Die Gartenlaube (1895)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

Nr. 1.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.


1.

Eine hübsche lange Zeit ist’s her, seitdem ich Deinen letzten Brief erhielt, lieber Freund! Soeben lese ich ihn nochmals durch und muß lachen über die vielen Vorwürfe, die er enthält. „Welcher Teufel reitet Dich,“ schreibst Du, „diese Marotte in Scene zu setzen, Dich in die Einsamkeit vergraben, den Einsiedler spielen zu wollen? Ein Mensch wie Du, in den besten Mannesjahren, geradezu ausersehen, im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen“ und so weiter! –

Entschuldige, mein Alter, aber das stimmt nun nicht, stimmt alles nicht! Erstens setze ich keine „Marotte“ in Scene, sondern einen seit langen Jahren sorgfältig erwogenen, zärtlich gehegten Lieblingswunsch, den Du recht gut kennen mußt, der Dich folglich nicht zum Staunen berechtigt. Zweitens vergrabe ich mich keineswegs in die Einsamkeit, sondern ich sitze in unmittelbarer Nähe einer Großstadt, habe kaum eine halbe Stunde bis zu einem ihrer zahlreichen Vororte zu gehen, kann dort in die Pferdebahn steigen und befinde mich in weiteren zwanzig Minuten mitten im fieberhaft schlagenden Herzen besagter Großstadt, drittens denke ich durchaus nicht den Einsiedler zu spielen, sondern so oft es mich danach gelüstet, und das kann vielleicht recht häufig geschehen, den Verkehr mit allerlei Leuten, mit Kollegen und Bekannten, zu pflegen, die Museen zu bereisen, Konzerte und Theater zu besuchen und gelegentlich, wenn ich einmal sehr gute Gesellschaft treffe, ein paar Tage ganz und gar in der Stadt zuzubringen. Was endlich die „besten Mannesjahre“ und die „Rolle im öffentlichen Leben“ betrifft … guter Gott!

Du hast mich seit fünf, sechs Jahren nicht gesehen, Alter. Deine freundschaftlich gefärbte Erinnerung hält ein Bild meines Aussehens und Wesens fest, wie es damals war. Du kannst mir’s aber auf mein Wort glauben – ich habe mich gewaltig verändert seitdem. Sei es, daß ich die gewisse Altersgrenze überschritten habe, die selten jemand ungestraft passiert, sei es, daß die Nachwirkungen der aufregenden Ereignisse, die Du zum Teil mit mir erlebtest, mir so übel mitgespielt haben, mit einem Wort, ich bin alt geworden, guter Freund! Ich fühle mich durchaus nicht berufen, irgend welche „Rolle“ zu spielen, im öffentlichen und politischen Leben nun schon zu allerletzt! Ich setze nicht mehr Leitartikel,


Willkommen!
Nach dem Gemälde von O. Kirberg.

[2] „die gleich Brandraketen wirken“, wie man einst behauptete, in die Welt, „ich will Frieden haben“, wie es in Schillers „Maria Stuart“ heißt. Hier in meiner Villa zu wohnen, unbehelligt vom Parteitreiben, von Haß und Hader, von Neid und Mißgunst, für ein paar gute Journale, die mich unter den günstigsten Bedingungen zu ihrem Mitarbeiter geworben, populär wissenschaftliche und für eine Fachzeitung streng wissenschaftliche Aufsätze zu schreiben, das ist mein ganzer Ehrgeiz fortan, und ich darf ihn mir wohl gönnen, denn habe ich nicht zwanzig Jahre lang mich von den wilden Wellen des Lebens umbranden und unbarmherzig hin- und herwerfen lassen? Darf man sich mit fünfundvierzig Jahren nicht den Genuß der Ruhe und der stillen Geistesarbeit gönnen?

Du weißt es so gut wie kein anderer, Du weißt es nächst mir selbst am besten, daß ich von mir sagen kann: ich habe gelebt und gelitten. Diese jahrelange Qual mit Asta, meine unablässig wiederholten Bitten, sie möge sich von dem Mann, den sie als ein unerfahrenes Kind geheiratet, der sie so namenlos elend und unglücklich machte, trennen, um für immer mir anzugehören, ihr brennender Wunsch, dies zu thun, und dabei die Unmöglichkeit für sie, sich von ihren Kindern loszureißen – und ich hundertmal im Begriff, diese Fesseln zu sprengen, aber durch ihren leidenschaftlichen Jammer, durch mein eigenes starkes Gefühl für sie immer wieder zurückgehalten – es war ein aufreibender Zustand, und ich staune nachträglich, daß ich ihn so lange, daß ich ihn überhaupt ertragen habe! Wie ich heute, wie ich jetzt bin, könnte ich das nicht mehr, ich ginge zu Grunde dabei. Die kurzen Augenblicke eines verstohlenen Glückes – wie sollten sie mich entschädigen für die Kette von Lug und Trug, von Selbstverachtung und Feigheit, die ich mit mir schleppte? Und nun der letzte schreckliche Schlag, Astas Tod! Und ich, fern von ihr, ausgeschlossen aus dem Kreise ihrer Angehörigen, nicht einmal berechtigt, um sie zu trauern, um nicht der Welt mein und der Toten Geheimnis preiszugeben!

Du hast das alles getreulich mit mir getragen, mein alter Herzog, ich nenne Dich darum auch heute noch meinen einzigen Freund. Es giebt viele, die sich meine Freunde nennen … in meinen Augen sind sie nichts weiter als gute Bekannte. Wie viel Mißbrauch wird mit dem Wort „Freundschaft“ getrieben, und in diesem Begriff birgt sich doch fast der größte Reichtum, den das Leben uns bietet. Unter diesen meinen guten Bekannten sind freilich ein paar recht gescheite und angenehme Leute, mit denen ich gern in der Stadt, im Ratskeller oder im Frühstückslokal bei Krosse, einige Stunden verplaudern werde, und es soll mir auch nicht unlieb sein, wenn mich die Herren gelegentlich auf meiner Villa besuchen.

Meine Villa! Da habe ich nun meinen Rundgang mit Dir gemacht und bin glücklich wieder am Ausgangspunkt angelangt. Absichtlich bin ich ein wenig zurückgeschweift in die Vergangenheit – ich wollte Dir und auch mir selber einmal vorrechnen, was mir das Leben bisher gebracht hat, wollte gewissermaßen die Summe daraus ziehen und klarstellen, was ich jetzt noch vom Leben erwarte. Nicht mehr viel, ich bin wahrlich resigniert. Und doch wieder viel, denn heißt es nicht schon von Welt und Dasein viel verlangen, wenn man erwartet, daß sie uns in Ruhe lassen, daß sie es einem gönnen, so zu leben, wie man sich’s wünscht? Ich glaube, das wird doch nur wenigen Auserwählten zuteil – möge ich einer davon sein!

Der Anfang ist jedenfalls gut. Seit Jahren schon fahndete ich auf das, was ich jetzt habe: ein hübsches bequemes Landhaus inmitten eines Gartens, in der Nähe einer deutschen Großstadt, zu der ich einige Beziehungen habe. Das klingt einfach, fügt sich aber bei weitem nicht so leicht. Hier gefiel mir das Haus nicht; dort war mir die Stadt fremd oder unangenehm; hier war der sogenannte „Garten“ eine öde Sandfläche, an der höchstens ein Kamel Wohlgefallen haben konnte, dort war die Stadt kaum einen Steinwurf entfernt, so daß von Stille und Sammlung keine Rede sein konnte, oder die Wohnstätten der Menschen lagen so weitab, daß sie nur in zwei bis drei Stunden angestrengten Marschierens zu erreichen gewesen wären. Da bietet mir nun der gütige Zufall gleichsam auf dem Präsentierteller dies Juwel von einem Landhause dar. Eine etwas menschenfeindlich gesinnte melancholische alte Dame hatte sich diesen Wohnsitz nach ihren eigenen Angaben geschaffen, als sie aber im Begriff war, ihn zu beziehen, wurde sie von einer Lähmung betroffen, der ein baldiger Tod folgte, und ihre Erben wußten nicht, wohin mit diesem idyllischen Witwensitz. Mein Agent hört davon, meldet sich, tritt in Unterhandlung, giebt mir Nachricht – ich komme, sehe und bin besiegt – er schließt ab, und zwar für mich recht vorteilhaft, und ich bin im Besitz und folglich auch im Recht!

Da steht sie nun, hell und freundlich, meine Villa, mit einer geräumigen Veranda im Erdgeschoß, einem schönen Balkon im ersten Stock und einem koketten Türmchen rechts oben, von dem man einen weiten prachtvollen Rundblick genießt. Sechs Zimmer unten, ebensoviel im Oberstock, zwei luftige Stübchen im Turm. Küche, Kellereien, Wirtschaftsräume, alles bequem und praktisch eingerichtet. Sie ist kein übler Baumeister gewesen, meine alte Dame. Der Garten ist sehr groß und schön, in Terrassen angelegt, ohne künstliche Grotten, Teppichpflanzungen und sonstigen Firlefanz. Dagegen hat er einen dunklen Weiher, von Eschen umstanden, die ihr schlankes Gezweig bis ins Wasser hängen. Dies Gezweig ist zwar jetzt fast noch völlig kahl, kaum hier und da mit einem kleinen grünen Fleck betupft – es ist ja noch sehr früh im Jahr. Haben wir aber erst den Frühling und den Sommer im Lande, dann wird’s hier wundervoll werden, die ganze Villa muß da wie in Grün gebettet sein, die Blätterwogen könnten fast darüber zusammenschlagen. Du kennst meine Liebhaberei fürs Gärtnern, die haftet mir noch von meinem Leben auf dem väterlichen Gut an, und hier werde ich ihr nach Herzenslust nachgehen können. Mein Studierzimmer ist über die Maßen behaglich eingerichtet, es hat den Blick auf den Weiher und die schönsten Baumgruppen des Gartens; wie gut wird sich’s da arbeiten und lesen lassen! Ich habe mir von meinem Buchhändler so viel Lektüre schicken lassen und aus der Stadt so viel Zeitungen bestellt, daß ich ein Jahr hindurch den ganzen Tag nur lesen könnte und doch nicht fertig würde. Ich habe so lange auf Reisen herumgetrödelt, daß ich in unserer zeitgenössischen Litteratur von einer geradezu schmachvollen Unwissenheit bin und daher bestrebt sein muß, diese Lücken möglichst rasch auszufüllen.

Du mußt wissen, ich bin einigermaßen ein Sonderling geworden in den letzten Jahren. Daher passe ich auch nicht mehr in die Stadt, wenigstens nicht für den beständigen Aufenthalt dort. Ich will zum Beispiel in einer leichten Stoffkappe und in Leinenschuhen einhergehen, ohne daß die Menschheit mich angafft oder zum mindesten in mir einen halb verrückten Engländer vermutet. Ich will stehen bleiben und weitergehen, wann es mir gefällt, ohne von andern geschoben, gestoßen und gehemmt zu werden. Ich will in Muße spazierengehen und nicht durch dunstige heiße Straßen mich treiben lassen inmitten eines fiebernden Menschenschwarms. Ich will auch, sobald es mir beliebt, ein paar Worte vor mich hinreden, wie das jetzt oft so meine Art ist, ohne daß man mich für einen Narren hält. Und gute freie Luft will ich atmen, nicht aber den Höllenbrodem aus kochendem Asphalt, Staub, Rauch und Qualm, den die großen Städte liefern. Alles das aber, was ich will, kann ich in meinem „Buen Retiro“ haben.

Der Name steht in großen, golden leuchtenden Lettern über dem breiten vorspringenden Sims der Veranda. Wohlverstanden, diesen Namen habe ich der Villa gegeben, die alte Dame ist daran unschuldig. Klingt es nicht hübsch: „Buen Retiro?“ Und wörtlich soll es das werden, was es sagt, eine „gute Zuflucht“ für einen, der auf der hohen See des Lebens, wenn nicht Schiffbruch, so doch mancherlei Gefahren und Not erlitten hat und der nun an das sichere Gestade geflüchtet ist, um ruhig lächelnd auf den Ocean zurückzublicken, in der schönen Gewißheit, daß seine Brandungswellen nicht mehr bis zu ihm heranreichen, daß kaum ein versprengter Tropfen Schaum ihm in seiner stillen Klause den Fuß benetzt. Ach, es wird herrlich, es wird beneidenswert sein, hier zu leben – komm’, mein guter lieber Alter, komm’ und sieh Dir’s an, und wenn Du mir’s mißgönntest, Dich an meine Stelle wünschtest … mir sollte es leid thun um Dich, doch könnte ich es Dir wahrlich nicht verdenken!

Du bittest mich in einer etwas ironisch gefärbten Stelle Deines Briefes, es Dir jedenfalls anzukündigen, wenn ich mein „Idyllspielen“ satt habe und die Villa wieder loswerden wolle – unter Deinen zahlreichen Bekannten könntest Du mir vielleicht einen Käufer vermitteln. Also, Du meinst in vollem Ernst, daß ich mit meinem „Buen Retiro“ mir selbst etwas weismachen will? Freilich, man soll nichts verschwören und ich bin der letzte, der dies thut. Ich habe es aufgegeben, mich selbst zu beobachten, aus meinem eigenen Ich ein Studium zu machen. Es kommt weder für meine Mitmenschen noch für mich selber etwas Nützliches [3] oder Erfreuliches dabei heraus. Heutzutage ist es ja sehr modern, die Sonde in jede Stimmung, jede Gemütswallung, jede Regung der Phantasie zu stecken, immer gleich zu fragen: „Was kann das zu bedeuten haben? Was kündigt dieser plötzliche Umschlag des Gefühls, was diese unerklärliche Erkältung oder Erwärmung an?“ Auch ich habe es eine Zeit lang mit meiner Person so getrieben, ich bin mir aber nicht interessant genug als fortgesetztes Beobachtungsobjekt. Zudem beschäftigt mich der Gedanke, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben – das ist weit angenehmer, als beständig das werte Ich zu beleuchten; man sieht dieses Ich am Ende doch in einem weit günstigeren Licht, als es verdient. Da ich nun aber meine aufwallenden Regungen u. s. w. nicht alle mehr gewissenhaft zu Protokoll nehme, so kann es allerdings sein, daß ich mich eines schönen Tages mit mir selbst überrasche und meines heißgewünschten „Buen Retiro“ überdrüssig werde. Ich kann es mir aber durchaus nicht denken, würde mir auch eine derartige Geschmacksverirrung sehr übel nehmen und entschieden eine schlechte Meinung von mir bekommen. Jedenfalls warte ich das alles in Ruhe ab und lasse die Dinge an mich kommen!

Zwei Deiner Fragen habe ich zum Schluß Dir noch zu beantworten. Wer denn für mich in meinem verwunschenen Schloß – das ist es nicht, es ist mein geliebtes, stilles „Buen Retiro“! – das profane Geschäft des Haushaltens versehe. Erinnerst Du Dich, lieber Herzog, aus unsren früheren Gesprächen meiner Schilderungen eines originellen Frauenzimmers, das auf meinem elterlichen Gut die Wirtschaft besorgte? Ich meine, Du mußt Dich erinnern, ich habe Dir zu häufig von ihr erzählt und wir haben zusammen herzlich über sie gelacht. Dieses „Mamsellchen“ nun – diese ostpreußische Benennung ist ihr geblieben – liebt mich mit einer Schwärmerei, die sich unaufhörlich auf der Grenze zwischen dem Komischen und dem Rührenden bewegt, und es war der größte Kummer ihres Lebens, daß ich nach dem Tode meines Vaters nicht dessen Gut behielt und selbst weiter bewirtschaftete – eine schöne Wirtschaft wäre das geworden! –, sondern mein Bündel schnürte und auf Reisen ging. Da ich sie dabei nicht gut mitnehmen konnte, so sah sie sich gezwungen, eine neue Stelle als Wirtschafterin anzunehmen, und ich erhielt jedes Jahr ein paar erzdrollige Episteln von ihr, in denen die ergötzlichsten Schilderungen ihrer Herrschaft enthalten waren, dazwischen Klagen über die Trennung von mir, aus denen eine geradezu mütterliche Fürsorge und Zärtlichkeit sprach. Um es kurz zu machen: als ich die Villa erwarb, erwarb ich mir zugleich mein getreues Mamsellchen als Haushälterin: es eilte glückselig auf meinen ersten Ruf herbei und versieht nun meine Wirtschaft mit Hilfe eines männlichen Faktotums, genannt Ewert, aufs vollendetste. Bitte, komm’ her und überzeuge Dich von der Wahrheit des Gesagten! Du wirst ein Menü finden, das selbst Deinem verwöhnten Großstadtgaumen genügen dürfte.

Und nun zu Deiner Nachschrift! Du fragst zum erstenmal seit langen Jahren nach Margot, meiner Pflegeschwester, die Deine erste Liebe war. Ich weiß, mein Alter, wie tief dies Gefühl damals bei Dir ging, wie hart es Dich traf, daß Margot, die doch Neigung für Dich verriet, so plötzlich sich dem neuen Bewerber zuwandte, der allerdings eine glänzende Partie genannt werden durfte. Die Gattin eines Generalkonsuls auf Java – das hat sie wohl gelockt; phantastisch und etwas abenteuerlich angelegt war sie ja von jeher.

In welch’ hohem Grade sie das gewesen ist, davon hast Du wohl kaum einen rechten Begriff bekommen, destomehr ich, ihr Pflegebruder, der mit ihr zusammen aufwuchs. Als sie, das einzige Kind einer Jugendfreundin meiner Mutter, zu uns ins Haus kam, war sie, etwa achtjährig, ein aufgewecktes kleines Ding, wie ein Spürhund hinter jedem Märchenbuch her, das ihrem abenteuerlichen Sinn neue Nahrung bot. Himmel, was konnte dies Kind sich für merkwürdige Dinge ausdenken, was für unglaubliche Scenen und Spiele haben wir beide miteinander vollführt, denn ich war ihr treuer Gefährte und staunte ihre unversiegbare Erfindungsgabe gläubig an! Meine Mutter bemühte sich, dieser Anlage Margots, die ihr wohl nicht ganz unbedenklich schien, zu steuern, aber sie hatte nur wenig Erfolg damit. Garten, Wald und Feld waren ein viel zu ausgedehntes Gebiet für zwei heranwachsende Kinder, als daß sich eine Ueberwachung hätte ermöglichen lassen. Als Margot dann mit kaum fünfzehn Jahren in die Residenz kam, um sich den berühmten „letzten Schliff“ daselbst zu holen, da schoß dieser phantastische Trieb in ihr vollends empor. Sie trug jeden Pfennig ihres Taschengeldes ins Theater, sie machte ohne weiteres Besuch bei einigen weiblichen Bühnengrößen, die das hübsche, begeisterte Mädchen freundlich genug aufnahmen, sie deklamierte ihnen Gedichte vor und ließ sich von ihnen Schmeicheleien sagen und eine große Zukunft prophezeien – denn zur Bühne wollte sie, das stand felsenfest. Ich war auch in dieser Zeit ihr einziger Vertrauter, sie schrieb mir lange Briefe, gestand mir, daß sie in aller Stille Rollen einstudiere, daß eine ihrer Gönnerinnen ihr wöchentlich einmal Unterricht erteile, und sie – Margot – betraute mich mit der schönen Aufgabe, die Eltern allmählich auf ihre Berufswahl vorzubereiten, da ich ihnen näher sei und sie des öfteren sehe. So lieb ich sie hatte, ich redete ihr aus allen Kräften ab. Ich wußte, daß meine Eltern nie ihre Einwilligung zu diesem Beruf geben würden, denn sie hatten eine tiefgewurzelte Abneigung gegen die Bühne und alles, was damit zusammenhing, seitdem die einzige Schwester meines Vaters, die heimlich zum Theater ging, auf traurige Weise zu Grunde gegangen war, und ich, trotzdem ich ein eifriger Theaterbesucher war und gegen den Schauspielerberuf an sich nicht das Geringste einzuwenden hatte, auch ich war ganz und gar gegen Margots Pläne. Lag es mir von den Eltern her im Blut oder war es ein ganz persönliches Vorurteil – der Gedanke, meine liebe reizende Pflegeschwester könnte da Abend für Abend auf der Bühne stehen, sich heute vom ersten Liebhaber, morgen vom Bonvivant und übermorgen vom Heldenvater vor aller Leute Augen umarmen lassen – dieser Gedanke verursachte mir beinahe einen körperlichen Schmerz. Mochte zum Theater gehen, wer wollte – die Mitglieder unserer soliden einfachen Familie sollten davonbleiben! Findest Du dies philisterhaft gedacht? Ich kenne sehr viele, die ebenso urteilen wie ich, sie sind oft große Kunstschwärmer, interessieren sich aufrichtig fürs Theater, aber ihre Angehörigen wollen sie dort nicht sehen, zumal die weiblichen nicht, denn unsereins weiß genug vom Leben, um die tausend Klippen, die einem unbeschützten hübschen und jungen Mädchen in solcher Laufbahn drohen, richtig zu würdigen.

Als Margot nun endlich nach Hause kam, gab es, wie Du Dir denken kannst, Sturm; Sturm von unserer ebenso wie von ihrer Seite. Sie that mir eigentlich leid, wir waren unserer drei gegen sie, aber das konnte mich doch nicht veranlassen, gegen meine Ueberzeugung zu reden. Es fielen heftige Worte, hier wie dort, meine vernünftigen, an schlichte gerade Verhältnisse gewöhnten Eltern fanden Margots Plan unerhört. Diese wiederum ließ deutlich durchblicken, daß sie uns sämtlich für beschränkte einseitige Alltagsnaturen hielt, denen der Sinn für alles Hohe und Schöne fehle. Später hat sie darüber anders denken gelernt.

Nun, die Eltern verweigerten kurz und bündig ihre Zustimmung, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht der bewußte Generalkonsul der Sache eine unerwartete Wendung gegeben hätte. Er lernte Margot kurze Zeit nachher kennen, nachdem sie Deine Bekanntschaft gemacht hatte, er verliebte sich stürmisch in sie, warb sofort, während Du zartfühlend gezögert hattest, und erhielt ihr Jawort, wozu nicht zuletzt, ich bleibe dabei, seine glänzende Stellung sowie das verlockende Bild beitrug, das Margot sich von einem Leben in Batavia machte.

Ich führe dies alles absichtlich aus, um Dir Margots damaliges Benehmen und ihre Beweggründe klar zu machen. Ich habe trotz alledem nicht einen Tag aufgehört, sie brüderlich zu lieben, aber wenn meine stille Abneigung gegen alles, was mit der Bühne zusammenhängt, seit jener Zeit noch zugenommen hat, so ist Margot schuld daran. Sie fühlte sich damals sehr verletzt, daß ich, bis dahin ihr treuester Freund und Genosse, ihr nicht zu Hilfe kam, und konnte mir das lange nicht verzeihen.

Ihre Ehe ist, soweit ich es beurteilen kann – sie schrieb mir sehr selten – ganz glücklich gewesen. Ich hörte von glaubwürdiger Seite, der Generalkonsul, den ich persönlich so gut wie gar nicht kannte, sei eine liebenswürdige Natur und in seine reizende Frau sehr verliebt gewesen, er habe ihr keine Bitte verweigern können. Er soll sie in ihrer Neigung zu Aufwand und Prachtliebe nur noch bestärkt haben, man sprach von glanzvollen Festen in Batavia, deren Seele meine Pflegeschwester gewesen sei.

Als dann ihr Mann starb, sah es freilich schlimm genug aus, sie ging mit dem einzigen Kinde, einem Mädchen, nach Brüssel, wo einige Verwandte des Generalkonsuls wohnten, und dort habe ich sie vor etwa acht oder neun Jahren besucht. Sie war wohnlich und hübsch eingerichtet, sie selbst aber fand ich ungeheuer verändert; sie sah schmal und elend aus – keine Spur

[4]

Die letzten Goten.
Nach einer Originalzeichnung von A. Zick.

[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] mehr von der blühenden feurigen Margot – und klagte viel. Das Leben in Brüssel schien ihr keineswegs zu behagen, doch ging dies mehr aus einzelnen Andeutungen hervor. Da ich selbst damals ein fast ununterbrochenes Reiseleben führte, so konnte ich sie nicht bitten, zu mir zu ziehen, so naheliegend ein solcher Vorschlag auch gewesen wäre. Ich glaube bestimmt, sie hätte ihn angenommen, denn wir beide fanden damals trotz der langen Trennung und des spärlichen schriftlichen Verkehrs sofort den alten Ton geschwisterlicher Herzlichkeit wieder, der unsere Kinder- und Jugendjahre so lieb und schön gemacht hatte, und Margot bat mich auch, falls je ein wahrer Freund, eine thatkräftige Hilfe ihr not thäte, ihr sowie ihrem Kinde getreulich beizustehen. Selbstredend gab ich ihr das Versprechen mit aller Bereitwilligkeit. Ich bin aber nicht in die Lage gekommen, es zu halten. Margot ist wenige Jahre nach jenem Besuch in Brüssel gestorben, der Tochter nahm sich ein Vetter ihres Vaters als Vormund an, und ich habe seither, trotzdem ich mich in mehreren Briefen teilnehmend nach ihr erkundigte, nichts mehr von ihr gehört. Damals war sie ein blasses schmächtiges Kind von etwa dreizehn bis vierzehn Jahren, ziemlich still und unzugänglich im Verkehr, obschon ihre Mutter ihr allerlei Gaben und Talente nachrühmte. Ich nehme an, sie ist so hübsch geworden wie Margot es war, und hat ebenso jung geheiratet wie diese – möge ihr Glück von längerer Dauer sein! Dies ist alles, was ich Dir von Deiner alten Jugendliebe berichten kann – nimm vorlieb damit! Ich denke noch oft an die liebreizende Margot früherer Zeiten, die mein stilles Elternhaus mit Heiterkeit und Sonnenschein erfüllte, und ich hätte gewünscht, ihr oder ihrem Kinde einmal ernstlich dafür danken zu können.

Und damit Schluß, mein alter Freund! Der Frühlingsabend sinkt herab, und mich verlangt nach einem weiten Spaziergang. Ich habe hier viel Wald in der Nähe, aus der kleinen Seitenpforte meines Gartens führt ein Weg unmittelbar dorthin. Schön ist’s da schon jetzt, und unsagbar schön wird’s im Mai sein und im Sommer, wenn die Linden blühen. Brandet, braust, ihr stürmischen Wellen des Lebens, ihr spült nicht einmal bis an die friedlich stillen Ufer meines „Buen Retiro!“
 Vale! Immer der Deine!
 Cornelius Röder.




2.

Röder schrieb gerade mit seiner festen, markigen Handschrift die Adresse, als es dreimal an seine Thür klopfte.

„Nur näher!“ rief der Hausherr wohlgelaunt, ohne sich umzuwenden, dies Klopfen kannte er!

Die eintretende Persönlichkeit rechtfertigte durch ihre bloße Erscheinung die Bezeichnung „originelles Frauenzimmer“, die Röder in dem Briefe an seinen Freund gebraucht hatte. Ganz klein, von zierlicher Behendigkeit, tief brünett, die Brauen beständig über einem Paar lebhaft funkelnder Schwarzaugen hoch hinaufgezogen, wie in unausgesetztem Erstaunen, daß es so viel Seltsames in der Welt zu schauen gebe, ein schneeweißes steif gestärktes Mützchen auf dem Hinterkopf – sie nannte es ihr „Hüllchen“ – so machte das Mamsellchen einen Eindruck, daß man es trotz seiner Kleinheit niemals übersehen konnte. Man wandte sich lächelnd oder verwundert nach dem kleinen Persönchen um, wo es zum erstenmal vorüberschritt, und wer es gesehen hatte, vergaß es sobald nicht.

Als blutjunges Ding von fünfzehn Jahren war Linchen Moser – dies war ihr eigentlicher Name, bei dem seit Menschengedenken sie niemand rief – auf das Rödersche Rittergut gekommen, und zwar in der Eigenschaft eines Kindermädchens für den damals fünfzehn Monat alten Sohn und Erben Cornelius. Sie liebte Kinder abgöttisch, hatte etwas Gesetztes, Verständiges in ihrem Wesen und hütete den kleinen Jungen wie ihren Augapfel. Kein anderer Mensch verstand so herrlich mit dem Kinde zu spielen wie sie, das Kinderzimmer hallte beständig von Lust und Lachen wieder, wenn Linchen ihrem Pflegling ihre Späße vormachte. Er hing mit großer Liebe an ihr, die sich um kein Bruchteil verminderte, als sie allgemach zur „Mamsell“ und er, unter Anleitung eines Kandidaten, zu einem Lateinschüler aufrückte. Ja, auch als der Junge in die Stadt aufs Gymnasium geschickt wurde und nur zu den Ferien heimkam, erlitt sein Verhältnis zu Mamsellchen keine Störung. Die beiden korrespondierten miteinander, sie schickte ihm heimlich Aepfel und Wurst, er sandte ihr ebenso heimlich zerrissene Anzüge, von denen die Mama nichts wissen sollte. Als Primaner, selbst als Student verfehlte Cornelius nie, seine hochgewachsene Gestalt zu dem kleinen Frauenzimmerchen hinabzuneigen, wenn er heimkehrte, es kräftig zu umarmen und laut schallend auf beide Wangen zu küssen, und es kostete einen harten Kampf, ehe er es duldete, daß „seine Alte“ ihn mit „Sie“ anredete, während er sie unentwegt duzte, auch als er zum Doktor der Philosophie geworden und später von langjährigen Reisen zurückgekehrt war.

Jetzt huschte sie rasch ins Zimmer und dicht bis an den Schreibtisch des Hausherrn.

„Doktorchen, Sie werden sich rein tot arbeiten!“ Mamsellchen sprach den blühendsten ostpreußischen „Dialakt“, den man sich denken konnte.

„Aber Mamsellchen, sieh doch her! Ist das eine Arbeit?“

Sie senkte ihre komische Spitznase bis auf den Briefumschlag herab und prüfte sorgfältig die Aufschrift.

„An einen Herrn!“ betonte sie mit Befriedigung.

Röder lachte hell auf. „Wie oft soll ich Dir’s sagen: ich schreibe keine Briefe an Damen.“

„Na, das würden Sie mir doch nicht erzählen. So ’was sagen die Männer nie!“

„Ich möchte gar zu gern wissen, woher Du Deine tiefen Kenntnisse über die Männer geschöpft hast.“

Mamsellchen kniff pfiffig das rechte Auge zu und nickte wichtig vor sich hin. „Soll ich meine sechzig Lebensjahr’ wie ’ne Dumme durch die Welt gegangen sein?“

„Bewahre, wer denkt denn das?“ begütigte er.

„Na, denn also! Ich hab’ immer so’n Auge auf die Männer gehabt, Doktorchen! Aber nun auch schnell! Mappe zugeklappt und spazierengegangen – hier ist der Hut, da der Stock, der Ueberzieher.“

„Bei dem warmen –“

„Er wird angezogen! Um ’ne kleine Stund’ ist es hundekalt, sag’ ich! So, nun ist es schön! Doktorchen, so um die Schläfen herum fangen Sie auch schon an, grau zu werden!“

„Das siehst Du jetzt erst? Ich bekam mit dreißig Jahren schon graue Haare!“

„Aber nötig wär’ es nicht. Der sel’ge Papa war bis hoch in die Fünfziger kohlrabenschwarz, und die Mama – ja, bei den Blonden sieht man’s Graue nicht! Also ist es bei Ihnen der Kummer gewesen!“

„Warum nicht gar! Kummer!“

„Und wer Ihnen den gemacht hat,“ fuhr sie unbeirrt und ingrimmig fort, „mit dem hätt’ ich mich ’mal gern so unter vier Augen besprochen! Natürlich ist’s ’ne Dame gewesen. Und ’ne schöne Dame muß das gewesen sein.“

Ein gewisser Ausdruck in Röders Gesicht ließ das Mamsellchen verstummen. Ach, sie kannte ihn gut! Wer auf der weiten Welt konnte ihn denn besser kennen als sie!

„Adieu, meine liebe Hausfrau! Und Ewert soll den Brief besorgen. Zum Abendbrot bin ich wieder da.“

Draußen im Garten traf er auf Ewert, der beim Einsäen und Bestellen der Blumenbeete war – ein kräftiger junger Bursch mit einem kugelrunden, kurz geschorenen Kopf und einem zufriedenen roten Gesicht, ehemaliger Offizierbursch, der sich viel auf seine Manieren, seine makellose Dressur zu gut that. Er stellte sich sofort in Positur, als er seines Gebieters ansichtig wurde: Oberkörper stramm aufgerichtet, Hände knapp an der Hosennaht, Kopf hoch, Blick von vorschriftsmäßiger Ausdruckslosigkeit, eingedenk der schönen Mahnung des Unteroffiziers: „Der Kerl sieht aus, als ob er sich ’was denkt! Der Kerl hat sich nichts zu denken! Gradauszusehen hat der Kerl!“

Doktor Röder hatte eine kleine sachgemäße Auseinandersetzung mit Ewert wegen der Sämereien; er nahm selbst den Spaten zur Hand und setzte ein paar Pflänzchen, lockerte die feuchte dunkle Erde und verteilte die Sämereien, prüfte hier und änderte dort, endlich ging er mit einem Kopfnicken davon.

Der Weiher ruhte still und träumend in seinen runden Ufern, denen zartgrüne Gräser entsproßten. Eine seltsame dunkelklare Farbe hatte dieses Wasser, so wie gewisse Augen, durch die man bis in die Tiefen der Seele hinunterschauen zu können meint – man schaut und schaut und sie sind unergründlich!

Ein laues Lenzeslüftchen spielte um die Bäume, die den Weiher umstanden; sie kamen ins Flüstern, rührten leise die schlanken, blattlosen Zweige, daß es klang wie ein Seufzen; [7] „Kommt der Frühling noch nicht bald?“ Und um die Füße des langsam Dahinwandelnden kreiste es rasch und scheu, in blitzschnellem Flug, daß die gegabelten Flügel fast die Erde streiften – die Schwalben, die ersten Schwalben!

Und nun, wie die kleine seitliche Gartenpforte sich hinter dem Wanderer geschlossen hatte, umfing ihn nach wenigen Minuten der Wald, ein wohlgepflegter schön bestandener Forst, der dem Staate gehörte, Laub und Nadelholz untereinander, von großen Lichtungen und schnurgeraden Schneisen unterbrochen, die einen weiten Durchblick zuließen. Kräftiger Frühjahrsodem entströmte der Erdschicht, die unter den hohen Tannen- und Fichtengruppen lagerte, um das niedere Gesträuch wob bläulicher Duft, und die Zweige der weißschimmernden Birken zeigten sich grün gesprenkelt. An den Fuß der alten kahlen Eichen und Buchen geschmiegt, guckten truppweise die Anemonen hervor, hielten aber ihre lieblichen weißen Kelche noch fest verschlossen, die spröden zusammengerollten Knospen warteten noch auf den wärmeren Sonnenstrahl. Lau strich die weiche Luft um die alten Baumriesen und schmeichelte ihnen die Frühlingshoffnung ins Herz hinein. Schräge müde Sonnenstrahlen glitten mattgoldig und zitternd von Stamm zu Stamm, und hier im Grunde, wo der Waldboden sich senkte, webten schon die Schatten der Abenddämmerung. Ein traumhaftes Ahnen war über den ganzen Wald gebreitet. Röder empfand voll diesen Zauber. Er fühlte sich eins mit der Natur, hatte sie schon als Kind geliebt und ihr geheimes Walten belauscht, und gerade der kommende Lenz erfüllte ihn wie so viele Menschen, deren Gemütsleben reich und tief ist, mit lächelnder Wehmut. Er konnte sie nicht abwehren, diese erwartungsvolle Stimmung in jedem Frühjahr, trotzdem er genau zu wissen glaubte, daß es für ihn nichts mehr zu erwarten gab. War das denn aber nicht gut so? Wer nichts mehr vom Leben erwartete, dem konnte es auch nichts mehr zuleide thun!

Heute weitete sich ihm die Brust in wohligem Behagen. Er kam sich so geborgen, so wohl aufgehoben vor! In seinem Brief an den Freund hatte er sich ganz gegeben, wie er war, und das ruhige Gefühl dauernden Friedens, das er dort ausgesprochen, tönte wie ein reingestimmter Accord in ihm nach.

Selig, wer sich vor der Welt
     Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
     Und mit dem genießt –“

murmelte er vor sich hin. Zwar, er hielt keinen Freund am Busen und genoß allein, aber wie schön stimmten die ersten zwei Zeilen mit seinem Empfinden überein! Er hatte sich vor der Welt verschlossen – „ohne Haß“ war es geschehen, und daß er diese Welt oder doch ein Stück von ihr jede Stunde wieder erreichen konnte, sobald es ihn gelüstete, für eine Weile wieder in ihren Strudel unterzutauchen, gerade das gab seinem neuen Leben einen besonderen Reiz. Er konnte, sobald er wollte – aber gewiß, er würde nicht oft wollen.

Die Sonne war hinunter, am westlichen Himmel zerfloß ein sanftes Rosenrot, schnellziehende Wolken segelten über den Bäumen dahin. Einzelne mächtige Fichten mit langen hängenden Bärten standen wie ein paar eisgraue Wächter am Wege. Ein kleiner Bach, der von einer steinigen Anhöhe herabsprudelte, sang sein eintöniges Liedchen, rechtshin dehnte sich eine weite Waldwiese, über welcher milchweiße Nebel sich ballten. Hier mußten in lauen Sommernächten Irrlichter spuken und Leuchtkäfer ihr Spiel treiben. Weiter, weiter ins Dickicht hinein, einen schmalen Pfad hinan, der sich aufwärts wand zwischen knorrigen Buchen und kurzem Gestrüpp. Von dort oben mußte es ein schöner Blick sein, wenn alles grün bestanden war! Wie herrlich, mit wachsamem Auge all das Kommen und Werden, das Keimen und Blühen zu beobachten! Was wissen die Menschen in den Städten von solch stillem Genuß!

Aus den tiefer hängenden Wolken fing es jetzt an zu tröpfeln, ein leiser warmer Frühlingsregen fiel sacht hernieder, regungslos stand Busch und Baum, die Wohlthat zu empfangen. Der einsame Wandersmann hätte an die Heimkehr denken sollen, aber es war ihm zu wohl im Walde, und so schritt er weiter, an sumpfigem Moor vorüber, wo die grün glänzenden, scharfkantigen Schilfstauden im leisen Lufthauch wie Schwerter aneinanderklirrten, mit einem seltsam surrenden Ton, neben einer Felspartie, die wie eine kleine aufgetürmte Burg anzusehen war, bis zu einer tiefen Schlucht, die im Sommer von einem Blättermeer ausgefüllt sein mußte, jetzt aber nur eine Anzahl kahler Aeste aufwies, die ihr Gewirr wie tausend ineinander verschlungene Riesenarme in die Luft streckten. Dann dunkelte es rasch, so rasch, daß die Rückkehr kein ganz leichtes Stück Arbeit war.

Aber er fand sich zurecht, auf seinen langen Reisen hatte er ganz andere Wege zurückgelegt, und wie er dann endlich, durchnäßt und ermüdet, seine Villa erreichte und der Strahl der großen Lampe in der Vorhalle die goldene Inschrift aufleuchten ließ: „Buen Retiro“ – da überkam den Heimkommenden die ganze Freude des Besitzes, das schöne Gefühl ungestörten und unstörbaren Friedens, das ihn an dieser Stätte empfing.




3.

Nun war der Mai ins Land gekommen, ein ungewöhnlich warmer und schöner Lenzmonat. Um „Buen Retiro“ grünte und blühte alles, der Flieder hing seine Lasten üppiger Dolden über den Gartenzaun, zu Hunderten schlugen die Veilchen ihre blauen Augen auf, Maiglöckchen standen auf den Beeten und sproßten wild im Walde – ganze Ströme lieblicher Düfte zogen durch die weiche Luft. Auf leichten Armen schaukelten die Bäume wohlgefällig ihre Blätter- und Blütenlast, von den Bienen emsig umsummt, von den müßigen Schmetterlingen leichtherzig umgaukelt.

Die Rasenplätze hatten schon gemäht werden müssen, sie strotzten von üppigem Graswuchs. „Mamsellchen“ war glückselig über ihre prachtvollen Gemüsebeete und über den ersten „Satz“ junger Hühnchen, die eine Glucke glücklich ausgebrütet und die nun wie kleine Federkugeln auf dem Hühnerhof umherrollten. Ihr Doktor hatte für solche Dinge leider kein rechtes Verständnis, trotzdem er doch vom Lande stammte. Er war aber eines Abends ganz aufgeregt zu seiner alten Getreuen gekommen und hatte ihr mitgeteilt, im Garten sei eine Nachtigall, er habe sie wahr und wahrhaftig singen gehört. Ihm zuliebe heuchelte Mamsellchen einige Freude; sie hatte die holde Philomele längst entdeckt und sie im Innern einen Störenfried genannt, weil sie unter ihrem Fenster jeden Morgen um vier Uhr zu schlagen begann und die brave Haushälterin um ihren Morgenschlaf brachte. Indessen wenn er sich freute – mochte es denn in Gottesnamen sein! Alles, was ihm eine gute Stimmung brachte, war ihr willkommen, und dessen war viel, sie konnte mit ihm zufrieden sein. Ihn freute schlechterdings alles, der Sonnenschein, der Wind, ein blühender Baum, eine duftende Blume – ihn freute auch das schlechte Wetter. Dann konnte er doch einmal ein wenig fleißig sein und kam nicht in Versuchung, den ganzen Tag in Wald und Garten umherzulaufen. Mamsellchen sah ihn beständig heiter und gut aufgelegt von morgens bis abends umhergehen, hörte ihn oft ein Liedchen vor sich hinsummen, sah ihn halbe Stunden lang, die Cigarette zwischen den Lippen, mit Bast und Gartenschere hantieren und wunderte sich, wie ein so gelehrter weitgereister Mann so wenig Abwechslung brauchen könne. Denn er bekam selten Besuch und ging auch selten in die Stadt, und wenn sie ihn fragte, ob er denn beides nicht entbehre, lachte er und sagte Nein.

Ein köstlicher Maiabend. Ueber Tag hatte ein leichter kosender Wind zahllose Blüten von den Obstbäumen geschüttelt, daß die Gartenwege und Rasenplätze wie überschneit aussahen. Jetzt rührte sich aber kein Lüftchen, warmes Sonnengold tauchte die Villa in Purpur und ließ ihre heitere Inschrift wie Flammen leuchten.

Mamsellchen stellte eben ein Glas frische Milch für ihren Doktor auf seinen Arbeitstisch und sah durch das offene Fenster zu, wie er draußen sich zu den Narzissen hinabbeugte und sie aufmerksam anschaute, das waren Lieblingsblumen schon des Knaben gewesen. Jetzt richtete seine Gestalt sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe auf – er trug das Haupt ein klein wenig gebeugt, sein volles dunkles Haar war nur stellenweise leicht grau angeflogen, der gut gepflegte Schnurrbart aber fast schwarz, das Gesicht luftgebräunt, die Augen klug und ruhig blickend, ein wenig kurzsichtig. Alles in allem ein gut aussehender Mann – Mamsellchen fand ihn natürlich bildhübsch, „nur könnte er für seine Jahre jünger und flotter ausschauen, er macht sich mir viel zu alt. Und zu denken, daß ich den als kleines Kind im kurzen weißen Kleidchen auf dem Arm getragen habe!“

Hier kam Ewert mit den Postsachen, legte sie auf den Arbeitstisch und zog sich zurück. Doktor Röder hatte ihn kommen sehen, er pflückte eine Narzisse, steckte sie sich ins Knopfloch und trat in sein Zimmer, um etwaige Briefe zu lesen.

(Fortsetzung folgt.)
[8]

Die „Behauptungen“ der Damen.[1]

Von Cornelius Gurlitt.
Mit Abbildungen von Oskar Groß.

1. „Topur“, in Vorderindien übliche Haube aus Pflanzenmarkplatten und Silberpapier. – 2. Peruanischer Kopfschmuck mit Federn. – 3. Mit Kaurimuscheln besteckter Hut aus dem Gebiet des oberen Weißen Nils. – 4. Haube einer Verlobten aus der schwedischen Landschaft Schonen. 5. In Schweden übliche Frauenhaube. – 6. Japanische Kopfbedeckung aus schwarz lackiertem Drahtgeflecht. – 7. Wiener Damenhut von 1838. – 8. „Tolhe Maba“, Frauenhut aus Niederländisch-Indien.

Zwei Parteien stehen sich in allem, was die Mode und namentlich die Frauenkleidnng betrifft, mit gezückten Waffen gegenüber: die Leute von Verstand und die Leute von Geschmack. Die Leute von Verstand nennen die von Geschmack im gemeinen Leben einfach Narren, schütteln den Kopf über sie und lächeln behaglich, wenn einmal über die neueste Verrücktheit der Mode in der Zeitung ein recht saftiger Artikel steht. Die Leute von Geschmack kümmern sich um die Verständigen einfach nicht; sie sind ihnen Luft und ihr Gezeter rührt sie so wenig wie den Mond das Bellen des Mopses. Für das zahnlose Umsichbeißen der Klugen haben sie nur ein verächtliches Lächeln; und nur dann hören sie mit halbem Ohr der Weisheit jener zu, wenn es gilt, aus ihnen die Geldmittel heraus zu pressen, um eine neue „Verrücktheit“ zu begehen. Und da zeigt sich dann in der Regel, ja fast ausnahmslos, daß der Geschmack stärker ist als der Verstand. Nach einer Zeit des Scheltens und Polterns verkriecht sich die Logik in ein Mauseloch und zahlt ihr Besitzer die schönen blanken Zwanzigmarkstücke auf den Tisch, damit der Unverstand sich weiter entwickeln könne!

Wer hat diesen Sieg der Thorheit nicht an sich selbst erlebt? Nur jener, der noch nie mit der Geliebten, der Frau oder Tochter am Schaufenster einer Modistin vorbeiging. Dort sind die Stätten, an welchen unsere hochwohlweise Aesthetik, die Lehre vom Schönen, sich die Beine brach, so daß sie heute nur hinkend daher kriecht und selbst die Aesthetiker nicht mehr recht etwas von ihr wissen wollen.

1. Anamitischer Hut aus Palmblattstreifen. – 2. Französischer Frauenhut (Tschako) aus dem Jahre 1793. – 3. Friesischer Frauenhut. – 4. Festhut aus Bambusgeflecht, mit rot-schwarz-weißem Kattun überzogen und mit Goldblechperlen verziert, von der Insel Borneo. – 5. Sibirischer Frauenhut aus schwarzem Tuch, blau gefüttert, mit weißen Zieraten und gelben und roten Bindebändern.

Ich will von den Hüten und Mützen, von Kopftüchern und Schleiern der Damen sprechen und beginne mit der Logik, mit der Wissenschaft des Schönen! Wie reimt sich das zusammen?

Vor zehn, zwanzig Jahren wußten wir ganz genau, was schön sei, auch im Gewerbe. „Was seinen Zweck erfüllt und seinem Herstellungsstoff gemäß ist“ – hatte der große Architekt Gottfried Semper uns zu antworten gelehrt. Dieser Satz, vom logischen Verstand auf unsere Frage angewandt, lautet: Zweck einer Kopfbedeckung ist, den Kopf vor Hitze und vor Kälte zu schützen: der Hut, der das erfüllt, ist also schön. Und dann kann man weiter gehen: Für heiße Länder ist ein Schattenspender, für kalte ein erwärmender Kopfputz schön. Und umgekehrt: Häßlich ist ein leichter Hut im Winter und ein warmer im Sommer. Und alles, was außerhalb der Zweckerfüllung liegt, das ist vom Uebel! Höchstens ist noch nötig, daß ein Strohhut wie ein Strohhut und eine Spitzenhaube wie eine Spitzenhaube aussieht; nicht aber ein Strohhut wie eine Spitzenhaube.

Das sind Lehrsätze der Verständigen. Und weil’s solche sind, haben sie nie ernsthaften Einfluß auf die Leute von Geschmack gehabt. Le superflu, chose très-nécessaire – das Ueberflüssige ist das Nötige – haben diese zu allen Zeiten geantwortet. Natürlich wird eine Frau von Geschmack nicht im Winter einen Strohhut aufsetzen – es sei denn, die Mode fordert es! Denn man erkältet sich nicht gern den Kopf – es sei denn, die Mode fordert es. Man thut ja das Naturgemäße selbstverständlich – aber wenn das Gegenteil von der Mode vorgeschrieben wird, so bleibt doch wohl nichts anderes zu thun übrig, als was sie will. Und das war immer so – jetzt und zu allen Zeiten.

Drusischer Kopfputz aus der Gegend von Damaskus. (Das unter dem Kinn geknüpfte Kopftuch „Puschi“ wird von einem silbernen Aufsatz „Tantur“ gekrönt, von welchem metallene Ohrenklappen herunterhängen.)

Man braucht nur unsere Bilder durchzusehen. Ob so eine Kopfbedeckung aus Peru oder vom Weißen Nil stamme, ob ein eng gebundenes Tuch um den rundlichen Kopf eines Japanermädchens oder einer Albanesin liegt, ob ein umständliches Geflecht mit Goldblechperlen die Wilde der Insel Borneo oder ein hohes Gestell aus Glasperlen jene des Araukanerstammes schmückt; die Düte auf dem Kopf der Drusin oder der algerischen Jüdin, die weitschweifigen Kopftücher und Hauben in Schweden und Norwegen: da ist der Zweckerfüllung überall nicht die leitende Hand zugestanden worden, da leidet sie überall unter dem Eingriff einer geheimnisvollen ständig wechselnden Macht, die sich in

[9]

Nydia.
Nach dem Gemälde von C. von Bodenhausen.

[10] immer neue Formen zu kleiden weiß, des Geschmackes. –

1. Französischer Hut aus dem Jahre 1800 (chapeau à la Gaulois). – 2. Schwedische Brautmütze aus der Landschaft Schonen. – 3. Wollmütze der Passeyerin (Tirol). – 4. „Tudung“, Hut aus Palmblättern, von der Sunda-Insel Timor. – 5. Schwedische Frauenhaube mit künstlichen Blumen. – 6. Pariser Strohhut aus dem Jahre 1800 (chapeau de sparterie), der Vorläufer des sogen. Tunnelhutes. – 7. Mädchenmütze in der niederländischen Provinz Friesland. – 8. Kopftuch einer norwegischen Braut aus dem Amt Söndre-Bergenhus.

Der Geschmack ist jetzt bei den Verstandesleuten in sehr schlechtem Ruf. Er ist völlig diskreditiert. Und es fehlt nicht an handgreiflichen Beweisen dafür, wie recht dieser Ruf hat. Unsere Bilder stellen solche zur Benutzung zusammen. Die vornehme Wienerin von 1838 glaubte entschieden, Geschmack zu haben. Und sie steht doch wahrlich hinsichtlich der verständigen Ausbildung ihres Hutes ein tüchtiges Stück hinter der Wilden aus Niederländisch-Indien. Jene hat den für den Sonnenbrand berechtigten Hut, während die Wienerin im Theater ihre „Kiepe“ trug, wo sie nicht hinpaßt. Man könnte zu Hunderten solche Beispiele herbeibringen, daß gerade mit der „Bildung“ der Frauen der bessere Geschmack der „Wilden“ verloren ging.

Schleierhut der Jüdinnen
in Algier.

Mütze einer Bergbewohnerin
von Assam in Bengalen.

Geschmack ist ein untergeordneter Sinn, sagen die Gelehrten, er beruht nicht auf Gesetzen, er beruht nur auf der Willkür. Schönheit kann aber nur auf festem Grund sich aufbauen. Der Geschmack ist schuld an einer Reihe der größten Ausschreitungen der menschlichen Thorheit. Was soll der Lampenschirm auf dem Kopf der Frau aus dem Maconnais und die Zwiebel auf dem Wirbel jener von Pollet? Ist es schön, eine Jockeymütze mit weit vorspringendem Schild zu tragen, wie es in Frankreich der Chapeau à la Gaulois, oder den Kopf in eine Strohdecke zu wickeln, wie der Chapeau de sparterie, beide um 1800, forderten? Wozu die schwere Wollgogel der Passeyerinnen im Sommer und der ganze Klimbim von Flittergold um den Turban des Wüstenkindes der Sahara, wozu die wackelnden gesteiften Schleifen über dem Scheitel der Schwedin und Japanerin (s. S. 8) – Ausgeburten des Geschmackes, lächerlich, häßlich! „Setzen Sie mir ’mal ein solches Ding auf und sehen Sie selbst zu, wie alle Welt über Sie lachen wird! Unmöglich, der falsche Geschmack führte zur vollendeten Geschmacklosigkeit!“

Geschmack ist, wie die Franzosen aus der Zeit Racines lehrten, eine sehr hohe Geisteseigenschaft, nämlich die Fähigkeit, das Vollkommene vom Schönen zu unterscheiden. Andere lehren, es sei die Fähigkeit, aus den Dingen das größte Vergnügen zu ziehen. Und sie haben recht: die Leute von Geschmack sind stets guter Dinge, wo sich die von Verstand ihr ganzes Leben lang ärgern müssen. Man forderte vom Geschmack Delikatesse. Diese ist nicht ein Ergebnis der vom Verstand zu erfassenden Wahrheit. Im Gegenteil – in ihr muß ein Schimmer von Falschheit sein, etwas, was dem Gesetzmäßigen widerspricht, ein Zug des Ungewöhnlichen, das überrascht und den Beobachter reizt. Man verstand damals, in den Tagen des Rokoko, besser, wie unsere heutige Kritik es zumeist thut, worauf es in allem künstlerischen Schaffen ankommt: nicht auf die Erreichung eines klar erkannten Zieles, eines Ideales, sondern auf die Schaffung selbständiger eigenwilliger Ziele, auf die Ausgestaltung seiner selbst zum Ideal und damit in der Kleidung auf die Delikatesse, d. h. auf den eigenen Geschmack.

1. Kopftracht der Frauen in der Landschaft Maconnais im französischen Departement Saône-Loire. – 2. Sonntagshaube der Hökerinnen von Bordeaux. – 3. Schwarzer Frauen- und Männerhut aus den zwanziger Jahren in der portugiesischen Provinz Minho. – 4. Arnautin aus Janina. – 5. Kopftracht der christlichen albanesischen Frau im Hause. – 6. Frauenhut von Pont-l’Abbé (Niederbretagne). – 7. Weiße Festhaube der Frauen von Pollet in der Normandie.

Der Geschmack ist Sache des Gefühls. Zwei Dinge kämpfen in ihm: die jedem Menschen eigene [11] Ehrfurcht vor dem Bestehenden und der ebensotief sitzende Drang, sich durch Neuerung zu bethätigen. Der Geschmack beruht daher ebensowohl auf dem Volkstum wie auf der Persönlichkeit, auf bestimmten Ortsverhältnissen wie auf solchen der Zeit. Er äußert sich ebensosehr im Stillstand wie im Ueberhasten. Volkstracht wie Modenwerk sind gleichmäßig seine Kinder.

Goldgesticktes, von den Frauen arabischer Nomaden der Sahara getragenes Kopftuch, mit schwarzen Wollfransen, an denen große Silberringe hängen.

1. Haube der Neuvermählten bei den Araukanern in Chile, aus blauen, weißen und roten Glasperlen hergestellt und mit europäischen Fingerhüten an den Enden der Fransen. – 2. „Hoto Kamapeh“, aus Rinde und Kattun verfertigter, auf den Inseln des Indischen Oceans heimischer Kopfschmuck, dessen Rand aus radial gesteckten Cigaretten hergestellt wird; der Hut wird nicht getragen, sondern nur beim letzten Gedächtnisfeste für eine verstorbene Frau auf deren wieder ausgegrabene Gebeine gelegt. – 3. Hut aus Oalmblattstreifen auf der Sunda-Insel Timor.

So liegt denn freilich in den Kopfbedeckungen reicher Stoff für ernste Betrachtungen. Man vergleiche einmal die Hauben der Frauen aus der Normandie, aus Holland, Friesland, Norwegen und Schweden unter sich! Es ist dies eine Fortbildung jenes Kopfschmuckes, welchen die Frau der großen Hansazeit trug. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde diese Mode geschaffen und seitdem ist sie Volksgut geblieben längs der nordischen Seeküsten. Man vergleiche daraufhin die Jüdin von Algier, in deren schleierbedecktem Dütenhut sich jene patrizische Kopfbedeckung erhalten hat. Es scheint, als hätten die Jüdinnen sich das Festkleid durch Jahrhunderte bewahrt, das ihnen einst aus den aufblühenden Handelsstädten der Niederlande und Italiens herübergebracht wurde, während sie sonst fest an den turbanartigen Kopfbedeckungen des Orients hielten. Es besteht also ohne Zweifel im Wechsel eine Dauer. Und man kann wohl sagen, daß der Wechsel, die Delikatesse, im Geschmack der Ausdruck einer kräftigen Zeit ist und daß jener Zug der Alten, am Alten in der Kleidung festzuhängen, ebensogut wie als Zeichen der Stärke des Gemeingefühls als ein solches der individuellen Schwäche betrachtet werden kann.

Junges japanisches Mädchen in Straßentoilette mit Kopftuch
aus Musselin.

Schwarzer Strohhut aus der spanischen Provinz Avila (Altkastilien), der ohne den Aufputz von Band und Blumen auch von Männern getragen wird.

Die Frauen der Nordseeküste danken es heute noch den Städterinnen unbewußt, daß diese vor drei, vier Jahrhunderten sich geschmackvoll kleideten, in jener Zeit, in der der Bauernstand reich und frei genug war, die Mode der Städter mitzumachen, sie dankten es dadurch, daß sie zu dieser Mode in Zeiten des Druckes und der Unfreiheit getreu hielten. Denn alle Volkstracht ist die Mode der Zeit, in welcher meist aus sozialen Gründen die Fortentwicklung gehemmt wurde. Es findet sich vielleicht einmal der Kulturhistoriker, der diesen Gedanken im einzelnen durchführt! – So kommt man denn doch zu der Narrheit der Mode in ein anderes Verhältnis. Sie ist die Aeußerung eines kräftigen Schönheitsgefühles, das sich bethätigen will. Sie hat bestimmte Gesetze und ist keineswegs persönliche Willkür. Willkür ist es ebensosehr, in der allgemeinen Entwicklung stehen zu bleiben. Jene alte Dame, welche nach 50 Jahren redlichen Mitkämpfens an der Ausbildung eines Zeitgeschmackes plötzlich erklärt: „Ich mache nicht mehr mit! Ich bleibe bei der Haubenform von gestern bis an mein Lebensende!“ Diese Frau hat gewiß für sich recht: sie ist alt und müde und darf sich geistige Ruhe gönnen. Sie hat aber kein Recht, über die Jüngeren zu zetern, die nicht auch am selben Tage mit ihnen auf jede Fortarbeit verzichteten. Die Bauernschaft, welche bei einer Kleidungsart der ihr vorbildlichen Städter stehen bleibt und nun hundert Jahre dasselbe Kleid trägt, ist darum nur in bedingter Weise zu loben. Jedenfalls wird der geistig freie Bauer nicht lediglich den Altertümlern zuliebe in einer Kleidung herumlaufen wollen, die ihm nicht mehr gefällt. Entwicklung wäre auch hier das rechte. Trügen wir, die Städter, eine Nationnaltracht, bildeten wir sie kräftig fort – dann würde der Bauer unserem Rat und unserem Beispiel gewiß folgen. Aber haben wir, die Städter, recht, ihn anzuklagen wenn er, durch unser Vorbild denselben Geschmack bekommt wie wir, die Städter!?

Und die Männer der Aesthetik, die Partei der Verständigen, die im Hohn auf die Thorheit der Mode sich so groß dünken! Man empfehle ihnen einmal, ein ideales Kleid zu tragen, oder man erbitte sich von ihnen einen Rat, wie man sich „ästhetisch“ kleiden solle, man sehe sie selbst einmal an, ob sie irgend etwas Vorbildliches an sich tragen. Neunundneunzig der Weisen sind genau so gekleidet wie die von ihnen für Narren erklärten, denn selbst der Unterschied zwischen einem eleganten, ja einem anständigen Cylinder und dem des „Gigerls“ ist nicht so sehr groß; und der Hut, den Großmama trägt, kann gar leicht aus derselben Fabrik stammen wie der, in welchem sich die prunksüchtige Modedame brüstet. Der Unterschied, der uns auffällt, ist kein grundsätzlicher, sondern [12] beruht nur auf etwas starker Betonung des Eigenartigen der Tracht, zumeist aber darauf, daß die Thorheit von vorgestern den „Verständigen“ als erlaubt erscheint, weil sie die Thorheit von heute mitzumachen zu alt wurden. Und das eine Prozent der Weisen, die sich nach eigenen ästhetischen Gesetzen kleiden, an diesen habe ich meist die Beobachtung gemacht, daß sie die allergrößten Narren sind, regelmäßig aber, daß sie von allen ihren Mitbürgern, Verständigen wie Geschmackvollen, dafür gehalten wurden!

Und darum sind oder waren alle jene Hüte und Mützen, Tücher und Bänder schön, welche unsere Bilder bringen. Sie entsprachen dem Geschmack ihrer Trägeriunen, sie machten diese ihren Männern und Verehrern liebenswerter, sie erfüllten einen höheren Zweck, als vor Schnupfen oder Kopfweh zu behüten, indem sie dem ästhetischen Bedürfnis ihrer Zeit genügten.

Und dann machten sie ja doch den „Verständigen“ noch einen besonderen Spaß: ein jeder konnte an ihnen das Gefühl der geistigen Ueberlegenheit sich verschaffen. Und so ist’s geblieben! Erst hat man seinen Beutel gezogen und mit Murren den neuen Blumenhut bezahlt; und dann darf man über den „Unsinn“ schimpfen, des allgemeinen Beifalls – unter Männern sicher!




Um eine Kleinigkeit.

Novelle von Jassy Torrund.

Franzel Wodrich sitzt am Fenster ihres elegant und behaglich eingerichteten Wohnzimmers, atmet den süß berauschenden Duft blühender Hyazinthen, die vor ihr auf dem Fensterbrett stehen, schaut in das prächtige Schneetreiben jenseit der hohen, klaren Glasscheiben hinaus – und sinnt und grübelt, zermartert ihr junges Hirn in schwerer Bedrängnis. Wie glücklich könnte sie sein – und wie elend ist sie! Seit Wochen schon! Und der Platz, wo sie auch in diesem Kummer Rat und Trost und Hilfe finden könnte, ist ihr genommen. Ihr Gatte ahnt nichts von all der Pein, die ihre Seele quält, die wie ein Alpdruck auf ihr lastet, ihr den Frieden des Tages und die Ruhe der Nächte raubt. Er darf und soll es auch nie erfahren – bis alles überstanden sein wird!

So sitzt sie nun schon seit Stunden, starrt auf den wehenden Schnee, als müsse sie jede einzelne Flocke zählen, und denkt doch nicht an den Schnee und nicht an den köstlichen Hyazinthenduft. Sie denkt an nichts, an gar nichts anderes, als daß sie in wenigen Wochen wie eine Verbrecherin auf der Anklagebank sitzen soll, den unerbittlichen Fragen der Richter, den staunenden neugierigen zudringlichen Augen des Publikums preisgegeben.

O guter Gott!

Das junge Weib zittert am ganzen Leibe, faltet die Hände krampfhaft zusammen und seufzt aus tiefstem Herzen.

Wie ist das alles doch nur gekommen?

Ach, wie soviel hundert schwere Dinge über uns kommen, ungeahnt und ungewarnt, und wie wir so manchem Verhängnis blindlings in die Arme laufen – um eine Kleinigkeit!

In irgend einem Geschäft hat die Regierungsrätin Wodrich etwas arbeiten lassen, was nicht nach ihrem Wunsche ausfiel. Sie verweigerte die Annahme, sagte ein paar laute hastige tadelnde Worte; der Kaufmann, der sich in seiner Geschäftspraxis benachteiligt glaubte, wurde grob, was die feine junge Frau natürlich noch mehr reizte. Ein Wort gab das andere, und als Franziska endlich das Geschäft verließ, schrie der erzürnte Mann hinter ihr her, sie hätte ihn beleidigt, er würde sie verklagen. Trotz ihrer Aufregung mußte sie lachen, die ganze Affaire kam ihr so unglaublich kindisch vor, aber der Mensch hielt Wort. Er citierte sie zunächst vor den Schiedsrichter, und da sie nicht hingegangen war, hatte er sie thatsächlich verklagt. Seit zwei Tagen lag diese unselige Anklage im tiefsten Fach von Franzels Schreibtisch verborgen. Und ihr Gatte ahnte nichts davon! Sie saß an seinem Tisch, sie ruhte in seinen Armen – sie, eine Angeklagte! Und sie hatte nicht das Herz, ihrem natürlichen Beschützer das Schreckliche einzugestehen – das war ja eben das Schlimmste bei der ganzen Sache!

Vor einiger Zeit nämlich, als eine bekannte Dame in einer dummen Dienstbotenangelegenheit vor Gericht mußte – eine Sache, die sehr viel Staub aufwirbelte und durch alle Lokalblätter ging – da hatte Regierungsrat Wodrich mit großem Ernst gesagt: „Nimm Dir daran ein warnendes Beispiel, Franzel! Du hast auch immer den Mund so vorweg und redest oft hastige Worte. Wenn Du mir das jemals anthätest – meine Frau vor Gericht, dem skandalsüchtigen Publikum preisgegeben! Höre, Franziska, ich wüßte nicht, was ich thäte! Ich glaube, ich könnte Dir nie verzeihen!“

Und Franzel mit ihrem guten Gewissen hatte ihm damals die strenge richterliche Miene fortgeplaudert und fortgeküßt und nun, kaum ein Vierteljahr später, war es wahrhaftig mit ihr selber so weit gekommen! O Gott, mein Gott!

In all dem dumpfen Angstgefühl, das ihre Seele bedrückte, war ihr zunächst nur das Eine klar geworden: Ernst durfte nichts wissen, bis alles vorüber sei und sie freigesprochen wäre. Sie mußte ja freigesprochen werden, sie war ja in ihrem Recht! Aber bis dahin, bis dies erlösende Wort gesprochen wäre, mußte sie die schwere Last allein tragen. Regierungsrat Wodrich, der strengdenkende pflichttreue Beamte, sollte nicht eine Sekunde lang erröten oder die stolze Stirn beugen müssen in dem demütigenden Bewußtsein, daß seine Frau, die Hüterin von seines Hauses Ehre, eine Angeklagte sei.

Dieser eine Punkt also stand unumstößlich fest in Franzels Seele, und wahrlich, es bedurfte einer großen Energie für die lebhaft empfindende kleine Frau, ihren tapferen und dennoch so thörichten Entschluß durchzuführen. Aber es gelang. Sie ging im Hause umher wie sonst, sie lachte und scherzte mit ihrem Gatten, sang ihm seine Lieblingslieder und spielte ihre abendliche Schachpartie mit ihm. Kurz, die kleine Heldin ließ sich nicht das geringste anmerken. Nur, wenn sie allein war, dann kam der Kummer zum Durchbruch, dann durchfröstelte die Angst gleich einem Fieber ihre junge Seele. Was thun, was thun?

Sie hielt es endlich nicht mehr aus und holte sich Rat bei einer alten Freundin, die sie auf jenem Unglückswege begleitet hatte und somit ungewollt ihre Zeugin geworden war.

„Du mußt es Deinem Manne sagen!“ war das erste Wort, das die erschrockene alte Dame ihr erwiderte.

„Tante Rätin, ich kann nicht! Sieh …“ und nun legte sie ihre Gründe klar und sprach so fest, so eindringlich, so überzeugend, daß sogar die erfahrene Frau ihr recht geben mußte.

„Ja, wenn die Eltern hier wären, denen würde ich’s schon sagen. Aber so – sie würden sich höchstens ängstigen, und helfen könnten sie mir ja doch nicht!“ Franzel schwieg und sah ihre alte Freundin mit großen kummervollen Augen an.

„Hast Du denn niemand in der Nähe, der Dir raten könnte, keinen Freund, keinen Verwandten?“ begann die Rätin aufs neue und strich dem bekümmerten jungen Weibe liebevoll die verwirrten Haare aus der Stirn.

Franzel schüttelte den Kopf.

„Verwandte? nein. Die Brüder sind beide in Berlin, das weißt Du ja. Vettern habe ich nicht, aber …“ sie stockte, eine flüchtige Röte kam und ging auf ihrem blassen sorgenvollen Gesichtchen.

„Nun?“

„Ich hätte wohl einen Freund,“ sagte Franzel langsam und nachdenklich. „Der ist noch dazu Rechtsanwalt, und ich weiß, er würde sicher alles thun, um mir zu helfen.“

„Aber, Herzel, daß mir das nicht gleich einfiel! Siehst Du, einen Rechtsanwalt brauchen wir ja gerade. Zu dem mußt Du gehen, dem mußt Du alles sagen. Ganz offen, wie einem Beichtvater. Der wird dann schon alles in Ordnung bringen. Vielleicht vertritt er Dich, und Du brauchtest dann gar nicht erst vor Gericht.“

„Ja, – aber …“

„Aber was?“

„Ich fürchte, Ernst würde es nicht gern sehen, wenn ich zu dem Rechtsanwalt ginge.“

„Warum denn nicht?“

„Weil, weil – – ach, weißt Du, Tantchen, der hat mich nämlich früher ’mal sehr lieb gehabt und wollte mich heiraten. Aber ich hatte doch nur Ernst im Sinn und mochte von keinem anderen etwas hören.“

„Das ist freilich dumm,“ bemerkte die alte Dame kopfschüttelnd. „Da mußt Du schon zu einem anderen gehen.“

[13]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach.
Auf der Parforcejagd.
Nach dem Gemälde von Paul Tavernier.

[14] „Zu einem ganz fremden?“ – Die Frauen blickten sich ratlos an. Nach einer Weile meinte Franzel zaghaft: „Das würde Ernst ebenso ungern sehen.“

Frau Lorenz lächelte. „Den will er nicht, und den will er auch nicht – was bleibt uns da? Wie heißt denn der Bewußte?“

„Doktor Sonnenthal.“

„Sonnenthal, so! Weißt Du, Franzel, der soll aber gerade sehr tüchtig sein.“

Franziska nickte. „Das war er schon früher, und er hat mich gebeten, wenn er mir je im Leben einmal nützen könne, mich an ihn zu wenden. Er würde mir stets der treueste Freund bleiben.“

„Nun also! ’s ist schon einerlei, Franzel. Wie wir die Sache auch drehen, einen Rechtsanwalt müssen wir haben. Und ich meine, da gingen wir am ehesten zu dem, der Dich kennt. Da weiß er doch gleich, mit wem er zu thun hat, und wird Deine Sache schon durchbringen. Ich begleite Dich, so kann kein Mensch etwas darin finden. Selbst Dein Mann nicht. Also abgemacht, Kleine?“

„Abgemacht!“ stimmte Franziska, wenn auch mit innerem Widerstreben, zu und legte ihre kleine kalte Hand in jene der Freundin.

„Und morgen nachmittag um vier Uhr gehen wir hin.“

Franziska ging nach Hause, um nichts getröstet; im Gegenteil, zu der einen Last, die sie trug, kam noch eine neue, schwerere hinzu. Aber wie sie auch sann, einen anderen Ausweg fand sie nicht. So blieb es eben dabei.

Am nächsten Nachmittag, als ihr Mann ins Bureau gegangen war, bereitete Franzel sich schweren Herzens zu dem heimlichen Gange vor. Im Begriff, ihre Pelzmütze aufzusetzen, ward ihr ein Besuch gemeldet, was die junge Frau in nicht geringe Bestürzung versetzte. Ehe sie noch eine ausweichende Antwort geben konnte, folgte der Gast dem meldenden Mädchen ins Wohnzimmer nach. Es war ein Fräulein von Hagen, eine ältliche Cousine des Regierungsrates, die seinem Hauswesen mehrere Jahre lang vorgestanden, seit seiner Verheiratung aber die junge Frau unter ihre Fittiche genommen und nach Kräften bemuttert hatte – sehr gegen Franzels Willen freilich, aber daran war leider nicht viel zu ändern.

Zu dieser Stunde wäre Franziska Wodrich wohl von keinem Besuch sonderlich erbaut gewesen – der Anblick dieser liebenswürdigen Cousine brachte sie indes völlig um ihre Fassung. Die Dame ließ ihr übrigens nicht Zeit, irgend etwas, vielleicht recht Unliebenswürdiges, zu sagen; sie eilte auf Franziska zu, begrüßte sie mit viel schönen Worten und fing sogleich wieder mit dem Bemuttern an, indem sie vorwurfsvoll sagte: „Bei diesem tollen Wetter willst Du doch nicht etwa ausgehen, Franziska?“

„Du bist doch auch ausgegangen,“ erwiderte die junge Frau mit schlagender Logik.

„Ich? ja, liebes Kind, das ist auch ganz ’was anderes. Dich bläst ja der Wind um, so klein und zart, wie Du bist. Du bist eben ein Nippfigürchen, Franziska, das vergißt Du immer wieder.“

„Danke für die Rolle! – Uebrigens gehe ich nicht allein, Frau Rätin Lorenz kommt mich abholen. – Aber bitte, setze Dich doch, ich habe noch ein wenig Zeit,“ fügte Franziska mit einer reumütigen Anwandlung hinzu, weil sie einsah, daß sie ihre Hausfrauenpflichten diesem Gast gegenüber doch gar zu sehr vernachlässigte.

„Bitte, bemühe Dich nicht,“ erwiderte Aurelie von Hagen kühl, indem sie sich einen Stuhl herbeizog. „Also mit Frau Lorenz. Sag’ mir bloß, was Du an der alten Person hast.“

Franziska, die im Zimmer hin und herging, wandte hastig den Kopf und blickte die Fragende mit ihren dunklen Augen zürnend an. „Frau Lorenz ist ehrlich, klug und gut, drei Eigenschaften, die ich sehr hoch schätze. Und im übrigen bitte ich Dich, in anderem Ton von meinen Freunden zu reden.“

Fräulein von Hagen hatte ihren Kneifer aufgesetzt und die junge Frau mit sichtlichem Amusement betrachtet. „Rege Dich nicht auf, Kleine! Erzähle mir lieber, wohin Ihr geht, Du und die Frau Lorenz.“

„Einkäufe machen,“ entgegnete Franziska kurz.

„So – das ist mir lieb. Da ich auch einiges zu besorgen habe, werde ich mich anschließen, wenn Ihr nichts dagegen habt.“

Franzel titulierte sie im stillen eine unausstehliche aufdringliche Person und grübelte über einen Ausweg, sie los zu werden. Doch ehe sie sich hierüber klar wurde, klopfte es, und die Rätin Lorenz trat herein.

„Bist Du bereit, Franzel? – Ah, guten Tag, Fräulein von Hagen, Sie entschuldigen wohl, daß ich Ihnen meine kleine Freundin entführe?“

„Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde die dritte!“ citierte Aurelie und zupfte vor dem Spiegel ihre weiße Riesenboa zurecht, indes sie beide Damen scharf beobachtete. Sie mußte lächeln. Franzel wechselte einen ratlosen Blick mit der alten Freundin ihrer Mutter, doch diese nickte ihr zu, als wenn sie sagen wollte: „Laß mich nur machen!“

So begaben sich die drei Damen auf ihre Wanderung, Frau Lorenz machte zum Schein einige Einkäufe, als Fräulein von Hagen sich jedoch immer noch nicht entschloß, sie zu verlassen, sagte sie plötzlich: „Kinder, ich bin müde geworden, will mich bei meiner Nichte etwas ausruhen. Franzel, kommst Du mit?“

Diesen Wink mußte Aurelie verstehen. Sie empfahl sich, aber während sie allein weiter ging, zerbrach sie sich den Kopf mit allerlei wunderlichen Gedanken.

„Was sie wohl vorhaben? sie wollten mich doch zu gern los sein! Franziska war auch so sonderbar verstört, als ich zu ihr kam. Da ist etwas nicht in Ordnung!“ Ihr nie ruhendes Mißtrauen war wieder einmal wach geworden – sie machte kehrt und ging mit schnellen Schritten denselben Weg zurück. Frau Lorenz war nicht gut zu Fuß, und dazu der starke Wind – so durfte sie hoffen, die beiden Damen einzuholen. Und richtig, als Aurelie den Obstmarkt erreichte, sah sie dieselben, gegen den Wind ankämpfend, quer über den menschenleeren Platz gehen. Hastig folgte sie ihnen nach. Sie brauchte nicht weit zu gehen, an einem stattlichen Hause der Hauptstraße blieben die Damen sekundenlang wie zögernd stehen. Aurelie glaubte deutlich zu erkennen, wie Frau Lorenz auf Franziska einsprach, dann betraten beide das Haus.

„Also hier wohnt ‚die Nichte‘,“ sagte Fräulein von Hagen spöttisch, als sie eine Minute später an dem nämlichen Hause vorüberging. Ein Schild neben der Hausthür fiel ihr auf – sonderbar, sie hatte es nie zuvor bemerkt. „Sonnenthal, Dr jur. Sonnenthal,“ sprach sie vor sich hin; sie prägte sich unwillkürlich den Namen ein und ging dann ruhig ihrer Wege.

Der Besuch bei Doktor Sonnenthal war nicht halb so peinlich, wie Franzel sich denselben ausgemalt. Nach der ersten, etwas verlegenen Begrüßung nahm Frau Lorenz das Wort und klärte den Rechtsanwalt über Franzels Anliegen auf. Sie deutete auch an, daß Regierungsrat Wodrich von der ganzen Geschichte nichts erfahren solle, weil es ihm grenzenlos peinlich sein würde, seine Frau als Angeklagte zu wissen.

Doktor Sonnenthal hörte sie aufmerksam an, richtete einige sachgemäße, scharf präzisierte Fragen an Franziska, dann sagte er ruhig: „Haben Sie keine Sorge, gnädige Frau! Soweit ich die Sache beurteilen kann, sind Sie vollständig in Ihrem Recht. Ich werde Ihnen den Fall vorlegen, wie ich denselben nach Ihrer Erzählung ansehe. Also: Sie machen eine Bestellung bei dem Kaufmann Müller. Diese Bestellung wird miserabel ausgeführt. Sie verweigere die Annahme, gehen zu dem p. p. Müller und sagen ihm in aller Ruhe Ihre Meinung. Darauf wird der Mann grob, zieht Ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel, insultiert Sie. Sie bestehen auf Ihrem Recht, werden heftig und sagen, das sei ein schönes Geschäft, das nicht einmal Garantie für seine Waren übernähme. Habe ich recht verstanden.“

„Ja,“ nickt mit heißen Wangen die junge Frau, die bei der klaren Darlegung des Rechtsanwaltes die ganze peinliche Scene noch einmal wieder durchlebt.

„Sie haben trotz Ihrer Erregung kein Schimpfwort gebraucht, gnädige Frau?“

„Nein,“ erwidert die Angeredete fest.

„Hätt’s mir auch nicht denken können,“ murmelt Doktor Sonnenthal. Dann schweigt er und scheint angestrengt nachzudenken. Franziska streift sein weiches und dennoch energisches kluges Gesicht mit einem ängstlich forschenden Blick. Da hebt er das Auge und sieht die junge Frau an – sein Blick hat etwas, das sich nicht leicht beschreiben läßt – zuversichtlich und vertrauenerweckend zugleich.

„Sie haben die Ihnen zur Last gelegten Schimpfworte ‚Lump‘ und ‚Schwindelgeschäft‘ nicht gebraucht, der Mann muß Sie also [15] völlig mißverstanden haben. Er beschuldigte Sie, ihn beleidigt zu haben – was thaten Sie?“

„Ich mußte lachen, denn ich hielt die ganze Geschichte für eine große Kinderei, und ging meiner Wege.“

Bei dem naiven Geständnis der jungen Frau mußte Doktor Sonnenthal selber lächeln. Er strich sich schmunzelnd seinen dunklen Schnurrbart, wandte sich mit einem Ruck zu der älteren Dame herum und fragte, sie mit seinen glänzenden durchdringenden Augen anblickend. „Und Sie waren Zeuge, Frau Rätin? Sie waren von Anfang bis zu Ende dabei?“ „ Jawohl. Ich habe gehört, daß Frau Wodrich heftig wurde, – ein Schimpfwort hat sie nicht gebraucht, und ihre Heftigkeit war durch die Grobheit des Kaufmannes provoziert worden,“ sagte die alte Dame ruhig.

Der Rechtsanwalt stellte noch ein paar Fragen, machte sich einige Notizen – damit war die Sache erledigt. Der vielbeschäftigte Mann geleitete selbst die Damen bis zur Thür. „Beunruhigen Sie sich nicht, gnädige Frau, Sie haben eine ausgezeichnete Zeugin – wir werden schon reüssieren. Und im übrigen,“ fügte er mit seinem weichen angenehmen Lächeln hinzu, „möchte ich Ihnen doch raten: lassen Sie all Ihre Bedenken schweigen und teilen Sie Ihrem Gemahl die ganze Affaire mit. Dies ist der Rat eines Freundes. Geheimnisse in der Ehe thun selten gut, gnädige Frau! Solche Erfahrungen habe ich in meiner Praxis schon oft genug gemacht.“

Er drückte ihr warm die Hand und empfahl sich; im Vorzimmer wartete schon eine ganze Reihe von Menschen, die seines Rates bedurften.

„Laß uns, bitte, eine Droschke nehmen, Tante Rätin, mir ist so schwindlig,“ sagte Franziska, als sie die Treppe hinuntergingen. Frau Lorenz sah ihr besorgt in das blasse Gesicht. „Das thut die Aufregung all dieser Tage. Leg’ Dich nur zeitig ins Bett, Franzel, und denk’ nicht mehr an die dumme Geschichte!“

Als Franziska nach Hause kam, erfuhr sie zu ihrer Verwunderung durch die alte Dienerin, die ihr die Flurthür öffnete und den Mantel abnahm, daß der Herr schon seit einer Stunde zu Hause sei.

Regierungsrat Wodrich hatte in den letzten Wochen sehr angestrengt arbeiten müssen und war stets erst in später Abendstunde aus dem Bureau gekommen. Um so mehr war Franziska durch seine heutige frühe Heimkehr überrascht und beinahe erschreckt. Sie legte rasch Hut und Handschuhe ab und betrat das Zimmer ihres Gatten.

Der Regierungsrat war im Vergleich mit seiner Frau kein junger Mann mehr. Sein Haar war an Stirn und Schläfen stark gelichtet und begann zu ergrauen, aber seine hohe, stattliche Gestalt, sein feines, geistreiches Gesicht mit den ernst und gütig blickenden Augen ließen es selbst einem Fremden vollkommen begreiflich erscheinen, daß die kaum zwanzigjährige Franziska Ellwege seine Bewerbung angenommen hatte. Ernst Wodrichs Freunde aber wußten, daß die junge Frau mit einer an Verehrung grenzenden Liebe an dem Mann ihrer Wahl hing.

Als Franziska das Arbeitszimmer ihres Gatten betrat, saß er, mit dem Rücken ihr zugewandt, vor dem Kaminofen und schien zu ruhen. Dies war etwas so Ungewöhnliches an dem sonst so rastlos thätigen Mann, daß die junge Frau bis ins Herz hinein erschrak. Leise ging sie zu ihm hin, legte die Arme um seinen Hals und fragte liebevoll. „Bist Du krank, Ernst?“ Zugleich forschten ihre Augen voll ängstlicher Besorgnis in seinem Antlitz. Es sah blaß und übermüdet aus. Ernst zog das junge Weib auf seine Kniee nieder.

„Man wird alt, Franzel, das Arbeiten strengt an, der Kopf thut weh. Du hättest Dir einen Jüngeren aussuchen sollen,“ scherzte er mit müdem Lächeln.

Sie streichelte ihm mit der kleinen weichen Hand die blasse Wange. „Rede nicht so, Liebster! Was hätte ich wohl mit einem anderen anfangen sollen? Niemand weiß mich so treu und gut und liebevoll zu führen wie Du!“ Dabei legte sie das dunkle Köpfchen mit dem schneefeuchten Haar auf seine Schulter – das Herz war ihr so centnerschwer, und ihre Gedanken drehten sich immerfort in irrem Kreislauf. Warum mußte sie auch gerade jetzt den schwersten Weg ihres Lebens allein gehen – ungeleitet von seiner treuen sicheren Hand? Sie wollte sprechen, ihm alles eingestehen und wagte es doch nicht in dieser Stunde, wo er übermüdet von der Last seines Berufes heimgekehrt war, um an seinem Herde Ruh’ und Frieden zu finden. So kauerte sie ganz still auf seinem Schoß, wie ein im Schlaf zusammengeducktes Vögelchen, von Zeit zu Zeit lief ein Zittern – sie wußte selbst nicht, war’s ein innerlicher Schauder oder körperliches Frostgefühl – über sie hin. Ernst faßte nach ihren Händen, sie waren eiskalt.

„Wo warst Du, Franzel?“ fragte er. „Du hättest bei dem Sturm lieber zu Hause bleiben sollen. Klingle doch, Kind, und bestelle den Thee!“

Franziska sprang auf. „Ich bin doch immer noch der alte unverbesserliche Ego, wie meine Brüder früher sagten,“ seufzte sie. „Statt an Dich zu denken, lasse ich Dich immer nur für mich sorgen. Verzeih’, Liebster, und habe Geduld mit mir – ich will mich nun auch wirklich bessern!“

Sie lief hinaus, trieb das Stubenmädchen, die schon den Theetisch deckte, zu noch größerer Eile an und half der alten Köchin Rieke, die ihr nicht schnell genug war, ein zartes saftiges Beefsteak, wie Ernst es liebte, für ihn zu bereiten. Aber er aß nicht, er hatte schlechten Appetit diesen Abend, entschuldigte sich mit Uebermüdung und rasenden Kopfschmerzen und legte sich auf Franzels Bitten zeitig ins Bett. Sie selbst blieb an seinem Bett sitzen, machte ihm kühlende Umschläge auf den schmerzenden Kopf und pflegte ihn mit sanften geschickten Händen wie eine barmherzige Schwester.

„Es ist ja ordentlich beneidenswert, krank zu sein und sich von Dir pflegen zu lassen, Franzel,“ sagte Ernst, zog die kleine nasse Hand, die ihm behutsam die Kompresse auf die Stirn legte, an seine brennenden Lippen und küßte sie.

Franziska dachte nicht mehr an ihr eigenes Unwohlsein, das wohl nur durch die Angst und Aufregung der letzten Tage verschuldet war, sie pflegte ihren Gatten die ganze Nacht, und da es gegen Morgen nicht besser wurde, schickte sie zum Arzt.

„Ueberanstrengung natürlich! Hat zu toll gearbeitet. Pflegen Sie ihn nur gut, Seelchen, und halten Sie ihn hübsch in Ruhe und jede Aufregung fern. Dann kommen wir hoffentlich über den Berg.“ Der alte Hausarzt reichte Franziska die Hand, griff jedoch im nächsten Augenblick nach ihrem Puls und schaute ihr mit seinen großen runden Brillengläsern aufmerksam ins Gesicht. „Hm, hm – selber nicht ganz taktfest,“ murmelte er kopfschüttelnd. „Na – Ruhe, Ruhe, liebes Seelchen! Pflegt Euch nur alle beide, Ihr könnt’s ja haben!“ Damit ging er und ließ Franziska allein.

Zum erstenmal allein am Krankenbett eines geliebten Menschen! Ernst lag in unruhigem Halbschlummer, Franzel stand leise auf und zog die Vorhänge zu, damit die blendende Wintersonne den Schlaf des Kranken nicht störe. Dann saß sie regungslos am Fußende von Ernsts Bett, von Zeit zu Zeit nur die verordneten Eisumschläge erneuernd; und nun, in dieser beängstigend tiefen Stille, in dem freudlosen Halbdunkel des Krankenzimmers, kroch wieder die Sorge wie ein häßliches Gespenst über das zitternde Herz des jungen Weibes.

Ernst krank und sie – allein und hilflos mit ihrem doppelten Kummer! Sie war so fest entschlossen gewesen, ihm alles zu gestehen! Ja, sie hatte sich an diesen Gedanken des Bekennens schon wie an einen kommenden Trost geklammert – und nun war ihr auch der wieder genommen, und sie war allein!

Allein“ – wie das Wort sie ängstigte! Sie hatte noch nie im Leben allein gestanden; nicht als Mädchen, wo die zärtliche Sorge der Eltern ihr alles Unangenehme, alles Traurige fernhielt, wo treue Hände sie vor jeder rauhen Berührung des Lebens hüteten; erst recht nicht, seit sie Ernst Wodrichs Gattin war. Wie hatte er sein junges Weib auf Händen getragen, wie war, seit ihrer Hochzeit, alles so klar, so licht, so sonnig gewesen, so reich an innerem Glück und tiefster Herzensbefriedigung! Und immer waren sie beide Hand in Hand gegangen; jede geringfügige Sorge, jede kleinste Kümmernis hatten sie geteilt, und Ernst hatte, bald scherzend, bald mit geduldiger Güte ihre zagende Seele davon befreit. Und jetzt, gerade jetzt, wo zum erstenmal der Ernst des Lebens an sie herantrat, stand sie allein, und ihre zitternde Hand suchte vergebens nach der gewohnten treuen Stütze.

Franzels Augen füllten sich mit Thränen, jenen Thränen, die langsam und vereinzelt fallen und wie Tropfen heißen Bleies in der Seele brennen, Thränen, die keine Linderung, sondern neuen Schmerz bringen.

Traurige Tage vergingen. Mit Wodrichs Befinden wurde es nicht besser und nicht schlechter; er dämmerte so dahin. Der alte Hausarzt konnte selbst nicht recht klar über das Wesen der [16] Krankheit werden, machte sich indes auf den Ausbruch einer Gehirnentzündung gefaßt. Endlich, nach etwa zehn Tagen, trat eine Art von Krisis ein, und erleichtert atmete Doktor Böhmer auf. „Jetzt hätten wir das Schlimmste überstanden, sollt’ ich denken,“ meinte er beruhigend.

Inzwischen gingen die Dinge da draußen in der Welt ihren regelrechten Gang weiter, und eines Morgens erhielt Franziska die Vorladung vor das Schöffengericht und gleichzeitig einen Brief des Doktor Sonnenthal, worin er sie dringend ersuchte, recht pünktlich zu erscheinen.

Ein amtliches Schriftstück hat schon an und für sich etwas Aufregendes für eine Frau; sie betrachtet es mit Herzklopfen, als ein unheimliches Ding, von dem man nie wissen kann, ob es Gutes oder Schlimmes bringt. Und nun vollends dieser Brief! Dieser gefürchtete, in tausend Aengsten erwartete! In tiefster Niedergeschlagenheit saß die junge Frau vor ihrem eleganten, zierlichen Schreibtisch, studierte das verhängnisvolle Schreiben wieder und wieder, und ihr Herz hämmerte in dumpfer Angst. Da schlug die kleine Schwarzwälder Uhr neben dem Schreibtisch mit hellem Klang die zehnte Stunde, und Franzel, alles um sich her vergessend, sprang auf, um dem Patienten seine Medizin zu geben. Hastig schob sie die beiden Schriftstücke in ein Schubfach – der leere Umschlag von Doktor Sonnenthals Brief blieb unbeachtet auf dem Fußboden liegen.

(Fortsetzung folgt.)




Kopfschmerzen.

Von Dr. H. Schaefer.

Der alte Streit über die Zunahme der Krankheiten mit der fortschreitenden Entwicklung der Civilisation ist auch heute noch nicht als beendet anzusehen. Eins ist ja sicher, daß das scheinbare Wachstum von Krankheitsfällen zum Teil in der gewissenhafteren Registrierung derselben seine Erklärung findet. Anderseits aber kann es dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, daß allerdings gewisse krankhafte Zustände, von denen früher nur vereinzelte Fälle in die Oeffentlichkeit drangen, sich heute in auffallender Weise zu mehren beginnen, eine Erscheinung, die man bei aller Sympathie für die Fortschritte der Neuzeit doch nicht umhin kann, gerade als ein Produkt dieser hohen Kulturstufe anzusehen. Ich spreche nicht von den verderblichen Einflüssen der zunehmenden Genußsucht, nicht von den aufreibenden Folgen der modernen Jagd nach dem Glück – Erscheinungen, wie sie im Alkoholismus, Morphinismus bezw. in dem Allerweltsleiden „Nervosität“ zu Tage treten. Es ist gewissermaßen nur ein Symptom, das mich hier näher beschäftigen soll, aber ein Symptom, dessen Machtsphäre sich von Tag zu Tag weiter ausdehnt und das eine wahrhafte Geißel der Menschheit zu werden droht – der Kopfschmerz.

Wer leidet heutzutage nicht an Kopfschmerzen? Der mit den verwickeltsten Problemen der Wissenschaft sich abmühende Gelehrte, der nach Reichtum und Ansehen lüsterne Finanzmann, der nach Ruhm und Ehre strebende Künstler, die ihre Tage mit Nichtigkeiten vertrödelnde Modedame nicht minder als der um das tägliche Brot sich abmühende Mann aus dem Volke und die geistig überbürdete und körperlich vernachlässigte Jugend – sie alle sind mehr oder weniger von jenem qualvollen, die Daseinsfreude erheblich verkümmernden Uebel heimgesucht. Dasselbe ist indessen, wie schon angedeutet, in keinem Falle eine Krankheit für sich, obgleich die daran leidenden Personen nur zu leicht geneigt sind, eine solche Vollgültigkeit für ihren Plagegeist in Anspruch zu nehmen, sondern bildet eben nur das hervorstechendste Symptom einer ganzen Anzahl sehr verschiedenartig gestalteter Grundleiden.

Diese Thatsache scheint aber, und nicht nur in Laienkreisen allein, mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Die moderne schnelllebige Welt hat nicht mehr Zeit und noch weniger Lust, den Gesamtstoffwechsel einer gründlichen Regeneration zu unterwerfen, sondern will nur von dem augenblicklichen Störenfried befreit sein. Und so wird nunmehr gegen denselben mit einer Anzahl giftiger Medikamente zu Felde gezogen – sehr zum Nachteil des Körpers, der zwar den verhältnismäßig harmlosen Peiniger zeitweise los wird, dafür aber eine Menge wirklicher Feinde sich zuzieht, die den Organismus früher oder später gänzlich untergraben.

Der Kopfschmerz ist nicht immer nur ein Zeichen einer einfachen allgemeinen oder örtlichen körperlichen Störung, sondern er stellt zuweilen ein Symptom eines ernsten organischen Leidens dar. So findet er sich bei Gehirnerkrankungen aller Art, bei Geschwülsten innerhalb des Schädels und ähnlichen lebensgefährlichen Zuständen. Doch bilden diese eine Gruppe für sich, die aus unserer Betrachtung ausscheidet. Was man im gewöhnlichen Leben mit Kopfweh bezeichnet, ist dagegen in den allermeisten Fällen bedingt durch die dauernde Einwirkung ungünstiger hygieinischer Verhältnisse auf den menschlichen Körper, zum kleineren Teil auch durch gewisse verhältnismäßig gefahrlose örtliche Erkrankungen einzelner Organe und Organteile. Es giebt in der gesamten medizinischen Wissenschaft kein Symptom, das in gleichem Grade das Merkmal einer so großen Anzahl der verschiedenartigsten Krankheiten ist wie eben der Kopfschmerz. Diese verwirrende Vielgestaltigkeit, dieser kaleidoskopische Wechsel in der Gruppierung der zu Tage tretenden Begleiterscheinungen dieses Symptoms machen zuweilen die Erkennung der Grundursache sehr schwierig – aber nicht unmöglich. Um nun auch dem Laien einen orientierenden Ueberblick über dies buntschillernde Bild zu verschaffen und ihm so einen Einblick in die etwaigen fehlerhaften persönlichen Beziehungen zu den Grundregeln einer hygieinischen Lebensweise zu ermöglichen, dürfte es am zweckmäßigsten sein, das fragliche Gebiet nach den erregenden Ursachen einzuteilen und der Betrachtung zu unterziehen.

Eine der häufigsten Ursachen der Kopfschmerzen ist die Blutarmut, beziehungsweise die Bleichsucht. Da diese Zustände sich vorzugsweise bei Frauen und Mädchen entwickeln, so leiden auch diese in erster Reihe an dieser Art Kopfweh. Aber auch das männliche Geschlecht liefert ein ansehnliches Kontingent zu obigen krankhaften Blutveränderungen, und so mancher Kopfschmerz bei schwächlichen Jünglingen und früh alternden Männern, der auf alle möglichen Schädlichkeiten bezogen wird, ist weiter nichts als der Ausdruck einer solchen anormalen Blutbeschaffenheit. Häufiger indessen ist diese Art Kopfschmerz bei allen jenen blassen weiblichen Personen, die auch sonst noch von einem Heer von Unpäßlichkeiten mannigfacher Art heimgesucht sind und deren fast ständigen Begleiter derselbe bildet. Er charakterisiert sich durch ein lästiges Klopfen und Hämmern innerhalb des Schädels, oft verbunden mit Ohrensausen und Schwindelanfällen. Die letzte Ursache dafür kann nur die Blutleere des Gehirns sein, denn die Schmerzen verschwinden bald oder werden wenigstens erheblich gelindert, wenn der Kopf niedrig gelagert wird, so daß mehr Blut nach demselben hinströmen kann (was zugleich als Unterscheidungsmerkmal gegenüber andersartigen Kopfschmerzen dienen kann).

Mit diesem Leiden ursächlich verwandt, auch in Bezug auf seine Vorliebe für das weibliche Geschlecht, ist die vielgenannte und vielgefürchtete Migräne, die meist nur eine Kopfhälfte einnimmt, wodurch sie sich von allen ähnlichen Zuständen unterscheidet. Das Leiden gilt, etwa wie die Gicht, für eine „vornehme“ Krankheit, kommt aber thatsächlich bei Leuten jeden Standes vor. Es tritt anfallsweise auf, oft ohne jede Gelegenheitsursache, ist aber auch oft die Folge von bestimmten, dem Befallenen meist wohlbekannten Vorkommnissen. So stellt sich das Uebel bei vielen nach einem Diätfehler, einer körperlichen Anstrengung, einer heftigen Gemütsbewegung (besonders Aerger), nach lebhaften Sinneseindrücken (grelles Licht, schrilles Geräusch) und dergleichen ein. Bei anderen hat der Besuch des Theaters, eines Konzertes, einer Abendgesellschaft dieselbe Folge. Der Anfall selbst kündet sich oft durch gewisse Vorboten an. Unlust- und Mattigkeitsgefühl, Verstimmung, Gereiztheit, Appetitmangel, oder er setzt gleich, meist morgens beim Erwachen, mit voller Heftigkeit ein. Dieser Kopfschmerz kann gleichmäßig andauernd, oft bis zur Unerträglichkeit sich steigern, er ist dem Orte nach am häufigsten linksseitig, nimmt zuweilen aber auch beide Kopfhälften zugleich ein. Auf der Höhe des Anfalls, nach Stunden bis Tagen, tritt Erbrechen ein, wonach der Schmerz allmählich verschwindet und einem ruhigen Schlaf Platz macht – um nach längerer oder kürzerer Zeit von neuem sich einzustellen. Die Migräne ist eines der hartnäckigsten

[17]

Ein günstiger Augenblick.
Nach einem Gemälde von René Reinicke.

[18] Leiden, das nicht selten sogar durch das ganze Leben fortbesteht. Die gebräuchlichsten Mittel haben sich ihm gegenüber alle als für die Dauer wirkungslos erwiesen und nur von einer Umgestaltung der Lebensweise nach hygieinischen Principien ist noch Erfolg zu erhoffen.

Im Gegensatz zu den bisher betrachteten beiden Arten von Kopfschmerzen, die mehr auf allgemeinen Ursachen beruhen, schließen sich andere an bestimmte krankhafte Störungen in einzelnen Organen an. Bekannt ist der Kopfschmerz bei verdorbenem Magen oder überhaupt bei Magen- und Darmleiden. Wie man neuerdings annehmen zu müssen glaubt, ist die Ursache in diesen Fällen die Aufnahme gewisser giftiger Zersetzungsprodukte, die sich bei gestörter Verdauung bilden, sogenannter Ptomaïne, in das Blut, wodurch dieses eine krankhafte Veränderung erfährt, die sich neben anderen Erscheinungen auch im Kopfschmerz äußert. Aehnlich liegen die ursächlichen Beziehungen bei einer Reihe anderer Vergiftungen. Wir verweisen auf den Kopfschmerz nach reichlichem Alkohol- und Tabaksgenuß („Katzenjammer“) und nach Einatmung von Chloroform, Kohlendunst (Bügler- und Plätterinnenkopfschmerz) und von Leuchtgas. Die Anwesenheit der beiden letzten in den Wohnräumen ist in vielen Fällen die Ursache anhaltender Kopfschmerzen der Bewohner, ohne daß diese die Quelle ihres Leidens ahnen. Nach Gebrauch von Opium, Morphium u. a. stellen sich gleichfalls leicht Schmerzen im Kopfe ein. Auch der Stubenhockerkopfschmerz, an dem alle Menschen leiden, die sich dauernd in geschlossenen Räumen aufhalten, gehört unter diese Rubrik. Es ist nämlich nicht, wie man bisher angenommen hat, die schlechte Luft an sich, die das Uebel erzeugt und unterhält, sondern das Einatmen einer giftigen Substanz (Anthropotoxin, „Menschengift“), die sich überall dort bildet, wo Menschen während längerer Zeit in geschlossenen Räumen verweilen.

Eine mehr äußerliche Ursache bilden örtliche Erkältungen des Kopfes. Dieser sogenannte rheumatische Kopfschmerz, der seinen Sitz in der Kopfhaut hat und sich bei Verschiebungen derselben verschlimmert, was ein Kennzeichen für ihn bildet, kommt indessen seltener vor, als man gewöhnlich annimmt. Wie man überhaupt nur zu geneigt ist, der „Erkältung“ alle möglichen Gesundheitsstörungen in die Schuhe zu schieben, an denen dieselbe ganz unschuldig ist.

In neuester Zeit ist man auf gewisse Erkrankungen der Nasenhöhle, des Rachens, der Ohren und Augen aufmerksam geworden, die mit anhaltendem Kopfschmerz einhergehen, der dann aber mit der Besserung des ursprünglichen Leidens verschwindet. Bekannt ist ja, daß schon ein gewöhnlicher, etwas heftiger Schnupfen von starkem Stirnkopfschmerz begleitet sein kann. Daher darf es nicht wunder nehmen, daß auch andere Erkrankungen der Nase, Polypen und chronische Katarrhe aller Art, derartige schmerzhafte Empfindungen veranlassen. Die Ursache derselben ist eine Reizung der in der Nasenhöhle sich ausbreitenden feinen und äußerst empfindlichen Nervenendigungen, was schon in gelinden Fällen als unangenehmer Kitzel, bei stärkeren Angriffen aber als direkter Schmerz sich dem Bewußtsein mitteilt. Diese Reizung wird nur veranlaßt durch Schwellung der Nasenschleimhaut, wobei die Nervenfädchen gedrückt und gezerrt werden. Dasselbe verursachen auch Polypen. Manche Personen, die seit Jahren an „Stockschnupfen“ leiden, bekommen bei jedem Umschlag der Witterung ihren ihnen nur zu bekannten Kopfschmerz, indem eben bei größerer Feuchtigkeit der Luft die Nasenschleimhaut mehr Wasser aus der Atmosphäre aufnimmt und damit stärker anschwillt. Und wie der Gichtiker, der Rheumatiker oder der mit Hühneraugen Behaftete aus den sich ankündenden, ziehenden Schmerzen einen Temperaturwechsel prophezeit, so bildet für manche Nasenleidende der sich bemerkbar machende Kopfschmerz ein Barometer von vielleicht untrüglicherer Zuverlässigkeit als ihr am Fenster hängendes Instrument. Nun steht bekanntlich das Ohr (Mittelohr) durch eine Röhre (die Eustachische Ohrtrompete) mit der Rachenhöhle und diese wieder mit der Nasenhöhle in Verbindung, daher kann es nicht auffallend sein, daß auch Erkrankungen dieser Organe schmerzhafte Empfindungen im Kopfe verursachen. Ja häufig bilden letztere überhaupt die einzigen subjektiven Zeichen derartiger Erkrankungen, weshalb man sich jetzt veranlaßt sieht, in allen Fällen von anhaltendem Kopfschmerz zunächst einmal die erwähnten Organe einer näheren Besichtigung zu unterwerfen. Ist doch auch gerade hier die Behandlung die dankbarste, indem meist schon bei geringer Besserung des Grundleidens die Kopfschmerzen schwinden. Von Erkrankungen der Augen sind es vorzugsweise die Sehstörungen infolge fehlerhafter Brechung der Lichtstrahlen – Kurz- und Weitsichtigkeit – die namentlich bei Kindern häufig Kopfschmerzen verursachen. Eine ganze Anzahl von Fällen ist bekannt, wo Personen von ihrem jahrelangen derartigen Leiden dadurch befreit wurden, daß man ihnen eine passende Brille verordnete. Allerdings muß das Glas auch wirklich passend sein, andernfalls werden nicht nur die Augen geschädigt, sondern wird gerade das erzeugt, was man vermeiden soll, bezw. beseitigen will, nämlich eben wieder Kopfschmerzen.

Außer den bisher erwähnten giebt es nun noch eine Reihe von Fällen, in denen sich für den Kopfschmerz eine bestimmte Ursache nicht nachweisen läßt. Altem Herkommen gemäß nennt man diese Art „nervöse“ Kopfschmerzen, welcher Ausdruck aber nur als Lückenbüßer für unsere Unwissenheit aufgefaßt werden darf, insofern wir das Leiden nicht anders zu rubrizieren vermögen. Der Laie allerdings ist nur zu sehr geneigt, jeden Kopfschmerz, den er nicht auf „Erkältung“ zurückführt, als „nervös“ auszugeben. Der sogenannte nervöse Kopfschmerz entwickelt sich vorzugsweise bei aufreibender geistiger Thätigkeit, so namentlich bei Künstlern, Büchergelehrten, Schriftstellern, Großkaufleuten, Finanzmännern und ähnlichen Berufen. Er ist dann das Symptom einer Ueberreizung der Gehirnnerven.

Auch schon unter der Schuljugend grassiert dies Leiden in schreckenerregender Weise. Vor einiger Zeit hat Professor Bystrow in Petersburg eine bezügliche Statistik veröffentlicht. Danach litten von 7478 in einem Zeitraum von 5 Jahren untersuchten Schulkindern 868, d. h. 11,6 % an Kopfschmerzen. Diese fanden sich um so häufiger, je älter die Kinder waren, so z. B. im Alter von 14 bis 18 Jahren bei 28 bis 40 %. Die Ursache für diese auffallende Erscheinung sieht der Petersburger Gelehrte in der geistigen Ueberbürdung (was er an der Hand von Schulprogrammen nachweist), nicht aber in den ungünstigen hygieinischen Verhältnissen der Schullokale, indem Kinder, die Hausunterricht genießen, in gleicher Weise[WS 1] von dem Leiden ergriffen seien. Natürlich muß man zur richtigen Beurteilung solcher Fälle alle obenerwähnten Organerkrankungen ausschließen können, um zur Annahme eines rein durch geistige Ueberanstrengung bedingten Leidens zu gelangen. Auch wird man die kürzlich von Dr. Salemi in Nizza gemachte Beobachtung berücksichtigen müssen, wonach bei Kindern sogenannte Wachstumskopfschmerzen, welche also ausschließlich durch die körperliche Entwicklung bedingt sind, keine allzu seltenen Vorkommnisse bilden. Alles in allem wird dann immer noch eine bedeutende Anzahl von wirklich rein durch zu große Inanspruchnahme der kindlichen Geisteskräfte verursachten Kopfleiden übrig bleiben, die man in Ermangelung einer greifbaren krankhaften Organveränderung, nach Analogie der bei Erwachsenen vorkommenden, eben als „nervös“ bezeichnen muß.

Zum Schluß noch einige Andeutungen hinsichtlich der Behandlung der Kopfschmerzen. Es ist selbstverständlich, daß man in allen Fällen zunächst nach einer Grundursache forschen und diese zu bekämpfen bemüht sein muß. Das ist indessen Sache des Arztes. Dem Kranken aber liegt es ob, zunächst einmal sich einer bezüglichen ärztlichen Untersuchung zu unterwerfen, indem nach den oben entwickelten ursächlichen Beziehungen es in vielen Fällen vielleicht nur eines geringen ärztlichen Eingreifens bedarf, um den jahrelangen Quälgeist zu bannen. Leider aber beliebt es der großen Mehrheit der Kopfkranken, sich einem unheilvollen Zuwarten hinzugeben, doppelt unheilvoll, einmal durch das Verharren in gesundheitswidrigen Lebensgewohnheiten und zweitens durch die Vorliebe für gewisse Mittel, die zwar den augenblicklichen Schmerz lindern bezw. beseitigen, aber infolge ihrer giftigen Eigenschaften nachteilig auf den Körper einwirken. Und damit kommen wir zu der zweiten und dritten Aufgabe, die zu erfüllen dem Kranken obliegen: gesundheitsgemäße Lebensweise und strenge Vermeidung aller „Nervenmittel“. Das A und O der ersteren ist für Kopfleidende, die sitzende Lebensweise führen, reichliche Körperbewegung, etwa nach dem Vorbilde jenes Erzbischofs, von dem Dr. Smiles in seinem Werke „Leben und Arbeit“ erzählte, daß derselbe, sobald sich infolge vielen Studierens Kopfschmerzen einstellten, sich, wie ein gewöhnlicher Arbeiter gekleidet, an das Fällen von Bäumen machte und, unbekümmert um Wind und Wetter, sich dieser Arbeit solange hingab, bis ein reichlicher Schweißausbruch erfolgte. Ein böses Kapitel ist das von den verschiedenen, gegen den Kopfschmerz üblichen Medikamenten, vorzugsweise deshalb, weil dieselben meist ohne ärztliche Verordnung und ganz nach Belieben gebraucht werden.

[19] Die Haupterrungenschaft auf diesem Gebiet ist das Antipyrin, dessen überraschende Wirkung es zuwege gebracht hat, daß dasselbe seit geraumer Zeit allenthalben kritik- und verständnislos gebraucht und mißbraucht wird.

Eine Hauptschuld an dieser bedenklichen Popularisierung des Antipyrin trug bisher auch die leichte Zugänglichkeit desselben, der Handverkauf in Apotheken – und wohl auch an illegitimen Stellen – sowie das öffentliche Anpreisen, wodurch der Schein erweckt wurde, als hätte man es mit einem gänzlich unschuldigen Mittel zu thun. Wiederholt aber wurde in medizinischen Zeitschriften von gefährlichen Vergiftungserscheinungen berichtet, die sich zuweilen selbst nach geringen Mengen dieses Mittels eingestellt haben. In Anbetracht dessen kann vor dem eigenmächtigen Gebrauch dieses trügerischen Mittels nicht dringend genug gewarnt werden. Behördlicherseits ist deshalb auch der Handverkauf des Antipyrin untersagt worden. Es wäre sehr wünschenswert, wenn das gleiche Verbot des Handverkaufs auch auf die Mehrzahl der anderen Kopfschmerzenmittel, wie Chinin, Bromkali, Phenacetin, Antifebrin etc., ausgedehnt würde, damit der willkürliche Gebrauch derselben erschwert würde. Der an Kopfschmerzen leidende Teil der Menschheit muß zu der Erkenntnis gelangen, daß sein Heil nicht in der Apotheke, sondern in einer nach hygieinischen Grundsätzen zu gestaltenden Lebensweise zu suchen ist. Nur auf diesem Wege ist ein Zurückdrängen des Feindes, der bereits übermächtig zu werden droht, noch zu erhoffen.



Blätter & Blüten.


Die „letzten Goten“. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) Die Geschichte der Ostgoten in Italien liest sich wie eine erschütternde Tragödie. Erst entsteht nach den Siegen Theoderichs des Großen im Jahr 493 nach Christus ein mächtiges Reich, das, bald von der kraftvollen Faust Theoderichs zusammengehalten, ganz Italien, Sicilien und Dalmatien umfaßt und bis zur Provence hinübergreift; dann nach dem Tode dieses Großen häßliche innere Kämpfe um den Thron, die es dem Kaiser des römischen Ostreichs, Justinian, und seinem Feldherrn Belisar gestatten, die Waffen siegreich gegen die Germanen zu kehren und ihnen ein Stück des Landes um das andere zu entreißen; endlich in Totilas wieder ein echter Gotenkönig, tapfer und edelmütig, glücklich im Feld, so daß er rasch ganz Italien zu seinen Füßen sieht. Aber Narses, der neue Feldherr Justinians, besiegt zuletzt auch ihn und Totilas fällt auf der Flucht. Sein Nachfolger Tejas hat 552 das gleiche Geschick: in sechzigtägiger Schlacht kämpft er an der Spitze seiner Helden den Verzweiflungskampf gegen Narses, um endlich an den Abhängen des Vesuv den Waffentod zu finden. Das ist der Schluß dieser Tragödie. Den wenigen Ostgoten, die übrig geblieben waren, bewilligte Narses freien Abzug. Sie wurden in die Fremde verschlagen und sind verschollen.

Es ist kein Wunder, daß dieser erschütternde Stoff einen Dichter von der Kraft Hermann Linggs zu poetischer Gestaltung zwang. Eines der schönsten Kapitel in seinem machtvollen Epos „Die Völkerwanderung“, das kürzlich eine neue Auflage erlebte, schildert die „letzten Goten“, ihren Kampf und Sturz. In gewaltigen Bildern führt uns Lingg jene Schlachten am Vesuv vor, den Fall des Tejas, und dann die große Scene, in deren Ausmalung unser Künstler dem Dichter treu gefolgt ist, wie die letzten Goten die Leiche ihres Königs von der Höhe niedertragen, der Fremde zu, vorbei an Narses, ihrem Besieger:

 – – – –0 Die Goten zogen
An ihm vorüber, der verschrumpft und bleich
In einer Sänfte lag zurückgebogen,
Mehr einem Weib als einem Manne gleich.
In ihren Waffen, stolz wie stumme Wogen,
Verließen sie das alte Gotenreich,
Und von den Alphöh’n sah’n sie nach der Wiege
Des Ruhms zurück, ins Land noch ihrer Siege.

„Schlaft alle wohl im Grund des Erdenschoßes,
Die ihr auf fremder Erde fielt! Vollbracht
Habt ihr, wie noch kein Volk vorher so Großes,
Es ist gethan, der Lohn ist Tod und Nacht.
Doch blüht am Endziel unsres Unglücksloses
Ein neuer Tag, aus Kampf und Müh’ erwacht.
Das große Romreich stürzten wir zusammen,
Wir Goten, die wir von dem Himmel stammen.“

So sangen sie, ein Echo ihrer Klage
Ward in der Wüste des Gebirges laut,
Und über einem Riesensarkophage,
Von hohen Felsentrümmern aufgebaut,
Schoß eine Schneelawin’ im Donnerschlage
Zum Abgrund nieder: alle riefen: „Schaut,
Das waren wir“, und trugen ihren Toten
Zur alten Heimat hin, die „letzten Goten“.

Nydia. (Zu dem Bilde S. 9.) Es gab eine Zeit, wo Bulwers Roman „Die letzten Tage von Pompeji“ das ganze europäische Publikum begeisterte: er gehört jedenfalls zu den vorzüglichsten Werken des geistreichen englischen Romanschriftstellers und ist in neuester Zeit das Vorbild für deutsche Römerromane geworden. Die anziehendste Frauengestalt dieses Romans ist die blinde Thessalierin Nydia, mit ihrer rührenden Liebe zu Glaucus. C. von Bodenhausen führt uns in seinem Bilde dies anmutige Blumenmädchen vor, wie es das Haus des Glaucus verläßt. Der Dichter selbst schildert uns das Mädchen in gar anmutender Weise. Sie war einfach, in eine weiße Tunika gekleidet, welche von den Schultern bis zu den Knöcheln reichte; unter ihrem Arm trug sie ein Körbchen mit Blumen, ihre Züge waren etwas ausgeprägter, als ihren Jahren zukam; doch sie waren sanft und weiblich und, ohne an sich schön zu sein, wurden sie schön durch die Schönheit ihres Ausdrucks; es war etwas unsagbar Edles, still Duldendes darin – etwas Sorgenvolles, Verzichtendes, und dadurch war wohl das Lächeln, doch nicht die süße Anmut von ihren Lippen verbannt; in ihrem Gang lag etwas Schüchternes und Zögerndes, in ihren Augen etwas Unstetes und das alles deutete auf das Leiden, das seit ihrer Geburt über sie verhängt war; sie war blind. Doch den Augen selbst merkte man es nicht an; ihr melancholisches und gedämpftes Licht war klar, wolkenlos und heiter. Doch der Maler zeigt uns das geschlossene Auge, die ganz in sich versunkene Seele. Und in der That, als Nydia das Haus des Glaucus verläßt, da ist sie in einer schmerzlichen verzweifelten Stimmung, dem Leben entfremdet, voll Todessehnsucht! Während der Abwesenheit ihres Herrn und Gebieters hat sie über den Garten und die Blumen gewacht; drei Tage sind verflossen seit seiner Rückkehr, drei sie tief beglückende Tage. Denn die Liebe zu ihm ist die ihr ganzes Leben beherrschende Empfindung. Und jetzt, nachdem er der Sklavin die Freiheit gegeben, schickt er sie fort zur Neapolitanerin Jone, der gefeierten Schönheit Pompejis, der sein Herz gehört – und sie soll dort für ihn sprechen und werben und sein Bild immer wach halten in der Seele des vielumworbenen Mädchens. Mit tiefer Wehmut scheidet sie von der Stätte, die ihrem Herzen so lieb geworden, im Herzen die Verzweiflung über eine Sendung, die von ihr das höchste Opfer verlangt! Als sie über die Schwelle des Hauses schreitet, bleibt sie noch einmal stehen und spricht leise für sich: „Drei glückliche Tage – Tage von unaussprechlichem Entzücken hab’ ich erlebt, seitdem ich dich überschritten, gesegnete Schwelle! Mag immer hier der Frieden herrschen, wenn ich gegangen bin! Mein Herz reißt sich von dir los – und es hat für mich kein anderes Wort als – den Tod!“ Das ist die Stimmung des Bildes. Mit künstlerischer Freiheit hat der Maler des Dichters Schilderungen gestaltet. Und wir sind überzeugt, daß das rührend schöne Bild manche unserer Leser und Leserinnen bestimmen wird, zu Bulwers interessantem Roman zu greifen und die Schicksale des blinden Blumenmädchens nachzulesen, welches, nachdem es Glaucus und Jone aus dem verwüstenden Aschenregen gerettet, unfähig, länger Zeugin zu sein des jetzt gesicherten Glückes, das die Liebenden genießen, sich vom Bord des Schiffes in die See stürzt.

Auf der Parforcejagd. (Zu dem Bilde S. 13.) Die ältesten Jagden, die uns Sage und Dichtung überliefert hat, waren Parforcejagden, und der alte Döbel glaubt sogar, daß der alte Nimrod der Erfinder derselben gewesen sei. Jarl Iron von Brandenburg jagt in der altnordischen Wilkinasage mit seinen Rittern zu Pferde im Walslönguwalde den Ur und fast genau dieselbe Jagd wird uns auch im Amelungenliede erzählt. Nach ganz bestimmten Weidmannsregeln wurde die Parforcejagd aber erst in „Tristan und Isolde“ abgehalten. Gottfried von Straßburg muß ein „gerechter“ Jäger gewesen sein, sonst würde er uns in seinem Epos nicht alle Bräuche, die zu seiner Zeit, zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, bei solchen Jagden üblich waren, bis in die kleinsten Einzelheiten erzählt haben, und daß das, was er schrieb, keine Phantasien waren, ist daraus ersichtlich, daß diese Jagden fünf Jahrhunderte später noch fast ebenso ausgeführt wurden wie zu jener frühen Zeit. In Deutschland wurde die Parforcejagd erst während der Regierung Ludwigs XIV. aus Frankreich eingeführt, sie wird deshalb auch die „französische“ genannt und ebenso sind die Jagdausdrücke bei derselben die französischen geblieben.

Das Bild „Auf der Parforcejagd“ versetzt uns anderthalb Jahrhunderte zurück in die Blütezeit der Jagdart in Deutschland. Lassen wir einmal eine solche im Geiste an uns vorüberziehen. Ein Jäger hat früh morgens mit dem Leithunde, einer heute ausgestorbenen Rasse, den „jagdbaren“ Hirsch, der zehn oder mehr Enden trägt, „bestätigt“. Der Hund fällt jede Hirschfährte an und der Jäger erkennt aus der Größe derselben die Stärke des Geweihes. Ist der Hirsch genügend stark, so wird die Dickung „umschlagen“ (d. h. umgangen), um festzustellen, ob er stehen geblieben ist. Wenn es der Fall, so ist er „bestätigt“, wenn nicht, so wird die zweite oder dritte Dickung, in welche er getreten ist, mit dem Leithunde umzogen. Vor Beginn der Jagd werden an bestimmten Stellen des Forstes, von denen man erfahrungsmäßig weiß, daß der Hirsch, wenn er gejagt wird, an ihnen vorüber zu wechseln pflegt, „Relais“ gelegt (früher: „Warten gesetzt“), d. h. frische Hunde und frische Pferde aufgestellt, und wenn dann die Herrschaften, Herren und Damen, erscheinen, kann die Jagd beginnen.

[20] Zunächst wird der Hirsch mit dem Leithunde, welcher am Leitseil der Fährte folgt, aus der Dickung „lanciert“, dann auf der Stelle, wo er über die Bahn fällt, die Meute zur Fährte gelegt, die mit hellem Geläute den Hirsch jagt und so sicher seine Fährte hält, daß sie selbst dann, wenn der „Anjagdhirsch“ zwischen ein Rudel anderer Hirsche kommt, seine Fährte zwischen denen der anderen kennt und ihr folgt, wenn er sich wieder vom Rudel abschlägt. Kommt die Jagd bei einem „Relais“ vorbei, so werden schnell frische Pferde bestiegen und frische Hunde zur Fährte gelegt, und weiter geht es im sausenden Galopp durch Dick und Dünn – kein Feld hält die Jagd auf, kein Fluß, kein See – bis endlich sich der Hirsch den Hunden stellt, „Halali“ ist und ihm der vornehmste Jäger den Fang giebt oder ihn mit der Büchse durch den Kopf schießt. Dann wird curée gemacht, d. h. der Hirsch „zerwirkt“, „zerlegt“, das in kleine Stücke zerschnittene „Wildpret“ auf die Decke des Hirsches gelegt und schließlich den Hunden zum Fressen überlassen.

In der Franzosenzeit, wo Deutschland verarmte, ist diese kostspielige Jagdart aus unserem Vaterlande verschwunden, in neuerer Zeit aber wieder eingeführt, wenn auch in etwas veränderter Form. Die heutigen Parforcejagden unterscheiden sich von den früheren hauptsächlich dadurch, daß Hirsch oder Sau nicht „bestätigt“, sondern an einer für die Jagd günstigen Stelle ausgesetzt wird. Auch sind die Hunde heute rascher oder das „Kastenwild“ langsamer als damals, denn während früher der Hirsch im Frühjahr 3½, im Herbst aber 4 Stunden „ausdauerte“, wird er heute meistens in einer Stunde oder noch früher „Halali“. Die bekanntesten Meuten sind heute die Königliche in Potsdam, die der Hannoverschen Offizierreitschule und die des Offizierskorps in Paderborn, dessen Jagdfeld die „Senne“ ist. Karl Brandt.     

Fenstervorhänge für Arbeitszimmer. Wir wählen mit Vorliebe sonnig gelegene Wohnungen, aber auch die wohlthätige Sonne hat ihre Schattenseiten; fallen ihre Strahlen auf den Arbeitstisch, so blendet uns das grelle Licht und wir müssen dasselbe durch Vorhänge dämpfen. Die Beschaffenheit des Stoffes, aus dem die Vorhänge bestehen, ist aber dabei durchaus nicht gleichgültig. Läßt derselbe zu wenig Licht durch, so wird es auf dem Arbeitsplatze zu dunkel und das Auge leidet unter ungenügender Beleuchtung. Woraus sollen wir nun Fenstervorhänge für unsre Arbeitszimmer anfertigen, um den Anforderungen der Hygieine zu genügen? Diese Frage wurde neuerdings durch Untersuchungen von Professor Herm. Cohn und Dr. B. Jungmann beantwortet, welche eine Reihe von Vorhängen für Schulzwecke einer genauen Prüfung unterwarfen. Es zeigte sich dabei, daß weißer, feinfädiger Schirting, écru- oder crêmefarbiger Köper und weißer Dowlas von allen untersuchten Stoffen das meiste Licht durchlassen. Der Preis dieser Stoffe ist gering, beträgt etwa 80 bis 90 Pfennige für einen Meter. Prof. Cohn empfahl auf dem hygieinischen Kongresse zu Budapest, aus diesen Stoffen Fenstervorhänge für Schulen anfertigen zu lassen. Diesen hygieinischen Wink sollte man auch bei Ausstattung des Arbeitszimmers im Hause sowie in Geschäftsräumen beachten. *      

Der spröde Freund.
Nach einem Gemälde von C. Reichert.

Ein günstiger Augenblick. (Zu dem Bilde S. 17.) Sie haben es lange von sich gewußt, daß sie einander gut sind von Herzensgrund. Aber der Gesellschaft strenger Zwang, der auch auf einem Waldspaziergang seine Herrscherrechte geltend macht, hielt sie im Banne und setzte ihre gegenseitige Sehnsucht auf die schmale Kost verstohlener Liebesblicke und jener zarten Aufmerksamkeiten, die vor Zeugen zur Not noch als harmlos durchgehen. Da bringt ihnen der Heimweg Erlösung, den sie doch beide als den Anfang vom Ende des schönen Tages soweit wie möglich hinausgewünscht hatten. Man kennt sie ja, die heimlichen Listen zweier Liebesleute. Da wird mit dem und jenem geplaudert, harmlos scheinbar und so recht angelegentlich, und doch behält eins das andere scharf im Auge – und mit einmal, ehe man sich dessen versieht, sind die beiden am Ende des Zuges, ein kleines Mädchen als letzte Ehrendame. Da, eine Biegung des Wegs. Arglos pilgert die Kleine weiter, hinter den Zweigen des Busches aber sinken die Liebenden sich in die Arme, in langem innigen Kusse ihrer Herzen offenes Geheimnis zu besiegeln. Durch das Waldthal wandern ahnungslos die guten Verwandten und Freunde, wohl etwas müde im Geist von den genossenen Freuden des „angenehmen Nachmittags“. Oder sollte ihre auffällige Unaufmerksamkeit doch nicht ganz ohne tiefere Absicht gewesen sein?

Der „Gartenlaube-Walzer“ von Johann Strauß, welcher diese erste Nummer des neuen Jahrgangs der „Gartenlaube“ als Extra-Beilage begleitet, wird in seiner anmutvollen Melodienfrische nicht nur all den vielen Leserinnen und Lesern willkommen sein, welche nach Strauß’scher Musik gern Walzer tanzen. Denn auch wer selbst nicht Klavier spielt und am Tanz nur noch als Zuschauer teilnimmt, wird das heitere Musikstück als Geschenk für musikalische Freunde gern willkommen heißen, und ihm selbst wird das Wort „ein neuer Walzer von Strauß“ liebe Erinnerungen heraufbeschwören an holdes Jugendglück und goldne Träume, wo frohes Entzücken der Seele sein klingend Echo fand in Walzertönen von Johann Strauß. Wie groß die Gemeinde derer ist, die den genialen Wiener Musiker als den Schöpfer unserer schönsten Walzermelodien verehren, ist vor kurzem erst, im letzten Herbst, so recht zu Tage getreten, als derselbe das Jubiläum beging, dessen fröhliche Feststimmung in dem neuen Walzer nachklingt. Auf sein reiches Schaffen, das so unzählige Herzen froh gemacht hat, als Jubilar zurückschauend, mußte den Komponisten die frohe Vorstellung überkommen, welch’ innigen Zusammenhang seine Kunst mit den festlichsten Stunden unseres Familienlebens hat. Wie viel Verlobungen kamen nicht zustande unter dem Zauber seiner Melodien! Ist doch der Walzer von allen deutschen Gesellschaftstänzen derjenige, dessen Wesen am unmittelbarsten Poesie atmet, und der Tanz in unserem Gesellschaftsleben diejenige Macht, die am leichtesten die Herzen erschließt und die Träume von Liebesglück der Verwirklichung nähert.

Unsere Kunstbeilage. Sind sie nicht allerliebst, die zierlichen Backfischchen, wie sie sommerlich angezogen und leichtfüßig unter den Bäumen daherkommen? Sogar die gestrenge Vorsteherin kann den mütterlichen Stolz nicht ganz hinter der Autoritätsmiene verbergen, mit welcher sie eine Schlechtgelaunte unter ihrer kleinen Schar zu größerer Freundlichkeit ermahnt. Umsonst – der kleine beleidigte Trotzkopf schleicht düster hinter den schwatzenden andern drein, die natürlich wieder thun, als ob sie nicht auf der Welt wäre! Sie möchte auch am liebsten nicht mehr darauf sein, denn sie hat jetzt, seit Klärchen und Eugenie so intim miteinander thun, die Falschheit aller Freundschaft erkannt, und an dem Uebrigen ist ja überhaupt nichts gelegen! … Fern von solchen Gedanken schreiten die beiden „Großen“ an der Spitze des Zuges, mit bereits damenhafter Sicherheit das Kreuzfeuer männlicher Blicke passierend.

„Der Jahrgang wird gut,“ sagt schmunzelnd der Aeltere, „Tausend noch einmal, was giebt das für nette Mädels! Da habt Ihr Aussichten, Ihr Junggesellen!“ – Und der Jüngere macht ein keineswegs ablehnendes Gesicht zu dem Lobe. Offenbar wünscht der Maler des hübschen Bildes auch den Beschauer für die gleiche Ansicht zu gewinnen, und wir werden ihm wohl das Zeugnis nicht versagen, daß ihm dies vollständig geglückt ist! Bn.     


manicula 0Hierzu Kunstbeilage I: „Spaziergang des Pensionats.“ Von B. Hohlfeld; und die Extra-Beilage:
„Gartenlaube-Walzer.“ Für Klavier. Von Johann Strauß.

Inhalt: Buen Retiro. Von Marie Bernhard. S. 1. – Willkommen! Bild. S. 1. – Die letzten Goten. Bild. S. 4 und 5. – Die „Behauptungen“ der Damen. Von Cornelius Gurlitt. S. 8. Mit Abbildungen S. 8, 10 und 11. – Nydia. Bild. S. 9. – Um eine Kleinigkeit. Novelle von Jassy Torrund. S. 12. – Auf der Parforcejagd. Bild. S. 13. – Kopfschmerzen. Von Dr. H. Schaefer. S. 16. – Ein günstiger Augenblick. Bild. S. 17. – Blätter und Blüten: Die „letzten Goten“. S. 19. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) – Nydia. S. 19. (Zu dem Bilde S. 9.) – Auf der Parforcejagd. S. 19. (Zu dem Bilde S. 13.) – Fenstervorhänge für Arbeitszimmer. S. 20. – Ein günstiger Augenblick. S. 20. (Zu dem Bilde S. 17.) – Der „Gartenlaube-Walzer“ von Johann Stranß. S. 20. (Zur Extra-Beilage.) – Unsere Kunstbeilage. S. 20. – Der spröde Freund. Bild. S. 20.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Bei dem Ernst, den das Kapitel der Damenhüte für jeden wirtschaftlich veranlagten Familienvater hat, dürfte es gut sein, die kulturhistorische Behandlung desselben mit einigem Humor anzufassen. Statt unsere Abbildungen von allerhand weiblichen Kopfbedeckungen, welche die Kultur und Mode in den verschiedensten Zeiten und Völkern aufgebracht hat, mit einem trockenen Kommentar zu erläutern, haben wir ihnen die interessanten allgemeinen Ausführungen mit auf den Weg gegeben, zu welchen sie den geistvollen Verfasser veranlaßten.Die Red.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: …, die Handunterricht genießen, nicht in gleicher Weise … ; vergl.: Zentralblatt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und gerichtliche Psychopathologie, Band 9.1886, S. 351, Google.