefvater stand unbeweglich am Thürpfosten; seine Augen hingen starr an der alten Frau bei dieser Wendung.

Der Beamte wandte sich jetzt um und bat sehr höflich die Komtesse, sich zu entfernen; auch den Sergeanten schickte er fort. Die Base, Herr Wollmeyer, der Polizeikommissar und ich blieben allein. Mit zitternden Händen ergriff ich die Lehne eines Stuhles. Was würde nun kommen!

„Berichten Sie, Fräulein Himmel,“ forderte sie der Kommissar auf.

„Sie fragten mich, ob ich etwas besitze, das großen Wert für eine bestimmte Person hat. Ich habe Ja gesagt,“ erwiderte die Base. „Dieses Besitztum sind zwei Schriftstücke, die mir die verstorbene erste Ehefrau des Herrn Wollmeyer vor ihrem Tode übergab, unter der Bedingung, sie nur im Falle der Not in geeignete Hände zu legen.“

„Und Sie nehmen an –?“

„Ich weiß, daß diese Schriftstücke von großer Wichtigkeit sind für Herrn Wollmeyer.“

„Mir ist von solchen Schriftstücken nichts bekannt,“ rief mein Stiefvater. „Was soll das für eine alberne Geschichte werden! Herr Polizeikommissar, ich bitte, machen Sie dieser Komödie ein Ende!“

Der Beamte hatte plötzlich ein so marmornes Gesicht bekommen, daß die jovialen Worte des Herrn Stadtrats daran abprallten wie Wellen an einem Felsen. „Wo befindet sich die andere Person, die ein ebenso großes Interesse an den Doknmenten hat?“

Eine lange Pause folgte.

„Da Sie den einen genannt haben, fordere ich auch den Namen des andern,“ klang es streng.

„Robert Nordmann in Halle,“ gab die alte Frau mit fester Stimme zur Antwort.

„Sie wissen bestimmt, daß diese Person gestern abend nicht hier gewesen sein kann?“

„Ich weiß es bestimmt,“ sagte sie.

„Aha!“ fiel Herr Wollmeyer ein, „jetzt beginnt mir die Sache verständlich zu werden – mein Herr Neffe spielt hier eine Rolle. Sie erinnern sich vielleicht noch, lieber Braunberg, der Gymnasiast, der damals bei Nacht und Nebel nach Amerika durchbrannte.“

[863]

„Ich erinnere mich, daß sich aus Ihrem Hause heimlich ein junger Mann entfernte. Ist es der nämliche, Fräulein Himmel?“

„Ja.“

„Er hält sich jetzt in Deutschland auf?“

„Er dient sein Jahr als Einjähriger ab.“

„War er in der letzten Zeit einmal hier in diesem Hause?“

„In der Nacht, da die zweite Frau Wollmeyer starb, war er hier,“ antwortete die Base.

„Was wollte er hier?“

Die Base schwieg; verlegen sah sie zu Boden. Mein Herz pochte wie wahnsinnig.

Herr Wollmeyer lächelte höhnisch. „Ah, ah – was erfahre ich denn da, meine liebe Anneliese? Sollten Sie zufällig wissen, wem der Besuch des Herrn Robert Nordmann galt?“

„In welchen Räumen hielt er sich auf?“ fragte Braunberg, ohne diese Taktlosigkeit zu beachten.

„In diesem Zimmer, dem nämlichen, wo der Einbruch geschehen ist,“ erklärte die alte Frau.

„Wie lange war Herr Nordmann bei Ihnen?“

„Von abends zehn Uhr bis morgens gegen Fünf. Er reiste ab, sobald er erfuhr, daß die gnädige Frau tot sei.“

„Herr Wollmeyer wußte nicht darum?“

„Nein! der Besuch galt mir. Er war auf meinen besonderen Wunsch gekommen.“

„Ich frage Sie noch einmal, Fräulein Himmel – welchen Beweis können Sie dafür erbringen, daß Herr Nordmann in dieser letzten Nacht nicht hier gewesen ist, daß also nicht er es war, der den Entwendungsversuch machte?“

„Den einfachsten von der Welt – er weiß gar nicht, daß ich diese Papiere besitze.“

„Und Sie sind überzeugt, daß diese Papiere noch in Ihrem Besitz sind, daß sie der Eindringling nicht nahm?“

„Er nahm sie nicht, er konnte sie nicht nehmen.“

„Aha, Sie hatten sie nicht in jener Kommode?“

„Ich besaß sie überhaupt nicht mehr; ich hatte sie bereits an meinen Neffen geschickt.“

„Und wann ist das geschehen?“

„Gestern abend.“

„Gestern abend?“ Der Beamte sah sie aufmerksam und zweifelnd an. „Wie kamen Sie dazu, sie gerade gestern abzusenden?“

„Ich hielt sie hier nicht länger für sicher.“

„Haben Sie eine Postquittung?“

„Nein, ich habe sie mit gewöhnlichem Brief gesandt. Als ich mich zum Fortschicken entschloß, war die Post nicht mehr geöffnet.“

„Also da wäre Robert Nordmann heute früh in den Besitz dieser ihm so wertvollen Papiere gekommen?“

„Ja, länger werden Briefe nach Halle wohl nicht brauchen.“

Der Polizeikommissar schwieg und strich sich den Bart. Herr Wollmeyer trocknete sich die Stirn mit dem seidenen Taschentuch. „Es ist doch sonderbar,“ stieß er hervor, „heute nacht wird hier eingebrochen, und heute früh ist Herr Nordmann im Besitz eines bestimmten Gegenstandes, der für ihn sehr wertvoll sein soll!“

Der Beamte hatte ein kleines Notizbuch aus der Tasche gezogen und studierte darin. Dann schrieb er etwas auf und gab es dem herbeigerufenen Stadtsergeanten. „Nach dem Telegraphenbureau!“

Wollmeyer hielt ihn plötzlich am Arm. „Lassen Sie gut sein, Braunberg; ich ziehe den Antrag auf Untersuchung zurück. Es spielen hier Verhältnisse mit, Verhältnisse so zarter Natur – es ist möglich, daß mein Neffe hier war, sogar sehr wahrscheinlich, keineswegs indessen, um sich ein fabelhaftes Papier zu holen, das vielleicht in einem hinterlassenen Schreiben seiner Mutter besteht, sondern um – Sie wissen, lieber Braunberg, bevor die Verlobungsanzeigen nicht gedruckt sind – und Sie wissen, solche Süßigkeiten sind ja um so reizender, wenn sie hinter dem Rücken des Papas – ha, ha!“ Er lachte jovial und schlug dem Beamten auf die Schulter. „Ich werde mit dem nächsten Zug hinüberfahren nach Halle und unter vier Augen mit dem Jungen reden. Kommen Sie mit hinaus, wir trinken ein Glas Rotspohn miteinander – die Sache hier ist erledigt!“

Ich stand plötzlich auf den Füßen; ich wollte reden, wollte hinüberstürzen, um dem Menschen einen Schlag ins Gesicht zu geben, der es wagte, Robert und mich zu beschimpfen.

Die Base riß mich zurück und trat zu dem Beamten. „Ich bin die einzige, die zu bestimmen hat, ob die Untersuchung erledigt sein soll oder nicht!“ rief sie mit totenblassem Gesicht. „Mich hat man bestehlen wollen, und da die Sache eine solche Wendung nimmt, verlange ich, daß man ihr auf den Grund geht. Der Vater ist unschuldig des Diebstahls bezichtigt worden, den Sohn will ich vor ähnlichem Schicksal behüten.“

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Herr Nordmann verdächtig ist, zur Nachtzeit in Ihr Zimmer gedrungen zu sein, um sich die für ihn sehr wertvollen Urkunden widerrechtlich anzueignen,“ warnte der Beamte. „Man wird ihn noch heute polizeilich vernehmen.“

„Aber Base, Base,“ mahnte Herr Wollmeyer und trocknete sich die blasse Stirn mit dem Taschentuch. Der Boden schien ihm unter den Füßen zu schwanken, er setzte sich. „Bedenken Sie doch, liebe Base, bedenken Sie doch!“ stammelte er. „Ich reise nach Halle und bringe die Geschichte in Ordnung – machen Sie ihn nicht unglücklich, den armen Jungen.“

Aber die alte Frau hörte ihn nicht. Durch ihre Gestalt ging zwar ein Zittern, während sie sich auf die Tischplatte stützte, und in ihrem Gesicht zuckte es wie Krampf, aber die bläulichen zitternden Lippen gehorchten ihr, und die Augen fest auf den Beamten gerichtet, sagte sie: „Herr Polizeikommissar, Sie würden den Unschuldigen vernehmen – der Thäter ist Herr Wollmeyer. Ich habe ihn erkannt, als ich erwachte, und bin bereit, es eidlich zu bezeugen.“


Heute weiß ich nicht mehr genau zu sagen, wie die Ereignisse jenes Tages sich aufeinander folgten; nur, daß sie lawinenartig über das Haus und seine Bewohner hereinbrachen, das weiß ich noch. Aufrecht inmitten der ganzen Geschichte stand allein die Base. Ich erinnere mich noch, daß jemand mich aus dem Zimmer mehr trug als führte, nachdem die Base gesprochen hatte; daß Wollmeyer lachte, höhnisch, brutal, um dann jäh zu verstummen; daß der Polizeikommissar mit ihm nach oben ging und daß die Base in ihrer Stube blieb, allein, ganz allein und still. Was die alte Frau da mit sich durchgekämpft hat, kennt nur Gott allein.

Wie der Gang des Verhörs sich entwickelte, das nunmehr der Staatsanwalt selbst leitete, ahnte ich nicht. Es war ein immerwährendes Kommen und Gehen von Beamten und Depeschenboten. Wollmeyer verlangte, mit der Base zu sprechen, nachdem ein Telegramm eingetroffen war mit der Nachricht, ein Brief mit Einlage sei in der Wohnung Roberts gefunden worden, uneröffnet, da der Adressat noch im Dienst sei. Die Beamten hatten dann Wollmeyers Haus verlassen, nachdem dieser des Entwendungsversuches überwiesen worden war.

Es waren qualvolle Stunden, die ich verlebte. Ich lag auf meinem Bett, unfähig, mich zu rühren, und mußte das Flehen und Winseln jener Stimme vernehmen, die ich bisher nur im Tone größter Selbstgefälligkeit oder des Zornes hatte sprechen hören. Ich konnte die Worte nicht verstehen, ich deckte auch die Kissen über meine Ohren. Mit einem Male schrie er aber so laut, daß ich es hören mußte: „Ich fordere das Blatt zurück, es ist mein Eigentum! Sag’ ihm, er soll verlangen, was er will; mein ganzes Geld mag der Lump haben und das Mädel dazu! Was braucht’s den großen Lärm, ich will ja doch nichts weiter! Pack’ auf, nach dem Bahnhof, fahr’ hin –“ Und dann wieder das verzweifelte Weinen!

Was die Base geantwortet hat, weiß ich nicht. Was sie gelitten, den Mann so zu sehen, dem sie einst ihr ganzes Herz geschenkt, auch das habe ich nicht erfahren. Sie reiste nicht nach Halle, das Erbarmen war ihr geschwunden nach dem Versuch seinerseits, die niedrige Handlungsweise auf die Schultern Roberts zu laden, dessen Vater er schon entehrt hatte.

Da nahm der Mann, der so schlau zu rechnen verstand, noch einmal seinen ganzen Witz zusammen und löste selbst das verwickelte Exempel seines Lebens, dessen Facit Verachtung, Strafe, schwere Strafe vor dem irdischen Richter ergab, auf eine Weise, die für ihn sowohl wie für die Gerichte die einfachste war. – Gegen drei Uhr nachmittags hallte droben in seinem Arbeitszimmer ein Schuß.

Die Base trat zu mir in die Stube. „Was war das?“ fragte ich und fuhr mit Herzklopfen empor.

„Es wird irgend etwas hingefallen sein, Anneliese.“

Da gellte schon der Schrei des Stubenmädchens durch das Haus: „Der Herr – der Herr!“

Stumm ging die alte Frau hinaus. – – –

(Schluß folgt.)


[864]

Weihnachtsmärchenspiele.
Von Alexander Tille.
Mit Illustrationen zu Humperdincks „Hänsel und Gretel“ von A. Zick.

In demselben Maße, in welchem im Volke sich noch fortgesetzt Bestandteile der volkstümlichen Ueberlieferungen an das Weihnachtsfest heften und es zum größten Jahresfest erheben, sind seit dem Aufleben der Romantik am Anfange des 19. Jahrhunderts die führenden Schichten beschäftigt, sich das neugewonnene Kinderfest zu verklären, indem sie es mit der Sagenwelt der deutschen Vorzeit verknüpfen. Von ein paar hergebrachten Anfangspunkten ausgehend, bauen sich die Freunde der Volkskunde eine ganze germanische Weihnachtsmythologie zusammen, und es wird das Lieblingsthema der Weihnachtsbetrachtung, sich auszumalen, wie die Götter des deutschen Himmels in der heiligen Zeit der Wintersonnenwende herniederstiegen zu den Menschen und ihnen Gaben und Segen brachten, wie die Unholde in der wilden Jagd umherbrausten und den Neugierigen straften, dem Biederen und Gehorsamen aber ein Glückskleinod zuwarfen, wie die „alten Germanen“ durchs Wintersonnenwendfeuer sprangen und den Jul-Eber schmausten, und all das dient dazu, das Weihnachtsfest im Volke nur um so fester zu gründen und unauflöslich mit der sonstigen volkstümlichen Ueberlieferung zu verweben.

Ein Weihnachtsschauspiel, das sich an die moderne Weihnachtsstimmung wenden will, kann einzig diesem Boden entsprießen, und es entspringt ihm in der jüngsten Blüte des deutschen Weihnachtsfestes, in der Weihnachtsfeerie, die seit zwei Jahrzehnten allweihnachtlich über die deutschen Bühnen geht. Was in der italienischen Zauberkomödie des 18. Jahrhunderts an poetischem Gehalte stak, damit belebten die Dramatiker unter den deutschen Romantikern ihre Märchendramen. Zwar sind die Kinder- und Hausmärchen nicht in demselben Sinne deutschnationales Eigentum wie die deutsche Götter- oder Heldensage, aber, seit dem 10. Jahrhundert aus dem Morgenlande nach Deutschland eingewandert und seitdem von der Volksüberlieferung und der populären Litteratur fortgepflanzt und in ihnen lebendig erhalten, können sie doch deutsches Heimatsrecht für sich beanspruchen. Was Ludwig Tieck angebahnt hatte, das setzte der Graf von Platen fort, indem er die beiden Märchen „Aschenbrödel“ und „Dornröschen“ launig zu seinem kleinen Drama „Der gläserne Pantoffel“ verschmolz. Der „Gläserne Pantoffel“ wurde vorbildlich für eine Reihe ähnlicher Schöpfungen, und die mit Riesenschritten fortschreitende moderne Bühnentechnik schuf ein wahres Feenländ der Wunder. Sich an die Kinderwelt vor allem wendend, rückten diese Märchendramen ganz von selbst auf Weihnachten, und als specielle Weihnachtsfeerien entstand seit etwa 1870 eine ganze Reihe melodramatischer Stücke.

Wie Goldmarie und Pechmarie auf des Brunnens Grunde in Frau Hollens Reich kommen und die eine für ihren Fleiß Gold und einen Prinzen, die andere für ihre Faulheit den Pechregen erntet; wie es Gold regnet und wie die Zwerge mit den vielen Weihnachtsbäumchen den Reigen tanzen, wie die Elfen einherspringen mit den weihnachtlich duftenden Tannenzweigen, wie in Frau Holles Welt alles weihnachtsmäßig ausschaut und Weihnachtslust und Weihnachtsfreude ist; wie die Schwester in den „Sieben Raben“ sieben lange Jahre schweigt, um die verzauberten Brüder zu erlösen, und wie Aschenbrödel, daheim zur Schmutzarbeit verurteilt, vom Bäumchen auf Mutters Grabe goldene Kleider übergeworfen bekommt, auf dem Balle alle anderen Mädchen, die Stiefschwestern eingeschlossen, überstrahlt und trotz aller Hindernisse zuletzt doch noch den Prinzen zum Gatten erhält, das alles zeigt die moderne deutsche Weihnachtsfeerie. Und wenn auch hier und da ein Stück poetischer Duft von dem alten Märchen verweht, so wird sein Gehalt und sein Zauber dafür wieder Tausenden nahegebracht, die kein Märchenbuch lesen und nimmermehr Großmütterchens traulichen Geschichten hinterm Ofen lauschen würden; und das Wunderland der Phantasiewelt tritt dem Zuschauer dafür mit [865] voller Pracht und Eindringlichkeit, mit lebendiger Frische und überwältigender Anschaulichkeit entgegen.

Auch der Humor und das drollig Hausbackene finden eine neue Heimstatt. Während Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen haust und unter den Tücken der bösen Stiefmutter leidet, grämt sich der arme Prinz, und der alte König, der ebensogut aus Pfefferkuchen gebacken sein könnte, klagt auf struwwelpetrisch:

Der Junge macht mir vielen Kummer,
Von Tag zu Tage wird er dummer,
Von Tag zu Tage weint er mehr,
Wo nimmt er all die Thränen her?

Der Oberceremonienmeister und der Hofmarschall, mit den pudelnärrischen Namen, die sieben Zwerge Blick und Pick, Knick und Nick, Strick, Schick, Dick mit ihren Schaufeln und Hacken, Aexten und Spaten und der lustige alte König, der aus Freude, daß der Prinz wieder vernünftig geworden ist, zur Mayonnaise statt zur Polonaise antreten läßt, das sind die rechten Hanswürste nach dem Herzen der Kinder, bei ihrem Anblick lacht das kleine Volk, und wenn der König sich beim Austeilen der Chokoladenplätzchen gar versieht und eine Handvoll ins Parterre wirft, dann kennt der Jubel keine Grenzen mehr. Mit all ihrer Narrheit und Ausgelassenheit, ihren Scherzen für die Großen und die Kleinen sind die Weihnachtsmärchenspiele bereits ständige Repertoirestücke in den Weihnachtsvergnügungen der Großstadtkinder geworden, und wenn am ersten Feiertag das Essen vorüber ist, dann rüstet sich die kleine Schar erwartungsvoll zum Gang ins Theater. Das jüngste Schwesterchen, das zum erstenmal mitgenommen wird und das „noch fest an den Knecht Ruprecht glaubt“, hat freilich noch keine rechte Vorstellung davon und denkt: Theater – das ist gewiß ’was zu essen.

Der Oberregisseur des Hamburger Thaliatheaters, K. A. Görner, war der Mann, der das Märchenspiel der großen Bühne zum Weihnachtsmärchenspiel für Kinder umbildete, und sein „Aschenbrödel“ und sein „Dornröschen“, wie seine „Frau Holle oder das fleißige und das faule Mädchen“, die Weihnachten 1880 über die deutschen Bühnen ging, sind seine beliebtesten Schöpfungen geblieben. Während die modernen französischen Märchenspiele in der Hauptsache nur den Hintergrund für großartige Balletteffekte mit Hunderten von Genien und Feen abgeben und sich mehr an das Auge der Erwachsenen wenden, ist das Ohr der Kinderwelt das Ziel der deutschen Stücke. Glanz und Pracht giebt’s freilich auch da genug, und wenn Frau Holle, bestrahlt von einer Magnesiasonne, aus der Brunnentiefe auftaucht, da sieht sie einer Göttin der Liebe nicht unähnlich und gemahnt wohl manchen an Tannhäusers Freundin in dem Venusberge. Aber sonst ist die Gattung weiblicher Wesen, die ihren Sitz auf dem Besenstiel und ihre Heimat auf dem Blocksberge hat, reichlicher vertreten. Ist doch die Hexe neben dem Menschenfresser und dem Wolf die eigentliche Märchenschreckgestalt der Kleinen und in Weihnachtsmärchen kaum zu entbehren, mag sie auch die Gestalt der Frau Königin annehmen, die hier die Schönste ist.

Ganz unerwartet hat sich den deutschen Weihnachtsmärchenspielen vor ganz kurzem ein Stück angereiht, dessen Handlung zwar eigentlich nichts mit Weihnachten zu thun hat, durch das aber doch echte pfefferkuchenduftige Weihnachtsstimmung weht. Es hebt das deutsche Weihnachtsmärchenspiel mit einem Schlage auf eine höhere Stufe. Durch seine Musik eine Oper von hohem musikalischen Werte, ist es eigentlich für die unter den Großen berechnet, die sich gern von einem feinen Ohrenschmause entzücken lassen, aber kraft dem künstlerischen Aufbau der Handlung, der Volkstümlichkeit und schlichten Anmut seines Textes, dem reichen, bunten Geschehen auf der Bühne und der Pfefferkuchenatmosphäre des dritten Aufzuges ist seine Wirkung auf die Kleinen, die noch nicht Motiven lauschen und in Harmonien schwelgen, eine ebenso sichere. Es ist Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, dessen hübscher Text von Adelheid Wette verfaßt ist.

In dem weiten Rund mit seinen roten Sammetpolstern und hundert Lichtern, all dem Glanz und Glast von Gold und Spiegelglas, inmitten von Hunderten von anderen Kindern öffnet sich den Kleinen denn auch eine ganz neue Weihnachtswelt. Der weiße Bart, der Sack und die Rute des Knecht Ruprecht, der heimische Christbaum und die Geschenke vielleicht mit einziger Ausnahme des neuen Schaukelpferdes – sie alle verbleichen vor der Pracht, die sich hier aufthut, und die Weihnachtshoffnung und Weihnachtserwartung tritt hinter der atemlosen Spannung zurück, mit der jedes Beben des Vorhanges beobachtet wird. Da tönt das Glöckchen. Ein augenblickliches Schweigen huscht durch das Haus, um gleich wieder dem vorherigen Stimmengewirr Platz zu machen. Beim zweiten Klang setzt sich alles in Schaubereitschaft, die kleinen Hälse strecken sich und die kleinen Augen lugen zwischen den Köpfen der Vorderleute hindurch. Die prächtige, kräftige Musik rauscht durch den Raum, der Vorhang steigt, und da liegt sie offen vor den Augen da, die armselige Besenbinderhütte, durch deren Fenster der Wald hereinschaut. Da sitzt das arme Hänsel an der Thür und bindet Besen, und das bedauernswerte Gretel muß am Strumpfe stricken, immer einmal herum nach dem anderen. Und dabei haben die Geschwister Hunger, daß ihnen der Magen knurrt. Seit Wochen nichts als trockenes Brot!

Wie das klingt, wenn man an die großen Stollen daheim denkt! Wenn man den beiden etwas davon geben könnte!

Bis die Eltern heimkommen, sollen sie fleißig sein; wie schwer das sein muß, so still zu sitzen! Freilich können sie’s auch nicht über sich gewinnen, bei der Arbeit zu bleiben. Da steht das unartige Hänsel auf und will tanzen, und dem Gretel gefällt dies so gut, daß es den Strickstrumpf hinwirft. Und nun tummeln sich die beiden, daß die Kindergesichter im Zuschauerraume erstrahlen und die Lust mitzutanzen in den kleinen Beinchen zuckt.

Mit dem Köpfchen nick, nick, nick,
Mit dem Fiugeccheu tick, tick, tick,
0 Einmal hin, einmal her,
0 Rund herum, es ist nicht schwer!

Das ist eine Lust und ein Vergnügen. Hunger und Arbeit sind vergessen, und die Kinder tanzen, bis sie beide übereinander zu Boden purzeln. Da giebt’s ein lautes Hallo: das ist manchem Mitglied des kleinen Publikums auch schon passiert. Laut jauchzt es auf und verstummt gleich wieder. O Schreck! In der Thür steht die Mutter, die strenge Mutter des Märchens: die Gesichtchen verziehen sich furchtsam; denn nun geht ein Donnerwetter los.

Wie, Gretel, den Strumpf nicht fertig gestrickt?
Und Du? – Du Schlingel! In all den Stunden
Nicht ’mal die wenigen Besen gebunden?
Ihr unnützen Rangen! Den Stock will ich holen,
Den Faulpelz werd’ ich euch beiden versohlen!

Da stößt die erzürnte Mutter gar noch den gefüllten Milchtopf herunter! Die armen Kinder! Wie kann Hänsel auch noch [866] kichern, wenn sie nun miteinander fort in den Wald gehen müssen, um Erdbeeren zu suchen zum Abendbrot?

Es ist freilich schlimm, daß die arme Mutter nichts zu essen hat. Es ist nur gut, daß sie einschläft, da denkt sie doch nicht daran. Warum nur der Vater so lustig ist und gar so laut singt? Damit wird er sie gewiß aufwecken! Freilich was thut’s, wenn er soviel im Korbe hat? Speck und Butter, Mehl und Würste, vierzehn Eier! Nun hat alle Not ein Ende, und nun hätten auch die armen Kinder nicht in den Wald gebraucht, sondern hätten sich gleich zu Hause sattessen können. Und was da der Vater sagt, wenn es wahr wäre, wenn sie sich in der Nacht verirrten und an den Jlsenstein gerieten zur Knusperhexe im Knusperhaus, wo sie in den Ofen gesteckt und gebacken werden zu Lebkuchenkindern und dann gefressen von der schrecklichen Hexe? Die kleinen Herzen beben, wie sich rasch der Vorhang senkt.

Nun hat sie die Knusperhexe wahrscheinlich schon gefressen? Aber nicht wahr, die Knusperhexe muß sie wieder hergeben? Lebt die Knusperhexe aber auch in einem wirklichen Pfefferkuchenhaus? Weicht denn der Pfefferkuchen nicht auf, wenn’s regnet? Und so geht’s fort mit Fragen, und die kleinen Mäuler stehen nicht still, bis auf einmal das Glöckchen klingt und es nun wieder heißt: Aufpassen! So schlimm war’s ja nicht! Da sitzt ja Gretel ganz vergnügt auf der Wurzel und windet einen Hagebuttenkranz, und unter den Büschen kriecht der Hänsel herum und sucht Erdbeeren. Und schon ist das Körbchen ganz voll. So, Hänsel, da hast Du auch eine Beere zum Kosten. So, Gretel, da hast Du nun auch ein paar in den Mund. Und immer mehr wandern in die kleinen Schnäbel, und nun zanken sie sich gar herum, und Hänsel schüttet sich die letzten ein. Da sitzen sie. Hänsel, was hast Du gethan? Das Körbchen ist leer. Wenn sie ohne Beeren zur Mutter heimkommen, was wird’s da geben? Und dabei wird’s schon düster, finster. Wenn jetzt die Hexe käme! Hu! Gretel schaudert. Müd’ sinken sie hin, Sandmännchen kommt und streut ihnen Schlummer in die Augen. Noch können sie gerade beten:

Abends will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn,
Zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen,
Zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken,
Zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken,
Zweie, die mich weisen zu Himmelsparadeisen.

Und sie sind in guter Hut. Von der Himmelsleiter steigen vierzehn Engel nieder, und während die Kinder, aufs Moos zurückgesunken, Arm in Arm schlummern, schließen sie um sie einen festen Kreis. Auf den Kindergesichtern wird es hell und der Kummer der Besenbinderskinder, die Sorge der Eltern und die Schrecken der Hexe sind vergessen, und leise beten die kleinen Lippen mit:

Zweie, die mich weisen
Zu Himmelsparadeisen.

Wie schade, daß der Vorhang sinkt! Das Sandmännchen und die Engel hätten sie so gern noch ein wenig gesehen. Aber das Knusperhäuschen war ja nicht dabei! Während es den Erwachsenen ist wie eine Kindheitserinnernng und die Kinderfröhlichkeit sie an die eigene Jugend gemahnt, spannen die Kleinen aufs Knusperhäuschen.

Nun kommt das Taumännchen. Aus einer Glockenblume schüttelt es Tautröpfchen auf die schlafenden Kinder. Da wachen sie natürlich auf und reiben sich die Augen. Was ist das? Da kommt die Sonne durch den Nebel, und da glänzt in ihrem Strahl das – Knusperhäuschen. Trotz aller Mahnungen, ruhig zu sitzen, klatscht’s unten im Parterre laut in die Hände. Das ist lebendig gewordenes Weihnachten: wie sie alle dumm dastehen, die Pfefferkuchenmänner, und den Zaun bilden vom Knusperhäuschen nach dem Backofen und dem großen Käfig hinüber und wie das Häuschen selbst zuckerig aussieht! Ja, wer da mit hineinbeißen dürfte! Man kann’s Hänsel und Gretel wirklich nicht verdenken, wenn sie sich endlich doch daran machen. Wie Hänsel vorsichtig ans Häuschen schleicht und ein Stück aus dem Dach bricht! Das arme Hänsel!

Knusper, knusper, Knäuschen,
Wer knuspert mir am Häuschen?

tönt’s von drinnen; das ist die Hexe! Wenn sie nur jetzt rasch ausreißen! Aber das dumme Gretel macht sich auch mit dran, und wie sie da schmausen, da kommt die Hexe wie eine Katze von hinten geschlichen und wirft dem armen Hänsel den Strick um den Hals. Hänsel schreit: „Laß mich los“, aber er kann nicht fort, und das gute Gretel bleibt bei ihm. Und nun kommt’s immer schrecklicher. Die Hexe lähmt den beiden durch Zauber die Glieder, daß sie nicht fort können. Hänsel muß in den Stall und soll gemästet werden. Gretel ist der greulichen Hexe fett genug zum Gleichfressen. Die kleine Zuschauerschaft atmet ängstlich, und hie und da glänzt im glänzenden Auge eine Thräne. Die Lippen verziehen sich schmerzlich. Hänsel bekommt Mandeln und Rosinen, damit er bald fett wird; als aber die garstige Hexe nachschaut, ob er schon einen schmackhaften Braten geben würde, da reicht er ihr ein Stöckchen statt des Fingers, und das pfiffige Gretel lernt der Knusperhexe geschwind ab, wie man sagen muß, um die Gliederstarre wieder los zu werden:

Hocus pocus Holderbusch!
Schwinde, Gliederstarre, husch!

sagt sie leise zu Hänsel hinter dem Rücken der Hexe, und als diese fragt, was sie gesagt habe, da macht sie ihr weis, sie habe ihrem Bruder nur gute Mahlzeit gewünscht. Dafür soll Gretel nun in den Backofen geworfen werden. Aber sie ist schlau und stellt sich dumm, und wie ihr’s die Hexe zeigt, wie man sich dazu vorbiegen muß, schwapps, da springt Hänsel herzu, und schwupps fliegt die Hexe selbst ins Feuer. Da ist endloser Jubel bei der kleinen Zuhörerschaft, und sie können es kaum mehr erwarten, wie die Lebkuchenkinder entzaubert werden und die Knusperhexe als großer Pfefferkuchen wieder aus dem Ofen kommt. Denn das Große ist ja nun geschehen, und nun geht’s heim, heim zum neuen Spielzeug, heim zum Weihnachtsbaum!


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Die Kaiserin Katharina II. von Rußland vor ihrer Thronbesteigung.

Von Eduard Schulte.

Das Leben jener Herrscherin, die, einem deutschen Fürstenhause entsprossen, im Jahre 1762 an der Seite ihres Gatten den russischen Thron bestieg und dann nach Verdrängung des Gemahls als Katharina II. Selbstherrscherin von Rußland wurde, entrollt uns ein hervorragendes Kulturbild aus dem achtzehnten Jahrhundert, in dem neben den dunklen Schatten die Lichtseiten nicht fehlen. Uns sollen hier die Anfänge ihrer glänzenden Laufbahn beschäftigen.

Wer um das Jahr 1740 zur Sommerszeit nachmittags den Stadtgarten von Stettin betreten hätte, dem wäre vielleicht unter den dort umherspielenden Kindern eine Gruppe von zehn- bis zwölfjährigen Mädchen aufgefallen, kleinen Freundinnen, die zu einander hielten. Vielleicht hätte er bemerkt, daß eine von ihnen mit dem Namen „Fieke“, als Abkürzung von „Sophie“, oder „Sophiechen“, gerufen wurde und daß die so Gerufene, die Munterste und Ausgelassenste in der Gruppe, die gemeinsamen Spiele angab und leitete. Diese „Fieke“ war die spätere Kaiserin Katharina von Rußland. „Fieke“ fühlte früh einen natürlichen Beruf, führend aufzutreten, und überdies gab ihr der Rang ihrer Eltern, wenn er auch im Vergleich zu der späteren Kaiserwürde der Tochter bescheiden war, ein gewisses Uebergewicht über ihre Spielgefährtinnen. Ihr Vater war ein Fürst von Anhalt-Zerbst und befehligte, in preußischen Diensten stehend, ein Regiment Infanterie in Stettin; später wurde er Gouverneur der Stadt und stieg zum Feldmarschall auf. Die Mutter war eine geborene Prinzessin von Holstein-Gottorp. Die Eltern verwöhnten ihre Tochter Sophie, die am 2. Mai 1729 in Stettin geboren war und noch vier jüngere Geschwister hatte, in keiner Weise; sie ließen ihre Kinder aufwachsen, wie es in anderen Offiziersfamilien auch üblich war. Wenn Sophie einmal das stolze Dämchen spielen wollte, wozu sie Neigung hatte, kam sie bei der Mutter übel an. Die Einkünfte des Fürsten, dem die Regierung von Zerbst erst später zufiel, waren unbedeutend und bestanden zu einem wesentlichen Teil in dem Offiziersgehalt. Immerhin waren die Eltern in der Lage, ihren Kindern gute Lehrer zu halten. Sophie lernte leicht und wußte sich die französische Sprache schnell zu eigen zu machen. Ueber ihr Aeußeres sagt eine Dame, welche sie in Stettin sah, folgendes: „Sie war vortrefflich gebaut, zeichnete sich schon als Kind durch eine edle Haltung aus und war groß für ihr Alter. Der Ausdruck ihres Gesichtes war nicht gerade schön, aber angenehm; ihr offener Blick und ihr liebenswürdiges Lächeln gaben ihrer ganzen Person etwas sehr Anziehendes.“

Die ersten Jugendjahre flossen für die Prinzessin Sophie ohne außerordentliche Erlebnisse dahin. Eine willkommene Unterbrechung des Alltagslebens in Stettin brachten die wiederholten Besuche, welche die fürstliche Familie an den Höfen von Zerbst, von Braunschweig, von Berlin und bei der holsteinischen Familie in Eutin abstattete. Sophie lernte dabei den jungen Fürsten persönlich kennen, der später Friedrich der Große hieß.

Zehn Jahre alt, sah sie in Eutin einen entfernten Vetter aus der Familie ihrer Mutter, den damals elfjährigen Herzog Peter von Holstein, der unter einer für ihn regierenden Vormundschaft stand. Dessen Mutter war eine der Töchter Peters des Großen und also eine Schwester jener Elisabeth, welche 1741 den russischen Thron bestieg. Bei dieser ersten Begegnung zwischen den Kindern konnte schwerlich jemand deren gemeinsame Zukunft voraussehen: nach ihrer Thronbesteigung berief die Kaiserin Elisabeth ihren Neffen als Thronfolger nach St. Petersburg, Sophie wurde 1745 sein Weib, er selbst 1762 als Peter III. Kaiser von Rußland; er ist der Ahnherr der noch jetzt regierenden Zarenfamilie. Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor. –

Sophiens Mutter, die als holsteinische Prinzessin geborene Fürstin von Zerbst, sah die Berufung des Herzogs Peter nach der russischen Hauptstadt mit Genugthuung und knüpfte an die ihr bekannte Hinneigung der Kaiserin zu der holsteinischen Familie weitere Hoffnungen für die Ihrigen. Sie schickte der Herrscherin einen Glückwunsch zur Thronbesteigung, und Elisabeth schenkte ihr dafür ihr Bild, das mit Diamanten im Werte von 18 000 Rubeln eingefaßt war. Die Fürstin von Zerbst sandte zum Dank ein Porträt ihrer Tochter Sophie nach St. Petersburg, das sowohl der Kaiserin als dem herzoglichen Großfürsten sehr gefiel. Elisabeth fing bereits an, sich nach einer Braut für den Thronfolger umzusehen. Der Vicekanzler Bestushew, der Leiter der auswärtigen Angelegenheiten, war für eine sächsische Prinzessin, der holsteinische Hofmarschall des Thronfolgers, Graf Brümmer, Elisabeths Arzt und Günstling Lestocq, der preußische Gesandte von Mardefeld und der französische Gesandte Marquis de la Chétardie, die eng verbündet waren und den Einfluß Bestushews bekämpften, verwiesen auf die Prinzessin von Zerbst. Für letztere entschied sich, mehr durch eigene Erwägungen als durch fremde Einflüsse bestimmt, die Kaiserin Elisabeth.

Während die Fürstin von Zerbst der Entschließungen der Zarin harrte, beschäftigte sich die Einbildungskraft der Prinzessin Sophie lebhaft mit der schönen russischen Herrscherin, die so reichlich schenken konnte, und mit der glanzvollen Kaiserstadt an der Newa. Da traf am Neujahrstag 1744 in Zerbst, wo die ganze fürstliche Familie versammelt war, aus St. Petersburg für die Fürstin ein Brief ein, worin der Hofmarschall Brümmer sie im Auftrage der Kaiserin einlud, mit ihrer Tochter Sophie ohne Verzug nach Petersburg zu kommen. Die Kaiserin habe gewichtige Gründe, zu wünschen, daß die Fürstin ihren Gemahl nicht mitbringe. Wahrscheinlich wollte Elisabeth die fremden Einflüsse, die sie, hierin ganz Altrussin, nicht liebte, durch die Anwesenheit des Fürsten nicht noch gemehrt sehen; war das Kommen der Fürstin unvermeidlich, so mochte es daran auch genug sein. Der Zweck der Reise war so durchsichtig, daß Brümmer es nicht für nötig hielt, ihn besonders zu erwähnen. Auf die schwach bestellte Kasse der Fürstin Rücksicht nehmend, schrieb er: „Damit sich Euerer Durchlaucht keine Hindernisse in den Weg stellen, damit Sie für sich und die Prinzessin, Ihre Tochter, einige Toiletten anschaffen und die Reise ohne Zeitverlust unternehmen können, habe ich die Ehre, diesem Brief einen Wechsel beizulegen, auf welchen Sie beim Vorzeigen desselben sofort Geld ausgezahlt erhalten werden. Die Summe ist freilich sehr bescheiden; allein ich muß Euerer Durchlaucht sagen, daß dies mit Absicht geschieht, damit die Zahlung einer großen Summe nicht denen in die Augen fällt, die alle unsere Handlungen beobachten.“ Ferner schlug Brümmer vor, die Abreise möglichst geheim zu halten und bis Riga unter dem Namen einer Gräfin Reinbeck zu reisen.

Wenige Stunden nach diesem Briefe lief ein Schreiben Friedrichs des Großen ein, welcher der Fürstin die Absicht der Zarin, die Prinzessin Sophie mit dem Thronfolger zu vermählen, offen mitteilte, sich des Verdienstes, die Augen auf die junge Dame gelenkt zu haben, in wohlberechneter Weise rühmte und ebenfalls Geheimhaltung empfahl. Er sowohl wie Brümmer wünschten jedenfalls, etwaigen Gegenwirkungen, die von anderen Höfen gegen den Heiratsplan unternommen werden konnten, zuvorzukommen. Eine preußische Prinzessin, etwa eine seiner Schwestern, nach Rußland zu verheiraten, hatte Friedrich ausdrücklich abgelehnt, da ihr Los dort ihm zu unsicher schien. Aber es war ihm recht, daß die Prinzessin eines Hauses, das er dem preußischen Interesse zugeneigt glaubte, die Brautfahrt nach St. Petersburg unternahm.

Die Fürstin von Zerbst hatte nicht das leiseste Bedenken. Sie sah in der Verbindung ihrer Tochter mit dem russischen Thronfolger nur eine glänzende, für eine Prinzessin aus armem Fürstenhause doppelt wünschenswerte Versorgung. Sie packte ihre Koffer, und es klingt wie eine Erklärung und Entschuldigung für die Freudigkeit, mit der sie einpackte, wenn wir erfahren, daß sie für ihre „Fieke“ weiter nichts mitnahm als drei bis vier Kleider, ein Dutzend Hemden, einige Paar Strümpfe und wenige Taschentücher. Das war alles. Wie die Kaiserin Elisabeth das Reisegeld bezahlte, so gab sie später in St. Petersburg auch die Geldsummen, welche nötig waren, um die Fürstin und ihre „Fieke“ einigermaßen standesgemäß einzukleiden. Wie gut kannte der Hofmarschall Brümmer die Gedanken und Entschließungen der Fürstin, wenn er der Kaiserin Elisabeth auf die Frage, wann die Damen aus Zerbst wohl eintreffen würden, antwortete: „Ihrer Durchlaucht fehlen nur die Flügel, sonst würde sie zu Eurer Majestät geflogen kommen!“

Nicht ganz wohl bei der Sache war es dem Vater der Prinzessin, dem Fürsten von Zerbst. Der Frau Gemahlin gegenüber mochte er nur eine beratende Stimme haben. Sollte aber die

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Hänsel und Gretel.
Scene aus dem gleichnamigen Märchenspiel von Engelbert Humperdinck.
Nach einer Originalzeichnung von A. Zick.

[869] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [870] Tochter doch einmal nach Rußland gehen, so wollte er ihr wenigstens eine Denkschrift ausarbeiten, in der sie Warnungen vor mancherlei Gefahren und andere nützliche Ratschläge finden sollte. Die Fürstin sollte das Schriftstück mitnehmen und der Tochter nach der Ankunft in Rußland einhändigen. In dieser noch jetzt im Original vorhandenen Denkschrift heißt es, der Kaiserin solle sie „nächst Gott die größte Hochachtung und Dienstfertigkeit fußfällig beweisen“, dem Großfürsten solle sie sich unbedingt unterordnen; nur diesen beiden dürfe sie Vertrauen schenken. Mit Höflingen und Dienern dürfe sie sich nicht auf vertraulichen Fuß stellen, im Audienzzimmer niemand allein sprechen, überall müsse sie sich vorsichtig und zurückhaltend zeigen und sich niemals in Staatsangelegenheiten mischen. Es mußte sich nun herausstellen, ob die Prinzessin geeignet und gewillt war, diese Aufgabe zu erfüllen.

Sophie erfuhr, als die Briefe des Hofmarschalls und des Königs ankamen und die Reisevorbereitungen getroffen wurden, von den Aussichten und Zukunftsplänen der Eltern noch nichts, obgleich ihr deren Erregtheit und die häufigen Gespräche über den russischen Hof und die griechische Kirche auffallen mochten.

Am 10. Januar 1744 reisten der Fürst, die Fürstin und die Prinzessin zunächst nach Berlin. Die Fürstin hatte eine lange Audienz beim König und eine Unterredung mit dem Minister von Podewils. Da der König sie als eine rege und unternehmende Frau kannte und auf ihre Ergebenheit zählen durfte, so unterrichteten er und sein Minister sie auf Grund der Berichte der preußischen Gesandtschaft in St. Petersburg über den russischen Hof und legten ihr die Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der preußischen Politik in Bezug auf Rußland dar. Am 16. Januar setzte die fürstliche Familie ihre Reise in der Richtung nach Schwedt fort. In Schwedt trennte sich der Fürst von den Damen und ihrem kleinen Gefolge, um auf seinen Posten nach Stettin zurückzukehren, und jetzt erst wurde der Prinzessin, die von ihrem Vater für immer Abschied nahm, klar, wohin die Reise gehe.

Obwohl der preußische König die Regierungspräsidenten und die militärischen Befehlshaber, durch deren Gebiet der Weg führte, angewiesen hatte, der „Gräfin Reinbeck“, wie die Fürstin sich unterwegs nannte, behilflich und gefällig zu sein, fanden die Reisenden doch oft ungeheizte Zimmer auf den Stationen, und zuweilen mußten sie und ihre Dienerschaft mit der ganzen Wirtsfamilie und deren Hunden und Hühnern in einem Raum schlafen. Einmal wurden sie von Räubern bedroht. Gegen die außergewöhnliche Kälte schützten sich die Damen durch wollene Masken, Bedeckungen des ganzen Kopfes, welche nur die Augen freiließen. In Mitau wurden die Ankommenden, die nun ihr Inkognito wieder ablegten, mit fürstlichen Ehren empfangen, und von Riga an, wo der Prinzessin als erstes Geschenk der russischen Kaiserin ein prachtvoller Zobelpelz überreicht wurde, war ihr Schlittenzug von hohen und niederen Hofbeamten und von Kavallerie-Abteilungen geleitet. Von Ehrensalven begrüßt, kamen sie am 14. Februar in St. Petersburg an. Der Hof befand sich seit vierzehn Tagen in Moskau, um dort wie alljährlich mehrere Monate zu residieren, und es war Sitte, daß die Würdenträger des Reiches, der Senat, die oberen Behörden mit ihren Kanzleien, die fremden Diplomaten und andere angesehene Leute gleichzeitig nach Moskau übersiedelten. Der englische Gesandte giebt an, daß die Gesamtzahl der Uebersiedelnden mit den vielen Beamten, Geschäftsleuten und Dienern sich auf 100000 Köpfe belief. Der Zug der Schlitten und Wagen dauerte mehrere Wochen. Die kaiserlichen Schlösser zwischen St. Petersburg und Moskau waren für die Würdenträger Tag und Nacht gastlich geöffnet. Nach einer Rast von nur zwei Tagen schlossen sich die beiden Damen, von mehr als zwanzig Schlitten begleitet, dem mächtigen Wanderzuge an. Am 20. Februar erfolgte ihre Ankunft in Moskau. Die Kaiserin und der Großfürst empfingen sie mit großer Freundlichkeit. Nach der ersten Begrüßung ließ die Kaiserin ihre Augen lange auf der Fürstin ruhen, und deren Aehnlichkeit mit ihrem verstorbenen Bräutigam, dem Bruder der Fürstin, rief ihr ihren Verlust so lebhaft ins Gedächtnis, daß sie auf einige Zeit ins Nebenzimmer ging, um dort ihre Thränen zu verbergen. Sie überhäufte die Damen mit Ehren, Orden und Geschenken, und der von all dem Glanz geblendeten „Fieke“ war zu Mute, als wäre sie leibhaftig in die Welt eines orientalischen Märchens versetzt worden.

Die Verhältnisse, die am russischen Hofe bestanden, waren für jeden, der in dies Hofleben mit eintrat, aus mehr als einem Grunde schwierig und gefährlich. Die Kaiserin Elisabeth war eine Frau, die ihre Zeit zwischen Vergnügungen mancherlei Art und der strengen Beobachtung kirchlicher Gebräuche teilte. Bekanntlich hatte sie ihre Krone durch eine Thronumwälzung erlangt und der von ihr entthronte Kaiser Iwan lebte noch – wir verweisen den Leser auf den bezüglichen Aufsatz im Jahrgang 1893, S. 204, „der Gartenlaube“ – so war sie nie frei von Furcht und Mißtrauen. Um ihre Gunst und um den Einfluß auf ihre Entschließungen stritten sich die Großwürdenträger und die Mitglieder des von ihr wieder zu Ansehen gebrachten Senates: Eine preußisch-französisch-holsteinische Partei stand einer österreichisch-englischen entgegen.

Was den jungen Fürsten betrifft, an dessen Seite und mit dessen Hilfe die Prinzessin einen Platz an diesem Hofe behaupten sollte, so ist an ihm nur allzu sehr das Wort seiner Mutter wahr geworden: „Armes Kind! Nicht zum Glücke bist Du geboren!“ Nicht oft hat sich die trübe Vorahnung einer Mutter als so begründet erwiesen. Peters Vater hatte die Erziehung des Knaben vernachlässigt; das einzige, worin er den Sohn beeinflußte, war, daß dieser von jenem eine krankhafte Vorliebe für das Drillen der Soldaten annahm. Die Lehrer des Prinzen, der mit elf Jahren ganz verwaiste, waren rohe und pedantische Menschen, die ihn mit einer übergroßen Zahl von Unterrichtsstunden quälten, ihn blutig schlugen, ihn trotz seiner Kränklichkeit häufig zur Strafe hungern ließen und ihm niemals erlaubten, im Freien zu spielen. Da er wie auf den russischen auch zeitweilig auf den schwedischen Thron einige Aussichten hatte, so unterrichtete man ihn, je nach dem Stande dieser seiner Aussichten, jetzt einige Wochen in der schwedischen Sprache und im lutherischen Glauben und dann wieder einige Wochen in der russischen Sprache und im griechisch-orthodoxen Glauben. Die Folge war, daß er, als er im Jahre 1742 vierzehnjährig nach Petersburg berufen wurde, beträchtlich unklare Vorstellungen von der Religion hatte und weder Russisch noch Schwedisch verstand. Die Kaiserin Elisabeth gab ihm neue Lehrer und war in der Wahl derselben wiederum nicht glücklich. Einer von ihnen, ein Fanatiker des Anschauungsunterrichts, rühmte von sich: „Wir haben uns bemüht, aus jedem Zufall Nutzen zu ziehen. Auf der Jagd zum Beispiel wurden Bücher mit Abbildungen über Jagden durchgesehen, an den Plafonds wurden die mythologischen Metamorphosen erklärt; an Puppen wurde der Mechanismus der Maschinerie und alle Handgriffe der Taschenspieler besprochen, bei Feuersbrünsten wurden die Löschanstalten und ihre Zusammensetzung erklärt“ etc. Zu planlosem Unterricht und verkehrter Erziehung kam bei dem Großfürsten der Einfluß der einzigen Spielgefährten, die er hatte, nämlich seiner Bedienten, die ihn zum Trunk verführten, hinzu. Wie eingeschüchterte Kinder zu thun lieben, träumte er sich als Helden, und von einigen Kämpfen, die er als Kind im Auftrage seines Vaters gegen Räuber und Zigeuner durchgefochten haben wollte, erzählte er so oft, bis er selbst daran glaubte. Seine Mußestunden am russischen Hofe verbrachte der Knabe damit, daß er oft die Uniform wechselte und mit Bleisoldaten und Puppen spielte. Als er, nun sechzehnjährig, die um ein Jahr jüngere Prinzessin Sophie in Rußland wiedersah, war eine der ersten Mitteilungen an sie das Geständnis, daß er in eine Hofdame der Kaiserin verliebt gewesen sei, doch leider sei sie mit ihrer Mutter nach Sibirien verbannt worden; er habe diese Hofdame gern heiraten wollen, aber nun sei es ihm auch recht, wenn er die Prinzessin heirate, da seine kaiserliche Tante es doch einmal so wünsche. Die Prinzessin schreibt: „Ich hörte ihm errötend zu und dankte ihm für sein Vertrauen, aber im Grunde meines Herzens betrachtete ich seine Unklugheit und seinen Mangel an Urteil mit Erstaunen.“ Ein andermal sagt sie in ihrer zuweilen malerischen Sprache von ihm: „Er war diskret wie ein Kanonenschuß.“ Ihr Verhältnis zu ihm bezeichnet sie später kurz und treffend mit den Worten: „Bei seiner Sinnesart war er mir ziemlich gleichgültig, aber die Krone von Rußland war es mir nicht.“

Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Moskau mußte die Prinzessin anfangen, Unterricht in der russischen Sprache und in der griechischen Religionslehre zu nehmen. Sie begriff, daß von ihrem Eifer und von ihren Fortschritten das Maß des Wohlwollens wesentlich abhinge, das die mächtige Kaiserin ihr erweisen würde, denn noch hatte Elisabeth das entscheidende Wort nicht gesprochen, das die arme „Fieke“ von Zerbst zur Erbin des russischen Thrones erhob. Um das schwierige Russisch schnell zu erlernen, nahm sie [871] selbst die Nachtstunden zu Hilfe, und da sie sich dabei gegen den Frost nicht hinreichend schützte, erkältete sie sich und verfiel in eine langwierige lebensgefährliche Krankheit. Aus Besinnungslosigkeit erwachend, wünschte sie ihren neuen Religionslehrer zu sprechen. War sie von seinem Unterricht nicht durchgängig erbaut – denn der Gedanke an den Glaubenswechsel hatte doch viel Peinliches für sie – so hatte ihr immerhin sein gewinnendes Wesen zugesagt. Die Kaiserin erblickte in diesem Wunsche ein vollgültiges und willkommenes Zeichen innerer Bekehrung; dadurch und weil es bekannt war, daß die Prinzessin sich ihre Krankheit durch ihre Bemühungen um die Erlernung der russischen Sprache zugezogen hatte, gewann sie die Zuneigung der Kaiserin. Auch bei Hofe und unter dem Volke erregte sie Teilnahme, die sie nach ihrer Genesung, körperlich nun völlig erwachsen, durch vorsichtiges und leutseliges Verhalten zu steigern wußte. Die Kaiserin hielt sie jetzt der Ehre für würdig, die sie ihr zugedacht hatte. Der Vorschlag der Fürstin von Zerbst, den diese aus Rücksicht auf den Wunsch ihres Gemahls vorbrachte, aber wohl selbst nicht ernstlich meinte: auf einen Glaubenswechsel ihrer Tochter zu verzichten, wurde abgewiesen, und so trat die junge Prinzessin, die fortan den Namen Katharina führte, am 9. Juli 1744 öffentlich zur griechischen Kirche über. Am folgenden Tage fand die Verlobung mit dem Großfürsten Peter statt. Daß die Kaiserin ihr in dieser Zeit die Thronfolge zugesichert habe, falls der Großfürst vor ihr sterbe, hat die neuere Forschung als irrig erwiesen. Die Kaiserin schenkte der Braut ein Heiligenbild mit Brillanten für mehrere 100 000 Rubel und dem Brautpaare Ringe für etwa 50 000 Dukaten. Katharina führte nun den Titel Großfürstin und Kaiserliche Hoheit. Sie bekam einen Hofstaat und jährlich 30 000 Rubel „Nadelgeld“.

Der Großfürstin Katharina blieben in ihrer neuen glänzenden Stellung mancherlei bittere Erfahrungen nicht erspart. Sie hatte bisher kaum über einige Thaler verfügen können und verstand noch nicht, mit dem Gelde umzugehen, ja sie wurde auch späterhin nicht sparsam und kam sogar durch heimliche Anleihen in eine gewisse Abhängigkeit vom englischen Gesandten. Durch ihre Umgebung wurde sie zu kostspieligen Einkäufen verleitet, sie selbst erfreute gern durch Geschenke. Dabei geriet ihre Kasse in Bedrängnis. Die Kaiserin erfuhr davon und ließ ihr deshalb Vorwürfe machen. Der Großfürst war dabei zugegen und stimmte lebhaft mit ein, denn um der Kaiserin zu gefallen, stellte er sich stets auf ihre Seite. Jede Spur von Unmut, welche sich auf der Stirn der Kaiserin zeigte, fand zudem in der Schadenfreude der nicht betroffenen Höflinge ihren Wiederschein.

Erstaunt und nachdenklich betrachtete Katharina das alles. Sie sah, wie abhängig sie war und wie einsam sie trotz der launischen Gunst der Kaiserin dastand. Zugleich erkannte sie täglich mehr, daß am wenigsten ihre Mutter befähigt war, ihr einen Rat zu erteilen, vielmehr durch ihr Verhalten ein warnendes Beispiel dafür gab, wie man an diesem Hofe nicht auftreten durfte.

Wenn man die Briefe liest, welche die Fürstin von Zerbst an ihren Gemahl, an Verwandte in Deutschland und Schweden sowie an Friedrich den Großen schrieb, so sieht man, daß die Auffassung, welche sie von der Bedeutung ihrer Person und ihrer Sendung in Rußland hatte, eine ungemein hohe war; der Tochter that sie dabei nur ganz beiläufig Erwähnung. Sie, die erst 32 Jahre alt war, betrachtete sich als die Hauptperson und konnte sich, wie das einer Frau in mittleren Jahren wohl begegnet, schon an den Gedanken nicht gewöhnen, daß ihre Tochter allmählich heranwuchs und an ihr vorbei in den Vordergrund rückte. So ließ sie sich zum Beispiel von der armen Fieke, die von ihr auch noch in Rußland bei jeder Gelegenheit Ohrfeigen bekam, ein Stück guten Kleiderstoffes schenken, das die Kleine als ein Geschenk ihres Oheims für sich mitgebracht hatte; trotz einiger bescheidener Einwendungen der Tochter prangte nun die Mama in diesem Kleide. Nur das herrlichste Gewand des zerbstischen Kleiderbestandes ziemte einer Dame, die in Rußland eine gewaltige Staatsaktion vornehmen wollte! Sie hatte ausgesprochenermaßen die Absicht, den Vicekanzler Bestushew zu stürzen, das russische Reich einem preußisch-französisch-schwedischen Bündnis dienstbar zu machen, gewisse Schwierigkeiten in den Besitzverhältnissen von Holstein und Kurland zu ordnen und Rußland in eine andere Bahn der Entwicklung zu drängen. Zerbst verhandelte hier mit Rußland, und das Mißverhältnis der äußeren Machtmittel wurde dadurch mindestens ausgeglichen, daß das geistige und sittliche Uebergewicht offenbar auf seiten von Zerbst zu finden war. So dachte wenigstens die Fürstin. In Rußland hatten die Leute nun freilich ganz andere Ansichten.

Die Kaiserin Elisabeth sah in der Fürstin anfangs eine liebe Verwandte, die ihr als Schwester ihres verstorbenen Bräutigams doppelt wert war. Aber als sie nun erfuhr, daß die Fürstin mit den Feinden Bestushews, mit Brümmer und Lestocq, mit den Gesandten Mardefeld und Chétardie heimliche Unterredungen hatte und mit diesen Herren sowie mit dem Könige von Preußen in eifrigem Briefwechsel stand, verlor sie die Geduld. Sie stellte die Fürstin zur Rede und eröffnete ihr, es stehe ihr schlecht an, sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angingen; sie möge sich diese Bemerkung als Lehre für die Zukunft dienen lassen. Die Fürstin fiel aus allen Himmeln und stammelte thränenden Auges Entschuldigungen. Es war ihr entgangen, daß der Vicekanzler alle Briefe, die sie zur Post gab, sofort fein säuberlich öffnen und genau abschreiben ließ, so daß die Kaiserin sie schon bald nach der Einlieferung an die Post lesen konnte. Der französische Marquis Chétardie, der sein Beglaubigungsschreiben noch nicht überreicht hatte und also durch das Gesandtenrecht noch nicht geschützt war, erhielt den Befehl, binnen vierundzwanzig Stunden seine Heimreise anzutreten. Später wurden auch Lestocq und Brümmer vom Hofe entfernt. Gegen das preußische Interesse wurde ein Vertrag mit Oesterreich geschlossen, und Bestushew erhielt seine Ernennung zum Großkanzler. Da die Fürstin sich durch diese Vorgänge noch immer nicht belehren ließ und bald von neuem zu intrigieren anfing, so wurde die Hochzeit des großfürstlichen Paares, obwohl der Großfürst noch einem Knaben glich, beschleunigt und damit der Fürstin die Veranlassung zu längerer Anwesenheit entzogen. Sie wurde zur Abreise reichlich beschenkt, und als sie im Oktober 1745 nach Riga kam, erreichte sie ein Brief der Kaiserin, worin die Bitte ausgesprochen war, sie möge bei ihrer Ankunft in Berlin Seiner preußischen Majestät im Namen der Kaiserin den Wunsch vorlegen, den Gesandten Mardefeld abzuberufen. Die Bitte war äußerst höflich abgefaßt, aber der Hohn und die Ironie, die in dem Auftrage selbst lagen, da die Fürstin mit König Friedrich und Mardefeld im Bunde gestanden hatte, waren vernichtend. Friedrich, der, in Schlesien kämpfend, das Vorgefallene brieflich erfuhr, war nicht wenig verwundert darüber, da er nach den Briefen der Fürstin hatte glauben müssen, daß sie die Herrin der Lage sei. In Wahrheit ist er nie in seinem Leben so unglücklich vertreten worden wie durch die Fürstin. Ihre Staatsaktion konnte nicht kläglicher endigen.

Am 1. September 1745 hatte die Trauung des siebzehnjährigen Großfürsten, der noch im letzten Jahre mehrere schwere Erkrankungen zu überstehen gehabt, mit der sechzehnjährigen Großfürstin zu St. Petersburg stattgefunden. Das junge Paar wohnte, wenn der Hof in einem der St. Petersburger Schlösser weilte, immer unter demselben Dache mit der Kaiserin. Katharinas Aufgabe war keine leichte. Ihr Gemahl langweilte sie damit, in den wenigen Zimmern, die ihnen beiden zur Verfügung standen, seine Bedienten zu exerzieren und eine Meute Hunde, die nachts in der Nähe des Schlafzimmers untergebracht wurde, abzurichten. Einmal traf sie ihn damit beschäftigt, eine Ratte, welche die ihm zum Spielzeug dienende hölzerne Festung benagt hatte und dabei von einem seiner Hunde ergriffen worden war, auf Grund eines standrechtlichen Erkenntnisses zu henken. Im Winterpalais, wo er Wand an Wand mit der Kaiserin wohnte, berief er eines Abends die Herren und Damen seines Hofes zu sich, um ihnen, was er gern that, eine Vorstellung auf seinem Puppentheater zu geben. Für das Vorspiel des Stückes verwies er sie auf eine verschlossene Thür desselben Zimmers, welche in das Speisezimmer der Kaiserin führte. Er hatte die Thür über und über mit Löchern durchbohrt, und die Zuschauer konnten die Kaiserin mit ihrem Hofe speisen sehen. Die Großfürstin, welche er ebenfalls zum Zuschauen herbeirief, erschrak, als sie hörte, um was es sich handle, erklärte, daß sie an diesem unpassenden und gefährlichen Zeitvertreib, welcher der Kaiserin bei so viel Zeugen schwerlich verborgen bleibe, nicht teilnehmen werde, und ging in ihr Zimmer zurück. Die Kaiserin hörte von dem Vorgefallenen und machte dem Großfürsten persönlich heftige Vorwürfe, ja, sie verstieg sich zu der Aeußerung, daß sie ihn seiner Streiche wegen noch vom Throne ausschließen werde. Aehnliche Auftritte und Drohungen fielen öfters vor und kamen durch die Diplomaten zur Kenntnis [872] der fremden Höfe. Daß die Großfürstin diesem Gatten nicht innerlich nahe stehen konnte, ist begreiflich. Die Neigung, die er ihr anfangs gezeigt hatte, erkaltete schnell. An der Seite dieses Gatten ist dann freilich auch die Großfürstin nicht vorwurfsfrei geblieben.

Die Kaiserin war zu unbeständig, als daß ihr Verhältnis zu der Großfürstin auf die Dauer ungetrübt hätte sein können. Katharina durfte mit ihrer Mutter, der sie trotz der Entfremdung vor der Trennung mit großer Anhänglichkeit zugethan blieb, keinen Briefwechsel führen. Wollte sie eine Nachricht geben, so wurde der Brief vom Auswärtigen Amte aufgesetzt und enthielt einige nichtssagende Redensarten; sie durfte nur ihren Namen darunter schreiben. Diesem Zwange gegenüber hielt sie es für erlaubt, sich um die Ermöglichung eines unbehinderten Briefwechsels zu bemühen; eine Zeit lang steckte sie bei Hofkonzerten einem eingeweihten Geigenspieler, der weitere Verbindungen hatte, ihre in kleine Röllchen gewickelten Briefe in die Rocktasche, während sie hinter dem Stuhl, wo er saß, scheinbar harmlos vorbeiging. Ihre Vorsicht und ihre immer weiter greifende Beliebtheit schützten sie bei dieser und mancher anderen Heimlichkeit. Schon erkannten die Staatsmänner und die Gesandten, daß sie, ganz anders geartet als ihr Gemahl, eine Frau war, mit der man rechnen konnte und vielleicht einmal rechnen mußte. Seit 1753 näherte sie sich dem Kanzler Bestushew, der ihrem Hause abgeneigt gewesen war, weil es die preußischen Interessen vertrat, aber nicht ihr persönlich: er blieb ihr fortan ergeben.

Nachdem das großfürstliche Paar neun Jahre verheiratet gewesen war, erfolgte am 1. Oktober 1754 die Geburt eines Knaben, des Großfürsten Paul. Die junge Frau hatte nicht das Glück, für ihr Kind selbst sorgen zu dürfen. Die Kaiserin Elisabeth hätte es als eine Schädigung ihres Ansehens und ihrer Macht betrachtet, wenn sie den kleinen Großfürsten nicht in ihrem Zimmer und unter ihren Augen hätte aufwachsen sehen; nur ihr sollte, wenn er zum Bewußtsein erwachte, seine kindliche Zuneigung gelten. Der Mutter wurde er gleich nach der Geburt genommen; sie durfte ihn erst nach sechs Wochen und von da ab nur in Zwischenräumen von mehreren Monaten sehen, und auch dann nur flüchtig. Um seine Pflege hatte sie sich nicht zu bekümmern. Auch von dem zweiten Kinde, der im Jahre 1757 geborenen Großfürstin Anna, wurde Katharina in gleicher Weise ferngehalten.

Kaiserin Katharina II. von Rußland
im Alter von 19 Jahren.
Nach dem Gemälde von v. Grooth.

Keine Entschädigung für die Sorge um ihr Kind, aber doch eine Gelegenheit zu nützlichem Wirken fand die Großfürstin in demselben Jahre 1754 durch die Uebernahme der holsteinischen Regierungsgeschäfte. Ihrem Gemahl waren sie lästig geworden, und er bat Katharina, sie ihm abzunehmen. Sie erfüllte seine Bitte, nachdem er ihr die nötige Vollmacht ausgestellt hatte. Bei ihrer Neigung zur Gründlichkeit ließ sie sich von den holsteinischen Beamten über die Fragen der Finanzen, der Rechtspflege, der Kirchen- und Schulangelegenheiten, der Handelspolitik, kurz über alle Zweige der Staatsverwaltung eingehend unterrichten und führte nun die Geschäfte mit erstaunlicher Arbeitslust und Arbeitskraft. Ihre mehrjährige Regierung über Holstein war für sie eine Vorschule für die Regierung von Rußland. Kaum je hat eine Fürstin einen Thron so gut vorbereitet bestiegen wie Katharina.

Mit der ernsten Beschäftigung stellte sich auch das Bedürfnis ernster Lektüre ein. Vor allen alten und neuen Schriften bevorzugte sie die Geschichtswerke des Tacitus und den „Geist der Gesetze“ von Montesquieu, Werke also, die meist auf Frauen nur geringe Anziehungskraft auszuüben pflegen. Montesquieus gehaltvolles Buch, das die Höhe der staatsphilosophischen Einsicht des achtzehnten Jahrhunderts darstellt, wurde ihr so wert, daß sie es ihr „Gebetbuch“ nannte; sie lernte daraus das Regieren als eine verantwortungsvolle Pflicht betrachten.

Die schwersten Zeiten, die Katharina verlebte, fallen in die Jahre 1757 bis 1760. Eine plötzliche ernste Erkrankung der Kaiserin im Jahre 1757 gab der Frage der Thronfolge, über die nach einem Ukas von 1722 das Staatsoberhaupt allein zu verfügen hatte, eine erhöhte Wichtigkeit. Der von der Kaiserin zum Erben eingesetzte Großfürst Peter erfreute sich keiner Zuneigung. Daß er Friedrich den Großen nicht nur bewunderte, sondern auch mit ihm, obwohl Rußland seit 1756 Krieg gegen Preußen führte, in brieflichem Verkehr stand, entfremdete ihm die russischen Staatsmänner, und daß er am liebsten preußische Uniform trug und auf preußischem Fuß exercierte, mißfiel dem gemeinen Manne. Trotzdem hatte die Kaiserin ihre wiederholt ausgesprochene Drohung, ihm sein Thronrecht wieder zu entziehen, nicht verwirklicht. Was geschah, wenn sie plötzlich starb? Der Kanzler Bestushew suchte brieflich das Einverständnis der Großfürstin für den Plan nach, sie unmittelbar nach dem Tode Elisabeths zur Mitregentin des neuen Kaisers ausrufen zu lassen. Trotz ihrer Verbindungen mit einflußreichen Personen wagte sie jedoch nicht, ihre Zustimmnng auszusprechen, und unmittelbar darauf gelang es ihren und Bestushews Feinden, das zwischen ihr und ihm bestehende stille Bündnis durch den Sturz Bestushews unwirksam zu machen. Der Rückzug des russischen Feldmarschalls Apraxin bald nach dem Siege, den er bei Großjägerndorf gegen den preußischen Feldmarschall Lehwald im Jahre 1757 gewonnen hatte, wurde nämlich böswillig dem Kanzler in die Schuhe geschoben; es hieß – und irrigerweise wird noch jetzt so erzählt – Bestushew habe den Rückzug angeraten, im Hinblick auf die Erkrankung der Kaiserin und den scheinbar nahegerückten Thronwechsel, der den preußisch gesinnten Großfürsten zur Herrschaft gebracht hätte. Während aber die Erkrankung der Kaiserin am 19. September erfolgte, ist der Rückzug der russischen Armee schon am 7. September im versammelten Kriegsrat beschlossen worden, und zwar wegen der traurigen Lage, in welcher das durch die zwar siegreiche, aber blutige Schlacht geschwächte Heer sich befand. Umgekehrt hat Bestushew, um den Feldmarschall Apraxin von jenem Verdacht zu reinigen, die mit Apraxin wie mit ihm befreundete Großfürstin veranlaßt, den Feldherrn in einem Briefe vor der Fortsetzung des Rückzuges, von dem man in Petersburg hörte, zu warnen. Die Feinde Bestushews und der Großfürstin erhielten von diesem Briefe eine unsichere Kunde und stellten, den Thatbestand verdrehend, der Kaiserin das Verhalten beider als verräterisch dar. Es gelang diesen Feinden freilich nicht, die Sache zu beweisen, dagegen wurde immerhin ein gewisses Einverständnis zwischen Bestushew, Apraxin und [873] Katharina deutlich. Das reichte hin, den Zorn der Kaiserin zu erregen. Bestushew fiel samt Apraxin in Ungnade, er wurde verhaftet und verlor seine Stelle, und die Großfürstin bekam von der Kaiserin so schlimme Worte zu hören, daß sie diese bat, ihr die Rückkehr nach Deutschland zu gestatten. So weit wollte Elisabeth die Sache jedoch nicht treiben, um so weniger, als der Großfürst den Plan der Entfernung seiner Gemahlin mit Freuden aufgriff, um statt ihrer ein Fräulein Woronzow heiraten zu können. So verlangte Elisabeth nur, daß die Leitung der holsteinischen Regierung, die ihr für die Großfürstin als eine Versuchung zur Machterweiterung erscheinen mochte, von dieser aufgegeben werde; im übrigen ging der Sturm ohne dauernden Nachteil für Katharina vorüber.

Am 5. Januar 1762 starb die Kaiserin Elisabeth, und der Großfürst bestieg als Peter III. mit seiner Gemahlin den Kaiserthron. Wohlgemeinte Warnungen Friedrichs des Großen hielten den neuen Herrscher, wie er einmal beschaffen war, von Thorheiten nicht ab. „Die Kaiserin befindet sich in einer grausamen Lage,“ schrieb der französische Gesandte Breteuil, „und wird mit der ausgezeichnetsten Verachtung behandelt. Sie erträgt das Benehmen des Kaisers gegen sie und den Hochmut des Fräuleins Woronzow mit großer Ungeduld. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kaiserin, deren Mut und Heftigkeit ich kenne, nicht früher oder später zum Aeußersten greifen sollte. Sie hat Freunde, welche, wenn sie es verlangt, alles für sie wagen würden.“ Eine unmögliche Regierungsweise vor Augen, scharten sich die russischen Großen wie von selbst um Katharina. Die drei Grafen Orlow mit ihrem großen Anhange unter den Offizieren, der Graf Panin, die Fürstin Daschkow übernahmen es, der Kaiserin die Herrschaft zu sichern, und diese hatte außerdem die öffentliche Meinung im russischen Volke für sich. Am 10. Juli 1762 wollte Peter seine Gemahlin und ihren Sohn gefangen setzen und sie in ein Kloster bringen lassen; unmittelbar darauf sollte seine Trauung mit Fräulein Woronzow stattfinden. Nun galt es, handelnd ihm zuvorzukommen. In der Nacht zum 9. Juli fuhr Katharina von Peterhof nach der Hauptstadt und ließ sich in den Kasernen und in der Kathedrale huldigen. Der Kaiser erfuhr in Peterhof, daß er zu regieren aufgehört habe, und fügte sich in sein Schicksal. Er wurde in das Landhaus zu Ropscha gebracht; später sollte er in Schlüsselburg in Haft gehalten werden. Allein acht Tage später wurde er, wahrscheinlich von Alexei Orlow, in Ropscha ermordet. Katharina durfte nicht wagen, die Ermordung ihres Gatten zu bestrafen, aber es darf ihr nicht zur Last gelegt werden, daß sie sie angeordnet oder auch nur vorher gewußt und gebilligt habe.

So wurde aus der „Fieke“ von Zerbst die Kaiserin Katharina II. von Rußland.


Der Böse.

Von Hermine Villinger. Mit Illustrationen von A. Seligmann.

     (Schluß.)

Ueber den Suldenferner ging’s hinüber zum Cevedale, und von da in die jenseitige Welt, den Thälern zu, wo die Orangen blühen. Der Hans Sepp lief immer hinter den Männern her; nun aber, da er die Heimat im Rücken hatte und das kleine Thal seinen Blicken entschwunden war, sah’s gar jämmerlich in seinem Innern aus; blutenden Herzens sehnte er sich nach seiner öden Hütte, nach seinem Hund, der ihn verlassen hatte; daß Fex es gethan, daß der Hund ihm nicht nachkam, daraus ersah Hans Sepp erst recht die Größe seiner Schuld.

Drunten in der Osteria cines kleinen italienischen Dorfes trennte sich der Herr von seinen Führern, und auch diese gingen jeder seines Wegs. Der Hans Sepp aber wich nicht von der Seite des dunkelbärtigen Felice, und dieser ließ ihn lachend gewähren.

Es war eine wunderbare Welt, die sich vor dem kleinen Hochländer aufthat, ihm so unbegreiflich mit ihrem südlichen Sonnenschein, ihrer Lebendigkeit und üppigen Farbenpracht. Aber der sonst für alles Neue so empfängliche Bursche war er nicht mehr; er ging mit einem Riß in der Seele, mit einer weit klaffenden Wunde, die ihn unaufhörlich schmerzte und ihm die Fähigkeit raubte, sich wie früher rückhaltlos seinen Eindrücken hinzugeben.

Außerhalb einer kleinen rebenumpflanzten Ortschaft lag des Felice Hütte, wie ein Schwalbennest an eine hohe Mauer geklebt, die, von dichtem Epheu umsponnen, aus einem Haufen von Schutt und Gestein ragte. Man erkannte an den bogenförmigen Eingängen der sich lang hinstreckenden Steinwand und an der zellenartigen Fensterreihe, daß es die Baureste eines alten Klosters waren, dessen Herrlichkeit allein das Pförtnerhäuschen überdauert hatte, während rings umher eine Mauer nach der andern eingestürzt war.

Felice und sein junger Begleiter mußten erst ganze Berge von Schutt übersteigen, bis sie zum Eingang der Hütte gelangten. Hier empfing sie ein ungekämmtes Weib mit einem unbeschreiblichen Aufwand von Geschrei; wieder war eine Wand zusammengefallen, und sie hatte müssen den ganzen Tag Schutt fahren, nur damit es möglich war, in das Haus zu kommen. Jetzt aber war’s an ihm, dem Felice, den Weg endgültig vom Gestein zu befreien, und sie verschwor sich hoch und teuer: nichts zu essen bekomme er, wenn er nicht arbeite.

Der Mann schob den Buben zwischen sich und das keifende Weib; den habe er mitgebracht, damit er die Arbeit thue; es sei ein hergelaufener Bursch, der froh sei über ein bißchen Essen und einen Platz hinterm Herd.

Der wurde ihm, und zu essen bekam er auch; allein so wenig verwöhnt der Hans Sepp von Haus aus war, seine kleine Hütte mit den blinden Fensterscheiben dünkte ihm ein wahres Herrenheim im Vergleich zu der vor Schmutz starrenden, über alle Begriffe unordentlichen Häuslichkeit des Felice; dieser selbst war wie ausgewechselt, that nichts als Tabakrauchen und auf der faulen Haut liegen und schickte jeden heim, der ihm seine Schuhe zum Flicken brachte; denn Felice war seines Handwerks ein Schuster, rührte aber keine Arbeit an, so lang er von seinem Führerlohn zu zehren hatte.

Wohl zwanzigmal im Tag fuhr das Weib mit dem Kopf in den kleinen Raum neben der Küche und schrie den auf einer Bank lungernden Felice an: „Thust wieder nichts, Du Faulpelz, dann [874] magst auch zerrissen herumlaufen und zuschauen, wer Dir Dein Zeug flickt!“

Laut krachend flog die Thüre zu. Nach ein paar Augenblicken wurde sie wieder aufgerissen und Felice steckte den Kopf in den Küchenraum: „Thust Du vielleicht etwas, nichtsnutziges Weib?“

„Nein,“ kreischte sie, „nein, nein, ich rühre nichts an, so lange Du nichts thust!“

Ein Fluch aus dem Munde des Mannes, und die Thüre flog abermals ins Schloß.

So oft aber die beiden vors Haus traten, um nach dem Buben auszuschauen, trafen sie ihn nie anders als thätig. Sein rundes braunes Gesicht war ganz hager geworden und seine früher so blitzenden Augen glimmten ernst und düster wie erlöschende Kohlen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt: „Wenn ich all den Schutt, der um das Haus liegt, in den Steinbruch gefahren habe, verzeiht mir vielleicht Gott –“

Und obgleich ihm das Heimweh fast die Seele verzehrte – er wischte sich mit dem Rücken der Hand die Thränen von den Wangen und biß die Zähne aufeinander.

So war die Weihnachtszeit herangekommen; es regnete wohl manchmal, aber kalt war es nicht, und der Hans Sepp erachtete es für ein besonderes Unglück, in einem Lande leben zu müssen, dem der Winter keinen Schnee brachte. Jetzt hatte die weiße glitzernde Decke längst sein geliebtes Hochthal eingehüllt und still und friedlich lebte jeder in seiner Hütte.

Zwar die zwei sich beständig ihre Faulheit vorwerfenden Menschen schienen sich mit einem Male eines anderen besonnen zu haben. Felice hatte den Anfang gemacht; das fremde Kind da draußen, das nie müde wurde, seinen Schutt aufzuladen und zum Steinbruch zu fahren, hatte es ihm angethan: ein Gefühl der Scham bemächtigte sich des Mannes, und eines Tages machte er sich in aller Stille über seine Gerätschaften her und begann zu arbeiten. Kaum aber hörte ihn das Weib in seiner Bude hämmern, als sie schleunigst zur Nadel griff und wie von Sinnen drauf los nähte. Draußen der Bub’ verwunderte sich: was ihnen nur ist, sie schlagen ja keine Thüren mehr zu?

Er sollte eine noch größere Ueberraschung erleben; er hatte ohne ein Wort der Klage die unbeschuhten Füße mit alten Lappen zu umwickeln gesucht und seine zerfetzte Jacke mit Nadeln zusammengesteckt – da, am Weihnachtsmorgen fand er vor seinem Lager ein Paar gute nägelbeschlagene Schuhe und ein buntfarbiges baumwollenes Hemd. Das hatten sie ihm heimlich hingelegt, der Felice und sein Weib. Als sich der Hans Sepp aber mit ein paar aufgeschnappten italienischen Brocken bei ihnen bedanken wollte, lachten sie ihn aus, und keines wollte von der Sache wissen.

Mit der Zeit schämten sich die beiden ihres Fleißes immer weniger, und als das Frühjahr kam, mühte sich nicht mehr der Bub’ allein mit dem Schuttfahren ab, auch Felice und sein Weib fuhren im Schweiße ihres Angesichtes ihren Karren zum Steinbruch. Und so stand eines Tages die Hütte auf geebnetem Boden und ringsumher in die feuchte Erde streute das Weib den Samen zu kommendem Wohlstand. Felice aber sagte zu dem Buben, den die milde Frühlingsluft um seine letzte Kraft zu bringen drohte: „Wie ist’s, kommst’ mit? Morgen geht’s auf den Cevedale.“

Dem Hans Sepp blieb die Antwort in der Kehle stecken; er ging rasch weg, um seine Erregung nicht zu verraten.

Am andern Morgen stand er schon in aller Frühe vor dem Häuschen; alles hatte er sich aufgepackt, beide Rucksäcke, Pickel und Seile; sein Antlitz glühte vor Eifer. Felice lachte laut auf, nahm das meiste an sich, und so schritten sie selbander davon. Das Weib kam ihnen nachgestürzt: „Bring’ ja den Buben wieder mit!“ empfahl sie ihrem Gatten; dann machte sie ein Kreuzeszeichen auf Hans Sepps Stirne: „Du warst unser guter Engel!“

Unterhalb des Cevedale trafen Führer und Touristen zusammen, und der Aufstieg begann.

O, die Heimatluft, die kräftige Luft der Alpen, sie gab der kleinen schuldgepreßten Brust des Verbannten den ersten glücklichen Augenblick wieder! Und als er erst oben stand und sein kleines Thal erblickte, tief drunten, nicht größer als die Fläche einer Hand, da vergaß er alles, was bisher wie ein Alp auf seiner Seele gelegen hatte, und jauchzte hinaus, daß es von den Bergen widerhallte.

Felice aber, der hinter ihm gestanden, klopfte ihm mit einem bedeutungsvollen Lächeln auf die Schulter. „So, jetzt weiß ich auch, wo Deine Heimat ist.“

Der Hans Sepp wurde dunkelrot. „Aber ich bleibe bei Dir, Felice,“ flüsterte er.

„Und warum?“ fragte der Mann.

„Ich will ein großer Führer werden,“ lautete die ausweichende Antwort des Buben.

Des Morgens in der Frühe, bevor sich noch einer in der Schutzhütte, wo man genächtigt hatte, rührte, schlich der Hans Sepp hinaus ins Freie. Es tagte eben; er nahm den Weg über die kolossalen Moränen des Suldenferners. Dem Thale strebte er mit stürmisch pochendem Herzen zu; dort im Lärchenwald konnte er sich verbergen und hinabsehen in sein Heimatthal – vielleicht daß er den Fex erblickte!

An der Ortlerspitze leuchtete das Frührot, als der Hans Sepp zur Stelle kam, von wo aus er sein geliebtes Thal zu überblicken vermochte, ohne daß er Gefahr lief, von unten gesehen zu werden. Zitternd stand er zwischen dem dichten Gestrüpp der hohen und niedrigen Bäume und lauschte, ob nicht etwa ein Hirte die Kühe dahertreibe. Plötzlich schrak er zusammen, der dumpfe Knall eines Schusses war an sein Ohr gedrungen, gleich darauf blitzte es durch die Bäume, Gesang ertönte, und die Glocken des Kirchleins läuteten feierlich zusammen. Jezt wußte der Hans Sepp, sie hatten einen Bittgang drunten, und er riß den Hut vom Kopf und preßte ihn mit seinen hageren Händen krampfhaft gegen die Brust; mechanisch, mit heiserer Stimme sang er die wohlbekannten Lieder mit, derweil sein Blick dem roten Baldachin folgte, unter dem der Herr Kurat mit dem Allerheiligsten in den Händen über die Wiesen schritt. Und er, er da oben war ausgeschlossen, durfte sich nie mehr in den vertrauten Kreis mischen – er war [875] der Böse, vor dem die drunten, die nie etwas Böses gethan, voll Abscheu das Antlitz wenden würden. Nein, er mußte wieder gehen, er durfte ihnen nicht vor die Augen treten, nur warten wollte er noch und hinabschauen, nur so lange, bis er den Fex gesehen. Er hatte ja doch so fleißig gearbeitet, den ganzen Winter lang, rechnete er dem lieben Gott vor, dafür könnte ihm schon diese eine Gnade zu teil werden. Mehr zu verlangen, das wußte er, hatte er kein Recht; später vielleicht, wenn er ein großer Führer geworden war und tausend Gefahren bestanden und vielen Menschen das Leben gerettet hatte, dann vielleicht durfte er wieder heimkommen und die Schwelle seines Hauses betreten, was ihm als der Inbegriff aller Glückseligkeit erschien.

Die Prozession war zu Ende; nur ein leiser Pulverdampf zog noch über das Thal hin; die Leute gingen heim – durch die Wiesen, über den Bach oder am Waldesrand entlang. Wie von magischer Gewalt gezogen, stieg Sepp tiefer hinab; verzehrend haftete sein Blick an dem kleinen Haus, das ihm gehörte und in das keiner hineinging, obwohl die Thür offen stand – warum stand sie offen?

Großer Gott, da erhob sich’s von der Schwelle und richtete sich auf und schnoberte in die Luft – der Fex – der Fex! Dem Buben stürzten die Thränen wie Bäche aus den Augen; er streckte die Arme aus, er wollte rufen, aber nur ein heiserer Laut drang aus seiner Kehle. Der Hund lief hinunter auf die Wiese, hinter einem Hirten her, der mit der Peitsche knallte. Die Thränen verhinderten den Hans Sepp, recht hinzusehen, er wischte sich die Augen, heftig, zornig – wem lief der Fex nach – wer war jetzt sein neuer Herr?

Im nächsten Augenblick stand der Hans Sepp wie eine Bildsäule da, mit weit aufgesperrten Augen, als sähe er am helllichten Tag Gespenster. Dann raste er hinab; drunten der Fex stieß ein markerschütterndes Geheul aus – ein paar Minuten später, und der Hans Sepp stand vor seinem Kameraden Aloisl.

„Jesus,“ schrie dieser auf, „wir haben ja alle Tag’ für Dich gebetet – wo warst denn so lang, Hans Sepp?“

„Bist nicht ertrunken?“ lautete dessen erstaunte Frage.

Der Aloisl schüttelte den Kopf. „Der Fex hat mich aus dem Bach gezogen – schau, jetzt meint er, Du haust ihn wieder, und hat Angst vor Dir. Wie die Männer Dich suchten, haben sie ihn droben am Ortler gefunden, halb verhungert, mit erfrorenen Pfoten; kraxeln kann er nimmer, aber vor Deinem Haus hat er alle Nacht gelegen und nach Dir gejammert. Gottlob, daß Du wieder da bist,“ schloß der Aloisl seinen Bericht, „und wir haben heut’ zum Glück grad Knödel und Speck.“

Der Hund hatte sich trotz seines schlechten Gewissens nicht länger zu halten vermocht und war an Hans Sepp wie närrisch emporgesprungen. Der Bursche umschlang das Tier und drückte die Wange gegen dessen Kopf.

„Aber,“ kam der Aloisl auf seine erste Frage zurück, „wo warst denn so lang, Hans Sepp?“

Der deutete mit der Hand nach den Höhen, von denen er herabgekommen war. „Dort drüben,“ murmelten seine Lippen, „weit, weit dort drüben –“ Dann blieb sein Auge mit einem Ausdruck plötzlichen Erstaunens an des Kameraden Gesichtszügen hängen – ein wenig gewachsen war er, der Aloisl, sonst hatte sich nichts in seinem stillen schläfrigen Gesicht verändert. Er aber – der Hans Sepp atmete tief auf und etwas wie ein Schauer ging ihm durch die Seele – er war ein anderer geworden, ein ganz anderer – er war kein „Böser“ mehr.


Blätter und Blüten


Ein Werk der Selbsthilfe. Vor einiger Zeit ist in der „Gartenlaube“ über das „Frauenheim“ zu Hirschberg berichtet worden, jene gemeinnützige Anstalt zu dem Zwecke, alleinstehenden Frauen und Mädchen, die nur über bescheidene Mittel verfügen, eine bei aller Bescheidenheit trauliche Häuslichkeit zu gewähren. Wie dieses Heim auf dem Grundsatze aufgebaut ist, daß die Genossenschaft ermöglicht, was dem Einzelnen unmöglich wäre, so gilt dies auch von einem anderen Heime ähnlicher Art, das vor anderthalb Jahren in Wien-Lainz gegründet worden ist. Auch hier ist das leitende – und wir können hinzufügen, von Erfolg gekrönte – Streben, den Einzelnen durch Zusammenschluß vieler zu einem Verbande, zu einer wirtschaftlichen Gemeinschaft im Kampfe ums Dasein zu stärken und ihm zugleich ein Gut zu bieten, das ihm des Lebens Ungunst versagt hat, eine behagliche Häuslichkeit. Das Lainzer Heim unterscheidet sich nur in einem wesentlichen Punkte von dem Hirschberger: es ist nur für Witwen und Waisen von Offizieren der österreichisch-ungarischen Armee bestimmt. Sonst aber entspricht es ziemlich genau der schlesischen Schwesteranstalt. Jede nähere Auskunft ist die Vorsteherin des Heims, Frau Constanze Glieher in Wien-Lainz, Hauptstraße 37, gerne zu erteilen bereit.

Das nach Ostasien entsendete deutsche Kreuzergeschwader. (Zu dem Bilde S. 857.) Sowohl die Handelsinteressen als das politische Ansehen des Deutschen Reichs hatte es nach dem Ausbruch des koreanischen Kriegs zwischen Japan und China dringend wünschenswert gemacht, daß auch unsere Marine in den vom Kriege bedrohten Häfen eine achtunggebietende Vertretung finde. Beläuft sich doch allein unsere direkte Ausfuhr nach China auf 30 Millionen Mark jährlich und unter den Europäern, welche in den chinesischen Hafenstädten den Handel vermitteln, befinden sich viele Deutsche. Ein entsprechendes Geschwader für diesen einen Zweck mit der nötigen Schnelligkeit zusammenzubringen, war für unsere Marineverwaltung keine geringe Aufgabe, aber sie ist inzwischen gelöst worden.

Das sich in den ostasiatischen Gewässern formierende Geschwader besteht aus den Schiffen „Irene“, „Cormoran“, „Alexandrine“, „Arkona“, „Marie“, „Wolf“ und „Iltis“. Zum Geschwaderchef ist der Contreadmiral Hoffmann ernannt worden, der bisher Vorstand der nautischen Abteilung im Reichsmarineamt war. Das seine Flagge führende Schiff ist die im Vordergrunde unseres Bildes sichtbare „Irene“.

Diese verließ am 17. November unter dem Kommando des Korvettenkapitäns v. Dresky Wilhelmshaven. Zahlreiches Publikum hatte sich eingefunden, und als Punkt 1 Uhr das Schiff abfuhr, begleiteten es brausende Hurras und ein Musikkorps spielte dem scheidenden Schiffe die Nationalhymne als Scheidegruß. Der Kreuzer „Cormoran“ verließ schon im Oktober die Heimat, um in die ostasiatischen Gewässer zu dampfen, woselbst sich die Kreuzer „Alexandrine“, „Arkona“ und „Marie“ sowie die Kanonenboote „Wolf“ und „Iltis“ bereits befinden. W. S.     

Eine neue Geschichte des deutschen Volkes. Seit die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870 unserem Volke die ersehnte Einigung gebracht und dadurch die Kämpfe von Jahrhunderten zu einem großen Ziele geführt haben, hat sich unsere Geschichtswissenschaft mit erneutem Eifer der historischen Entwicklung unseres Vaterlandes zugekehrt, und nicht wenige bedeutende Werke sind auf diesem Gebiet geschaffen worden. Aber diese Forschungen waren meist spezieller Natur, sie gingen in die Einzelheiten und wandten sich so eher an diejenigen, die aus der Geschichte ein besonderes Studium machen. Ein Buch, das den Lebensgang unseres Volkes in einem einheitlichen Bilde entrollte, unter Benutzung aller Ergebnisse der Einzelforschung und doch ohne Weitläufigkeit und Störung des sicheren Ueberblicks – ein solches Buch für die weitesten Kreise war erst zu schreiben. Und daher werden es viele dankbar begrüßen, daß, wie wir an anderer Stelle kurz mitgeteilt haben, Theodor Lindner, Professor an der Universität Halle, eine solch kurzgefaßte und übersichtliche „Geschichte des deutschen Volkes“ uns geboten hat (Stuttgart, Cotta). Nach großen Gesichtspunkten angelegt, bietet dieses Werk mit seiner gedrängten geistvollen Darstellung einen lebendigen Einblick in die wirksamen Ideen und Kräfte jener Persönlichkeiten und Epochen, welche vor allem die Entwicklung und den Charakter des deutschen Volkes bestimmt haben. Wir möchten es daher jedem empfehlen, dem es am Herzen liegt, den Gang der vaterländischen Geschichte nicht bloß in einem kleinen Teile selbst mitzugehen, sondern in seiner Gesamtheit zu überschauen und innerlich mitzuerleben.

[876] Schwerer Dienst. (Zu dem Bilde S. 861.) Rauhe Winternacht und tiefer Schnee, endloser Wald dazu, da ist in der That der Beruf des Landbriefträgers ein schwerer Dienst! Aber unbekümmert um die Unbilden der Jahreszeit und des Weges schreitet der wetterfeste Mann dahin, höchstens daß er einmal eine Minute stehen bleibt, wenn die hellen Fenster eines Bahnwärterhäuschens durch die Nacht ihm entgegenleuchten und der Anblick seine Gedanken vorausschweifen läßt zu der behaglichen Stube, in der Weib und Kind ihn erwarten. Ist doch auch gerade diese Zeit „zwischen den Jahren“ dazu angethan, ihm die ideale Seite seines Berufs zum Bewußtsein zu bringen. Waren es doch Christgeschenke und Weihnachtsgrüße, die in den letzten Tagen seine gern getragene Bürde bildeten und mit denen er Glück und Freude in entlegene Dörfer und Gehöfte brachte, wie er jetzt wieder dem treuen Gedenken beim Jahreswechsel zwischen getrennten Verwandten, Freunden und Brautpaaren als gewissenhafter Vermittler dient.

Anton Rubinstein †. Einen Ruhm hinterlassend, den er in, erster Linie seinem großen Talent, dann aber auch seinen edlen Herzenseigenschaften zu danken gehabt hat, ist einer der bedeutendsten Musiker der Gegenwart, Anton Rubinstein, in der Nacht auf den 20. November in seiner Villa in Peterhof jählings am Herzschlag verschieden. Aus kleinen Anfängen war derselbe in die glänzende Laufbahn eines der gefeiertsten Tonkünstler eingelenkt, auf welcher er in der letzten Zeit eine großartige Wohlthätigkeit entwickelt hat, indem er den meist sehr bedeutenden Ertrag seiner Konzerte gemeinnützigen Anstalten, den Armen und Notleidenden, überwies. Aber auch die Mehrzahl der musikalischen Bildungsanstalten Europas ist von ihm auf diesem Wege vielfach gefördert worden und eines seiner letzten Konzerte, das er in Deutschland gab, hat zum Besten des Beethovenhauses in Bonn stattgefunden. Am 30. November 1830 zu Wechwotynetz bei Jassy geboren, verbrachte er seine Kindheit in Moskau, wo seine Mutter, eine vortreffliche Klavierspielerin, die aus Deutschland stammte, Lehrerin an einem kaiserlichen Erziehungsinstitut war. Seine Begabung entwickelte sich unter ihrer Leitung schon frühe sehr glänzend; er gehörte zu den „Wunderkindern“, deren gesundes Wachstum durch diesen Vorzug nicht beeinträchtigt wurde.

[Ant. Rubinstein.]

Nach einer Aufnahme von W. Höffert, Hofphotograph in Berlin.

So trat er bereits mit zehn Jahren, begleitet von seinem Lehrer Villoing, nicht nur in Rußland, sondern auch in Paris in öffentlichen Konzerten auf, und als ihn damals in letzterer Stadt Franz Liszt gehört hatte, prophezeite sich dieser in dem genialen Knaben, dessen Antlitz ihn an das Beethovens erinnerte, seinen Nachfolger. Unter Liszts mächtigem Schutz und seinem Beispiel folgend, sehen wir Rubinstein danach seinen Konzertreisen immer weitere Ausdehnung geben, bis ihn sein schöpferischer Trieb zur Komposition veranlaßte, in Berlin festen Fuß zu lassen, um hier durch ernste Studien sich auch für diese Richtung seines Talents auszubilden. 1848 ließ er sich in St. Petersburg nieder, das ihm dann mit der Villenstadt Peterhof bis zum Tode die eigentliche Heimat blieb, so lang sich auch einzelne seiner Konzertreisen ausdehnten und so gern er auch in einzelnen deutschen Städten, wie Stuttgart und Dresden, längeren Aufenthalt nahm. Was in Rußland seitdem zur Fördernng des musikalischen Kunstlebens geschah, war in der Hauptsache auf seine Anregung zurückzuführen; so auch die Gründung der Russischen Musikgesellschaft, der er seit 1859, und der des St. Petersburger Konservatoriums, dem er seit 1862 als Direktor eine Reihe von Jahren vorgestanden hat.

Rubinstein gehörte zu den Klavierspielern, bei denen die absolute Beherrschung alles Technischen mit geistvoller Auffassung und leidenschaftlichem Temperament Hand in Hand ging. Seine zahlreichen eigenen Kompositionen sind von verschiedenem Wert; von seinen Opern haben sich die „Makkabäer“, von seinen Oratorien „Das verlorene Paradies“ am meisten eingebürgert. Die Klavierlitteratur hat er durch glänzende originelle Werke bereichert. Unter seinen Liedern finden sich viele von großem Reiz und warmer Empfindungsfülle. Das Ideal seines schöpferischen Strebens war in der späteren Zeit seines Lebens eine Wiedergeburt des Oratoriums aus dem Geiste der Oper. Solcher geistlicher Opern hat er mehrere – „Moses“, „Christus“ etc. – geschaffen. Die Verwirklichung dieses Ideals durch die Mittel der Bühne hat er aber nicht mehr erlebt.

Vom „Deutschen und österreichischen Alpenverein“. Wir haben in Nr. 32 dieses Jahrgangs kurz von dem Feste berichtet, das in den ersten Augusttagen dieses Jahres der Deutsche und österreichische Alpenverein zu München als seiner Gcburtsstadt feierte zum fröhlichen Abschluß der ersten 25 Jahre seines Bestehens. Der Alpenverein kann mit freudiger Genugthuung auf dieses Vierteljahrhundert zurückschauen, in dem er mächtig wuchs nicht nur an Mitgliederzahl, sondern auch an allen erdenklichen Leistungen für die Erschließung der Bergwelt. In dem neusten Jahrbuche des Vereins, das zugleich die Festschrift ist zum 25jährigen Jubiläum, erzählt Johannes Emmer die Geschichte des Vereins, und was dieser Nützliches gewirkt hat, das tritt in einigen Ziffern schlagend zu Tage. Der Alpenverein hat bis Ende 1893 aufgewendet für Hüttenbauten 881624 Mark, für Wegbauten 486788 Mark, insgesamt also die Summe von 1368412 Mark. In diesen Zahlen spricht sich eine Kulturleistung aus, die nur derjenige voll zu würdigen versteht, der einmal die Wohlthat jener Wege und Schutzhütten für Touristen und Führer, ja für die Bevölkerung ganzer Thäler selbst beobachtet und erfahren hat. Bei der großen Ausdehnung des Gebirgsgebietes, das erschlossen werden mußte, war die übernommene Aufgabe nicht zu lösen ohne die treuliche Mitarbeit der einzelnen Sektionen des Vereins, die je einer bestimmten Berggruppe, einem bestimmten Thal ihre Fürsorge widmeten. – Von zwei solcher Sektionen, die in den letzten Monaten ebenfalls ihr 25. Gründungsfest begingen, von Frankfurt a/M. und Stuttgart, liegen uns hübsch ausgestattete Festschriften vor, in welchen durch anziehende Bilder die Hüttenbauten dieser Sektionen vorgeführt werden. Die Frankfurter Sektion, am 3. September 1869 gegründet und nun von 11 Mitgliedern am Anfang auf über 500 angewachsen, widmet ihre Arbeit der Gruppe der Oetzthaler Berge; vor allem die Gepatschhütte und die Weißkugelhütte sind ihr Werk. Die Sektion „Schwaben“ mit dem Sitz in Stuttgart, die seit dem 28. Oktober 1869 besteht und es von ursprünglich 19 Mitgliedern auf über 600 brachte, hat sich das Jamthal in der Silvrettagruppe zur Fürsorge ausgewählt und dort die Jamthalhütte errichtet. Wie aus den Festschriften dieser Sektionen, so weht einem auch aus dem festlich geschmückten Jahrbuch des ganzen Alpenvereins ein frischer Geist entgegen, der hoffen läßt, daß der Deutsche und österreichische Alpenverein die Kulturaufgaben, die er sich freiwillig gestellt hat, auch in Zukunft thatkräftig fördern wird.




Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (15. Fortsetzung). S. 857. – Das nach Ostasien entsendete deutsche Kreuzergeschwader. Bild. S. 857. – Schwerer Dienst. Bild. S. 861. – Weihnachtsmärchenspiele. Von Alexander Tille. S. 864. Mit Illustrationen S. 864, 865, 866, 868 und 869. – Die Kaiserin Katharina II. von Rußland vor ihrer Thronbesteigung. Von Eduard Schulte. S. 867. Mit Bildnis S. 872. – Der Böse. Von Hermine Villinger (Schluß). S. 873. Mit Illustrationen S. 873, 874 und 875. – Blätter nud Blüten: Ein Werk der Selbsthilfe. S. 875. – Das nach Ostasien entsendete deutsche Kreuzergeschwader. S. 875. (Zu dem Bilde S. 857.) – Eine neue Geschichte des deutschen Volkes. S. 875. – Schwerer Dienst. S. 876. (Zu dem Bilde S. 861.) – Anton Rubinstein †. Mit Bildnis. S. 876. – Vom „Deutschen und österreichischen Alpenverein. S. 876.



In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
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Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das vierte Quartal der „Gartenlaube“ 1894; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

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