Die Gartenlaube (1895)/Heft 2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[21]

Nr. 2.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.





Meiner Mutter.

Wenn wir den ganzen Nachmittag
Umhergetollt in Wald und Flur,
Bis spät uns rief mit dumpfem Schlag
Nach Haus die alte Kirchturmuhr,

5
Dann zogen „Räuber und Gendarm“

Mit übermütigem Gesang,
In schönster Eintracht Arm in Arm
Dem Städtchen zu, den Wald entlang.

Da ragte wohl am Wegessaum

10
Und drohte manche Schreckgestalt,

Vor manchem alten Weidenbaum
Wie überlief’s uns heiß und kalt!
Im Nebel auf der Wiese kroch
Manch fabelhaftes Ungetier:

15
Wir wagten kaum zu atmen noch,

Doch um so lauter sangen wir.

Erst wenn ich unser Haus erreicht
Und in die Stube trat hinein,
Dann ward die bange Brust mir leicht

20
Bei Deiner Lampe trautem Schein.

Im Sorgenstuhle saßest Du,
Ich schmiegte mich an Deine Knie,
Und lauschend fand ich süße Ruh’
In Deiner Märchen Poesie.

25
Und wenn im Bettlein dann und wann

Im Dunkeln mich befiel die Angst,
Wie froh ward ich, wenn nebenan
Ein frommes Abendlied Du sangst,
Dann fühlt’ ich durch den dunkeln Raum

30
Den Atem Deiner Liebe wehn

Und einen Engel sah im Traum
Ich neben meinem Lager stehn. -

Das ist nun alles längst dahin;
Zerstoben ist der Knabenschwarm,

35
Und mit viel größern Räubern bin

Gegangen ich schon Arm in Arm.
Im Nebel sich mein Weg verlor,
Und wenn mein Auge rückwärts schaut,
Ragt manche Schreckgestalt empor

40
Am Straßenrand, vor der mir graut.


Dir, meine Mutter, hat die Zeit
Des Fabulierens Lust geraubt,
Und Deine Märchenherrlichkeit
Mit Alltagssorgen schnöd’ bestaubt,

45
Doch ob sie in Dein Angesicht

Auch ihre bösen Furchen schrieb,
Dein Mutterherz bezwang sie nicht
Und Deine treue Liebe blieb!

Und, Mutter, ob Du auch schon längst

50
Die alten Lieder nicht mehr singst

Und auch kein Märchen mehr erdenkst,
Ich weiß, daß Du mir Frieden bringst:
Die Angst, die Reue läßt mich los,
Ich werde wieder rein und gut,

55
Sobald wie einst in Deinem Schoß,

An Deiner Brust mein Antlitz ruht.

  Wilhelm Langewiesche.


[22]

Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.

     (1. Fortsetzung.)

Als Röder sich dem Tisch näherte, auf welchen Ewert die Postsachen niedergelegt hatte, sonderte Mamsellchen gerade mit spitzem Finger ein zierliches Briefchen von elfenbeinweißem dicken Papier mit Goldrand aus den übrigen Papieren heraus und reichte es ihrem Herrn, ohne ein Wort dazu zu sprechen. Desto mehr sprachen ihre Augen.

„Was ist das?“ fragte er gleichgültig.

„Ja, was ist das?“ wiederholte sie. „Das müssen Sie doch wissen! Etwas Weibliches ist’s, soviel ist klar.“

„Wirklich?“ Er hob das Briefchen nahe zu seinen Augen empor und sah sich die zierliche Damenhandschrift genau an. „Wer kann mir denn zu schreiben haben?“

„Das müssen Sie doch wissen!“ beharrte sie. „Was geht es mich auch an – – – bloß weil Sie neulich sagten, Sie hätten keine Damenkorrespondenzen – und früher sprachen Sie doch eigentlich immer die Wahrheit!“

„Das thu’ ich eigentlich auch heute noch,“ unterbrach er sie lachend. „Und ich weiß in vollem Ernste nicht – Poststempel Bremen – bleib’ nur hier, Mamsellchen, wir wollen das Geheimnis zusammen lösen!“

„Na, es schickt sich nun zwar gar nicht“ – dabei hob sich die kleine Alte in brennender Neugier auf den Fußspitzen empor und reckte die Nase hoch, um besser zu sehen.

Röder riß den Umschlag auf; vier eng beschriebene Seiten. „Gabriele Hartmann“ – er las sich selbst kopfschüttelnd die Unterschrift vor – „kenn’ ich nicht, hab’ ich nie gehört!“

Mamsellchen beobachtete ihren Doktor scharf und mit durchbohrendem Blick, wie ein Kriminalpolizist sein Opfer. Sie kannte sich aus in seinem Gesicht, aber sie durfte zufrieden sein, – er war wirklich ratlos, völlig ratlos.

Mit einem abermaligen Kopfschütteln setzte er sich in seinen Lehnstuhl und begann zu lesen. Mamsellchen, deren Anwesenheit er ganz vergessen zu haben schien, las mit, immer mehr, auf den Fußspitzen stehend, den Hals so lang machend wie irgend möglich.

 „Sehr geehrter Herr Doktor!
Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, werden kaum mehr als den Namen des Kindes wissen, das vor nun fast neun Jahren, da Sie meine liebe verstorbene Mutter besuchten, scheu und still durch die Zimmer huschte und auf all Ihre freundlichen Fragen nur einsilbige schüchterne Antworten hatte. Dennoch weiß ich jede Einzelheit aus der kurzen Zeit, die Sie damals bei uns zubrachten, ganz genau. Hatte doch meine Mutter oft Ihren Namen genannt, jedesmal mit dem Zusatze, der Träger dieses Namens sei der beste, liebste Freund, den sie auf der weiten Welt besäße, ein Freund, so treu und zuverlässig, daß sie jederzeit fest auf ihn und seine Hilfe bauen könne, der einzige Mensch, von dem sie selbst Wohlthaten annehmen würde, da sie wisse, in welchem Sinn und Geist er sie ihr erwiese.

Solche Worte meiner Mutter, die ich als ausnehmend stolz und zurückhaltend kannte, von der ich wußte, daß sie namhafte Unterstützungen, die man ihr angeboten, ohne weiteres zurückgewiesen hatte, weil die Art und Weise, wie man dies that, ihr empfindliches Zartgefühl verletzten – solche Worte, sage ich, blieben nicht ohne Eindruck auf mich, die ich, als einzige Vertraute meiner Mutter, ein frühreifes Kind genannt werden konnte. Und als Sie dann selbst in unser Haus kamen, ich Sie sah und sprechen hörte, da wurde dieser Eindruck in mir bedeutend verstärkt. Ich hatte früher willig alles Gute von Ihnen geglaubt, weil es meine Mutter war, die es mir sagte; fortan glaubte ich es, weil ich aus eigener Beobachtung auf die Wahrheit des Gesprochenen schwören zu können meinte.

Als dann meine Mutter starb, da ich kaum siebzehn Jahre zählte, wurde es mir nicht schwer, ihr das Versprechen zu geben, das sie mir abforderte: das Versprechen, in Ihnen, geehrter Herr Doktor, meinen besten Freund und Berater zu sehen und mich in jeder Bedrängnis meines Lebens an Sie zu wenden.

Fürs erste war dies nicht notwendig. Ein Vetter meines verstorbenen Vaters, der mein Vormund wurde, nahm mich in sein Haus und verwandte den Rest meines kleinen Vermögens auf meine Ausbildung. Ich hatte es gut in jenem Hause, und als nach kaum zwei Jahren mein Gatte um mich warb, bin ich ihm willig gefolgt und man hat mich ihm willig gegeben.

Seit länger als einem vollen Jahr bin ich Witwe. Eine schwere Typhusseuche raffte meinen Mann dahin, und bei seiner Pflege ergriff die Krankheit auch mich und warf mich monatelang danieder. Hier nun, in der fremden Stadt, auf fremde Hilfe angewiesen – mein Vormund ist schon seit längerer Zeit gestorben – körperlich und seelisch todesmatt, weiß ich mir nicht anders zu helfen, als indem ich mich der oft wiederholten Worte meiner Mutter erinnere. Ich glaube, mich dafür verbürgen zu können, daß ich Ihre thatkräftige Hilfe, verehrter Freund – darf ich Sie so nennen? – nicht lange in Anspruch nehmen werde. Ich bin jung, bin niemals außer jener einen ernsten Krankheit leidend gewesen, ich habe den ernstlichen Willen, zu arbeiten, mir weiter durchs Leben zu helfen, sobald der jetzige Zustand körperlicher Schwäche und moralischer Mutlosigkeit überwunden ist. Wollen Sie es daraufhin eine Zeit lang, sagen wir bis zum Herbst, mit der Tochter Ihrer einstigen Pflegeschwester wagen? Ich habe an den Bankier geschrieben, den Sie meiner Mutter vor dem Antritt Ihrer großen Reise nannten, und er hat mir Ihre Adresse sowie die Thatsache mitgeteilt, daß Sie dauernd in Deutschland zu leben gedächten und sich zu diesem Zweck eine Villa nahe bei G. gekauft hätten. Wollen und können Sie mich dort für einige Monate bei sich aufnehmen, damit ich in Ruhe Kräfte sammeln und Schritte zur Begründung einer neuen Existenz thun kann, oder ziehen Sie es vor, mich an einem andern Ort unterzubringen? Jede Form, die Sie wählen, ist mir recht, zumal mein Leiden allgemeiner Art ist und keiner besonderen Heilmethode, nur der Ruhe und Schonung bedarf.

Was Sie, verehrter Herr Doktor, für mich thun, das geschieht meiner Mutter zuliebe, und in ihrem Namen dankt Ihnen heute schon
 Ihre Ihnen warm ergebene
 Gabriele Hartmann.“

Doktor Röder war längst mit seiner Lektüre zu Ende, und noch immer starrte er ganz tiefsinnig auf das Briefblatt in seiner Hand. Zuletzt ließ er es sinken und sah Mamsellchen an. Mamsellchen sah ihn wieder an. Keines von beiden sprach ein Wort.

„Hast Du alles gelesen?“ fragte der Hausherr endlich.

Die Alte nickte ein wenig schuldbewußt.

„Und – und – was meinst Du?“

Sie zog die Augenbrauen noch höher als gewöhnlich. „Ich? Was hab’ ich zu meinen? Hat sie an mich geschrieben? Hat sie mich um irgend ’was gebeten? Hab’ ich ’ne Villa und Geld?“

„Schon wahr!“ Der Doktor zog seinen langen weichen Schnurrbart durch die Finger und drehte ihn fadendünn aus. „Uebrigens, es versteht sich ja von selbst, daß ich sie zu mir kommen lasse – Margots Tochter! Du besinnst Dich auf Margot, Mamsellchen?“

„Gott, bin ich denn ohne Sinn und Verstand? Ich und unsere Margot nicht kennen – wo ich geschlagene zwölf Jahre mit ihr in ein und demselben Haus gewesen bin. War ein lustiges liebes Dingelchen, bildhübsch – wie sah denn dazumal die Tochter aus und wie alt war sie?“

„Ja, wie sah sie aus?“ Röder rieb sich die Stirn mit dem Zeigefinger, als könnte das sein Gedächtnis auffrischen. „Wenn ich nur wüßte – ich schäme mich förmlich vor Dir und vor mir selber, aber ich habe gar keine Erinnerung mehr an das Kind. Ich wußte nicht einmal mehr, daß es Gabriele hieß. Ich hatte damals nur Interesse für Margot, war um ihretwillen nach Brüssel gereist, und die Kleine – blaß war sie und scheu, ganz unähnlich ihrer Mutter – so zwischen zwölf und vierzehn Jahren kann Gabriele gewesen sein, sie muß also sehr jung geheiratet haben, ebenso wie ihre Mutter – und so früh Witwe geworden! Aber es macht mich glücklich, sehr glücklich, daß sie gerade an mich denkt, sich an mich wendet – selbstverständlich nehme ich sie zu mir.“

„So?“ Mamsellchen zog die Silbe endlos lang aus.

„Nun, natürlich, was dachtest Du denn?“

„Ich? Was soll ich wohl denken? Und wenn ich mir ‘was denk‘, das ist denn doch ohne Bedeutung!“

„Hin! Und welche Zimmer meinst Du? Natürlich die besten im ersten Stock. Ich denke das dunkelrote als Wohnzimmer und das kleinere daneben. Die haben den schönsten Blick über Garten und Wald.“

„Ja, den haben sie!“

[23] „Und Du mußt sie schön pflegen, mit dem Besten, was Du hast. Sie ist ja keine Schwerkranke, nur erholungsbedürftig – die schönste Luft hat sie hier und Bewegung im Freien, soviel sie nur will. Zur Stadt kann sie auch, sobald sie Verlangen danach hat – es paßt ja alles vortrefflich, ganz vortrefflich!“

Er redete sich das selber vor, um sich ernstlich davon zu überzeugen. Daß Mamsellchen kein Wort weiter sprach, beachtete er nicht. Ihr Inneres wurde von geteilten Empfindungen bewegt. Sie hatte Margot sehr lieb gehabt, war äußerst gutherzig und hatte inniges Mitgefühl mit allen Schwachen und Notleidenden, und nun gar Margots Tochter! Anderseits schwebte sie in ewiger Angst, man könnte ihrem Doktor Fallstricke legen und ihn zu einer unglücklichen Heirat zwingen. Sie liebte ihn abgöttisch, und die beste, schönste klügste Frau war ihr gerade gut genug für ihn. Aber wo diese beste, schönste und klügste finden? Mamsellchen hatte keine sehr günstige Meinung von ihrem eigenen Geschlecht. Ihres Doktors Mutter, ja, das war eine prächtige Frau gewesen, aber alles, was zum Hause Röder gehörte, stellte für sie eine Ausnahme dar. Auf ihren späteren Haushälterinnenstellen hatte sie viele Frauen beobachten können, junge und alte, schöne und häßliche, kluge und einfältige – sie schienen ihr allesamt nicht viel wert zu sein, und der Gedanke, ihr Liebling könnte in die Netze solch einer Persönlichkeit fallen, preßte ihr das Herz vor Angst zusammen. Und da er nun schon über fünfundvierzig Jahre alt geworden war, ohne geheiratet zu haben … wo lag die Notwendigkeit, daß er überhaupt heiratete? Konnten sie nicht beide, Mamsellchen und ihr Doktor, ihr Leben gemeinsam beschließen, zwei würdige Vertreter des ledigen Standes? Ehe sich das Entsetzliche zutrug, daß er eine von den gewöhnlichen Frauen bekam, wie sie zu Tausenden in der Welt umherlaufen, lieber mochte es gar keine sein! Und nun hier in „Buen Retiro“, wo sie bisher weiblicher Premierminister gewesen war und gehofft hatte, es zu bleiben, hier sollte nun eine fremde junge Dame schalten und walten? Denn, daran war kein Zweifel, ihr Herr, der so überaus höflich und liebenswürdig mit Damen war, würde sie schalten und walten lassen. Ueberdies war sie Margots Tochter! Sie konnte die Villa von oben nach unten umkehren, er würde es dulden, und sie, seine alte und treue Freundin, mußte es hinnehmen, ohne zu murren. Durfte sie ihrem Herrn Vorschriften machen, wen er einladen sollte und wie er sich zu verhalten hatte? Sie war und blieb eine Untergebene und hatte sich zu fügen!

Es zuckte ihr um die Lippen, als wenn sie weinen wollte. Aber nein, das durfte sie nicht, was sollte der Doktor davon denken? Lieber stahl sie sich leise fort – er war so ganz in seine Gedanken vertieft, er würde nichts davon merken.

Und wirklich, er merkte nichts, weder den leisen Schritt, der wegschlich, noch das vorsichtige Oeffnen und Schließen der Thür. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er da und sann und sann. Wie seltsam sich doch im Leben alles fügte! Margots Tochter, Margots Kind! Seine ganze Jugend stand wieder vor ihm auf; er sah sich als einzigen Sohn im Vaterhause, sah seine Eltern in der hübschen altmodischen Wohnstube beisammen sitzen, sah sich in Wald und Feld umherstreifen, zu Fuß und zu Pferde, und überall war eine helle reizende Mädchengestalt dabei, die er brüderlich warm geliebt und geneckt und gescholten hatte.

Hastig schloß er ein Schubfach seines Arbeitstisches auf und nahm Margots Photographie heraus. So war sie als junges Mädchen gewesen, er entsann sich jedes Zuges, sogar des Kleides, das sie auf dem Bilde trug! Und hier, das war wieder Margot, in einem kostbaren, leichten Gewande, tief in einen Schaukelstuhl zurückgelehnt, einen riesigen, langhaarigen Hund zu ihren Füßen. Das Bild hatte sie ihm aus Batavia geschickt. Eine schöne Frau, aber im Ausdruck verändert! Ob Gabriele ihr jetzt wohl ähnlich sah? Auch von ihr besaß er eine Photographie, sie saß auf dem Schoß einer häßlichen braunen Mulattin, ein zierliches lachendes Kindchen von zwei bis drei Jahren. Er mußte wehmütig lächeln, als er daran dachte, daß das kleine Geschöpf von damals jetzt schon Witwe war. Ja, ja, er war sehr alt geworden. Nie kam ihm das so zum Bewußtsein, als wenn er in alten Papieren und Photographien kramte. Hier seine Eltern, Max Herzog, sein Jugendfreund – wie hatte der Margot geliebt und betrauert! Und hier, dies feine dunkle Gesichtchen mit den südländisch funkelnden klugen – Zigeuneraugen hatte er sie immer genannt – das war Asta, die er einst so heißgeliebt! Vorüber, vorüber!

Ja so, er sollte schreiben, sollte Margots Tochter antworten! Hastig holte er seine Briefmappe hervor. Aber wie sie anreden? „Gnädige Frau“ – das klang steif und erzwungen, „Liebe Gabriele“ – das war wieder zu vertraulich. Endlich entschloß er sich, sie „Meine liebe junge Freundin“ zu nennen, und in kurzen und herzlichen Worten sprach er ihr seine Freude aus, daß sie sich seiner erinnert habe, gedachte Margots mit brüderlicher Wärme und betonte, daß ihre Tochter jederzeit über alles verfügen und alles mit ihm teilen könne, was sein sei.

Der Brief wurde rasch geschlossen und Ewert herbeigeklingelt, um ihn zu befördern. Dann nahm der Doktor seine wissenschaftlichen Arbeiten vor, schrieb ein paar Zeilen und war unzufrieden damit, schlug einen spannenden modernen Roman auf und fing an zu lesen, fand, daß das Wetter viel zu schön sei, um im Zimmer zu sitzen, steckte sich eine Cigarette an und ging in den Garten hinaus.

Wie friedlich und freundlich seine Villa dalag! Er hatte sich glücklich in ihrem Besitz gefühlt, wie glücklich, das sagte er sich jetzt mit zehnfachem Bewußtsein, da es nun für eine Zeit lang vorbei war mit seiner ungebundenen Lebensweise. Denn die junge Frau würde seine Gesellschaft, seine Unterhaltung beanspruchen, sie würde auch oft zur Stadt wollen, und er mußte sie begleiten. Er seufzte und schalt sich selbst dafür aus, daß er seufzte. Er that es doch gern für Margots Tochter! Oder nicht? Er hätte sie ja dann in irgend ein Bad, einen hübschen Luftkurort schicken können, aber wie fremd und selbstsüchtig hätte das ausgesehen, so, als wollte er die Sorge um sie los sein. Gewiß, er that es gern, nur jetzt, da er sich eben seines neuen Besitzes, seines Stilllebens recht erfreuen wollte … pfui, welch’ ein Egoist er war! Ein richtiger alter Junggesell, und er hatte sich immer vorgenommen, keiner zu werden.

Der süße Narzissenduft stieg von den Beeten zu ihm auf, auch die Blume an seiner Brust hauchte einen lieblichen Odem aus. Er konnte später nie mehr eine Narzisse sehen oder ihren Duft einatmen, ohne an diesen Abend, ohne an den Namen Gabriele erinnert zu werden.




4.

Die nächsten Tage brachten Regen und Sturm, die Blüten wurden von den Bäumen geworfen, die Blumenbeete zerwühlt, die Büsche unbarmherzig gezaust. „Buen Retiro“ stand trübselig da im grauen Zwielicht, und sein Eigentümer bedauerte, daß es sich nicht besser ausnahm, und vergrub sich hinter Büchern und Zeitschriften. Mamsellchen richtete die beiden oberen Zimmer hübsch und zierlich ein, es fehlte noch dies und jenes dazu, was aus der Stadt verschrieben werden mußte, und der Doktor gab zwei schöne Kupferstiche aus seinem Arbeitszimmer her, um der leidenden jungen Frau doch eine Augenweide zu gönnen.

Mamsellchen war stiller als sonst und wenig zum Scherzen aufgelegt, ihrem Herrn aber fiel das weiter nicht auf, denn ihm ging es ähnlich. Die neue Hausgenossin beschäftigte die Gedanken beider. Es vergingen aber viele Tage, ohne daß sie etwas von sich hören ließ. An einem stillen Abend endlich – es war gerade der letzte Mai – schob Mamsellchen mit einem bedeutungsvollen Blick wiederum ein elfenbeinfarbenes goldgerändertes Briefchen auf den Arbeitstisch ihres Herrn und blieb in wartender Haltung daneben stehen.

Es waren nur wenige Zeilen. Die Schreiberin sprach in einfachen Worten, ohne jede Ueberschwenglichkeit, ihren Dank aus und kündigte ihre Ankunft auf übernächsten Abend an.

„Das ist ja sehr schön, sehr schön!“ betonte Röder so nachdrücklich, als habe ihm jemand lebhaft widersprochen. „Hoffentlich bekommen wir dann endlich gutes Wetter. Den Weinvorrat habe ich nachgesehen und in Ordnung gefunden – es ist guter alter Bordeaux vorhanden, auch Sherry und ein hübscher leichter Rheinwein, das genügt wohl. Sogar ein paar Flaschen Sekt sind noch unten, ich kann mir aber nicht recht denken, daß Frau Gabriele danach dürsten wird. Die Speisekammer ist Deine Sache, liebe Alte – Du weißt, ich habe Dir alle Vollmacht gegeben; hast Du denn etwas Vernünftiges im Hause?“

Mamsellchen sah beleidigt aus. „Wenn Sie sich in die Vorratsstube bemühen und all die Konserven, die Marmeladen und Gelees ansehen wollen, soll’s mir lieb sein. Es sieht aus da drin, als ob wir ’n ganzes Regiment Einquartierung erwarteten, aber Sie haben es ja so gewollt!“

[24]

Er muß heraus!
Nach dem Gemälde von F. Simm.

[25] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [26] Der Doktor strich ihr begütigend über die Wange. „Zieh’ doch kein so bitterböses Gesicht, als ob Du damit all’ die guten Sachen ansäuern wolltest! Wir können unsern Gast doch nicht verhungern lassen!“

„Damit hat’s gute Wege! Ist außerdem nicht mein Gast!“

„Ich bitte mir’s aber aus, Mamsellchen, daß Du sehr liebenswürdig gegen meinen Gast bist!“

„Danach wird die Dame auch viel fragen!“

„Einerlei, ich frage danach, und wenn Du es Margots Andenken nicht zuliebe thust, dann thu’ es um meinetwillen!“

Sie murmelte etwas Undeutliches vor sich hin, dann sah sie kläglich zu ihm auf. „O Gott, wird das hier jetzt ein Leben sein! Unsere schönen stillen Tage –“

„Du hast mir doch selbst immer Abwechslung gewünscht!“

„Ja, aber doch nicht so eine! In die Stadt sollte mein Doktor und sich da amüsieren und oft Besuch kriegen und sich hübsche einladen lassen, aber nicht eine Dame zu sich ins Haus nehmen!“

„Hätte ich Margots Tochter etwa abweisen sollen?“

„Na, das sag’ ich nun gerad’ auch nicht! Sie sind der Herr, und was bin ich? Eine alte einfältige Frauensperson! Was weiß und versteh’ ich denn? Gar nichts weiß und versteh’ ich!“

Mit dieser bescheidenen Selbstkritik drückte sich Mamsellchen zur Thür hinaus. –

Die festgesetzte Stunde kam heran. In ihrem letzten Briefchen hatte die junge Frau gebeten, ihr Gastfreund möge sie nicht am Bahnhof empfangen. Er hatte ihren Wunsch erfüllt und ging jetzt unruhig im Vorgarten auf und nieder. Es war acht Uhr vorbei, ein stiller milder Abend, der Himmel ganz umwölkt, die Luft sehr weich und bedrückt. Wie betäubend süß die Narzissen dufteten! Doktor Röder sah zu den geöffneten Fenstern der Zimmer empor, die seinen Gast beherbergen sollten. Wie würde es sein, wenn dort, gerade über der goldenen Inschrift, ein junges weibliches Gesicht erscheinen würde!

Wagenrasseln, Peitschenknallen, näher und näher! Ewert, der auf Wache gestanden hatte, lief herbei und postierte sich in dienstlicher Haltung neben der Gitterpforte. Nun hielt der Wagen, und eine schlanke feine Frauengestalt, in einen grauseidenen Mantel gehüllt, stieg aus. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihr Gepäck, das Ewert dem Kutscher abladen half, und kam langsam auf die offenstehende Gitterpforte zu. Während des Gehens hob sie mit einer lässigen Bewegung die Hand und nahm den kleinen Halbschleier, der ihr Stirn und Augen bedeckte, vom Gesicht. Es sah aus, als kostete sie diese kurze Bewegung Mühe.

Doktor Röder war ihr hastig entgegengeschritten, viel schneller als es sonst seine Art war. Wie er jetzt dicht vor ihr stand, streckte er ihr die Hand entgegen, sie legte ruhig die ihrige, hinein und sah aus großen blaugrauen Augen mit einem schüchtern fragenden Blick zu ihm empor. Trotzdem sie groß war, hatte die ganze Erscheinung etwas zart Mädchenhaftes, fast Kindliches; das schmale Gesichtchen erschien rührend in seiner matten Blässe, der vorwiegende Ausdruck darin war der der Müdigkeit. Müde blickten die Augen, müde war die Haltung des Kopfes und der Zug um den Mund, und so umflort klang auch die Stimme, die leise „Grüß Gott!“ sagte.

„Grüß Gott!“ hatte auch Margot immer gesagt, sie liebte diesen Gruß vor allen andern und hatte ihn Wohl darum auch ihrer Tochter vererbt. Dies war aber das Einzige, was den Doktor für jetzt an Margot erinnerte.

„Herzlich Willkommen, meine liebe – mein liebes Kind!“

Er zögerte, wollte sie auf die Stirn küssen, unterließ es dann aber. Sie hatte in dieser ersten Minute bereits eine stark hervortretende Empfindung in ihm geweckt, das Mitleid! Sie sah sehr hilfsbedürftig aus, und er nahm sich vor, ihr beizustehen, so gut er’s irgend vermochte.

„Sie haben eine lange, beschwerliche Reise gehabt,“ meinte er bedauernd.

„Ja, sehr lang und anstrengend!“ Wieder diese tiefe Müdigkeit in Ton und Blick.

Ohne ein Wort weiter zu sagen, legte er ihren Arm leicht in den seinigen und führte sie dem Hause zu. An den zurückgeschobenen Glaswänden der Veranda war ein Laubgewinde befestigt, von dem in Blumenbuchstaben das Wort „Willkommen“ herabschaukelte.

Die junge Frau sah es und lächelte ein wenig, aber auch dies Lächeln war müde, als habe sie es verlernt, sich zu freuen.

„Es wird alles wieder gut werden!“ sagte Röder tröstend mehr zu sich selbst als zu seiner Begleiterin.

Ein Seufzer hob ihre Brust, sonst erwiderte sie nichts.

Aus einer Seitenthür huschte das Mamsellchen herbei, ganz Neugier und gespannte Erwartung. Wie sie die beiden Arm in Arm vor sich stehen sah, gingen die Augenbrauen ganz, ganz hoch empor.

„Das ist meine alte Getreue, von der ich Ihnen schon schrieb,“ stellte der Hausherr vor. „Und hier, Mamsellchen, ist Frau Hartmann, unserer Margot Tochter!“

„Aber mit der hat sie keine Aehnlichkeit, auch nicht eine Spur!“ meinte Mamsellchen, indem sie die dargebotene Hand der jungen Frau flüchtig drückte und ihr dabei unverwandt und spähend in die Augen sah. „Gott, wenn ich denke, wie die Margot aussah!“

Es lag keine sehr wohlwollende Kritik für die Tochter in diesem Ausruf. Der Doktor beeilte sich, die Scene zu beenden.

„Unser Gast ist sehr müde, möchtest Du ihm nicht die Zimmer oben zeigen? Wollen Sie zu Abend bei mir speisen, Frau Gabriele, oder in Ihren Zimmern?“

„Wenn ich für heute allein sein dürfte – nur eine Tasse Thee – ich bin so übermüdet –“

„Gewiß, aber gewiß! Alles, wie Sie wünschen! Auch mit dem Frühstück des Morgens – ich stehe ziemlich früh auf, weil sich’s dann am besten arbeitet – das darf aber Sie in keiner Weise beeinflussen! Mamsellchen wird auf Ihr Klingeln erscheinen oder Ihnen Ewert schicken, und Sie bestellen dann alles, wie Sie es wollen. Ich habe nur eine Bitte an Sie: sehen Sie ‚Buen Retiro‘ als Ihre Heimat an!“

Sie blickte ihn dankbar an und bewegte die Lippen, es war aber kein Wort zu hören. Es lag wie ein Schleier über ihrem ganzen Wesen. Hinter der Gruppe erschien Ewert mit einem schmalen Koffer, den er leicht auf der Schulter trug, und einem schwarzen Täschchen in der Hand.

„Ist das Ihr ganzes Gepäck?“ fragte Mamsellchen, während ihr Doktor mißbilligend dazu den Kopf schüttelte.

„Nein,“ erwiderte die Gefragte kurz, „es wird in einiger Zeit noch etwas Nachkommen!“ Sie wandte sich zu dem Hausherrn. „Darf ich Ihnen schon jetzt Gute Nacht sagen?“

„Gute Nacht – und gute Träume! Möchten die Penaten meines Hauses Ihnen wohlgesinnt sein!“

Er sah ihr nach, wie sie langsam, langsam, von Ewert begleitet, die Treppe hinanstieg und oben in ihrem Wohnzimmer verschwand.

„Was sind das: Penaten?“ fragte Mamsellchens Stimme neben ihm.

„Schutzgeister!“

„So – hm!, Na, möchten sie ihr doch das hochmütige Wesen austreiben! Das hat die Margot nicht gehabt!“

„Wie willst Du die junge Dame nach kaum fünf Minuten beurteilen? Wie kannst Du wissen, ob sie hochmütig ist?“

„Sie sieht doch so aus, um die Augen ’rum – und spricht so wenig, als wenn jedes Wort zum wenigsten zehn Mark kostete, und dann – haben Sie denn nicht gesehen, Doktor, wie sie immer auf mich herunter sah?“

Er mußte lächeln. „Wie sollte sie es denn anfangen, zu Dir emporzusehen, wenn sie mindestens anderthalb Köpfe größer ist, als Du?“

„Na, so viel wird es auch nicht gewesen sein! Morgen werd’ ich mich mit ihr messen!“

Das klang vieldeutig, und Röder mußte von neuem lächeln.

„Du wirst sehr höflich und gut zu ihr sein, das bitt’ ich mir aus!“

„Wie’s in den Wald hineinschallt, so schallt’s auch wieder heraus!“ meinte Mamsellchen philosophisch. Wenn ich bedenk’, wie reizend die Margot immer zu mir war – bei der war’s keine Kunst, gut zu sein!“

„Die hast Du auch aufwachsen sehen, die hast Du gekannt, als sie ein ganz kleines Mädchen war, das ist doch ein großer Unterschied! Von einer jungen Dame, die Du zum erstenmal in Deinem Leben siehst, kannst Du unmöglich die gleiche Herzlichkeit verlangen.“

Diese Bemerkung schien Mamsellchen, die mit Vorliebe betonte, daß sie einen „offenen Kopf“ besitze, einzuleuchten. Sie stand ein Weilchen schweigsam da. Aber hübsch find’ ich nun diese gar nicht!“ bemerkte sie dann in sehr bestimmtem Ton.

Ihr Herr blieb still.

[27] „Ich hab’ doch den Generalkonsul auch einmal gesehen, ein einziges Mal war es bloß, aber ich besinn’ mich noch gut auf ihn. Er war sehr hübsch, sehr hübsch – wenn ich das sag’, ist es wahr, ich kann die Männer nicht leicht schön finden. Na, zwei so bildhübsche Menschen müßten doch ’ne andere Tochter haben!“

Es kam wieder keine Antwort.

„Und für wen hab’ ich denn nun den Tisch so fein gedeckt und lauter schönes Essen hingestellt?“ Mamsellchen riß zur Bestätigung ihrer Worte sperrangelweit die Thür zum Speisezimmer auf, das hell erleuchtet und mit einer wirklich reichbesetzten Tafel versehen war. „Bloß eine Tasse Thee will sie haben? Und dann oben für sich allein? Soll mir das gefallen?“

„Einerlei, ob Dir’s gefällt oder nicht, wenn man schwächlich ist und tagüber gefahren, kann man schon den Appetit zum Abendessen und die Lust zur Unterhaltung verlieren. Jedenfalls gedenke ich jetzt zu speisen, gieb den Wein herüber und den kalten Braten – und bring’ für Frau Hartmann das Theeservice hinauf!“

„Kann das nicht der Ewert –“

„Nein, nicht Ewert, sondern Du!“

Mamsellchen sagte kein Wort weiter, ihr Doktor hatte wieder sein „Gesicht“ gemacht. Wenn er das that, dann hörte alles Unterhandeln auf. In ihrem Innern erlaubte sie sich einen kräftigen Widerspruch, äußerlich aber war sie ganz Demut und Gehorsam, als sie sich mit dem Theeservice im Arm zur Thür hinausschob.

Sie konnte es nicht wissen, daß ihr Herr in seinem Innern gleichfalls enttäuscht war. Er hatte doch in aller Stille darauf gehofft, daß sein Gast ihm an diesem ersten Abend Gesellschaft leisten würde, und sah sich nun etwas mißgestimmt in dem schönen behaglichen Zimmer um. Sein Appetit, den er gegen Mamsellchen so gerühmt hatte, hielt nicht vor, er versuchte nur hier und da ein wenig von all den schönen Dingen, die seine alte Getreue aufgetragen hatte, und trank ein paar Gläser Wein. Seine Gedanken gingen unstet hin und her, ohne einen festen Punkt zu gewinnen.

Als Mamsellchen nach einer Weile wieder hereinkam, um vom Büffett etwas zu holen, hätte er sie gern gefragt, wie es der jungen Frau gehe, ob sie sich schon zur Ruhe begeben habe und ob der Thee ihr gut bekommen sei, aber eine wunderliche Scheu hielt ihn davon zurück. Er hoffte, Mamsellchen werde von selbst etwas sagen, aber sie sprach kein Wort und ging endlich mit einem trockenen „Gute Nacht“ von dannen.

Ihm war es noch viel zu früh, um zur Ruhe zu gehen, er fühlte aber, daß es mit dem Lesen und Arbeiten heute doch nichts mehr sei, und ging daher in den Garten hinaus. Eine milde Luft, von Wohlgerüchen gesättigt, wehte ihm entgegen. Die Sterne schimmerten matt, und die Mondsichel hing schmal und silbern am dunkeln Himmel.

Der Doktor stand lange da und sah gedankenverloren zu den beiden erleuchteten Fenstern im ersten Stock empor. Wie hatte er doch an seinen Freund Herzog geschrieben? Er wolle alles in Ruhe abwarten und die Dinge an sich kommen lassen. Nun, er hatte das gethan, und die „Dinge“ waren gekommen, ohne sein Zuthun! An das ruhige Ufer von „Buen Retiro“, auf dem er als unbeteiligter Zuschauer stehen wollte, war aus dem Ocean des Lebens die erste Welle herangespült worden. Ob es die einzige bleiben würde?

(Fortsetzung folgt.)




Das Haberfeldtreiben.
Von Arthur Achleitner.
(Mit Bild S. 29.)

Vor mehr als dreißig Jahren war man sich in Bayern schon einmal darüber klar, daß der uralte Brauch des Haberfeldtreibens durch polizeiliches Einschreiten kaum auszurotten sein dürfte, da die Sympathien der bäuerlichen Bevölkerung auf Seite der Teilnehmer an diesem geheimen Rügegericht standen, bis auf diejenigen natürlich, denen selbst einmal das gereimte Sündenregister in nächtlicher Stunde vorgelesen worden war. Seit reichlich dreißig Jahren erwiesen sich auch alle polizeilichen Maßregeln als wirkungslos, wenn man von der „Schlacht von Rosenheim“ im Jahre 1867 absehen will, in welcher die „Haberer“ von der Landwehr nach längerem Kampfe zurückgeworfen wurden. Jener Zusammenstoß hatte eine langwierige Untersuchung zur Folge, aber erwischt ist auch damals kein Haberer worden.

Seitdem hat sich der Brauch nicht nur wieder eingebürgert, sondern es hat sich auch in der Organisation des geheimen Femgerichtes wie in der Inscenierung des nächtlichen Treibens manches und zwar nicht zum Vorteil des Brauches verändert. Zwei Mann, die der Teilnahme schwer verdächtig waren, hat man innerhalb dreier Jahrzehnte vor die Gerichte zu bringen vermocht. Der eine davon, ein Knecht, der den zu erwartenden Haberern ein Faß Bier zuführen wollte, am Treiben aber nicht weiter beteiligt war, hat dies mit einer einjährigen Gefängnisstrafe büßen müssen. Man hat, um dem nächtlichen Unfug Einhalt zu bieten, die Gendarmerie, die Grenzwache und schließlich Militär in Anspruch genommen, ohne den geringsten Erfolg. Strafeinquartierungen schädigten wohl das unglückliche Dorf, in dem von fremden Haberern „getrieben“ worden war, brachten aber auch nicht den geringsten Anhalt zur Festnahme auch nur eines einzigen Haberers. Ebenso ergaben die nächtlichen Streifungen, das von den Behörden angeordnete Aufstellen von Nachtwachen kein Resultat, wohl aber wurde damit weitgehende Erbitterung in der Bevölkerung Oberbayerns erzeugt.

Was zunächst den Ursprung des seltsamen Brauches anlangt, so wird der Name vielfach davon hergeleitet, daß ehemals Feldmarkfrevler und Wucherer von einer geheimen Volksjustiz mit Verheerung ihrer Felder bestraft wurden. Gelehrte Forscher haben den Brauch für einen Rest der einst von Karl dem Großen in den Grafschaften eingesetzten Rügegerichte erklärt, während andere der Ansicht sind, daß das Haberfeldtreiben auf die dem Kloster Scheyern gehörige Hofmark Fischbachau zurückzuführen sei, wo die Mönche den Brauch nächtlicher Femgerichte als wirksamen Schutz gegen die um sich greifende Unsittlichkeit begünstigt haben sollen. Für die Annahme, daß in alter Zeit hauptsächlich Feldmarkverheerer durch das geheimnisvolle Volksgericht bestraft wurden, spricht der Umstand, daß solchen Verbrechern die Felder gleichfalls verheert wurden, und da im Gebirge meist Haber (Hafer) gebaut wird, dürfte der Name Haberfeld auf das ganze „Rechtsverfahren“ übertragen worden sein. Nach den Ausführungen im ersten Band der „Bavaria“, dem unter W. H. Riehls Leitung erschienenen geographisch-ethnographischen Hauptwerk über das Königreich Bayern, haben zwei Mängel der durch die Einführung des römischen Rechts in ihrer Entwicklung gestörten Rechtsordnung den Brauch hervorgerufen. Danach hat einerseits das Rügegericht eine Ergänzung für solche Fälle sein sollen, in denen die bestehende Justiz mangelhaft gehandhabt wurde. Anderseits habe es dem Volke gedient, um solche Vergehen gegen seine Sitten und sein Rechtsgefühl, die das vom Leben des Volkes längst losgelöste Recht und seine Uebung in den Schreibstuben nicht ahndete, wenigstens durch energischen und öffentlichen Ausdruck des Unwillens von seiten der Genossenschaft zu strafen. Und in der That wendete sich die geheimnisvolle Volksjustiz mit ganz besonderer Hartnäckigkeit gegen solche Fälle von Geiz, Wucher, Betrug, Hartherzigkeit und Ausbeutung, gegen die das Betreten des öffentlichen Rechtswegs wenig Erfolg versprach. Weltliche und geistliche „Herrenleut“, die ihre Macht mißbrauchten und gegen die ein persönliches Auftreten nutzlos und wohl gar unmöglich war, wurden früher mit Vorliebe von dieser nächtlichen, im ganzen immerhin harmlosen Feme heimgesucht. Einen Widerspruch findet man im Brauche hinsichtlich des Besitzstandes der Verfemten. Während nach der einen Version Feldfrevlern die eigenen Felder strafweise verheert wurden, ist es durch Jahrzehnte eine geheiligte Uebung gewesen, jede Sachbeschädigung streng zu vermeiden. Wenn wirklich Beschädigungen vorkamen, wurde im geheimen reichlich Ersatz geleistet; man legte für Gegenstände, die man zum Lärmerzeugen mitnahm, oder für Bretter, Zaunspfähle das Schadenvergütungsgeld an Ort und Stelle des genommenen Gutes oder Gegenstandes nieder und für jede während des Treibens zerbrochene Fensterscheibe wurde ein Silberzwanziger, in Papier gewickelt, entweder durch das Fenster in die Stube geworfen oder doch auf den Fenstersims gelegt.

[28] Wie sich aber in neuester Zeit die Haberer aus jungen Burschen rekrutieren, denen nicht das Rügegericht mit seiner bis zu einem gewissen Grade immerhin beachtenswerten rechtlichen Tendenz, sondern der nächtliche Rummel, die Freude am Spektakel, die Skandalsucht, verbunden mit dem Bewußtsein, den in dieser Sache machtlosen Bezirksamtmann ärgern zu können, Hauptzweck ist, so wird es von den „Junghaberern“ auch mit der Sachbeschädigung und noch weniger mit der Vergütung genau genommen. Was früher nur höchst selten vorkam: das Scharfschießen, ist heute etwas Alltägliches und gewissenlos schießt man harmlosen Leuten in die Stuben, daß die Kugeln die größten Löcher in die Wände reißen. Selbst in größeren Orten, wie in Miesbach, sind die Geschoßverheerungen an den Häusern mit freiem Auge wahrnehmbar. Es ist natürlich nicht Mordlust, sondern nur die Freude am Schießen, die zu der Unsitte geführt hat, und wenn eine Kugel jemand trifft, so ist nach der Ansicht der leichtsinnigen Kumpane eben derjenige schuld, der dem Geschosse in den Weg läuft. Außerdem, meinen sie, hat ein Nichthaberer beim „Treiben“ nichts zu thun. In früheren Zeiten strafte die Regierung die Gemeinden, in denen „getrieben“ wurde, mit Geld, was insofern eine verkehrte Maßregel war, als die Haberer nie aus dem Dorfe sind, wo getrieben wird. Immer sind es Auswärtige, die viele Stunden durch die Nacht wandern bis zum vereinbarten Schauplatze des Rügegerichtes. In alter Zeit zahlte der Geheimbund die Geldstrafe wieder an die Gemeindekasse, und zwar anonym mittels Post, und es sind Fälle bekannt, wo das Geld für die zu erwartende Strafe schon bezahlt war, ehe das Strafmandat von der Regierung erlassen worden war. Jetzt ist auch das anders geworden, ebenso wie sich die Tendenz etwas verschoben hat. Vielfach hat der Brauch die bessernde Absicht, an öffentlichen und geheimen Sündern das Rügegericht zu vollziehen, eingebüßt, wenigstens wird die eigentliche Rüge neuerdings oft recht kurz abgemacht.

Zurückführen läßt sich der Brauch bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, und zwar für die Grafschaft Hohenwaldegg am Schliersee; der Habererbezirk war indes scharf abgegrenzt zwischen Mangfall, Isar und Inn. Ueber der eigentlichen Organisation liegt noch immer ein Schleier. Doch glaubt man annehmen zu dürfen, daß es im ganzen zwölf Bezirke giebt, von denen jeder unter der Leitung eines besonderen Haberfeldmeisters steht, der aber von den Mitgliedern des Bunds in den anderen Bezirken keine Kenntnis hat. Im Jahre 1780 wurde zum erstenmal jenseit der Mangfall getrieben; die „Treiber“ kamen bis hart an den Inn, nie aber bis an die Isar. Erst im Herbst 1894 wurde auch im Isarwinkel getrieben, bei Lenggries kam es sogar zu einem „Treiben“, dessen Spitze sich gegen das Staatsoberhaupt richtete. Auch im Berchtesgadener Hochlande, wo seit Menschengedenken niemals der Brauch auch nur bekannt, viel weniger heimisch war, zeigten sich Symptome, die auf eine zu erwartende Haberersaison im nächsten Herbst schließen lassen, wenn der dort wegen Jagd, Wildschaden und dergleichen herrschenden Unzufriedenheit nicht vorher ein Ende gemacht wird. In dieser Richtung ist nämlich das Haberfeldtreiben neuerdings ein Mittel sozialpolitischer Opposition und Agitation geworden.

Früher wurden nur „hausgesessene“ Männer in den Bund aufgenommen, später konnten ledige Burschen von den zwölf Haberermeistern aufgenommen werden, wenn sie einen baren Beitrag von drei Gulden und einen schweren körperlichen Eid auf unverbrüchliche Geheimhaltung aller Bundesunternehmungen leisteten. Ob Verrat mit dem Tode bedroht war oder ist, entzieht sich genauer Kenntnis; dagegen ist es Thatsache, daß noch niemals ein Haberer einen Genossen angegeben hat. Erst vor einigen Jahren fiel ein Bursche den streifenden Gendarmen in die Hände, der einen Schuß im Unterschenkel hatte und trotz schärfster Ausforschung über die Art, wie er zu der Schußwunde gekommen, nicht das Geringste verriet. Er blieb dabei, beim „Fensterln“, d. h. beim Stelldichein vor dem Fenster seiner Geliebten, angeschossen worden zu sein, und mußte schließlich wieder freigelassen werden.

Habererbrauch war es, Leuten, deren Geiz, Wucher, Betrug, unsittliches Leben anstößig erschien, ein „Treiben“ auf irgend welche Art anzukündigen, um zur Umkehr vom bisherigen Lebenswandel aufzufordern. Heute wird ein Treiben auf einem mit verstellter Hand geschriebenen Zettel an einem Gebäude, einer Scheune angekündigt, jedoch findet das Treiben meist wegen der Verfolgunggefahr nicht dort, wo es angesagt ist, statt. Jüngst war ein Haberfeldtreiben bei Lenggries regelrecht angekündigt, der betreffende Zettel aber in Gaisach bei Tölz affichiert. Man hielt diese Ankündigung für Spott und auch im Bezirksamt zu Tölz wurde sie nicht ernst genommen. Es wurde aber richtig „getrieben“ wie angekündigt.

Es erscheinen in der Geisterstunde die Haberer urplötzlich; meist tauchen sie still auf, doch ist es, wie in Schliersee vor einigen Jahren, auch vorgekommen, daß die Haberer bis auf etwa Büchsenschußnähe zu Pferd und zu Wagen herannahen. Mit Vorliebe wählt man dafür eine finstere Nacht, in der auch bei aufgeklärtem Wetter der Mond nicht am Himmel steht. Ein Schuß leitet das nächtliche Femgericht ein, dann krachen die Gewehrsalven wild durcheinander, selbst Böllersalven werden abgegeben und unter ohrenzerreißendem Lärm beginnt eine gräßliche Katzenmusik auf den verschiedenartigsten Instrumenten. Windmühlen, Ratschen, Hafendeckeln, Trommeln, Trompeten. Gellende Pfiffe auf Hausschlüsseln ertönen dazwischen, unaufhörlich donnern die Gewehre und Böller. Die vermummten, teils mit Larven versehenen, teils mit Ruß im Gesicht geschwärzten Haberer bilden einen Kreis um den Haberermeister, der auf einem Fasse, einer herbeigeschleppten Bank oder sonstwie erhöht Posto faßt und im Namen Kaiser Karls des Großen den Verfemten vor das Rügegericht fordert:

„Die Haberer sind da zum Haberfeldtreiben,
Ein jeder im Haus soll ruhig bleiben:
Habt acht aufs Feuer und aufs Licht,
Daß niemandem ein Schaden g’schicht.
Zuvor aber wollen wir verlesen,
Ob alle richtig dagewesen!“

Nun erfolgt unter lautloser Stille der Namensaufruf, uralte Namen und solche der Zeitgeschichte werden gerufen, der Kaiser Barbarossa, der Papst, der Kaiser von Japan, Bismarck, dann wieder der Landrichter von Tegernsee, der Pfarrer von Gmund etc., und immer ruft der Träger der seltsamen Namen mit verstellter Stimme: „Hier“! Fehlt auch nur einer von dem Rügegericht, so ist das Treiben unstatthaft und die Feme geht unverrichteter Dinge auseinander. Zum Schluß wird Kaiser Karl aufgerufen:

„Kaiser Karl muß noch kommen,
Ums Protokoll zu unterschreiben,
Daß wir sind da
Zum Haberfeldtreiben!“

Wenn angängig wird der „Berbrecher“ aus dem Hause geholt, und nach altem Brauch verliest dann, wie unser Bild zeigt, beim Schein einer Stalllaterne der Rügemeister in mitunter ganz schändlichen Knittelversen die Sünden des Heimgesuchten, und jeder Absatz wird von schrecklichem Geheul, Lärm und Büchsenschüssen begleitet.

„Ist die Geschicht’ wahr?“ fragt dann der Haberermeister, und im Chorus ertönt die Antwort: „Wahr is’ ’s!“

Ist das Sündenregister abgelesen, so beginnt die fürchterliche Katzenmusik aufs neue und eine Gewehrsalve beschließt das „Treiben“, das im weiten Umkreise durch Vorposten gesichert ist. Ein Pfiff ist das Schlußsignal, die Lichter verlöschen und die Haberer verschwinden, wie vom Erdboden verschlungen. Das Rügegericht ist beendet.

Am Schauplatz findet man am Morgen wohl leere Bierfässer – der Durst ist trotz scharfer Nachtluft immer groß – und der Boden ist besät mit Papierpfropfen der Gewehre, die immer, wenn vielleicht auch nur zum Zweck der Täuschung, den Beweis liefern, daß die Haberer aus weiter Ferne gekommen sein müssen, indem die Papierstreifen von fremden Lokalblättern stammen. Auch Klappermühlen, Trommeln sind schon gefunden worden, welche die Haberer offenbar aus Gründen der eigenen Sicherheit nicht mehr rasch genug wegschleppen konnten. Sind derartige Lärminstrumente heimlicherweise aus benachbarten Gehöften – ohne Vorwissen der Besitzer – entnommen, so wird die Zurückgabe unterlassen, und wenn dann die Amtspersonen nach dem Besitzer forschen, geschieht es nicht selten, daß diese aus Furcht, in die Femgeschichte verwickelt zu werden, das Eigentum wegleugnen und darauf verzichten.

Auf dem Haberfeldtreibeu steht nach § 125 des Reichsstrafgesetzbuches wegen Landfriedensbruchs eine Gefängnisstrafe von nicht unter drei Monaten, und die Rädelsführer könnten mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft werden, wenn – sie erwischt werden würden. Was aber alle Wachsamkeit der Behörden bisher nicht verhindern konnte, dem gebietet alljährlich Einhalt der verräterische – erste Schneefall. Mit der blinkenden Schneedecke ist die Habererzeit jeweils zu Ende.


[29]

Rügegericht beim Haberfeldtreiben.
Originalzeichnung von Oskar Gräf.

[30]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

„Deutschland, Deutschland über alles.“

Es ist, auch in der „Gartenlaube“, viel über das Lied geschrieben worden; man weiß, daß es am 26. August 1841 auf der Insel Helgoland gedichtet worden ist und daß es lange Jahrzehnte gebraucht hat, ehe es zu einem Volksliede geworden ist, daß es inzwischen eine Zeit gab, in welcher der Dichter der „Unpolitischen Lieder“ mehr oder weniger zu den verschollenen Größen gehörte und nur noch in dem Register der Litteraturgeschichte geführt wurde. Doch ist es vielleicht nicht überflüssig, noch einmal auf das Lied zurückzukommen. Man hat nicht hinlänglich die Entstehungszeit jenes Gedichts ins Auge gefaßt, nicht genug hervorgehoben, daß gerade in jener Zeit der Dichter zu denen gehörte, welche von der damaligen preußischen Regierung aufs eifrigste verfolgt wurden und daß noch in demselben Jahre sein politisches Märtyrertum begann, soweit man von einem solchen in einer aufgeklärten Zeit sprechen kann, in welcher die Ketzer weder gefoltert noch verbrannt werden. Gewiß wird der alte Spruch, daß die Bücher und die Gedichte ihre Schicksale haben, gerade dadurch ins hellste Licht gesetzt, daß der Dichter eines Volksliedes, welches jetzt vom ganzen Volke und bei feierlichen Gelegenheiten von den loyalsten Teilnehmern mitgesungen wird, zur Zeit, als er das Lied verfaßte, zu den mißliebigsten Persönlichkeiten gehörte, die im Schwarzen Buch der politischen Polizei standen.

Die Zeit, in welcher das Volkslied entstand, ist die junge Blütenzeit des Hoffmannschen Ruhms gewesen. Eben waren die zwei Teile seiner „Unpolitischen Lieder“ bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen und von dem Publikum und der Presse aufs günstigste aufgenommen worden; es war ja die Zeit der politischen Bewegung nach der Thronbesteigung des Königs Friedrich Wilhelm IV., und neben Herweghs schwungvollen Gedichten „eines Lebendigen“ schlugen auch diese leichtgeflügelten Lieder Hoffmanns zündend ein. Mit seinen früheren harmlosen Minneliedern hatte der Dichter kein Publikum anzuziehen vermocht. Nun hatte er in Hoffmann und Campe einen Verlag gefunden, der ihm persönliche Besprechungen in Hamburg wünschenswert machte, und wenn er auch im alten Campe nicht „aller Verleger Blüte“ fand wie Heinrich Heine, sondern hinter das Lob des Verlegers allerlei Fragezeichen machte, so zog es ihn doch nach Hamburg zu dem patriarchalischen Alten mit dem lachenden Vollmondgesicht, der ein Rebell war gegenüber den Regierungen und ein Diplomat gegenüber den Schriftstellern. Von Hamburg aus besuchte Hoffmann zu seiner Erholung die Insel Helgoland, wo er vom 21. August ab mit einigen Hannoverschen Freunden ein fröhliches Leben führte, wobei es an Zechgelagen und politischen Trinksprüchen nicht fehlte. Als diese am 23. August heimgekehrt waren, blieb er einsam auf der Insel zurück. Er schreibt im dritten Bande von „Mein Leben“: „Das Wetter war schön, schöner noch die Erinnerung an diese lieben Leute aus dem Lande Hadeln in ihrem schlichten treuherzigen Wesen, die mir so herzliche Teilnahme bewiesen hatten. Den ersten Augenblick schien mir Helgoland wie ausgestorben, ich fühlte mich sehr verwaist. Und doch that mir bald die Einsamkeit recht wohl: ich freute mich, daß ich nach den unruhigen Tagen wieder einmal auch mir gehören durfte. Wenn ich dann so wandelte einsam auf der Klippe, nichts als Meer und Himmel um mich sah, da ward mir so eigen zu Mute; ich mußte dichten, wenn ich es auch nicht gewollt hätte. So entstand am 26. August das Lied ‚Deutschland, Deutschland über alles‘.“ Am 29. August kam Campe mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff und brachte das erste fertige Exemplar des zweiten Teils der „Unpolitischen Lieder“. Hoffmann erzählt weiter: „Am 29. August spaziere ich mit Campe am Strande. ‚Ich habe ein Lied gemacht, das kostet aber 4 Louisdor.‘ Wir gehen in das Erholungszimmer. Ich lese ihm ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ und noch ehe ich damit zu Ende bin, legt er mir die 4 Louisdor auf meine Brieftasche. Neff steht dabei, verwundert über seinen großen Kollegen. Wir beratschlagen, in welcher Art das Lied am besten zu veröffentlichen. Campe schmunzelt: ‚Wenn es einschlägt, so kann es ein ‚Rheinlied‘ werden. Erhalten Sie drei Becher, muß mir einer zukommen.‘ Ich schreibe es unter den Tönen der jämmerlichsten Tanzmusik ab, Campe steckt es ein und wir scheiden. Am 4. September bringt mir Campe das Lied der Deutschen mit der Haydnschen Melodie in Noten.“ Campe, einer der kundigsten Thebaner des deutschen Buchhandels, hatte die rechte Witterung gehabt – ein Volkslied wie das Beckersche Rheinlied! Nur dauerte es etwas länger, ehe es ein allgemeingesungenes deutsches Volkslied geworden war.

In demselben Jahre, in welchem auf dem Meereseiland der Nordsee das jetzt so volkstümlich gewordene Lied entstand, welches Campe anfangs in einer Extraausgabe veröffentlichte, wurde die Untersuchung gegen Professor Hoffmann wegen der „Unpolitischen Lieder“ eingeleitet; sie endete mit der Amtsentsetzung des Dichter-Professors ohne Pension, die ihm noch im Dezember des Jahres 1842 verkündigt wurde. Und nun begannen die Wanderjahre des abgesetzten Professors, der durch die deutschen Lande zog, überall zahlreiche Freunde und Verehrer fand und als umherziehender Minnesänger seine Lieder in Privatkreisen und auch an Wirtshaustafeln vortrug.

Gegen Ende des Jahres 1843 machte ich selbst die persönliche Bekanntschaft Hoffmanns; wir beide waren eingeladen beim Grafen Eduard von Reichenbach und trafen uns in Waltdorf, dem bei Neiße gelegenen Gute des Grafen. Das nur kleine Schloß machte doch mit seinem säulengetragenen Porticus einen vornehmen Eindruck; es enthielt im Erdgeschoß schöne Salons, stattliche Räume, die sich für Vorlesungen und Vorträge vor größeren Kreisen eigneten. Und bisweilen war aus Neiße eine zahlreiche geladene Gesellschaft anwesend. Der Graf, noch in jüngeren Mannesjahren, war ein Feuerkopf, voll Begeisterung für die Ideen politischer Freiheit, die damals in allen begabteren Köpfen gährten. „Reichenbach,“ erzählt Hoffmann selbst, „war eine stattliche Gestalt, mit treuherzigem vertrauengewinnendem Blick, äußerlich meist ruhig und ernst, aber innerlich voll warmer Liebe, die zur Leidenschaft werden konnte für alles, was er wollte zur Erstrebung einer besseren Gestaltung des Vaterlandes. Rücksichtslos und ohne Furcht sprach er jedem gegenüber seine Meinung aus und seine Gesinnung bewährte er durch die That.“ Was aber Hoffmann selbst betrifft, so entsprach er ganz dem Bilde, das ich mir nach den Schilderungen in den Zeitungen von seiner Persönlichkeit gemacht hatte: eine hohe, kräftige, männlich schöne Gestalt, ein freundliches, lachendes, frisches, gesundes Gesicht, mit geistreichem Ausdruck und einem satirischen Zug um den Mund, ein treues deutsches Auge voll Feuer und Leben, blondes, etwas langes Haar und ebensolchen Bart. Seine Sprache hatte einen niederdeutschen Anklang, sein ganzes Wesen war einfach, ungezwungen und treuherzig. Im schlichten Rock, einfacher wenig zierlicher Weste, das Halstuch leicht um den Hals geschlungen und den Kragen des Hemdes breit darüber herabhängend, eine prunklose runde Mütze als Kopfbedeckung und einen gewichtigen Stock in der Hand, so sah ich ihn auch oft an meiner Seite über die Felder und durch die Wäldchen von Waltdorf dahinschreiten und oft erfreuten wir uns an der winterlichen Landschaft, der die bläulichen Sudeten in der Ferne als Hintergrund dienten. Damals sammelte Hoffmann Volksweisen für seine Kinderlieder; ein Rektor aus Neiße hatte zu den von der Gräfin Reichenbach gesammelten Liedern viele Melodien aufgezeichnet. Das wurde dann mit der Dorfjugend durchprobiert. Ueberhaupt war Hoffmann ein großer Kinderfreund und ich höre ihn noch seine Liederchen intonieren. Wenn die Kleinen richtig nachsangen, freute er sich von Herzen über die bescheidene Kunstleistung.

Wenn wir abends bei der Punschbowle saßen, da begann der abgesetzte Professor mit einer Stimme, die das Melodische und namentlich die kleinen in Musik gesetzten Pointen glücklich hervorhob, eins oder das andere seiner verbotenen Lieder, auch die antirussischen und deutschpatriotischen zu singen, und unter ihnen befand sich auch das Helgoländer Lied „Deutschland, Deutschland über alles“. Wer hätte damals geglaubt, daß, was der höchst mißliebige, geächtete Gelehrte im engen Kreise sang, einmal ein von Hunderttausenden gesungenes deutsches Volkslied werden würde! Im Laufe der Jahre ist das Lied sehr oft aufgetaucht; Hoffmann sang es nach der Haydnschen Melodie; nachher ist es noch sehr oft komponiert worden – wir erwähnen von den Komponisten Franz Abt, Conradin Kreutzer, Franz Lachner, B. Neßler, Ed. Müller, Heinrich Große – aber wer vermag genau die Zeit zu bestimmen, wo es zum allgemeinen nationalen Liede wurde? Es geht mit dem Ruhm der Dichter und ihrer Werke ähnlich wie mit der Liebe nach Halms poetischem Wort – er kommt und er ist da! Das Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ liefert dafür einen schlagenden Beweis. Rudolf von Gottschall.     




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Um eine Kleinigkeit.

Novelle von Jassy Torrund.

     (1. Fortsetzung.)

Kaum eine Stunde nach Franziskas Fortgang kam Fräulein von Hagen, wie sie fast täglich zu thun pflegte, um sich nach Ernsts Befinden zu erkundigen. Das Stubenmädchen führte sie ins Wohnzimmer; Aurelie nahm seelenruhig eine illustrierte Zeitschrift zur Hand und vertrieb sich die Zeit, bis Franziska kommen würde. Zufällig blickte sie einmal auf und sah den zerrissenen Briefumschlag auf dem Teppich liegen; eine ordnungsliebende Seele, wie sie war, hob sie ihn auf, um ihn in den Papierkorb zu thun; aber nicht, ohne vorher die Adresse studiert zu haben: „Frau Franziska Wodrich“; am Kopf des Umschlags stand die Firma „Dr. jur. Sonnenthal, Rechtsanwalt.“

Sonnenthal? wo hatte sie den Namen doch schon gehört? Sie drehte den Unglücksumschlag unschlüssig in der Hand. Gehört? – nein, gelesen! Aha! – das Haus, wo Franziska neulich mit Frau Lorenz hineingegangen, fiel ihr ein; sie sah das blanke Messingschild neben der Hausthür deutlich vor sich. Also, das war „die Nichte!“ Aurelie war empört über die Heuchelei der jungen Frau. Was hatte Franziska mit Doktor Sonnenthal zu thun? was hatte der ihr zu schreiben? Aurelie fragte sich, ob es nicht ihr gutes Recht sei, Franziskas Schreibtisch einmal zu visitieren, der verdächtige Brief mußte sich ja finden.

In ihrem Haß, in ihrem Argwohn gegen die junge Frau, die den Platz einnahm, der ihr, Aurelie von Hagen, von Gott und Rechts wegen eigentlich zukam, schoß sie weit übers Ziel hinaus. Sie war ein kluges Mädchen, und jeder anderen Person gegenüber hätte ihr Verstand ihr gesagt, daß man keine kompromittierenden [31] Briefe in einen Umschlag steckt, worauf groß und deutlich Name und Stand des Besitzers gedruckt steht; daß dieser Umschlag an und für sich schon, wie er offenkundig dalag, jeden Verdacht Lügen strafte; daß es sich eben lediglich um irgend eine geschäftliche Mitteilung des Rechtsanwalts Sonnenthal an Frau Franziska Wodrich handeln würde. Aber dieser Frau gegenüber war Aurelie eben blind, hellsehend nur für alles, was sie verdächtigen konnte – blind für jeden Beweis, der sie von häßlichem Verdachte freisprach.

Die Untersuchung des Schreibtisches gab Fräulein von Hagen auf, teils aus Furcht, überrascht zu werden, teils aus einem letzten Rest von Ehrgefühl, den in ihren Augen so verdächtigen Briefumschlag aber steckte sie in ihre Tasche. Kaum saß Aurelie wieder ruhig auf ihrem Platz, scheinbar vertieft in den Anblick eines Bildes – da wurde hastig die Thür geöffnet und Franziska trat herein.

Wie hatten die vergangenen Tage mit ihrem Leid die junge Frau verändert! Alles Blühende, Lebensvolle war wie fortgewischt aus dem schmalen, weißen Gesichtchen, tiefe Schatten lagen unter den müdblickenden Augen, ein Zug von Schmerz und Sorge umschattete den Mund. Die dunklen Haare waren rücksichtslos aus dem Gesicht gestrichen und mit nachlässiger Hast aufgesteckt: selbst die Farbe des prächtigen dunkelroten Schlafrockes trug heute nur dazu bei, die krankhafte Blässe des Gesichtes noch mehr hervorzuheben.

Franzel blieb sekundenlang an der Thür stehen, lebhafte Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht. Sie hatte nach der undeutlich geflüsterten Meldung des Mädchens geglaubt, die Rätin Lorenz sei da. Das war ihr nach dem vorhin erhaltenen Schreiben wie ein großer Trost erschienen, sie war gekommen, sich bei der alten Freundin ein wenig auszuruhen, den müden Kopf in ihren Schoß zu legen, sich liebe milde beruhigende Worte sagen zu lassen. Nun saß ihre Feindin dort und blickte ihr mit den großen grauen Augen so mitleidlos, so unheilverkündend starr ins Gesicht. Was wollte sie nur wieder von ihr, womit würde sie sie heute quälen? Franzel erschrak und dieses Erschrecken prägte sich deutlich auf ihrem von der strahlenden Februarsonne beleuchteten Gesichte aus.

Aurelie sah es. Das böse Gewissen, dachte sie, und triumphierend blitzte es in den kalten Augen auf. Sie stand auf und ging der jungen Frau entgegen.

„Wie geht es Ernst?“

„Besser,“ entgegnete Franziska in mattem Ton und ließ sich, von zahllosen Nachtwachen ermüdet, in einen tiefen Fauteuil nieder.

„Und das sagst Du so gleichgültig?“

Franzel bog den Kopf zur Seite, um nicht fort und fort diesen harten Blicken zu begegnen, die sich wie Dolche in ihr Gesicht bohrten. „Ich bitte Dich, Aurelie, quäle mich nicht mit solchen Redensarten!“

Fräulein von Hagen ließ ihr ein paar Sekunden Ruhe, dann examinierte sie weiter. „Was sagt Doktor Böhmer?“

„Die Krise ist überstanden. Geduld und Ruhe – dann wird alles gut werden,“ wiederholte Franzel mechanisch die Worte des Arztes.

Aurelie blickte sie wieder scharf an. „Mir scheint, Deine Gedanken sind ganz wo anders!“ Als keine Antwort erfolgte, änderte sie ihren Ton. Sie griff nach der Hand der jungen Frau, die kalt und schwer auf der Stuhllehne lag, und sagte mit erheuchelter Besorgnis: „Dir wird es auch zuviel, Kleine, Du solltest Dir mehr Ruhe gönnen. Ich könnte Dich ja einmal ablösen – wirklich, das könnte ich!“

Franziska, die nicht recht wußte, wo das wieder hinaus sollte, schwieg und zog leise ihre Hand zurück. Aurelie hatte sich unterdes ihren Plan zurechtgelegt und fuhr in harmlosem Plauderton fort: „Du solltest einmal hinaus, Franziska! Die Bekannten fragen schon alle nach Dir. Vorgestern war ich in einer Abendgesellschaft bei Webers; da wurde auch von Dir gesprochen, alle trugen mir Grüße für Dich auf. Kronecks waren da, Frau von Horndorff, Lieutenant Müller, Assessor Balduin und ein gewisser Doktor Sonnenthal, Rechtsanwalt –“ … Wie eine Spinne in ihrem Netz, die eine sorglose unbedachte Fliege draußen umhersurren sieht, beobachtete Fräulein von Hagen die junge Frau und notierte jeden Zug, jede leiseste Veränderung dieses blassen, unschuldigen Gesichtchens. Bei dem Namen Sonnenthal hob Franzel überrascht die Augen und sah ihres Mannes Cousine an, groß, offen – doch mit einer ganz leisen Beimischung von Angst.

„Verkehrt der auch bei Webers? – Das wußte ich nicht,“ bemerkte sie unwillkürlich.

Aureliens Augen blitzten schadenfroh – die kleine unvorsichtige Fliege streifte thatsächlich schon das verderbenbringende Netz.

„Kennst Du ihn denn?“ fragte sie mit scheinbarer Ruhe zurück. Wehe Dir, wenn Du jetzt leugnest! dachte sie im stillen.

Franzel bejahte – aber sie that es mit einem schwachen Erröten und einem unruhig fragenden Blick ihrer klaren braunen Augen. Jenes Erröten galt nicht dem Mann, der sie einst angebetet, es galt einzig dem Rechtsanwalt, den Frau Franziska Wodrich in einer heimlichen Angelegenheit besucht. Natürlich wurde dies thörichte Erröten bemerkt, und ebenso natürlich wurde es auf ganz andere Art gedeutet!

„Ein angenehmer Mensch, dieser Doktor Sonnenthal,“ bemerkte Aurelie kaltblütig, obgleich sie den Besprochenen in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. „Du hast ihn wohl schon früher gekannt?“

„Ja,“ erwiderte Franzel wahrheitsgemäß. „Ich kannte ihn vor meiner Verheiratung, als ich bei der Rätin Lorenz zum Besuch war. Apropos, war die Tante Lorenz nicht bei Webers?“ fragte sie hastig, in der Hoffnung, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Aber darin war sie ihrer weltgewandten Gegnerin nicht gewachsen, die lächelte ein wenig von oben herab über Franzels kindliches Bemühen - dann sagte sie kurz. „Nein, sie war nicht da. Uebrigens, wie komisch, Franziska, daß Du sagst, Du hättest diesen Doktor Sonnenthal früher gekannt – kennst Du ihn denn jetzt nicht mehr? Warum verkehrt er nicht bei Euch? Ernst kennt ihn doch sicher? – Und hast Du ihn seitdem nie wieder gesehen?“

Diese sich überstürzenden Fragen waren ganz danach angethan, die junge Frau zu verwirren, und das war ja auch ihr einziger Zweck.

„O doch …“ stammelte Franzel, und wieder überzog ein flüchtiges Rot ihre klare Stirn. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie sich hier wie ein dummes Schulkind von Aurelie ausfragen ließ, von all der körperlichen und geistigen Uebermüdung der letzten Wochen war sie so schwach, so widerstandslos und deshalb gänzlich unter dem Bann dieser scharfen, unbarmherzigen Augen. Aber jetzt raffte sie sich mit einem letzten Rest von Energie auf, zerriß tapfer die feinen, mitleidlosen Fäden des Spinnennetzes, das sie umwand, und sagte mit erzwungener Munterkeit: „Du scheinst Dich ja sehr für den Doktor Sonnenthal zu interessieren, Aurelie! Sonst wüßte ich wirklich nicht, weshalb Du mich seinetwegen so scharf examinierst? Was ist denn Verwunderliches dabei? Wir lernten uns früher flüchtig kennen – aber da Ernst ihn nicht kennt, und wir ihn auch nirgends trafen, so ist’s doch natürlich, daß er nicht bei uns verkehrt. Uebrigens – ich muß jetzt wieder hinübergehen – Du entschuldigst mich wohl!“ Sie war aufgestanden und reichte dem unliebsamen Besuch flüchtig die Hand.

Fräulein von Hagen war außer sich, daß „die schlaue kleine Person“ ihr auf diese Weise entschlüpfen wollte. Aber noch einen letzten Hieb mußte sie ihr geben, so trat sie dicht an Franziska heran und sagte, sie scharf fixierend: „O, ich wollte Dich nicht aufregen – das geht mich ja auch weiter nichts an! Ich dachte nur,“ meinte sie mit spöttischer Betonung, „Du hättest ihn vielleicht ‚zufällig‘ getroffen, als Du neulich mit Frau Lorenz bei ihrer ‚Nichte‘ warst. Die wohnt ja doch im selben Hause. Apropos, wie heißt denn die Dame?“

Beide standen jetzt neben der Thür, Fräulein von Hagen hatte die Hand auf die Klinke gelegt und versperrte so gewissermaßen der jungen Frau den Ausweg.

Franzel war heftig zusammengefahren und dunkelrot geworden, vorbei war’s mit ihrem Stolz, mit ihrer mühsam errungenen Fassung, unsicher stammelte sie: „Im selben Hause? … Ja – hast Du uns denn gesehen?“ Und da keine Antwort erfolgte, sondern Aurelie sie immer noch ansah, mit Blicken, die ihr Herz und Seele zu durchforschen schienen, that die arme kleine Fliege in ihrer großen Angst das Thörichtste, was sie nur thun konnte. sie gab sich völlig in die Gewalt ihrer mitleidlosen Feindin, indem sie halb weinend, halb trotzig sagte: „Wenn Du denn doch schon alles weißt – ja, wir waren bei Doktor Sonnenthal, Frau Lorenz und ich. Ich … wir hatten dort geschäftlich zu thun. Etwas anderes wirst Du hoffentlich von mir nicht denken! Im übrigen handelt es sich um ein Geheimnis, und ich bitte Dich dringend, zu [32] keiner Seele darüber zu sprechen. Am wenigsten Ernst gegenüber. Es würde ihn furchtbar aufregen …“

„Das glaube ich!“ bemerkte Aurelie höhnisch.

„Aurelie, ich bitte Dich, Du kannst nicht etwas Schlechtes von mir denken,“ sagte Franzel flehend.

„Was ich von Dir denke, ist meine Sache“ – damit öffnete Fräulein von Hagen die Thür und war draußen, ehe Franzel ein einziges Wort erwidern konnte. Sie wollte ihrer Feindin nacheilen, aber es ging nicht, sie war mit ihrer Kraft zu Ende und sank völlig erschöpft gegen die Thür; ein dumpfes Brausen war vor ihren Ohren, rote Lichter sprangen blendend und grellfarbig vor ihren Augen auf und nieder, ihre Glieder wurden schwer wie Blei – sie wollte sich festhalten, aber die Sinne vergingen ihr, langsam und schwer glitt sie neben der Thür zu Boden. – –

So fanden ihre Dienstleute sie. Als Franziska zu sich kam, lag sie auf dem Sofa; Doktor Böhmer, der glücklicherweise um diese Zeit seinen Besuch bei Ernst machte, saß neben ihr und fühlte ihren Puls. Er gab ihr starken Wein zu trinken, stützte ihr vorsorglich den Kopf, und als er glaubte, sie hätte sich genügend erholt, um seine Rede würdigen zu können, sagte er gewichtig: „So geht’s aber nicht weiter! Wenn Sie nicht vernünftig sind, kleine Frau, werden wir bald zwei Patienten anstatt des einen haben. Daß Sie keine Pflegerin wollen, ist barer Unsinn! Ich schicke heute mittag eine graue Schwester, und der werden Sie in allen Stücken gehorchen. Punktum! – Verstanden?“

Franzel nickte schwach. Sie sah ja selber ein, daß der alte Herr recht hatte. Sie mußte sich mehr schonen, sonst würde sie wirklich noch krank werden; und sie mußte, ja sie mußte doch gesund sein, um zu jener schrecklichen Gerichtsverhandlung gehen zu können! Käme sie nicht, so würde sie mit Gefängnis bestraft, so stand’s ja auf dem Papier, das in ihrem Schreibtisch lag. Ach, wenn sie doch lieber vorher sterben und so all der Angst und Schmach entgehen könnte! Aber es stirbt sich nicht so leicht, wenn man jung und gesund ist. Sie mußte also hin, da gab’s keinen Ausweg – und niemand konnte ihr helfen! Der Gedanke, sich dem Doktor, dem alten Hausfreunde, anzuvertrauen, schoß ihr durch den Kopf. Aber nein! Der würde es wahrscheinlich für seine Pflicht halten, sobald Ernst sich etwas erholt hätte, dem alles zu sagen; und Ernst sollte doch nichts wissen, bis alles überstanden war. Sie mußte also stark und tapfer sein, das Schreckliche jetzt allein tragen und dann allein durchleben. Sie hatte Ernst doch so grenzenlos lieb, sie wollte ihm um jeden Preis alles ersparen, die Demütigung, die Aufregung, die Angst! Ein schwerer Seufzer kam über die blassen Lippen, Thränen standen in den schönen angstvollen Augen des jungen Weibes.

„Was giebt’s da zu weinen?“ fragte Doktor Böhmer barsch, dem Weiberthränen in der Seele zuwider waren, weil sie ihn ganz unnötig weich machten. „An allem ist nur die dumme Person, die Hagen, schuld. Sitzt da und schwätzt Ihnen eine Stunde lang vor, anstatt Sie sich ausruhen zu lassen, wie ich Ihnen befohlen. Ich kenne das Frauenzimmer, sie hat so ein aufregendes Organ, das gesunden Leuten schon auf die Nerven fällt – geschweige denn solch einem abgearbeiteten Seelchen! Hier, trinken Sie!“ gebot er und hielt ihr wieder das gefüllte Glas an die Lippen. „Was haben wir denn heute schon verzehrt, he? Na, na, keine Flunkereien – kann mir’s ja lebhaft genug denken.“ Er ging an die Thür und rief nach der alten Köchin. „Rieke, Sie sind ja eine vernünftige Person,“ sagte er gnädig. „Was ißt denn Ihre Frau gern? Rehrücken oder so was dergleichen? Wiener Schnitzel? So – na, da braten Sie ihr ’mal ein Schnitzel – so zart und weich und saftig, daß es einem auf der Zunge zerfließt, Sie wissen schon! Und Besuche weisen Sie ein für allemal ab …“ Er rieb sich nachdenklich die Nase und überlegte, ob er Fräulein von Hagen noch besonders aufzählen solle, glaubte es indes der Familie schuldig zu sein, die nahe Verwandte stillschweigend in sein Verbot einzuschließen. So fügte er nur noch mit drohend erhobenem Finger hinzu: „Jeden Besuch, verstehen Sie mich?“ und entließ das Mädchen. Hätte der gute Doktor ahnen können, welch schwere Folgen diese zarte Rücksichtnahme auf die Familie Wodrich herabziehen würde, er hätte der Küchenregentin in seiner drastischen Art sicherlich noch mit Stentorstimme nachgerufen: „Und vor allem, in Dreiteufelsnamen, lassen Sie mir das Fräulein von Hagen nicht herein!“ – so aber beglückwünschte er sich im stillen ob seines feinen Taktes, schärfte seiner Patientin nochmals ein, der grauen Schwester unbedingt zu gehorchen, und verließ das Haus.

Sobald Ernst wieder bei klarem Bewußtsein war und anfing, sich ein wenig zu erholen, war er voll zarter Fürsorge für seine Frau. Ob Rieke auch recht gut für sie kochte, und ob sie auch ordentlich äße, fragte er die brave alte Person wohl zehnmal, und dem Doktor, der grauen Schwester legte er’s jeden Tag aufs neue ans Herz, seine Frau zu pflegen, sie zu schonen. Entschieden war Franziska jetzt der leidendere Teil von beiden. Im selben Maß wie bei Ernst die Besserung zunahm, wandten sich Franzels Gedanken und Sorgen nun wieder dem zu, was wie ein unabweisbares Verhängnis vor ihr stand, durch ihres Gatten Krankheit scheinbar in weite Ferne gerückt, jetzt aber langsam, mit peinvoller Grausamkeit näher und näher kommend. Fragen ohne Ende stürmten auf sie ein und ängstigten sie. Sie, die noch nie einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, machte sich ein wahrhaft grausiges Bild davon. Sie sah sich selber auf der Anklagebank sitzen – nach Franzels vagen Begriffen ein Platz, wo sie mit Taschendieben, Landstreichern und ähnlichem Gesindel in engste Berührung kam; sie sah sich dort sitzen, gedemütigt, entehrt – die Augen aller auf sich gerichtet, dann stand sie vor den Richtern, die Hand zum Schwur erhoben. Auch das war für sie etwas Furchtbares; sie erinnerte sich noch deutlich aus der Religionsstunde, wie heilig solch ein Eid sei, welch’ ungeheure Verantwortung der Schwörende auf seine Seele lüde – und sie zitterte vor Angst. Ob sie wirklich schwören müßte? Und ob diese ganze unheilvolle Geschichte wohl einen Makel auf ihres Mannes Namen und Leben werfen könnte?

Solche Fragen ließen ihr keine Ruhe; je näher der festgesetzte Tag rückte, desto rastloser ward sie, und endlich, da sie an all der heimlichen Qual zu ersticken meinte, beschloß sie, die alte bewährte Freundin aufzusuchen, sich bei ihr ein wenig Trost zu holen – endlich einmal wieder ihr gequältes Herz auszuschütten. Sie überließ ihren Gatten der pflegenden Schwester und ging trotz des eisigen Ostwindes, der ihr fast den Atem benahm, zu Fuß den weiten Weg zu der Rätin.

Frau Lorenz hatte sich lange nicht sehen lassen; sie war durch heftigen Rheumatismus selber ans Haus gefesselt gewesen und freute sich nun doppelt, die junge Freundin zu sehen und von ihr gute Nachrichten über Ernst Wodrichs Befinden zu hören.

„Aber Du selber siehst jämmerlich aus, Franzel,“ sagte die alte Dame mitleidig und rückte für ihren Liebling einen bequemen Stuhl vor den großen Kachelofen, von dem ein warmer, heller Feuerschein ausging, der dem freundlichen Zimmer ein um so gemütlicheres Ansehen gab. Wie der Sturm heulend im Schornstein rumorte und die glühenden Kohlen zuckend aufflammten und rote Irrlichter über Fußboden und Wände entsandten, und wie das ganze Zimmer dabei von einem feinen weichen Rosenduft aus irgend einem altmodischen Riechbüchschen erfüllt war – das alles kam Franziska instinktiv zum Bewußtsein. Die unendliche Behaglichkeit dieses stillen Witwenheims legte sich wohlthuend und sänftigend auf ihre erregten Nerven. Sie kauerte sich fröstelnd in Tante Rätins Sorgenstuhl und schaute auf die Glut, und ihr war, als wäre alle Not und Unruh’ draußen zurückgeblieben, draußen auf den Gassen, wo der Sturm sein unwirtlich Wesen trieb – und hier drinnen sei nichts als Frieden und Ruhe!

Frau Lorenz war leise hinausgegangen, und als sie nun wiederkam und ein feines Schälchen mit duftendem Thee neben ihren Gast hinstellte, da griff Franzel nach dieser lieben, mütterlichen Hand und drückte sie inbrünstig an ihre Lippen.

„Tante Lorenz, bei Dir ist Friede – aber ich …! O Gott, mir ist so bange, so schrecklich bange“, murmelte sie, und ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen.

„Mut, mein Herzel, Du warst ja bis jetzt so tapfer!“ tröstete die alte Dame und streichelte das blasse kalte Gesichtchen. „Was giebt’s denn jetzt wieder? Sprich Dich doch aus, Franzel!“

Und nun kamen all’ die Fragen und Zweifel zum Vorschein: die schreckliche Anklagebank, der Schwur und all das andere, was Franzels Herz bedrückte.

Die Rätin hörte teilnehmend zu; viel Rat oder Trost wußte sie freilich auch nicht zu spenden. Sie hatte ebensowenig wie Franziska je einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, uneingestanden fürchtete sie sich selber vor der Zeugenschaft, die sie mit innerem Widerstreben übernommen. Schweigend und nachdenklich sah sie

[33]

Das Peak-Fort auf Madeira.
Nach einer Originalzeichnung von Franz Leuschner.

[34] ihren Besuch an und sagte endlich: „Wenn Dich das alles so beunruhigt, Kind, so geh’ doch noch ’mal zu dem Doktor Sonnenthal und frage den, ob Du schwören mußt, und ob Du auf der Anklagebank sitzen sollst, und das andre all. Was ist dabei? Er ist doch Dein Rechtsbeistand und ist für dergleichen Dinge da. Wenn ich nur ausgehen dürfte, würde ich gleich mit Dir gehen. – Nun, Kleine?“

Franzel schüttelte den Kopf. „Nein, Tante, allein mag ich nicht hingehen – Aurelie ist ohnehin schon dahinter gekommen und denkt sich Gott weiß was Schlimmes.“

„Die Aurelie? So …“ – Fräulein von Hagen wurde mit einigen recht unliebsamen Bemerkungen bedacht, aber sie hatte es wirklich nicht besser verdient, wie Tante Lorenz seelenruhig meinte.

In der folgenden Nacht lag Franzel lange schlaflos und sann den unbarmherzigen Dingen nach, die ihr Leben dunkel und häßlich machten. Sie wurde von einem bösen Husten gequält, den sie sich wahrscheinlich auf ihrem gestrigen Abendgange geholt. Seit die graue Schwester nachts bei Ernst wachte, hatte man Franzels Bett im Nebenzimmer untergebracht, damit sie möglichst ungestört sei; aber trotz der geschlossenen Thür und trotzdem Franzel bei jedem Hustenanfall ihren Kopf mit Todesverachtung unter die Bettdecke steckte, hörte Ernst es dennoch. Er schickte die Schwester mehrmals zu ihr hinein, und gegen Morgen ließ er sie dringend bitten, liegen zu bleiben und auch einmal an sich selber zu denken. Trotzdem stand Franziska zeitig auf, brauchte irgend ein Hausmittelchen, um den Husten und ihr Gewissen einigermaßen zu beruhigen, und rüstete sich zum Ausgehen. In dieser schlaflosen Nacht war sie zu dem Entschluß gekommen, dennoch den Doktor Sonnenthal aufzusuchen. Sie, eine verheiratete Frau, konnte doch wohl am hellen Vormittag zum Rechtsanwalt gehen, um ihn geschäftlich auf fünf Minuten zu sprechen! Ernst schlief noch, und die Schwester wurde mit der Erklärung beruhigt, sie müsse eine Viertelstunde an die Luft, ihr Kopf schmerze zum Zerspringen.

Bald nachdem Franziska gegangen, klingelte es, und als Rieke nachsah, stand Fräulein von Hagen draußen. Sie war zufällig oder absichtlich mehrere Tage nicht gekommen, sondern hatte sich nur durch ihr kleines Laufmädchen nach Ernsts Befinden erkundigen lassen, hatte deshalb auch noch keine persönliche Abweisung erfahren wie alle anderen Bekannten. Die brave Rieke hatte keine Ahnung von dem Ausgang ihrer Dame, sonst würde sie ihn kaum gelitten haben; sie hatte auch noch ein Wörtlein mitzusprechen! Dem Herrn ginge es besser, die gnädige Frau schliefe noch, berichtete sie daher lakonisch, Besuche dürften aber in der nächsten Zeit nicht angenommen werden.

Aurelie lächelte. Sie sei doch kein Besuch, sie gehöre doch zur Familie, meinte sie. Und wenn es dem Herrn besser ginge und er jetzt wieder bei Besinnung sei, so würde es ihn sicher freuen, seine Cousine zu sehen. Sie disputierten noch eine kleine Weile, Rieke in heiserem Flüsterton, Aurelie absichtlich laut sprechend – zuletzt kam die graue Schwester heraus: der Herr Regierungsrat hätte Fräulein von Hagens Stimme erkannt und bäte sie, einen Augenblick hereinzukommen.

Triumphierend rauschte Fräulein Aurelie an der verdutzten Rieke vorbei und betrat das Krankenzimmer.

Ernst Wodrich hatte nie eine große Zuneigung für diese Cousine gehabt; aus Mitleid hatte er ihr, der Alleinstehenden, nach dem Tode seiner Mutter, die Stelle als Hausdame angeboten. Sie hatte ihn vorzüglich versorgt – daß es nicht ohne sehr ernstliche Nebenabsichten geschah, ahnte er freilich nicht. Als er dann später Franziska Ellwege bei ihrem Winteraufenthalt in der Großstadt kennenlernte und die kaum Zwanzigjährige nach kurzem Brautstande als Herrin in sein Heim führte, that es ihm leid um die durch seine Heirat heimatlos gewordene Cousine; er selber bat Franziska, gut und geduldig mit dem alternden, einsamen Mädchen zu sein. Daß seine angebetete junge Frau keine tödlichere Feindin haben könne als eben diese Verwandte, wäre dem großherzig denkenden Manne nicht eingefallen. Er blieb immer gleich gütig gegen Aurelie, verwaltete ihr kleines Vermögen und legte im geheimen ihren geringen Zinsen noch ein hübsches Sümmchen zu; im übrigen überließ er’s seiner Frau, die Cousine hier und da auch in anderer Weise zu unterstützen, was Franzel bis jetzt auch immer redlich gethan hatte. Heut’ wünschte Ernst die Dame nur deshalb zu sprechen, um ihr die Sorge für Franziska recht warm ans Herz zu legen.

„Sie sieht blaß aus, meine kleine Franzel, findest Du nicht, Aurelie? Sie hat sich zuviel zugemutet, während ich krank war. Aber auch jetzt, wo wir doch die Schwester hier haben, kann die Kleine sich noch nicht recht erholen. Es ist, als ob sie sich mit etwas quälte, und ich kann doch nicht ergründen, womit. Weißt Du’s nicht?“

Aurelie schüttelte mit einer undurchdringlichen Miene den Kopf. Ernst war krank, und Kranke mußte man mit derlei Aufregungen verschonen. Später! – Erspart könnte es ihm ja doch nicht werden.

„Wo steckt sie denn jetzt?“ fragte sie, um nur überhaupt etwas zu sagen.

„Drüben im Wohnzimmer. Sie schläft. Diese Nacht hustete sie furchtbar, sie muß sich gestern bei ihrem Ausgang erkältet haben.“

„Was rennt sie auch bei allem Wind und Wetter spazieren! Solche Nippfigürchen wie sie gehören in den Glasschrank,“ schalt Aurelie, aus der Rolle fallend, „wenn’s draußen weht und schneit. Das ist gut für unsereinen,“ schloß sie bitter.

„Du hast recht,“ erwiderte Ernst arglos, den letzten Satz außer acht lassend. „Aber schließlich will die Kleine doch auch ’mal an die Luft, das ist sie ja von Haus aus gewöhnt.“ Im stillen dachte er, die Cousine, die in Franzels Gegenwart sonst immer so lieblich that, spräche doch recht unfreundlich über sie. Er hatte geglaubt, die beiden Frauen lebten in guter Freundschaft miteinander, Franziska hatte sich nie darüber geäußert – aber er würde sie jetzt doch einmal ernstlich ins Verhör nehmen. Vielleicht hatten die beiden etwas miteinander gehabt?

In diesem Augenblick trat die Pflegerin ins Zimmer. „Herr Regierungsrat, die Medizin!“ mahnte sie freundlich.

Aurelie stand auf. „Adieu, Ernst – und gute Besserung! Ich werde mich jetzt ’mal nach Franziska umsehen.“

Die graue Schwester wandte sich schnell nach ihr um und sah sie bedeutsam an. Aurelie verstand nicht recht, was sie meinte, ging indes schweigend hinaus, und bald folgte ihr die Schwester nach. „Frau Regierungsrat ist ausgegangen,“ flüsterte sie.

„Ich denke, sie schläft?“ fragte Aurelie erstaunt zurück.

Die Schwester schüttelte den Kopf und berichtete, die Rätin hätte sich trotz aller Einwände nicht abhalten lassen, einen kleinen Spaziergang zu machen.

„So – also heimlich fortgegangen?“ murmelte Aurelie mit schadenfrohem Lächeln.

Auch die Schwester lächelte, ein mildes weltunkundiges Lächeln. Sie hatte das Ehepaar in der kurzen Zeit liebgewonnen und fühlte sich wohl bei ihnen. „Frau Rätin wollte nicht, daß ich’s dem Herrn sagte, er könne sich aufregen, meinte sie. Sie ist immer so besorgt um ihn.“

„Sehr besorgt!“ stimmte Aurelie bei und kniff die schmalen Lippen zusammen. Sie wollte gehen, besann sich aber eines anderen. Wann würde sie Ernst jemals wieder allein sprechen? Er war krank, ja – aber sie wollte ihn nicht erschrecken, sie wollte ihn nur warnen. Das war ihre Pflicht! Entschlossen wandte sie sich abermals dem Krankenzimmer zu. „Darf ich noch einen Augenblick wiederkommen, Ernst?“ fragte sie sanft durch die Thür.

„Komm’ nur!“

Die junge Krankenschwester stand unschlüssig neben der Thüre; sie wußte nicht recht, wie weit ihre Befugnisse hier gingen, aber ein gewisser Zug in Aureliens Gesicht hatte sie stutzig gemacht, deshalb sagte sie warnend: „Bitte, regen Sie den Herrn nicht auf, Fräulein!“

Ungeduldig schüttelte Aurelie den Kopf. „Lassen Sie mich nur!“ damit schob sie die Schwester einfach beiseite und ging hinein. „Deine Frau ist spazieren gegangen, Ernst,“ sagte sie ohne weitere Einleitung und setzte sich wieder ans Bett.

„Franzel? Mit ihrem Husten?“ fragte Ernst und richtete sich erschrocken auf. „Was machst Du denn für ein Gesicht, Aurelie? Ist ihr etwas zugestoßen?“

„Gott bewahre! Rege Dich doch nicht gleich so auf! Sie hatte Kopfschmerzen und ging hinaus, verbot aber der Schwester, Dir’s zu sagen.“

„Die Schwester hätte Franzel zurückhalten müssen!“

„Franziska hätte sich wohl schwerlich zurückhalten lassen,“ bemerkte Aurelie bedeutungsvoll.

„Wie meinst Du das? Du quälst mich!“ klagte der Kranke, dem alles Denken noch so schwer fiel, und strich sich nervös mit der abgemagerten Hand durchs Haar.

Der Anblick des leidenden Mannes that der Frau, die ihn so heiß geliebt, die ihn noch immer liebte, weh; für einen Augenblick [35] schien es, als ob das Mitleid in ihrem Herzen siegen würde. Aber es war nur eine flüchtige Regung zum Guten – Aurelie war schon zu weit gegangen, um den Mahnruf des Gewissens zu beachten, außerdem war es ihr ein zu köstliches Vergnügen, dem unerschütterlichen Vertrauen dieses Mannes einen kleinen Stoß zu geben.

„Ich meine,“ sagte sie daher langsam, jedes Wort betonend, „daß Franziska mancherlei Wege geht, von denen ihr Herr und Gebieter nichts ahnt, und daß es für eine so junge Frau vielleicht besser wäre, etwas strenger überwacht zu werden.“

In Zorn und Verachtung blickten die Augen des Kranken auf das falsche Weib, mühsam rang er nach Worten.

„Wie kannst Du es wagen, meine Frau zu verdächtigen – sie, die Dir nur Gutes thut!“ stieß er hastig heraus. „Wenn sie auch jung und unerfahren ist – das merke Dir, Aurelie – Franziska wird nie etwas thun, dessen sie sich vor ihrem Mann zu schämen hat – nie!“

Er sank erschöpft in die Kissen zurück. Als sie, ohne ein Wort des Widerspruches zu wagen, schwieg, fügte er schwach hinzu: „Jetzt geh’, bitte! Um unserer alten Freundschaft willen will ich versuchen, Deine bösen Worte zu vergessen.“

Da stand sie auf und ging hinaus mit dem jammervollen Bewußtsein verfehlter Pläne und eigener Schlechtigkeit.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.


Auf eine Reform unserer Volksfeste hinzuwirken, scheint der Zweck eines Preisausschreibens zu sein, das der Centralausschuß zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland erlassen hat. Die Frage „Wie sind die öffentlichen Feste des deutschen Volkes zeitgemäß zu reformieren und zu wahren Volksfesten zu gestalten?“ soll in einer Abhandlung beantwortet werden, die den Raum von zwei Druckbogen nicht überschreiten darf, für deren Umfang diejenigen der Jahrbücher des Centralausschusses, Verlag von Voigtländer in Leipzig, vorbildlich sind. Von den weiteren Bedingungen machen wir folgende namhaft. Undeutlich geschriebene Arbeiten können nicht berücksichtigt werden. Jede Arbeit ist mit einem Motto zu versehen. Ein verschlossener Briefumschlag mit demselben Motto ist beizufügen; in demselben muß Name und Adresse des Bearbeiters enthalten sein. Die Arbeiten sind bis zum 15. März 1895 frei einzusenden an den Geschäftsführer des Centralausschusses, Direktor H. Raydt in Hannover, Petersilienstraße 2d. Das Preisgericht besteht aus den sechs Vorstandsmitgliedern des Centralausschusses: Abgeordnetem von Schenckendorff-Görlitz, Dr. med. J. A. Schmidt-Bonn, dem Geschäftsführer H. Raydt-Hannover, Professor Dr. Koch-Braunschweig, Gymnasialdirektor Dr. Eitner-Görlitz und Turninspektor A. Hermann-Braunschweig. Diese beteiligen sich an der Bewerbung nicht. Die beste Arbeit wird mit einem Preise von 300 Mark, die beiden dann folgenden mit je 100 Mark prämiiert. Diese drei Arbeiten werden Eigentum des Centralausschusses, der sich vorbehält, dieselben in ihm geeignet erscheinender Weise zu veröffentlichen.

Die erste chinesische Eisenbahn. Daß sich das Reich der Mitte den neueren Errungenschaften der europäischen Kultur gegenüber bisher nicht eben sehr entgegenkommend verhielt, ist bekannt. Auf keinem Gebiete fällt dies mehr auf als auf dem der Eisenbahnen; denn China besitzt auf seinen 11 Millionen Quadratkilometern Land und für seine 360 Millionen Einwohner heute kaum 200 Kilometer Eisenbahn.

Der erste Versuch zur Einführung des modernen Verkehrsmittels wurde anfangs der siebziger Jahre gemacht, und zwar bei der Hafenstadt Shanghai. Dieses „Liverpool des Ostens“ liegt an dem Flusse Wusung, welcher sich bei der gleichnamigen Stadt in den Jangtsekiang ergießt und welcher sowohl bei Shanghai als bei Wusung tief genug ist für die größten Panzerschiffe. Unmittelbar oberhalb der Mündung aber ist der Fluß in seiner ganzen Breite durch eine Sandbarre gesperrt, über der auch bei höchster Flut nur etwa 5½ Meter Wasser stehen – ein recht unangenehmes Hindernis für die Schiffahrt.

Infolge dieser Barre sind die großen Post- und Frachtdampfer der eurapäischen Linien gezwungen, wenn sie ankommen, bei Wusung zu leichten, d. h. einen Teil der Ladung auszuladen und, wenn sie abgehen, die Ladung dort erst zu vervollständigen. Chinesische Schiffer übernehmen in beiden Fällen das Geschäft, die Waren von oder nach den großen Schiffen zu befördern.

Weil aber Zeit Geld ist, so kamen die beteiligten Dampferkompagnien auf die Idee, eine Bahnlinie zwischen Shanghai und Wusung bauen zu lassen, die ihnen raschere Arbeit gemacht hätte als die chinesischen Dschonken. Auf ihr Ansuchen und durch Vermittlung der verschiedenen Gesandten erhielt auch eine europäische Gesellschaft die Genehmigung zum Bau gedachter Bahn. Mit großen Unkosten wurde das Material für die etwa 45 Kilometer lange Strecke aus Europa beigeschafft und endlich nach jahrelangem Bau stand 1876 diese erste Eisenbahn Chinas fertig da, von den Europäern gefeiert als die Bahnbrecherin einer neuen Aera.

Allein die Rechnung war ohne den Wirt gemacht.

Hunderte, ja Tausende von Menschen hatten aus dem Güterverkehr zu Wasser als Schiffer, Ladeknechte etc. ihren Lebensunterhalt gezogen. Sie standen da und hatten nichts, als jener Verkehr zum weitaus größten Teil der Bahn zufiel. Zudem verbot ein uralt ehrwürdiges Gesetz den „Wasserchinesen“ – und dazu gehörten alle diese Fischer, Kahnführer, Bootsleute etc. – jegliche Art von Geschäftsbetrieb auf dem Lande. Begreiflich darum, daß sie die neue Einrichtung mit feindseligem Grolle betrachteten. Religiöser Fanatismus kam hinzu, und eines Tags riß eine wütende Menge die Schienen auf, schoß mit Kanonen nach den Zügen, und als die Regierung die Bahn pflichtgemäß schützen wollte, erhob sich die ganze Gegend in offenem Aufruhr.

Schließlich gab die Regierung nach. Sie kaufte die Bahn an und ließ sie abbrechen. Ein Jahr, nachdem man sie unter hochtönenden Worten eingeweiht, war die erste Eisenbahn in China wieder vom Erdboden vertilgt. Die Schienen wanderten nach Takao auf der Insel Formosa, um dort zu Hafenbauten verwendet zu werden; da es aber dazu an Geld fehlte, so blieben sie liegen, bis sie vom Rost zerfressen wurden.

Der „letzte Lieutenant der Großen Armee“, Nicolas Savin, dessen merkwürdige Schicksale in Nr. 42 des vor. Jahrgangs der „Gartenlaube“ von Paul Holzhausen geschildert wurden, ist inzwischen, am 15. Dezember v. J., in Saratow gestorben. Am 17. April 1768 geboren, war er wohl der älteste aller Veteranen der Armeen Napoleons I., die bis in die Gegenwart gelebt haben, zählte er doch im Jahre 1812, in welchem der furchtbare Tag an der Beresina ihn in russische Gefangenschaft geraten ließ, bereits 44 Jahre. Wie sich Savin in Rußland dann eine bürgerliche Existenz als Sprachlehrer begründet und im halbasiatischen Saratow lange Zeit in glücklicher Ehe und nach dem Verlust seiner Frau an der Seite der einzigen Tochter in wunderbarer Rüstigkeit weitergelebt hat bis in unsere Tage, ist in dem Aufsatz des Näheren dargelegt worden. Nachtragen können wir dagegen heute eine Auskunft, zu deren Einholung uns verschiedene Anfragen aus den Kreisen unserer Leser veranlaßt haben. Wie es der Hundertsiebenundzwanzigjährige angefangen hat, sich in so hohe Jahre hinein rüstig zu erhalten, war der gemeinsame Sinn dieser Fragen. Direkte Auskunft hat der Verstorbene nicht mehr erteilen können. Aber der Gewährsmann Holzhausens und langjährige Freund Savins, C. Woensky, glaubt das Wunder auf sehr einfache Weise dadurch erklären zu sollen, daß große Mäßigkeit in allen Lebensgenüssen seinem Freund von klein auf zur Gewohnheit geworden war.

Das Peak-Fort auf Madeira. (Zu dem Bilde S. 33.) Die Insel Madeira hat zwei Gesichter, ein finstres und ein freundliches. Jenes bietet sie dem, der von Norden sich nähert, dieses lächelt dem Seefahrer, der von Süden kommt. Dort stürzt die Küste in steilen Felsmassen jäh zum Meere ab, hier steigt das Gebirge in sanften Wellen allmählich empor und seine Hänge kleiden sich in heitere Farben. Am schönsten Punkt der Südküste liegt Funchal, die Hauptstadt und der einzige Hafen der Insel; malerisch bauen sich an dem Bergrund seine weißleuchtenden Häuser empor, betupft mit grünen Fensterläden, und die roten Dächer stechen vorteilhaft ab gegen das dunkle Grün der Cypressen, Lorbeerbäume und Kastanien, welche rings um die Stadt und in den Gärten zwischen den Gebäuden emporragen. Nur ein Punkt will nicht ganz zu dem paradiesischen Bilde stimmen; das sind die derben trotzigen Mauern des Peak-Forts, welche Stadt und Reede von Funchal beherrschen; doch gießt die Sonne des Südens auch über sie ihren Glanz aus, die üppige Vegetation drängt empor und steigert die malerische Wirkung des Kontrastes.

Madeira ist heute portugiesischer Besitz, wie Portugiesen die ersten europäischen Besiedler der Insel waren; ein Gouverneur, der über eine Abteilung Artillerie und Infanterie gebietet, vertritt die Regierungsgewalt des Mutterlandes. Zeitweise hatten auch die Engländer ihre Hand auf die Insel gelegt; aus jener Zeit stammt der englische Name des Forts. Engländer vermitteln auch heute noch in erster Linie den Handel mit den Erzeugnissen des Landes, besonders dem köstlichen Madeirawein, und ihnen gehört die Kohlenstation zu Funchal, um deren willen der sonst keineswegs sehr günstige Hafen daselbst von den meisten vorüberfahrenden Dampfern aufgesucht werden muß. Auch in die Kolonie derer, die Madeira um seines gleichmäßig milden Klimas willen zur Heilung ihrer kranken Lungen aufsuchen, stellen die Engländer den stärksten Zuzug. Die ansässige Landbevölkerung, etwa 135 000 Köpfe stark, ist portugiesischer Abkunft, aber in den unteren Schichten durch Mauren und Neger stark beeinflußt. Eine Eigentümlichkeit der Nationaltracht, die leider immer mehr im Schwinden begriffen ist, bekommen wir aus dem Bilde Franz Leuschners noch zu sehen: es ist die sogenannte „Carapuça“, ein Käppchen aus blauem Tuch mit langer Spitze, das von Männern und Frauen gleichermaßen getragen wird.

Neumanns Ortslexikon des Deutschen Reichs. Ein nützliches Nachschlagebuch für den Schreibtisch und die Familienbibliothek ist schon immer Neumanns Ortslexikon des Deutschen Reichs gewesen. Nachdem es nunmehr durch Wilhelm Keil einer durchgehenden Neubearbeitung (3. Auflage, Verlag des Bibliographischen Instituts in Leipzig) unterzogen und in den Zahlenangaben, Kartenbeilagen etc. auf den Stand der Gegenwart gebracht worden ist, erfüllt es wieder in jeder Hinsicht die Anforderungen, die man billigerweise an ein derartiges Werk stellen kann. Aufgenommen [36] sind alle Ortschaften über 300 Einwohner, außerdem auch solche kleinere Wohnplätze, die durch eine Eisenbahn-, Post-, Telegraphenstation, durch eine Pfarrkirche, ein großes Gut, einen großen Hof, eine nennenswerte Industrie oder dergl. ausgezeichnet sind. Von jedem dieser Orte werden die politische Zugehörigkeit, die Einwohnerzahl und je nachdem die Gerichtsverhältnisse, Verkehrsanstalten, Behörden, Kirchen- und Schulverhältnisse, hervorragende Industrien, Banken, geschichtliche Merkwürdigkeiten, Reinertrag von Acker- und Wiesenland etc. mitgeteilt. Eine kurzgefaßte geographisch-statistische Uebersicht über das Deutsche Reich geht voraus, erläutert durch verschiedene Karten, wozu noch die Abbildungen von 275 Staats-, Provinz- und Stadtwappen sowie 31 Stadtpläne kommen. Kurz, das Ganze ist eine ziemlich erschöpfende deutsche Landeskunde in zweckmäßigster Form.

Er muß heraus! (Zu dem Bilde S. 24 und 25.) Das schreckliche Wort ist gesprochen: der Zahn muß heraus! … Tödliches Entsetzen packt die junge Frau, angstvolles Mitleid den neuvermählten Gatten, der alles darum gäbe, seinem „Engel“ diesen Schmerz zu ersparen. Die Mama nimmt die Sache weniger tragisch, aber sie kennt ihr verwöhntes Töchterchen und sucht Besänftigungsmittel anzuwenden, während die hübsche Schwester etwas demonstrativ die Ohren verstopft, denn sie weiß gleichfalls, was jetzt losgehen wird, wenn der alte Medikus die verborgen gehaltene Zange wirklich ansetzt! Nach dem bereits umgeworfenen Sessel, der zerschmetterten Tasse und dem zur Verteidigung seiner Herrin angriffbereiten Bello zu schließen, kann die Scene sehr dramatisch werden. Ihr erstes Opfer wird wohl der neugierige kleine Bediente sein, der seine Gläser so ahnungslos in den Mittelpunkt der Gefahr hineinhält – er fliegt ohne Zweifel schon im nächsten Augenblick mit ihnen an die Wand! Aber endlich wird der alte Medikus triumphierend den Missethäter emporhalten und die junge Märtyrerin schluchzend in die Arme ihres zärtlichen Trösters sinken!

Ein ergötzliches Bild aus der empfindsamen Urgroßväterzeit und mit der vollkommenen Treue dargestellt, welche den Gemälden F. Simms einen so eigenartigen Reiz und ihren großen künstlerischen Wert verleiht.Bn.     

Moderne Diskuswerfer.
Nach einem Gemälde von R. Focardi.

Moderne Diskuswerfer. Der Titel unseres obenstehenden Bildes, das dem modernen Straßenleben einer Landstadt in der Umgebung Roms vortrefflich abgelauscht ist, richtet unseren geistigen Blick in ferne Vergangenheit. Das Diskuswerfen war bei den alten Griechen eines der beliebtesten gymnastischen Spiele. Der Diskus ist eine flachrunde Wurfscheibe aus Stein; die den Diskus warfen, hießen bei den Griechen Diskobolen, und das dem famosen griechischen Pentathlon, Fünfkampf, zugezählte, unendlich beliebte, Männer und Buben ergötzende Spiel hieß Diskobolie. Und weiter erinnern wir uns, daß ein schöner, zu Aegina aufgefundener bronzener Diskus, anderthalb Kilo wiegend, im Berliner Museum aufbewahrt wird, und ferner der vor hundert Jahren in der Villa Adriana ausgegrabenen, im Vatikan zu Rom abgestellten Statue eines Diskobolos, Marmorkopie der Erzarbeit des berühmten Myron. Welch herrliches Muskelspiel! Seht, wie der Oberleib des Diskuswerfers nach vorn mit einer gewaltsamen Beugung zur rechten Seite hin gesenkt ist und seinen Ruhepunkt auf dem linken Beine findet. In reizender Biegung ist der rechte Arm rückwärts über der Schulterhöhe gehoben, um mit voller Kraft die Scheibe im Bogenwurf schleudern zu können! Die glücklichen Alten, die so herrliche Bilder täglich vor Augen hatten! So erläutert der begeisterte Kenner des hellenischen Altertums die Statue.

Unser Bild aber führt uns auf eine der Landstraßen, die von der römischen Kapitale in die klassischen Nester hineinlaufen: ein Stückchen ungefälschten Altertums spielt sich hier zwischen den grauen Mauern vor unsern Augen ab. Würdig der Vorfahren, in Gesichtern, Haltung und Gebärden, anständig auch in abgeschabten Mänteln und zerrissenen Schuhen, schleudern die modernen Quiriten „lauthin sausend“ ihren steinernen, nach berühmten Mustern geformten Schleifstein-Diskus die Straße entlang. Das Wurfobjekt hat nichts als seinen Namen geändert und heißt in italienischer Zunge „Ruzzola“ oder „Ruzzolone“, d. h. Rutschstein, Rollstein, vom Verb „ruzzolare“ = polternd rollen oder rutschen.

Wilhelm Müller, in seinem „Rom, Römer und Römerinnen“, sah es noch auf allen Plätzen und Straßen Roms, namentlich auf dem Campo Vaccino, wo es längst verboten ist, spielen. Ich sah es oft vor den Mauern Roms, öfter in den Bergstädten des Albaner und Sabiner Gebirgs und bewunderte wie jener den marmornen Diskobolos, das lebendige Fleisch und Blut, die hüpfende Leidenschaft in Muskeln und Augen, das auferstehende oder vielleicht niemals gestorbene Altertum. Ich würde die Sache besungen haben, wenn nicht ein Höherer das bereits vor ein paar tausend Jahren gethan. Odysseus zeigt sich mit seinem Diskus vor dem versammelten Volk der Phäaken; er packte den Stein und Homer sang:

„Diesen schwang er im Wirbel und warf aus gewaltiger Rechten …
Lauthin sauste der Stein: da bückten sich schnell zu der Erde
Ruderbewährte Phäaken umher, schiffkundige Männer
Unter dem Schwunge des Steins; und er flog weit über die Zeichen!“

Wie interessant, das „giuoco del ruzzolone“ schon von Homer besungen zu sehen!Woldemar Kaden.     


Inhalt: Meiner Mutter. Gedicht von Wilhelm Langewiesche. Mit Bild. S. 21. – Buen Retiro. Von Marie Bernhard (1. Fortsetzung). S. 22. – Er muß heraus. Bild. S. 24 und 25. – Das Haberfeldtreiben. Von Arthur Achleitner. S. 27. Mit Bild S. 29. – „Deutschland, Deutschland über alles.“ Von Rudolf von Gottschall. S. 30. – Um eine Kleinigkeit. Novelle von Jassy Torrund (1. Fortsetzung). S. 30. – Das Peak-Fort auf Madeira. Bild. S. 33. – Blätter und Blüten: Eine Reform unserer Volksfeste. S. 35. – Die erste chinesische Eisenbahn. S. 35. – Der „letzte Lieutenant der Großen Armee“. S. 35. – Das Beak-Fort auf Madeira. S. 35. (Zu dem Bilde S. 33.) – Neumanns Ortslexikon des Deutschen Reichs. S. 35. – Er muß heraus! S. 36. (Zu dem Bilde S. 24 und 25.) – Moderne Diskuswerfer. Von Woldemar Kaden. Mit Abbildung. S. 36.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.