Die Gartenlaube (1895)/Heft 18
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Nr. 18. | 1895. | |
Haus Beetzen.
(4. Fortsetzung.)
In der guten Stube der Mutter Busch brennt eine Lampe.
Ditscha sitzt auf dem Sofa, Hans geht im Zimmer auf und
ab, keines spricht ein Wort. Sie wagt nicht, die Augen
aufzuschlagen, sie hat weiter keine Gedanken, als daß sie etwas thut,
was sie nicht darf und das sie doch thun muß.
Er kommt endlich herüber und kniet vor ihr nieder. „Ditscha, ich danke Dir, ich weiß, wie schwer Dir diese Heimlichkeit wird, aber verlaß mich nicht! Du ahnest nicht, was ich in diesen Tagen gelitten habe.“
„Wirklich?“ fragt sie.
„Ich habe nichts vornehmen können, nicht arbeiten, nicht ruhen, immer in dem einen Gedanken, sie liebt dich nicht – sie liebt dich nicht! Ach, ich hätte Lethe trinken mögen, um Dich zu vergessen, oder, da der edle Stoff leider nicht mehr verzapft wird auf dieser jämmerlichen Welt – Wein, Wein!“
Sie faltet plötzlich die Hände. „O, thue das nicht,“ bittet sie kindlich, „thue nur das nicht, es ist ja fürchterlich, und – ich bin so verzweifelt gewesen, als ich erfuhr, daß Du in Bützow so –“
Er lächelt, als er aber in ihr Gesicht blickt, versteht er sie und wird ernst und düster. „Wenn der gute Engel sein Antlitz fortwendet –“ murmelt er.
„Was soll nun werden?“ fragt sie nach einer langen Pause, während welcher er ihre beiden Hände abwechselnd an die Lippen drückt.
„Ich weiß es nicht,“ antwortet er, „alles hängt von Dir ab. – Wenn Du mir gut bleibst, wenn ich Dich sehen darf zuweilen, Deine Hand küssen darf, dann will ich so brav, so fleißig, so zufrieden sein, Ditscha!“
„Um Gotteswillen – wo soll ich Dich sehen? Ich kann doch nicht wie eine Baunerndirne Dich abends auf der Straße treffen!“
„Nein, das kannst Du nicht, und es wird auch Winter.“
„Onkel erlaubt nicht, daß Du kommst – ach, und jetzt um Weihnacht herum erst gar nicht. Unser Haus ist wie ein Grab, mich schaudert’s, wenn ich daran denke, daß es wieder Weihnacht wird.“
„Ich sage Dir, Ditscha, ich muß Dich sehen!“ ruft er heftig.
Sie zuckt die Schultern unmerklich und blickt ihn ratlos an.
„Hier würde es doch gehen, Ditscha?“ „Hier? Nein – nein! Diese Grete Busch betrachtet mich mit so wunderlichen Augen. – Ich kann sie nicht leiden, ich glaube, sie muß schlecht sein. – Bitte, nicht hier!“
„Aber sie ist nun einmal eingeweiht!“ ruft er aus.
„Und wer that das?“ fragt sie heftig.
„Du, mein Närrchen, mein liebes! Oder glaubst Du, diese Grete ist auf den Kopf gefallen? Wenn ein schönes Mädchen ihr einen Brief an einen jungen Herrn übergiebt, da soll sie wohl denken, es handelt sich um – ja, um was denn gleich – um ein Stickmuster oder dergleichen?“
Ditscha senkt den Kopf und beißt sich auf die Lippen.
„O, Du liebst mich nicht, Ditscha, zwinge Dich nicht!“ seufzt er und stellt sich an den Thonofen, in dem ein bißchen Torf glimmt. „Weißt Du, solche Geschichte ist schlechterdings nicht möglich durchzuführen ohne eine Helferin. Sie ist ein fideles Haus, diese Grete. – Und was sie sich denkt? Gar nicht viel, eben nur, daß wir zwei Menschen sind, die sich liebhaben, die nicht zusammenkommen sollen und nicht voneinander lassen können, und wenn sie noch was denkt, so ist’s: ‚Arme Seelen, ich will Euch helfen, damit Ihr nicht untergeht in Sehnsucht und Verzweiflung‘; und das thäten wir ja, Ditscha – das heißt ich, von Dir weiß ich’s ja nicht, glaube es fast nicht – aber ich – Teufel, mir ist das Leben keinen Pfifferling wert ohne Dich!“
„Bitte, sage das nicht.“
„Ich sage es aber doch!“ stößt er hervor und wirft die Reitpeitsche auf den Tisch, „ich sage es doch, denn es ist die Wahrheit; und verläßt Du mich – na – Du weißt ja –“
Ditscha denkt an Onkel Joachim, an den trunkenen Onkel Joachim. „Hier, hier also – ich werde kommen – aber –“
„Kein Aber!“ Und er kniet wiederum nieder und gebärdet sich wie närrisch vor Glück und Dankbarkeit, während dem Mädchen ein paar große Tropfen aus den Augen laufen und ihre Hände auf seinem Kopfe ruhen, eine Situation, so matronenhaft wie möglich, als ob eine Mutter ihren scheidenden Sohn segnet.
„Darf ich’s meiner Mutter schreiben?“ fragt er. Und wie sein bildhübsches Gesicht zu ihr aufschaut mit den kecken blitzenden Augen, nickt sie.
„Thue es und grüße sie von mir, Hans!“
Dann erhebt sie sich und sucht nach ihrem Mantel. Den üblichen Abschiedsküssen zu entfliehen, gelingt ihr nicht. Sie verläßt vor ihm das Haus, er hat’s übernommen, Grete zu verständigen.
Grete lacht, als er ihr auseinandersetzt, daß seine Braut und er sich hier treffen wollen. „O je,“ sagt sie, „das gnädige Fräulein – na ja – ’s ist überall dasselbe, ein Mensch ist wie der andere, immer die gleiche Geschichte, na – mir kann’s recht sein.“
„Werden Sie nicht unbescheiden, mein Kind,“ sagt er gönnerhaft und nachlässig, „es ist nicht immer dasselbe, wenn sich’s auch gleich ansieht.“ Er hat seine Mütze aufgestülpt, nickt ihr nochmal zu und verläßt die Stube. Ihr spöttisches Kichern schallt hinter ihm her, und als er sich umwendet, sieht er, wie sie ihm eine Nase macht.
„Tolle Person!“ spricht er vor sich hin, ohne sich weiter darum zu kümmern.
Im Herrenhause geht alles seinen alten Gang. Die Tage werden kurz, die Abende endlos, draußen bleibt’s beim naßkalten Wetter.
„Grüne Weihnacht!“ murmelt Onkel Jochen, „’s könnte immer grüne Weihnacht sein, dann wär’ niemals Eis gefroren und – dann – ja dann –“
Tante Klementine beobachtet Ditscha so viel sie kann, und Hanne muß spionieren. „Sie scheint sich die Unglücksaffaire endgültig aus dem Kopfe geschlagen zu haben,“ ist das Resultat dieser Beobachtungen.
Ditscha ist stiller und träumerischer als je, nur manchmal hat sie Momente, wo sie wie von innerer Unruhe förmlich umher gejagt zu werden scheint. Tante Klementine hat unsägliches Mitleid mit dem Kinde, das in dieser Atmosphäre von Gram und Wärmelosigkeit leben muß. Sie beschließt, ihr auf eigne Faust und ganz heimlich eine kleine Weihnachtsfeier zu bereiten, denn, wenn auch ein Weihnachtsbaum nicht ins Haus kommen soll, hier oben bei ihr darf er gewiß erstrahlen.
„Hanne, Du läßt mir ein hübsches Bäumchen aus der Schonung holen und besorgst Lichter,“ befiehlt sie, „denn in diesem Jahre ist’s doppelt trübselig für unser Kind. Hanne, ich meine doch, es wäre viel weniger schwer für Ditscha, diese traurige Weihnacht zu ertragen, wenn ihr jemand die Wahrheit sagte. Ich verstehe die dumme Prüderie nicht, Hanne,“ fügt sie hinzu, „ich bin überzeugt, wenn Ditscha wüßte, daß sie ein Geschwisterchen haben soll, es würde sie mit größter Freude erfüllen.“
„Ja, natürlich, gnä’ Fröln,“ pflichtet Hanne bei, „aber wenn’s der Herr Papa nu’ mal partout nicht will, daß sie’s wissen soll?“
Ach, wie recht hatte Tante Klementine! Was hätten sie verhindern können, wenn diesem einsamen jungen Geschöpf gesagt worden wäre: „Es wird etwas da sein um Weihnacht, das Du lieben darfst von ganzer Seele, mit der ganzen großen Liebesfähigkeit Deines Herzens. Nicht aus irgend einem nichtigen Grunde wirst Du fern gehalten vom Vaterhause.“ – Wie oft hat Tante Klementine bereut, nicht Ditschas Hand genommen zu haben, um ihr zu sagen: „Freu’ Dich, Ditscha, in diesem Jahre wird Dir ein Bruder geboren oder eine Schwester.“
Tante Klementine hofft so viel, so außerordentlich viel von diesem kleinen Künftigen. Erstens hofft sie, daß es ein Junge sei. Jochens wegen und Beetzens wegen, ein Erbe, ein Ersatz. Joachim mit seinem kinderguten Herzen würde ja für einen kleinen Baron Kronen doch ein wärmeres Interesse haben, wenn er auch den Liebling seines Herzens nie vergessen könnte. Und dann hofft sie für Ditscha und für das ganze alte Haus; sie ersehnt das Kleine, wie die nächtliche Erde die Sonne ersehnt, denn es soll Licht und Wärme bringen und neues Leben. Vorläufig freilich hat die Nachricht von der Erwartung eines Erben bei Jochen [295] und seiner Frau scheinbar eine noch tiefere Trauer verursacht, sie hatten mit seltsam blassen Gesichtern dagesessen, als ob sie’s nicht überleben würden, den Thron von Beetzen anders besetzt zu sehen als von ihrem Sohne. Es wäre in diesen Novembertagen den beiden Trauernden das Liebste gewesen, ein Abgrund thäte sich auf und verschlänge ganz Beetzen und sie dazu und ihre ewig wehen Herzen.
Niemand merkt etwas von Ditschas Liebe. Erstlich hätten sie es samt und sonders für ganz unmöglich gehalten, daß eine Tochter des Hauses von Kronen heimliche Zusammenkünfte habe mit dem Manne, der ihr versagt sein sollte nach weisesten Familienbeschlüssen, und zweitens – nochmals derselbe Grund: die Sache ist abgemacht. So lange das Geschlecht derer von Kronen besteht, hat nie ein Fräulein dieses Hauses anders gefreit als mit vollster Billigung sämtlicher Familienmitglieder, immer ist’s eine passende Partie gewesen, immer waren es geregelte Verhältnisse, in die sie eintrat, nach üblicher streng bemessener Verlobungszeit unter den Augen der Mutter, als eine gemessene würdige Braut zum Altar schreitend, um auf irgend einem Edelsitz eine tüchtige, hochansehnliche, tadellose Hausfrau zu werden.
Man achtet also nicht mehr als gewöhnlich auf Ditscha – die Sache ist abgethan! Sie merken es auch nicht, daß das schöne Mädchen still und stiller wird. Sie zieht sich vor jedem Scherz Jochens, der beim dritten Glase Grog nach wie vor erfolgt, blutrot und verletzt zurück, und weder dem Onkel noch der Tante fällt das auf, denn Jochen von Kronens Lustigkeit ist ja nur ein Aufflackern, das mit dem vierten Glase bereits erlischt, um dem alten Elend zu weichen. Tante Klementine sieht ein wenig schärfer, aber auch nicht genug, nur das sieht sie, daß die Stimmung des Mädchens wechselt, daß sie von der tiefsten Niedergeschlagenheit zur schrecklichsten nervösen Gereiztheit sich steigern kann, daß sie entweder gar nicht spricht oder lange Reden hält von Pflicht, von Liebe, von Selbstlosigkeit – Dinge, die die kranke Dame nicht versteht, und die sie mit dem Hinweis auf irgend etwas Alltägliches herabzustimmen sucht.
Arme Ditscha! Sie kann’s nicht mehr ertragen, wie’s jetzt ist, sie, der Lüge und Heimlichkeit so schrecklich sind, daß es ihr wie ein Gang zum Schafott erscheint, wenn sie zur Gärtnerwohnung hinüber schleicht, um dort Hans von Perthien zu sehen, Hans, der sie immer mit demselben Vorwurf empfängt, daß sie ihn nicht liebe, der sich in den bittersten Ausdrücken beklagt über die jammervolle Heimlichthuerei, und der stets damit endet, sie anzuflehen, daß sie ihm treu bleibe, ihn rette, und jedesmal sein Ehrenwort darauf giebt, er werde sich, wenn sie ihn verließe, in den Strudel stürzen, wo er am tiefsten, und daß es ihm bei Gott! gleich sei, wenn man ihn eines Morgens aus der Gosse auflese!
Mitunter spricht er auch von seiner Mutter und wie lieb es sein wird, wenn sie dann beide auf Wandersleben wohnen und Ditscha der alten Dame die Schlüssel abnimmt und spricht: Jetzt ruhe Dich aus, ich sorge für Dich! – „Nicht wahr, das soll ein Leben werden in richtiger treuer Pflichterfüllung, Ditscha? Denn, siehst Du, Arbeit und Treue zu seinem Beruf, das ist das Wahre.“
Er hat jetzt herausgefunden, daß Ditscha das Leben ernst nimmt, daß sie krank ist aus Sehnsucht nach Aufopferung und Liebe, ernster wahrer Liebe. Tändelei, Liebelei und Koketterie sind ihr völlig fremd.
Sie leidet Höllenqualen bei diesen Zusammenkünften. Sie sitzt auf dem Sofa, die Hände zusammengepreßt, bei jedem Geräusch erschreckend, das schöne kindliche, doch ernste Gesicht überflutet bald eine tiefe Röte, bald eine fahle Blässe, sie ist hundertmal daran, zu rufen: „Ich ertrag’s nicht länger – gieb mir mein Wort zurück!“ Dann sieht sie wieder Onkel Jochen vor sich, schwankend, lallend, und dann schweigt sie. Grete Busch kommt gewöhnlich mit ihrer Arbeit und setzt sich zu dem jungen Paar an den Tisch; der Karlbruder ist auf Wache gestellt, falls Mutter rufen oder Vater sie suchen sollte. – Ditscha wünscht Gretes Gegenwart, obgleich sie ihr unsagbar unsympathisch ist, und Hans von Perthien hat erst recht nichts einzuwenden, denn der „tugendhafte kleine Eiszapfen“, der beim Kommen und Gehen ihm kaum einen Kuß gestattet, der seine überaus strengen Ansichten so bestimmt und kurz verficht, überhaupt so unbräutlich wie möglich sich gebärdet, macht die Situation zu einer ziemlich ledernen, wie er meint.
Grete bringt etwas Humor hinein. Sie erzählt von ihrem Berliner Leben, soviel sie es für gut findet, und bisweilen pfeift sie die Melodie irgend eines Couplets, zu dem Hans die Worte kennt und sich dann totlachen will, wobei Ditscha ihn erstaunt ansieht und Grete unentwegt weiter pfeift mit einer Verve, als wenn sie ein Berliner Gassenjunge wäre. Ehe die Abschiedsstunde schlägt, entfernt sich Grete diskret und Hans von Perthien hat noch Gelegenheit, Ditscha zu versichern, wie sehr er sie liebt und daß er ohne sie verloren ist.
Mutter Busch liegt noch immer krank. Sie ahnt nicht, was da in ihrer guten Stube vor sich geht, Vater Busch merkt’s auch nicht, er döst so vor sich hin und betritt überhaupt den Raum nie. Die Hoffahrt seiner Frau, eine gute Stube zu besitzen, hat ihn immer empört. Er hätte das Zimmer lieber zur Schlafstube gehabt, die nun oben liegt. „Na aber, de Wiwer don’t nich anners, un ein Glasschrank mit’n paar vergoldete Tassen geiht jümm över de Gemütlichkeit.“
Nun kommt die Zeit, wo die alte Gärtnersfrau wieder aufstehen soll, und Grete ist selbst unsicher, ob die Mutter nichts merken wird, und ob sie, wenn sie etwas merkt, auch stillschweigt. „Sie wäre imstande und ginge geradeswegs zum Herrn Baron,“ erklärte Grete eines Tages, „Mutter ist so snurrig in so etwas!“ – Grete weiß aus eigener Erfahrung, wie „snurrig“ Mutter Buschens Ansichten „in so ’was“ sind, und daß die brave ehrliche Frau lieber sterben würde, als dem gnädigen Fräulein Ditscha Gelegenheit geben, ihren Schatz hinter dem Rücken des Herrn Onkels in ihrem, Mutter Buschens, Haus zu empfangen, Fräulein Ditscha, die ihr Liebling und ihr Stolz ist, und die die alte Frau den Sonnenschein von Beetzen nennt.
Die drei jungen Menschenkinder sind wieder in der „guten Stube“ versammelt, als Grete im Flüsterton diese Andeutungen macht. Es ist der sechzehnte Dezember herangekommen und Ditscha ist in der Zeit mager und elend geworden, denn sie weint die Nächte hindurch und schwankt zwischen Selbstverachtung und Opferfreudigkeit.
„Und überhaupt,“ fährt Grete fort, „es muß nun doch ’mal anders werden, gnä’ Fräulein Sophie. Ich heirat’ gleich nach Neujahr und dann geh’ ich nach Berlin, und Mutter, ich hab’s schon gesagt, gnä’ Fräulein, Mutter erlaubt’s nicht, daß sich gnä’ Fräulein hier Rendezvous geben, sie ist so snurrig.“
Ditscha, die auf dem Sofa sitzt, hebt die Augen nicht vom Boden und ist sehr blaß. Hans von Perthien steht am Ofen und Grete setzt sich nach einem „Ist’s erlaubt?“ an den Tisch vor die Petroleumlampe und stickt emsig an einem Rückenkissen weiter; sie kann dabei sprechen, denn sie füllt nur aus, der Pferdekopf mit wallender Mähne ist bereits fertig in grau und weißen Perlen. Dieses geschmackvolle Stück soll das Sofa in Gretes künftigem Heim schmücken und vorläufig als Weihnachtsgeschenk für ihren Alfred dienen.
„Ditscha, wie soll das werden?“ singt Hans von Perthien sein altes Lied, „ich ertrag’s nicht, wenn ich Dich nicht sehe.“
„Ich wüßt’, was ich thät’,“ erklärt Grete, „ich heiratete heimlich – nachher, da ist nichts mehr dran zu ändern, da müssen die Herrschaften zufrieden sein.“ Grete hat blühende Schilderungen von heimlichen Trauungen in ihren Colportageromanen gelesen, besitzt aber keine Ahnung, ob so etwas wirklich möglich ist. Ditscha ist so unerfahren, sie weiß überhaupt gar nichts von Recht und Gesetz als das, was man so gewöhnlich erfährt, sie hat wohl schon von heimlichen Trauungen gehört, aber sie schüttelt den Kopf.
Hans von Perthien beißt sich auf die Lippen. Grete hat da etwas ausgesprochen, das er schon längst vorschlagen wollte und sich dennoch scheute, es zu thun vor Ditschas reinen Kinderaugen. Daß eine heimliche Trauung völlig unmöglich ist hier zu Lande, das weiß er ja, aber – wenn er Ditscha bereden könnte, mit ihm zu fliehen, dann würden Papa und Onkel Kronen doch schließlich sehr bald die Trauung folgen lassen, und – Hans von Perthien ringt wie ein Ertrinkender mit seinen Gläubigern, und außerdem, er ist wahr und wahrhaftig vernarrt in das schöne Geschöpf, und mit ihr und ihrem Erbteil kann er auf Wandersleben, da droben am Harz, residieren wie ein kleiner Fürst. Es ist obendrein so hundemäßig langweilig in der Welt, und wenn ’mal wirklich etwas Romantisches passiert, so ist’s eine Wohlthat für eben diese Welt. Möglicherweise wird die Geschichte einen großartigen Lärm absetzen und alle üblichen Register werden aufgezogen werden – Vaterfluch – Enterbung, Verachtung Ditschas und ihres Erkornen, aber nein, sie werden still sein, ganz still.
[296] Grete stichelt unbeirrt weiter. Ditscha sieht sich im Geist auf Wandersleben – ja, wenn’s so sein könnte! Das Herrenhaus kennt sie genau aus Hansens Beschreibung, es liegt im schattigen Garten und von seiner Terrasse aus sieht man die blauen Harzberge. Und auf dieser Terrasse sitzt Mama Perthien mit dem Strickzeug, Mama Perthien, der Hans so ähnlich sein soll; daneben im Lehnstuhl Papa Perthien, und beide lächeln, denn die Last des Lebens ist von ihren Schultern genommen, und Ditscha schenkt ihnen Kaffee ein und meint, Hans, ihr Mann, muß gleich zurückkommen vom Felde, und Papa Perthien streichelt Ditschas Hand und sagt: „Daß der wilde Bursche so ein prächtiger, braver, tüchtiger Mann geworden ist, das danken wir Dir, Töchterchen!“ – –O, wie schön, wie schön könnt’ es so sein!
„Es ist Zeit,“ sagt Grete endlich, „im Herrenhause schlägt’s sechs Uhr vom Turm.“
Ditscha fährt empor – Grete ist aufgesprungen und hinausgegangen.
„Adieu, Hans!“ flüstert Ditscha.
„Adieu! – Und vom Wiedersehen sprichst Du kein Wort, Ditscha?“
„Ich weiß keinen Rat, Hans.“
In diesem Augenblick fliegt die Thür auf, Grete springt mit ein paar katzenartigen Sätzen ins Zimmer und verlöscht die Lampe. „Das gnädige Fräulein Anna!“ flüstert sie – dann ist sie wieder fort und Ditscha hört, wie Grete die Thür verschließt und den Schlüssel abzieht, und nun das harte Organ der gestrengen, um das Wohl und Wehe der Gutsangehörigen so besorgten Tante Anna.
„Guten Abend, mein lieber Vater Busch, wie geht’s mit Ihrer Frau? Was macht die Grete? Pflegt sie ihr oll Mutter gut, lieber Busch?“
Oll Vater Busch stammelt ’was von Ehr’ und Freud’, „ob gnä’ Fröln nich unterthänigst ’n bit’n einkommen wulln.“ Und dabei drückt er auf die Klinke der guten Stube.
Ditscha ist ans Fenster geflüchtet und dort auf einen Stuhl gesunken; ihre Hände aus Angst und Entsetzen gegen das Gesicht pressend, zittert sie vor der nächsten Minute. Hans von Perthien ist mitten im Zimmer stehen geblieben und stößt einen leisen Fluch aus. Aber sie kennen beide nicht die Verschlagenheit ihrer Beschützerin.
„O, Vater,“ sagt Grete, „was machst Du da? Ist denn nicht offen? Laß mich hin – nee, wahrhaftig – zugeschlossen, und der Schlüssel nicht in! Ach Gott, gnä’ Fräulein, jetzt besinn’ ich mich, ich hab’ ihn schon gestern verlegt. – O, wenn gnä’ Fräulein möchten auf einen Augenblick ins Wohnzimmer treten, ich such’ gleich – –“
„Mädchen, die ihre Gedanken beisammen haben, verlegen nie Schlüssel,“ sagt Tante Anna streng. „Laß das Gesuche jetzt und komm in die Wohnstube, ich will etwas mit Dir reden wegen Deiner Mutter, und Sie, Vater Busch, kommen auch mit, ich habe da ein neues Mittel, das soll Mutter probieren.“
Das Letzte klingt schon undeutlich. sie sind in die Wohnstube getreten und die Thür hat sich hinter Vater Buschs schlürfenden Tritten geschlossen.
Ditschas überreizte Nerven veranlassen jetzt ein krampfhaftes Weinen. „Ich ertrag’s nicht! Ich ertrag’s nicht!“ stößt sie hervor, „ich will hinaus, ich will fort, ich ersticke hier! Mach’ die Thür auf!“
„Sei vernünftig, Ditscha,“ sagt er ruhig und hält ihre Hände fest am Drücker, an dem sie heftig zu rütteln versucht, „ich ertrage es auch nicht länger, aber momentan kann ich nichts thun. Um Gotteswillen, laß die Thür!“
Sie läßt los und schleicht zum Fenster zurück; er nimmt seinen Platz am Ofen wieder ein. „Ditscha,“' fragt er, „Ditscha, wir wollen ein Ende machen; es ist Deiner und meiner unwürdig – wir wollen heiraten ohne den Segen Deiner Verwandten!“
Sie hört jetzt auf zu weinen. „O, das ist so schwer,“ stottert sie.
„Ja gewiß! Aber schwerer noch ist’s, wenn sie uns unglücklich machen, indem sie uns trennen. – Oder glaubst Du noch, daß sie es je zugeben werden?“ schaltet er ein.
„Nein!“ flüstert sie.
[297] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
„Nun, dann müssen wir uns selbst helfen. Ich werde mir
überlegen, wie es am besten einzurichten ist,“ fährt er fort, „es
wird ein paar Tage Vorbereitungen brauchen, aber dann habe
Mut, Ditscha, Du siehst selbst ein, daß es nicht so weiter geht.
Entweder wir trennen uns jetzt und Du denkst nicht mehr über
mich nach – oder wir vereinigen uns für immer, Sophie! –
Ich will nicht drängen, mein liebes Herz – überleg’ Dir’s – ich
für mein Teil bin fest. Gieb mir brieflich Antwort! – In solche
Situationen, wie heute, darfst Du nicht wieder kommen.“
Er hat sich jetzt herüber getastet und schließt sie einen Moment in die Arme und küßt sie. Dann öffnet er geräuschlos das Fenster, hakt den Laden auf und schwingt sich gewandt hinaus. „Ditscha, mein alles, überlege!“ flüstert er noch einmal, während er den Laden von außen behutsam wieder anlegt.
Dann ist’s still um sie, furchtbar still, dunkel und einsam. Sie könnte schreien wie ein furchtsames Kind. Aber er hat den Ton getroffen, der ihr imponiert – heute abend liebt ihn Ditscha, oder – glaubt ihn zu lieben und ist entschlossen, sich seinen Entschließungen zu fügen, sein zu werden.
Nach einer halben Stunde verläßt Fräulein Anna das Zimmer nebenan. Auf dem Flur hält sie Grete noch eine Rede; Ditscha versteht jedes Wort:
„Ich freue mich, daß Du Dich bestrebst, in Deinem Aeußern zu Deiner alten Einfachheit zurückzukehren. In Dein Inneres kann ich nicht sehen – möchte es auch dort besser geworden sein! Aeußeres wie Inneres stehen immer im Zusammenhang, und Gott sieht das Herz. Sei Deinem Mann eine einfache sparsame Frau, das ist beglückender für ihn, als wenn er einen aufgedonnerten Zieraffen bekommt, und statt Rückenkissen mit Perlen, nähe ihm ein andermal ein ordentliches Hemd. Und gieb Mutter pünktlich die Tropfen und red’ ihr ein bißchen gütlich zu, sie soll Geduld haben – Geduld ist eine unserer christlichsten Tugenden – Gute Nacht!“
„Gute Nacht, gnä’ Fräulein!“ ruft Grete und ihre Schritte fliegen zurück zu Ditschas Thür; leise, leise steckt sie den Schlüssel ins Schloß und öffnet.
„Jetzt können Sie hinaus,“ flüstert sie kichernd, „Tante Anna ist fort und Vater sitzt ganz dösig im Lehnstuhl, so hat sie geredet.“
Sie streicht ein Zündhölzchen an und Ditscha sieht in dem zuckenden Schein ihre mutwilligen lachenden Augen. Es ist eine Situation nach Gretens Herzen, wie in einem tollen Lustspiel. Aber Ditscha geht so blaß und ernst an ihr vorüber, daß sie ihr Spitzbubenvergnügen etwas mäßigt.
„Gute Nacht, gnä’ Fräulein,“ sagt sie ernsthaft, „nur leise, daß Vater nicht kommt.“
Ditscha eilt heim.
Weihnacht ist für Tante Anna die Zeit, wo sie sich
ganz in ihrem Element fühlt. Sie vertritt hier völlig den
Bruder und die Schwägerin, die sich überhaupt nicht sehen
lassen am Heiligen Abend und an den darauf folgenden Tagen.
Ja, Tante Anna ist die Seele des Hauses um diese Zeit. Ihre große starke Gestalt im schwarzen Kleide, über das sie eine mächtige weiße Schürze gebunden hat, auf dem noch immer blonden Haar ein schwarzes Spitzenhäubchen, Tante Berthas Schlüsselkorb am Arm, so schreitet sie würdevoll treppauf, treppab, ordnet die Gaben auf dem Tische und bereitet sich vor, am Abend vor dem Fest eines der Weihnachtsevangelien den Leuten vorzulesen, die sich in ihren Feiertagskleidern versammelt haben und der Rangordnung nach aufgestellt sind. Friedrich oben an, dann der noch ältere stattliche Kutscher nebst Frau, Hanne, die Köchin, und abwärts bis zum Aufwaschmädchen; ferner: Vater und Mutter Busch, seine Gehilfen und eine Menge Dorfkinder, die nur mit Müh’ und Not ihre Seligkeit verbergen können und ihr „Vom Himmel hoch da komm’ ich her –“ jubelnd hell singen, wenn es Tante Anna anstimmt. Was wissen sie von dem starren Schmerz, der sich in diesem Hause verbirgt!
Tante Anna aber vergißt nie zum Schluß zu sagen: „Und gedenkt auch derer, denen der heutige Tag ein schwerer ist, die keine Freude zu empfinden vermögen, weil Gott in seinem [298] unerforschlichen Ratschluß ihnen an diesem Freudenfeste nahm, statt gab. Betet für Eure Herrschaft, daß Gott sie trösten und ihnen den Frieden spenden möge, der höher ist als alle Vernnuft, als alle irdische Glückseligkeit. Und nun gehet hin und feiert das Fest mit Euren Lieben, die Gott Euch lange erhalten möge, feiert es nach Christenweise im Hause Gottes, der mit Euch sei jetzt und immerdar. Amen!“
So hat sie auch heute wieder gesprochen neben dem Gabentische, und über ihre vollen Wangen rinnen ein paar Thränen herab. Ditscha steht neben ihr; furchtbar blaß, die Hände gefaltet, scheint sie nichts von allem verstanden zu haben, denn als jetzt die Kinder den Schlußgesang anheben, erschrickt sie und ihre Augen kehren wie aus weiter Ferne zurück.
Hanne, die neben sie getreten ist, flüstert ihr zu: „Möchten nach Tisch zu gnä’ Fröln Klementine kommen, Fröln Ditscha!“
Sie nickt und starrt auf das Gewimmel, das sich jetzt um den Gabentisch drängt, und sie giebt ihre Hand in eine harte Rechte nach der andern, sie fühlt zitternde und kalte Hände und kleine heiße Kinderpatschen und hört immer wieder: „O, dank ock veelmal, und wünsch’ gesunde Fierdag!“
Endlich ist der letzte gegangen, das Küchenmädchen fegt die Krümel zusammen und richtet den Tisch zum Essen her, denn den Weihnachtskarpfen verzehren die Leute heute auch schon – morgen darf nichts Festliches sein im ganzen Hause.
Ditscha geht mit Tante Anna noch ins Dorf zu verschiedenen Kranken und Armen, Friedrich und der Kutscher mit ein paar Körben hinterher, auch bei Pastors wird das übliche Weihnachtspräsent abgeladen und ein kurzer Schwatz gemacht, dann wenden sie sich wieder dem Parke zu.
Im Gärtnerhause ist die gute Stube erleuchtet; Ditscha weiß, daß dort der Bräutigam eingekehrt ist, der „spanische Reitschulstallmeister“, wie Mutter Busch ihn nennt. Tante Anna geht ungeniert durch den Vorgarten und späht durchs Fenster. „’s ist die Möglichkeit,“ sagt sie zurückkommend zu Ditscha, die auf dem Wege stehen geblieben ist, „ordentlich den Tisch haben sie gedeckt mit Servietten und Gläsern, und der Künftige sitzt auf dem Sofa neben der aufgeputzten Deern, und die Alten auf Stühlen! – Manchmal denk’ ich, es muß eine neue Sündflut kommen.“
Ditscha nimmt schon unten in der Halle des Schlosses Hut und Mantel ab, schleudert beides hastig auf einen Stuhl, wirft einen Blick nach der Uhr und verschwindet in dem dämmerigen Korridor, auf den die Zimmer von Onkel und Tante münden, als deren letztes Onkel Jochens Arbeitsstube.
„Ditscha, wo willst Du hin?“ ruft Tante Anna von der Treppe her, aber das Mädchen antwortet nicht, nach einem kurzen energischen Pochen drückt sie die Klinke und tritt ein.
Onkel Jochen sitzt wie sonst vor dem Schreibtisch, aber die Pfeife, die er zwischen den Lippen hält, ist kalt, die Zeitung gar nicht auseinander gefaltet worden. Er hat die Hände auf der Tischplatte gefaltet und die Augen auf das Bild seines Sohnes geheftet, das ihn vorstellt im Sammetkittelchen, auf einem Pony reitend, ein hübscher lächelnder Junge. Als das Mädchen zu ihm tritt, wendet er den Kopf, und sie erschrickt vor dem trostlosen Ausdruck seiner Augen.
„Willst Du etwas?“ fragt er zerstreut, ohne sich zu wundern, daß sie ihn um diese Zeit aufsucht.
„Nur eine Frage, lieber Onkel Joachim.“
„Bitte!“ antwortet er.
Eine glühende Röte fliegt über ihr schmal gewordenes Gesicht, unwillkürlich falten sich ihre zitternden Hände und mit fast heiserer Stimme fragt sie: „Würdet Ihr – Du und Papa – niemals Eure Ansicht ändern über meine Neigung zu Hans von Perthien?“
„Nein!“ klingt es ruhig zurück.
„Niemals? – Auch wenn –“
„Nein, mein Kind! Es thut mir leid, daß Du noch einmal darauf zurückkommst – ich habe geglaubt, Du seiest fertig mit dieser Sache.“
Sie antwortet nicht, sie hat die Arme sinken lassen und sieht starr auf einen Punkt.
„Er hat wohl wieder angefragt, hat wohl gar zu schreiben sich unterstanden?“ erkundigt er sich und folgt mit seinen Blicken den ihrigen. Sie ruhen auf einem alten vergilbten Kupferstich, Romeo und Julia auf dem Balkon. Seit vierzig Jahren hängt das Bild da, schon zu Lebzeiten seines Vaters, Joachim weiß es kaum noch – jetzt erweckt’s ihm plötzlich ein unbehagliches Gefühl.
„So antworte doch!“ ruft er ungeduldig.
Ihr Blick wendet sich langsam zurück nach ihm. „Wie sagtest Du?“ stottert sie.
„Ob er an Dich geschrieben hat, frage ich.“
„Nein!“
„Na, wie kommst Du denn auf den alten Kohl?“ schreit er in seiner derben Art. „Niemals, hörst Du, niemals ist daran zu denken – die Gründe kennst Du.“
Sie sieht ihn groß an, nickt ein paarmal und geht still der Thüre zu.
„Ditscha!“ ruft er.
Sie wendet sich um.
„Plag’ Dich und uns doch nicht mit der dummen Geschichte! Dein Glück sieht anders aus, alte Deern, und wenn ich barsch bin, nimm’s nicht übel – siehst Du – jetzt – na, weißt’s ja. – – Gute Nacht, mein Kind!“
Die Stimme ist ihm erloschen; er winkt ihr hastig, zu gehen, und sie thut es.
Ein letzter Versuch zur Beruhigung für ihr banges unentschlossenes Herz! Es wäre ihr lieber gewesen, der Onkel Jochen hätte getobt und sie schlecht behandelt; seine von emporquellenden Thränen gebrochene Stimme quält sie furchtbar. (Fortsetzung folgt.)
Zu Fuß um die Erde.
Eine Reise um die Erde ist heute nichts Seltenes mehr; läßt sich eine solche doch, wenn es auf Schnelligkeit ankommt, mit Zuhilfenahme aller Vorteile des modernen Verkehrs, von Blitzzügen und Schnelldampfern, in wenigen Monaten ausführen. Aber den Erdkreis zu Fuß zu durchwandern! Einem solchen Unternehmen haftet auch heute der Charakter des Unerhörten und Märchenhaften an. Wir haben daher mit nicht geringem Erstaunen und berechtigtem Kopfschütteln aufgeschaut, als wir im vorigen Herbst vom Verfasser des folgenden Wanderbriefs aus dem Kaukasus mitgeteilt erhielten, er habe die Absicht, von seinem Wohnort Riga aus eine Fußreise um die Welt anzutreten. Es geschah unter dem Eingeständnis, daß er selbst sich darüber klar sei, man müsse diesen Plan auf den ersten Eindruck recht gewagt, wenn nicht phantastisch finden. Aber er berief sich darauf, daß Friedrich Gerstäcker bereits in den vierziger Jahren es fertig gebracht habe, die Reise von Sidney nach Adelaide durch das unwirtliche Australien zu Fuß zurückzulegen, und daß ihm persönlich, der den größten Teil seiner Jünglingsjahre in nur wenig kultivierten Gegenden zugebracht habe, auf Grund seiner Erfahrungen eine auf 5½ Jahre berechnete Fußtour um die Welt am Ende unseres fortgeschrittenen Jahrhunderts gar wohl durchführbar erscheine.
„Schon mit 13 Jahren,“ fuhr er fort, „als ich noch das Gymnasium zu Pskow besuchte, habe ich in genau drei Tagen eine Entfernung von 140 Werst (151 Kilometer) zu Fuß ohne Schwierigkeiten überwunden; während zweier Jahre, die ich Seemann war, habe ich an mir die günstigsten Folgen einer von früher Kindheit an streng durchgeführten Abhärtungsmethode zu erproben Gelegenheit gehabt, und in fast 5 Jahren, die ich als Beamter (unter anderm auch an der transkaspischen Kriegsbahn unter General Annenkow) im Kaukasus und im Transkaspigebiet zubrachte, habe ich größere Fußtouren unternommen und auf denselben einen Teil des nördlichen Persiens, die Chanate Chiwa und Buchara und auch ein Stück von Turkestan kennengelernt. Augenblicklich zähle ich 29 Jahre.“
Der Reiseplan, den uns der unternehmungslustige Weltwanderer damals mitteilte, war aber folgender. Von Riga aus sollte der Marsch durch das europäische Rußland über den Kaukasus, weiter durch das nördliche Persien, durch Transkaspien, Buchara, Turkestan, die Kirgisensteppen, Sibirien (mit Berührung [299] einiger nördlicher Provinzen von China) nach Wladiwostok führen. Von dort wollte sich Herr von Rengarten nach Japan einschiffen, das er gleichfalls zu Fuß zu „durchqueren“ gedachte, um dann, eine Schiffsgelegenheit benutzend, den Westen von Süd-Amerika zu erreichen, von wo er sich nach einer nunmehr festzusetzenden Reiseroute an die Ostküste der Vereinigten Staaten begeben wollte. Von dort vermittelst eines der Lloyddampfer nach Lissabon gelangt, hoffte er über Spanien, Frankreich und Deutschland spätestens im Dezember 1899 – zum Abschluß des Jahrhunderts – wieder in Riga eintreffen zu können.
Was wir anfangs bezweifelten, ist inzwischen wirklich eingetreten, Herr von Rengarten ist an die Ausführung seines kühnen Planes geschritten und die interessanten Anfänge seines wagehalsigen Spaziergangs um die Erde liegen bereits hinter ihm. Nachdem er vor seinem Aufbruche aus eigenem Antrieb sich bereit erklärt hatte, über besonders merkwürdige Erlebnisse und Eindrücke, die ihm auf seiner Wanderfahrt zustoßen würden, der „Gartenlaube“ Bericht zu erstatten, hat er uns seitdem bereits wiederholt von den Fortschritten seiner Reise Kunde gegeben und dann auch in dem nachstehenden Aufsatz einen größeren Beitrag gesandt, von welchem wir annehmen dürfen, daß ihn unsere Leser, nachdem sie von dem Unternehmen im allgemeinen Kunde erhielten, mit doppeltem Interesse begrüßen werden. Die Redaktion.
Der Kaukasus ist so voller Kontraste wie wohl kein anderes Gebiet der Erde. Man wandert durch denselben wie durch eine riesenhafte Schaubude, in der dicht aneinander gereiht so wechselvolle Bilder beisammenstehen, wie sie keine Phantasie sich bunter denken könnte. Eben noch riesenhafte Steppen, dann wilde Hochgebirge; hier Repräsentanten eines Bauernstandes, wie ihn indolenter und einfältiger kein zweites Land besitzt, dort hinter dem Pfluge eine Intelligenz, wie sie nicht einmal die Theorien moderner Utopisten für ihre Zukunftsideale in Anspruch nehmen. Russen, Deutsche, Tschechen, Letten, Esten und alle die vielen heimischen Stämme – Christen und Mohammedaner, alles bunt durch einander, und diese Fülle von Sitten, Gewohnheiten und Gebräuchen, wie sie dieses Völkergemisch erzeugen muß, überragt in großartiger Schönheit eine Landschaft, wie man sie als Gegenstück zur öden Ukraine und als Entschädigung für die Monotonie derselben sich nicht prächtiger denken kann.
Es ist wahr, daß namentlich der von mir eingeschlagene Weg dem Ostufer des Schwarzen Meeres entlang reich an mannigfachen Beschwerden ist. Ich wandere ja schon seit fünf Wochen allein, nachdem mein Begleiter in Charkow zurückgeblieben ist, und daher habe ich meinen ganzen Vorrat an Wäsche, Schreibutensilien und Proviant für mich und meinen Hund auf den Schultern allein zu schleppen; doch wenn ich mühevoll ein Gebirge erklommen habe, wenn ich hoch oben von der goldenen Sonne beschienen stehe, dann ist im Nu alle Mühe vergessen, denn immer prächtigere Bilder entrollen sich vor meinen Augen.
Auch ist das Ueberschreiten der Flüsse, die einem mitunter bis unter die Brust reichen, kein absonderliches Vergnügen zur Winterszeit. In den Bergen liegt vielfach Schnee und ihnen entstammen ja diese jetzt eiskalten Gewässer. Doch auch hier hat die Wissenschaft ein Mittel ersonnen, um bei alledem den Körper gesund und widerstandsfähig zu erhalten, und das ist der Segen der wollenen Kleidung, wie sie den Theorien des Professor Jäger entspricht. Im Freien verbrachte Nächte während eines rauhen russischen Herbstes, das Überschreiten von Flüßchen, wobei die sie bedeckende Eiskruste durchbrochen werden mußte; Kälte, Nässe und Seuchen, alles ist spurlos bis jetzt an mir vorübergegangen, und wohin ich komme, vernehme ich, daß ich trotz aller Strapazen gesund aussehe.
Nachdem ich nun die Ausläufer des Markotsch-Gebirges hinter mir gelassen hatte, galt es, die in achtzehn steilen Windungen emporstrebende Chaussee zum Michaels-Paß emporzusteigen und kurz vor dem Flüßchen Pschada nach rechts in das Gebirge einzubiegen. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, der merkwürdigen Kolonie Krinitza (auch Jerobkino, nach ihrem Gründer benannt) einen Besuch abzustatten, denn was ich über dieselbe vernommen hatte, war geeignet, mein Interesse im höchsten Grade zu erregen. Und so ließ ich mich einen etwa 35 Kilometer weiten Weg durch eine der wildesten Gegenden des Kaukasus nicht verdrießen, um diese Absicht auch auszuführen.
Doch noch ehe ich die Landstraße verließ, hatte dieselbe mich im Stich gelassen. Zeitungsnachrichten zufolge sollte sie freilich schon ganz vollendet sein, doch scheinen an mehreren sehr ausgedehnten Partien irgend welche ungünstige Umstände gewaltet zu haben, denn nicht nur, daß Ueberfahrten und Brücken mehrfach nicht vorhanden sind, selbst das allen Chausseen der Welt eigentümliche Schottermaterial fehlt recht häufig. Daher geriet ich hinter dem Michaels-Paß in ein Thal, das mit Geröll angefüllt war und nicht einmal etwas aufwies, was den Namen Weg verdiente. Durch zwei kleine Flüßchen watend, bog ich in die erste meinen Weg kreuzende Schlucht ein, die dem Stande der Sonne gemäß am Ostufer des Schwarzen Meeres ausmünden mußte.
Hier vermutete ich nämlich das Kirchdorf Beregowaja und viereinhalb Kilometer hinter demselben den Chutor (d. i. Kolonie oder Dorf) Krinitza. Ich hatte mich nicht getäuscht, denn von links kommend, versperrte mir alsbald der Fluß Pschada den Weg, und ihn hatte ich, wie ich wußte, zu überschreiten, um an mein Ziel zu gelangen. An der Fähre war es zu tief, denn als ich dort ins Wasser stieg, reichte mir dasselbe sofort bis über die Hüften, daher wandte ich mich mehr nach oberhalb und hier entdeckte ich auch eine Partie, wo ich ans nächste Ufer gelangte, ohne erheblich naß zu werden.
Das Kirchdorf Beregowaja zeichnet sich durch keine besondere Wohlhabenheit aus. Die Einwohner sind ehemalige kubansche Kosaken. Was mir übrigens gleich ins Auge fiel, war ein sehr schmuckes Schulhaus, das, wie ich später hörte, sein Entstehen zum großen Teil dem benachbarten Krinitza verdankt. Auch die dort vorhandene hübsche Kirche soll auf Initiative der Kolonie erbaut worden sein.
Beregowaja rasch passierend, denn ich brannte vor Ungeduld, mein Ziel zu erreichen, schlug ich nun den Weg dahin ein, der, schmal, aber sauber gehalten, sich am Fuße des Gebirges hinwand.
Auch die Pschada floß anfänglich in der Richtung zum Gebirge fort, und schließlich nur einen Platz für die Fahrstraße freilassend, bahnte sie sich ihren Weg gerade fortlaufend ins Meer, während nach einigen hundert Schritten die Bergkette zurücktrat und in weitem Bogen ein sehr ausgedehntes Thal einrahmte. Auf einem Plateau, dicht am Meeresufer, gelangte ich endlich an einen von Heckenzäunen umringten, sehr ausgedehnten Hof, wo zwischen Bäumen sich ein halbes Dutzend sehr schmucker Häuschen vorfand. Mehrere junge Leute arbeiteten im Umkreise derselben mit Schaufel und Hacke.
Unterwegs hatten einige Personen, mit denen ich über meinen in Krinitza beabsichtigten Besuch sprach, Zweifel darüber geäußert, ob ich als Schriftsteller dort Zutritt haben würde, und nun stand ich da und wußte im Augenblick nicht, womit ich mich einführen sollte. Zuguterletzt beschloß ich denn auch, mich vorläufig nur als Reisenden zu geben und erst später meine Absicht zu bekennen und um die Erlaubnis zu bitten, über meinen Besuch und die empfangenen Eindrücke einiges an die Oeffentlichkeit zu bringen.
Mich an die mir zunächst arbeitenden jungen Leute wendend, wurde ich in zuvorkommender Weise an eines der älteren Glieder der Kolonie verwiesen. Es war ein Herr S., Absolvent eines landwirtschaftlichen und technischen Institutes. In dem Hause, wo ich ihn anzutreffen hoffte, trat ich zunächst in eine sehr umfangreiche Küche, wo mich einige schlichtgekleidete Frauen empfingen, und aus der mich ein junges Mädchen durch das allgemeine Eßzimmer in ein saalartiges Gemach führte, das ganz nach Art und Weise gewöhnlicher Bauernstuben nur Möbel in sich barg, welche roh aus ungestrichenem Holz hergestellt waren. Stühle habe ich dort überhaupt nirgends angetroffen, nur Holzbänke verschiedener Größe. Seltsam stach gegen diese schlichte Ausstattung, die näher zu beschreiben ich für zwecklos halte, ein wundervoller Flügel ab, der in einer Ecke Aufstellung gefunden hatte.
„Nehmen Sie Platz,“ sagte das junge Mädchen.
„Danke, ich kann ja auch stehend warten, bis der Wirt kommt,“ lautete meine Antwort.
Ich hatte mir damit eine Unschicklichkeit zu schulden kommen lassen, denn ich hätte mir denken sollen, daß bei einer Genossenschaft wie „Krinitza“ das Wort „Wirt“ nicht am Platz ist. Daher wunderte ich mich auch nicht im geringsten, als ich kurz zur Antwort erhielt: „Hier sind wir alle Wirte!“ – eine Versicherung, die mir die Erfüllung meiner zurückgehaltenen Bitte als schon gewährleistet erscheinen ließ, denn durch die Art und Weise, wie ich empfangen worden war, gewann ich die Ueberzeugung, daß diese guten Leute nicht nur jeden gerechten Wunsch zu erfüllen gewohnt waren, sondern auch keine Ursache hatten, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen.
Jetzt trat auch Herr S. in die Stube.
[300] Es war eine hohe markige Gestalt, die vor mir stand. Das Haar war etwas lang gehalten, ein dünner Knebelbart umsäumte das Kinn, das Gesicht war nicht schön, doch ausdrucksvoll und sympathisch, und die Hand, die sich mir entgegenstreckte, hart und schwielig. Die Kleidung dieses etwa vierzigjährigen hochgebildeten Feldarbeiters bestand aus einer gehäkelten Mütze und einem groben Kittel, dessen Aermel mit Leder eingekantet waren. Am Halse ragte ein blaues Baumwollenhemd hervor, und einfache Lederschuhe bekleideten die Füße. Von letzteren reichten weiße strumpfartige Umhüllungen empor, durch welche das Beinkleid an den Knieen festgehalten wurde.
Mit einer höflichen Verbeugung stellte sich mir Herr S. vor und gänzlich zur Verfügung. Seine Versicherung, es berühre ihn äußerst sympathisch, daß ich zu Fuß reise, gab mir dann auch den Mut, ihn um die Erlaubnis zu bitten, meine Erinnerungen an Krinitza in der „Gartenlaube“ schildern zu dürfen, welchem Verlangen er in liebenswürdigster Weise entsprach.
Bevor ich mich nun daran mache, das Gesehene zu schildern, möchte ich das Ergebnis eines kurzen Gespräches mitteilen, das wir – mein neuer Bekannter und ich – auf dem Wege in die Weinberge führten. Herr S. war nämlich in seiner freien Zeit der Weinküfer der Gesellschaft.
Ueberall, wo ich bis dahin von der Kolonie, in der ich nun weilte, gehört hatte, hieß es, daß dieselbe eine Verwirklichung der Tolstoischen Ideale darstelle, zu denen ja auch die Rückkehr zum Feldbau gehört. Dem ist aber nicht so.
Die Kolonie Krinitza hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Geschlecht heranzuziehen, das durch in der Jugend ihm angewöhnte Anspruchslosigkeit in die Lage kommen soll, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Es wird den Zöglingen von Krinitza und auch dem Nachwuchs der Kolonisten die Möglichkeit geboten, sich die gediegenste Bildung anzueignen, daneben aber den Ackerbau als Beruf zu erlernen und so sich zu gewöhnen, ihren Erwerb nicht aus den Händen anderer, sondern einzig und allein aus dem Boden, aus der Erde – kraft der Arbeit ihrer Hände – zu schöpfen.
Ohne irgend eine extreme Ansicht vertreten zu wollen, sind die Krinitzer der Meinung, daß bei jedem Dienstverhältnis viele das Leben verbitternde Umstände mit unterlaufen. Deshalb soll der Mensch durch die ihm erteilte Erziehung befähigt werden, falls er sich diesem Mißstande nicht zu beugen vermag, sich seinen Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit zu erringen, ohne – wie schon gesagt – dabei der Wohlthat einer höheren Bildung verlustig zu gehen.
„Wir fühlen uns freilich in unserer augenblicklichen Lebenslage nicht vollständig glücklich,“ äußerte Herr S. unter anderem, „denn uns haftet noch vieles aus unserm früheren Leben an. Doch wir hoffen, unsere Zöglinge so weit zu bringen, daß in ihnen unsere Ideale verwirklicht werden. Es soll keine durchgreifende, die ganze Welt umfassende Reform sein, der hier vorgearbeitet wird,“ hieß es weiter, „daher Kirche, Staat, Ehe, Handel und Wandel bestehen bleiben müssen; nur sehen wir in der körperlichen Arbeit, die mit einer gediegenen Bildung gepaart ist, ein Zufälligkeiten weniger unterliegendes Glücklichsein; wie groß jedoch das Häuflein dieser so durch uns geschaffenen Menschen einst sein wird, ist eine Frage der Zeit!“
Nun ist bekannt, daß der Einsiedler von Jasnaja Poljana, Graf Leo von Tolstoi, außer der körperlichen Arbeit, die auch er für eine Vorbedingung zum Glücklichwerden hält, noch manches andere fordert, um die moderne Menschheit einem Leben zuzuführen, das nach seiner Meinung allein ihrer würdig ist. Er hat der gesamten modernen Bildung, der Kunst und der Ehe, den Krieg erklärt und ist ein Fanatiker der Askese. Während meines zweitägigen Aufenthaltes in der Kolonie fand ich nun Gelegenheit, die Prinzipien zu beobachten, welche bei der Erziehung der dortigen Zöglinge angewandt werden, und ich bin zu der Ueberzeugung gelangt, daß die hier versuchte Heranbildung von glücklichen Zukunftsmenschen viel weniger utopistisch ist als die Tolstoischen Pläne zur Wiedergeburt der Menschheit.
Alles, was es dort giebt, ist Gemeinbesitz, keinem Bedürfnis zur Erzielung einer gewissen Behaglichkeit wird entsagt; was aber an Barmitteln erübrigt wird, gelangt nicht zur Verteilung, sondern wird dazu verwandt, außer der Kolonie segensreich zu wirken; die Schule und Kirche in Beregowaja verdanken diesem Grundsatz ihre Entstehung.
Aufnahme erhält in der Kolonie jeder, der sich dort meldet. Wer neu hinzukommt, muß die Versicherung geben, keiner der Regierung feindlichen Partei anzugehören und von nationalen Vorurteilen sich frei halten zu wollen. Wohnung und Nahrung erhält er als Gegenleistung für eine seinen Kräften entsprechende Arbeit unentgeltlich, Kleider jedoch erst nach drei Monaten. Ein Jahr hat er Praktikant zu sein, bevor er der Genossenschaft einverleibt wird. Schließlich wurde ich noch gebeten, in meinem Bericht ausdrücklich zu betonen, daß es bis jetzt für keines der Mitglieder ein Notbehelf war, dort um Aufnahme nachzukommen, denn der Patron der Genossenschaft ist z. B. Mathematiker und Jurist und außer Herrn S giebt es dort einen Techniker, einen Absolventen des Alexander-Instituts in Warschau, einen Mediziner aus dem dritten Kurse der Moskauer Universität und unter den Damen eine Gouvernante, die des Russischen, Deutschen, Französischen und Englischen vollständig mächtig ist und dazu noch Violin- und Klavierunterricht erteilt.
Auf unserem Rundgang durch die Kolonie waren wir nun in den Weinbergen angekommen. Der Boden, auf welchem hier ausschließlich die Reben gezogen werden, besteht aus einer verwitterten Steinart, die „Treskun“ genannt wird, weil sie in der Luft durch die Witterungseinflüsse zerfällt. Dieser Boden ist ungewöhnlich kalihaltig, daher sehr kräftig. Die Reblaus hat hier noch keine Verheerungen anzurichten vermocht. Das Vorhandensein des Treskun im Kaukasus macht sich häufig, da er in abgegrenzten Schichten vorkommt, durch die über ihm sich hinziehenden Baum-, sowie Buschgruppen von auffallend üppigem Aussehen bemerkbar. Auch hier gewährte das vier Dessätinen (437 Ar) große, mit Sauternes- und Burgunderreben bestandene Gelände einen sehr günstigen Eindruck, und obgleich kaum der fünfte Teil aller Stöcke alt genug war, um eine Ausbeute zu liefern, so hatte man doch im laufenden Jahr etwa 24 500 Liter Wein geerntet. Bei den hier erforderlichen Arbeiten sind alle verfügbaren Hände thätig, selbst die noch ungeschickten Hände der kleinen Zöglinge. Das hat freilich zur Folge, daß beim Pflanzen neuer Stöcke stets bis zu 15 Prozent derselben eingehen, was man um des Prinzips willen gern in Kauf nimmt.
Während die Weingärten in nächster Nähe der Wohnhäuser auf dem Plateau gelegen waren, führte mich nun mein liebenswürdiger Begleiter hinab in das Thal, in welchem einerseits bis ans Ufer der Pschada, anderseits fast von den Wogen des Meeres bespült, die Felder gelegen sind, die in diesem Jahre eine überreiche Ernte gegeben hatten, so daß durch den Verkauf von Getreide eine ansehnliche Einnahme erzielt werden konnte. Trotzdem haben aber die strebsamen Kolonisten beschlossen, die Felderwirtschaft so einzuschränken, daß sie nur dem eigenen Bedarf Rechnung trägt, da das Getreide hier schon seit Jahren sehr niedrig im Preise steht. Dafür sollen aber in rationeller Weise eine Wiesen- und auch eine Milchwirtschaft eingerichtet und in der Folge Versuche mit dem Anbau verschiedener Futterkräuter angestellt werden.
Demgemäß werden in Zukunft als landwirtschaftliche Erwerbszweige in Krinitza die Hauptrolle spielen: der Wein-, Garten- und Arzneipflanzenbau, die Milch- und Wiesenwirtschaft und die Bienenzucht.
Ganz versteckt zwischen Bäumen steht in dem Thal, nicht weit von der Pschada, ein kleines Häuschen, in welches zu treten mich nun ein hinzugekommener alter Herr bat. Es war einer jener jovialen Leute, wie sie nur ein sorgenfreies Alter hervorbringt. Mit einem braunen Kittel angethan, in dessen Tasche ein großes Stück Brot steckte, stellte er sich mir als Leonid Alexandrowitsch D. vor, Bienenvater der Kolonie. Im Gürtel trug er ein kleines Messer und eine Laterne, sonst war er bis auf die weißen Beinumhüllungen ganz ebenso gekleidet wie mein Begleiter. Auf die Frage, was er am Tage mit der Laterne wolle, antwortete er schmunzelnd nach dem Vorbild des Diogenes, er suche Menschen, und nun traten wir in jenes Häuschen ein, in dem hübsch geordnet 30 Bienenstöcke modernsten Systems für den Winter Aufstellung gefunden hatten.
Leonid Alexandrowitsch hatte allerdings besondere Ursache, sich zufrieden zu fühlen. Er konnte von überraschend günstigen Resultaten seiner Bienenzucht berichten, und dieselben verdankte er dem Erfolg seiner eigenen Erfindung. Er hatte künstliche Waben und viereckige Holzrahmen hergestellt, die, in geeigneter Weise eingerichtet und für Drohnen und Königin unzugänglich gemacht, nur den Arbeitsbienen allein zugänglich waren, die sie nun mit schönem reinen Honig füllten. Nach auswärts fanden diese Rahmen, von beiden Seiten mit Fensterglas vermacht, mit buntem Papier und einem Bildchen versehen, für 60 Kopeken das Stück
[301][302] reißenden Absatz. Nachdem wir nun noch von dem mitgenommenen Brot, dabei es in Honig tunkend, gespeist hatten, ging es, als die Sonne sich zu neigen begann, an einem geräumigen Viehhof und einem in den Felsen gehauenen Weinkeller, der in etwa zwei Jahren vollendet sein soll, vorüber, den Wohnhäusern zu.
Wir passierten den von mir wenige Stunden früher allein zurückgelegten Weg, der steil sich am Berge hinwindend zum Plateau hinaufführt. Vor uns im Westen senkte sich eben die Sonne in das leichtbewegte Meer, das Gras unter unsern Füßen war noch nicht verwelkt, und daß die blattlosen Bäume nicht gar zu traurig aussahen, dafür sorgten zahllose Ranken der Clematis und Epheugewinde, welche die Aeste bis in die Gipfel hinauf bedeckten. Es war warm wie mitten im Sommer.
Das rauschende Meer, die herrliche Aussicht, die wir, immer höher und höher emporklimmend, genossen, weckten in mir liebe Erinnerungen an den baltischen Meeresstrand, wo ich noch kürzlich so traulich schöne Stunden inmitten meiner Lieben verlebt hatte. Wie hatte sich das alles nun verändert! Fern von der Heimat, durch mehr als 2000 Kilometer von den Meinen getrennt und erst der geringste Teil meiner großen weiten Reise überwunden!
Verlockend huschte der Gedanke durch mein Inneres, bei diesen guten Leuten zu bleiben, die mich mit offenen Armen aufzunehmen bereit waren; doch nur vorübergehend ließ ich mich von der Möglichkeit einer derartig herbeigeführten Wiedervereinigung mit den Meinen verwirren. Ist es recht, wenn das Weib, das dazu berufen ist, den Begriff alles Schönen im Herzen ihrer Kinder zu wecken und zu pflegen, sich absichtlich in häßliche Bauernkleider hüllt, ist es recht, wenn sie aus ihrer trauten Häuslichkeit hervortritt, um das Glied einer Gemeinschaft zu werden, die ausdrücklich auf die segensreiche Umfriedung eines persönlichen Heims verzichtet? –
Ich konnte diesen Gedanken nicht nachhängen, denn eben sah ich mich von Herrn S. angeredet: „Wissen Sie, Konstantin Konstantinowitsch, daß unsere Schulkinder außer der russischen Sprache nur noch das Deutsche erlernen?“
Das klang mir überraschend genug, und mit einem grenzenlosen Erstaunen konnte ich nur fragen: „Warum?“
„Ja, sehen Sie,“ fuhr mein Begleiter fort, „wir sympathisieren natürlich wie alle Vaterlandsgenossen mit den Franzosen und würden gern unseren Pariser Freunden etwas Angenehmes erweisen, aber unsere Kinder sind uns doch zu lieb, als daß wir es auf ihre Kosten thun könnten. Zu einer realen, gediegenen Bildung gehört unbedingt die deutsche, vielleicht auch die englische Sprache und nicht vergessen darf man, daß Kant und andere Männer ihre Theorien in deutscher Sprache niedergelegt haben. Und was sind Uebersetzungen!“ …
Noch am selben Abend lernte ich einen Zögling der Kolonie kennen, der ganz hübsch deutsch sprach, und als ich am andern Tage die Schule besuchte und die Hefte der Kinder mir ansah, erhielt ich fast auf alle Fragen aus der deutschen Grammatik richtige Antworten. Auch das reichhaltige Herbarium der Schule enthält durchgängig lateinische, russische und deutsche Benennungen und in der Bibliothek giebt es eine besondere Abteilung für deutsche Werke.
Diese Bibliothek, in der ich an beiden Tagen, während ich in Krinitza war, arbeitete, ist es gleichfalls wert, als ein sehr gemütlicher Winkel geschildert zu werden. Von mehreren Glasschränken umgeben, in denen über 1000 Bände, alles Perlen der Litteratur in russischer, deutscher, englischer und französischer Sprache, aufbewahrt werden, enthält das Zimmer ein Seitenstück zu dem oben erwähnten Klavier, nämlich einen wunderhübsch gearbeiteten und polierten Schreibtisch.
Das Abendbrot vereinigte alle Mitglieder der Genossenschaft im großen Speisesaal an zwei Tischen. Am größeren hatten die Tagelöhner und das jüngere Volk Platz genommen, am kleineren hingegen saßen die älteren Herrn und in ihrer Mitte ich. Gegessen wurde gemeinsam aus großen Schüsseln, die in der Mitte des Tisches standen, und zwar mit Holzlöffeln.
Im Nebenraum hatten sich mittlerweile alle Kinder versammelt, und während wir nun den schmackhaften Speisen zusprachen und mit dem heimischen Wein auf ein glückliches Gelingen meiner Reise angestoßen wurde, ertönte plötzlich aus dem Nebenzimmer Klavierspiel mit Violinbegleitung. Es waren zwei Knaben von 12 bis 14 Jahren, die mit großer Fertigkeit für Tafelmusik sorgten.
Am nächsten Tage besuchte ich noch die Viehställe sowie das Magazin, einen Speicher mit allerhand Waren, von denen Jeder seinen Bedarf unentgeltlich bezieht, ferner die Werkstätten für Schlosser- und Drechslerarbeiten und ein im Bau begriffenes sehr geräumiges Haus. Der Bau ist so angelegt, daß in der Mitte ein sehr großer luftiger Saal für die Kinder aufgeführt wird, während in allen vier Ecken Zimmer für eine gleiche Zahl Ehepaare hergerichtet werden.
Ziehe ich nun das Facit von meinen in Krinitza gewonnenen Erfahrungen, so kann ich nicht umhin, die beispiellose Selbstverleugnung aller erwachsenen Glieder der Kolonie anzuerkennen, mit der sie sich, von den eigenen Kindern abgesehen, einer ganzen Schar fremder Wesen widmen, um sie dereinst zu, nach ihrer Ansicht, glücklichen Menschen zu machen. Wie man es unter gebildeten Leuten nicht anders erwarten kann, hört man dort kein böses oder gar schlechtes Wort, alles atmet reine, herzliche Harmonie und unter den schlichten Bauernkitteln schlagen biedere, treue Herzen, die es verursacht haben, daß mir die Thränen ins Auge traten, als ich, von den herzlichsten Wünschen begleitet, meinen weiten Weg fortsetzte.
Habt Dank, ihr lieben, guten Menschen in den wilden Bergen des Kaukasus, die ihr mir so schöne Stunden in eurer Mitte bereitet habt, und möge Gott euch vor allen Enttäuschungen bewahren!
Wägungen und Messungen der Kinder.
Unter dieser Aufschrift hat in Nr. 16. des letzten Jahrgangs die „Gartenlaube“ einem Aufrufe Verbreitung gegeben, welchen die „Gesellschaft für Kinderheilkunde“ erließ, um von Eltern und Aerzten Aufzeichnungen über Wägung und Messung von Kindern, namentlich von solchen im ersten Lebensjahre, zu erlangen. Die Berichte über normale Kinder sollten an Oberamtsarzt Dr. Camerer in Urach (Württemberg), diejenigen über Kinder, welche längere Zeit krank gewesen, an Sanitätsrat Dr. Biedert, Kreisarzt in Hagenau im Elsaß, gesandt werden.
Heute sind wir in der Lage, einen Bericht über die bisherigen Ergebnisse des Aufrufs, der von seiten des erstgenannten Arztes für die „Gartenlaube“ zusammengestellt wurde, zur Veröffentlichung zu bringen. Herr Dr. Camerer schreibt:
Ich selbst habe ein ziemlich reichliches Material von Beobachtungen an gesunden Kindern erlangt, mein Kollege Biedert zwar einige wertvolle Aufzeichnungen, kranke Kinder betreffend, aber doch viel weniger, als er gewünscht hatte. Gleichzeitig mit unserem Dank möchten wir daher die Bitte um weitere Aufzeichnungen aussprechen.
Die Tabellen sollen enthalten: das Gewicht der nackten Kinder in Gramm, auf einer guten Wage bestimmt; das Maß der Länge in Centimetern; die Art der Ernährung (Mutter, Amme, künstlich ernährt und wie?), bezw. die Zeit des Entwöhnens; etwaige Krankheiten und deren Dauer; endlich sind Notizen über Zahnausbruch erwünscht.
Der Abdruck unseres Aufrufes in der „Gartenlaube“ hat uns besonders viel Material eingebracht und so dürfen wir auch annehmen, daß gerade in ihrem Leserkreise ein kurzer Bericht über die bisherigen Ergebnisse auf Interesse rechnen kann.
Es beträgt nach denselben das Mittelgewicht eines gesunden Kindes in Gramm:
Geburts- gewicht |
4. T. | am Ende der Wochen | ||||||||||||
2. | 4. | 8. | 12. | 16. | 20. | 24. | 28. | 32. | 36. | 40. | 52. | |||
Frauen- milchkinder aus 97 Fäl- len be- rechnet |
3450 | 3250 | 3550 | 3980 | 4810 | 5530 | 6220 | 6800 | 7310 | 7740 | 8170 | 8630 | 8880 | 9880 |
künstlich Ernährte aus 59 Fäl- len be- rechnet |
3370 | – | 3390 | 3690 | 4280 | 4880 | 5510 | 6200 | 6830 | 7200 | 7650 | 8090 | 8340 | 9350 |
Differenz | 80 | – | 160 | 290 | 530 | 650 | 710 | 600 | 480 | 540 | 520 | 540 | 540 | 530 |
vom 4.–28. Tag | Ende der 4. bis Ende der 8. Woche. |
8.–12. | 12.–16. | 16.–20. | ||
Frauenmilchkinder | 31 | 29 | 26 | 24 | 21 | |
Künstlich Ernährte | 22 | 21 | 22 | 22 | 25 | |
20.–24. | 24.–28. | 28.–32. | 32.–36. | 36.–40 | 40.–52. | |
Frauenmilchkinder | 18 | 15 | 15 | 16 | 9 | 12 |
Künstlich Ernährte | 22 | 18 | 16 | 16 | 9 | 12 |
[303] Die Differenz der Geburtsgewichte ist natürlich zufällig; für das zweite Halbjahr, etwa von der 28. Woche ab, ist die Statistik ungenügend, da bei vielen unsrer Kinder die Wägungen etwa um diese Zeit eingestellt wurden. Man ersieht aber aus den Tabellen folgendes: es findet in den ersten Tagen ein Gewichtsverlust von rund 200 g statt – wie längst bekannt ist – und es findet in der Mitte des zweiten Halbjahres (der 36. bis 40. Woche) eine bisher unbekannte Störung des Wachstums statt. Ich bin geneigt, dieselbe der Zahnentwicklung zuzuschreiben. Abgesehen von diesen Störungen verläuft das Wachstum, wie bei den Frauenmilchkindern zu ersehen ist, in der Art, daß der tägliche Anwuchs um so kleiner wird, je mehr Zeit seit der Geburt verflossen ist, und zwar nimmt er vom 4. Tag bis zur 28. Woche in gleicher Zeit um gleichviel ab, nämlich um 2,3 g in je 28 Tagen.
Die künstlich Ernährten bleiben infolge der minder zweckmäßigen Nahrung in den ersten Lebenswochen im Gewicht zurück, bringen aber von der 16. Woche ab den Verlust durch raschere Zunahme allmählich wieder ein. Früher, als die Methoden der künstlichen Ernährung noch unvollkommener waren, erfolgte der Wiederersatz des Verlustes erheblich später. Eine Vergleichung von früher und jetzt war mir möglich, da ich mit der Sammlung statistischen Materials schon 1876 begonnen habe.
Leser, welche sich über die körperliche Entwicklung des Kindes, über Wachstum, Ernährung etc. desselben näher unterrichten wollen, erlaube ich mir auf mein eben erschienenes Buch zu verweisen „Der Stoffwechsel des Kindes von der Geburt bis zum Ende des Wachstums“ (Tübingen, H. Laupp’sche Buchhandlung). Ich habe für dasselbe nicht nur das bisher bekannte Material verarbeitet, sondern auch neue eigene Untersuchungen, welche nach 18jährigcr Dauer nunmehr zum Abschluß gelangt sind.
Schwester Brigitte.
(2. Fortsetzung.)
Gusti ließ nicht mehr ab von dem Plane des gemeinsamen Musizierens. Hubert sträubte sich und sagte, er habe ja nie etwas Ordentliches gekonnt. Aber endlich mußte er wohl oder übel doch nachgeben, und so ging er einmal mit Käthe hinüber.
Im Anfang sangen sie bloß die alten Kinderlieder, die sie einst in der Schule gelernt hatten. Sie sangen: „Weißt Du, wie viel Sternlein stehen“, „Zu Mantua in Banden der treue Hofer war“ und „Die Lorelei“. Aber Gusti wollte höher hinaus und entwickelte einen wahren Kunsteifer. Hubert mußte ihr versprechen, daß er einmal etwas einstudieren komme, ganz ernstlich.
Eines Tages sah ihn Käthe über den Markt und drüben in Meiers Haus gehen. Es regte sich etwas in ihrem Herzen, das sie bisher nicht gekannt hatte, eine neidische Empfindung. Und gleich darauf überfiel sie ein Schamgefühl deswegen und dieses quälte sie noch ärger.
Abends war Hubert da, lachte und sagte, daß Gusti ganz des Teufels sei mit ihrer Musik.
Als Weihnachten herankam, wurde in Käthes Herz ein Gefühl lauter, das in den letzten Monaten unbewußt immer durch ihre Seele geflossen war, das Gefühl einer Erwartung. Aber es war nicht die süß unruhige Erwartung, die wir alle als Kinder gekannt haben, wenn wir wußten, daß der Christbaum schon im Hause war, wenn es förmlich schon ein wenig zu duften begann von Tannenharz und Weihnachtskerzlein, eine fröhliche Feststimmung sich vorbereitete und alles in und um uns wie von einem geheimnisvollen Lichte umgeben schien, von einem verheißenden Glanz der kommenden Weihnachtsfreude. Nicht das war es, vielmehr eine Spannung, die sie nicht in Worte zu kleiden wußte, eine heimliche Hoffnung und zugleich ein nagender Zweifel; die quälende Erwartung, es müsse doch einmal etwas antworten auf die Frage, die immer an ihr Herz pochte mit sehnsuchtsvollen Gedanken.
Wie jedes Jahr richtete Käthe in der Wohnstube ein kleines Bäumchen auf, und Hubert half ihr schon am Abend vorher ein paar Aepfel vergolden und die alten Nüsse in stand setzen, die immer von einer Weihnacht zur andern aufgehoben wurden. Sie scherzten und lachten dabei, und es waren selige Stunden für Käthe. Auch den alten Baumschmuck aus Flittergold und farbigem Papier holten sie hervor.
„Ja, Käthe! Da haben wir manches Stück wohl noch als Kinder zusammengekleistert! – Da! Erinnerst Du Dich an diesen kühnen Stern? Der ist von Dir – und da ist noch einer. Ein prachtvoller Komet! Der stammt von mir. Schau, schau – wie sie noch hübsch beisammen sind! Die Ketten – mir scheint, die hat Franz geschmiedet. Wir zwei aber gingen mehr aufs Kunstvolle. Die grünen Reiser an den Wänden dürfen heuer auch nicht fehlen. Morgen gehe ich und zwicke dem Garten ’was ab.“
Und so war es wieder einmal Weihnachten. Sie standen frohherzig vor dem kleinen Baum. Die Lichter knisterten und das Flittergold leuchtete. Hin und wieder rauchte es an einem Zweiglein, und ein träumerischer Weihnachtsduft erfüllte die kleine Stube. Der Vater saß in seinem Lehnstuhl und machte glückliche alte Augen.
„Daß der Franz nicht da ist! – Wie schade, daß er nicht da ist!“ wiederholte er öfter, nahm dann sein Mädchen beim Kopf und küßte es mit der schlichten Innigkeit, die für die Kinder von jeher etwas Heiliges gehabt hat an den Wendepunkten im Jahr, wenn der Vater sie ans Herz zog.
Die kleinen Bescherungen wurden immer wieder zur Hand genommen und betrachtet, und eines machte dem andern lachende und liebevolle Vorwürfe über die Unkosten, in die sich alle begeben hatten. Dann setzten sie sich an den Tisch, der ein festliches Ansehen hatte. Käthe hatte einen großen Weihnachtskuchen gebacken und Hubert mußte endlich den Glühwein mischen, wie er es immer gethan. Die Gläser dampften und sandten ihren aromatischen Duft empor. Nun plauderte man von der vergangenen Zeit. Es ist ja immer, als ob die Weihnachtskerzen alle ihr Licht anzünden würden an den süßen Erinnerungen der Vergangenheit. Und in der Erinnerung leuchten alle ihre Lichter wieder auf, und wo die rechte Weihnachtsstimmung ist, da sieht man sie alle wieder beisammen, die herrlichen lichtstrahlenden Christbäume der seligen Jugendzeit, und es ist uns, als ständen wir in einem Festsaal, unter dessen säulengetragenen Kuppeln ein ergreifender Chor erklingt, bald süß und leise wie ein Wiegenlied, bald brausend wie Gesang der Freude.
Die Lichtlein brannten still und flackernd herab. Hin und wieder mußte Käthe eines putzen. Manches brannte auch rascher nieder als die andern. Das suchte sie dann so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Aber endlich rann doch der letzte Wachstropfen davon herab und fiel auf die grünen Nadeln wie eine erstarrte Thräne; und der Lichter wurden immer weniger.
Käthe sah mit Angst darauf. Sie hätte sie so gerne fortbrennen lassen, noch lange, lange. Es war ihr, als ob sie sich nicht trennen könnte von dem brennenden Baume. Und als der letzte Docht heruntergefallen war, sagte sie: „Sollen wir nicht doch noch ein paar Kerzchen hinaufthun?“ Sie lächelte dabei und sagte es leichthin, als ob sie damit das Drängen des eigenen Wunsches verdecken wollte.
„Laß doch, Käthe,“ sagte der Vater. „Man darf nicht zwei Weihnachtsbäume machen wollen aus einem.“
„Uebers Jahr ist ja wieder Weihnacht,“ sagte Hubert.
Uebers Jahr! – Aber es gab ihr keine Ruhe. Sie suchte das längste Kerzchen aus, befestigte es ganz am Ende eines Zweiges und steckte es an. Dann setzte sie sich in das alte Sofa und sah zu, wie das Licht leise herunterbrannte. Der Docht wurde immer länger und die Flamme immer größer, je tiefer sie kam. Die Wachsthränen flossen herunten wie lebendig, und das Bäumchen flimmerte hinter der einsamen Kerze. Und Käthe blickte immer in die zuckende Flamme hinein, als hätte sie es ihr angethan.
„Vater, sieh doch zu, wie das arme kleine Stümpfchen brav ist! – Hubert, schau doch! Schau doch den Baum an, so lange es noch währt! Wie er hübsch ist, nicht wahr? – Sieh doch hin! Noch immer brennt es. – Schaut ihn doch noch einmal recht an!“
Und dann saßen sie eine Weile alle schweigend da und blickten auf das zitternde Licht und die fallenden Tropfen. Und wie es so beinahe feierlich still geworden war in ihrem kleinen Kreise, schwebte jene Mahnung von Ernst und Liebe und Rührung darüber, die uns alle einmal ergreift unter dem Weihnachtsbaum, wenn unser Herz noch nicht stumpf und eitel geworden ist im Getriebe des Lebens.
Das Kerzchen flackerte noch einmal hoch auf und erlosch.
Als Hubert fort war und sie zur Ruhe gingen, brach Käthe ein Tannenreis ab und nahm es mit sich in ihr Zimmer. Sie [304] that es jedes Jahr. Und dann nahm sie auch den Kometen mit, den Hubert als sein Werk wiedererkannt hatte. Sie befestigte ihn über ihrem Bette, am Rahmen des Bildes der Mutter, das dort hing.
Die Weihnachtsglocken klangen. Bei ihrem Schalle schlief sie ein und träumte, sie stünde wieder vor dem Christbaum und müßte ihn aufputzen. Sie suchte den goldenen Stern und konnte ihn gar nicht mehr finden, denn sie erinnerte sich nicht, daß sie ihn in ihr Zimmer genommen. So mußte sie fortgehen, ihn zu suchen; eine Angst kam über sie, und sie erwachte davon. Im Halbschlaf sagte sie sich, daß es ungeschickt war, den Stern heraufzunehmen – er hat so viele Jahre bei den andern Sachen gelegen. Aber der Schlaf verscheuchte die Gedanken. –
Sie wollte mit Gewalt alles aus sich verdrängen, was in der letzten Zeit an Wünschen und Erwartungen, an Träumen ohne sichere Umrisse von ihr Besitz ergriffen hatte, als ob sie in diese letzten Tage des scheidenden Jahres mit allem Aufgebot ihres Willens wieder den frohen Geist hineinbeschwören möchte, den sie sonst gekannt, und der ihr verloren gehen wollte, sie wußte nicht weshalb. Sie wollte sich hineinzwingen in harmlose Unbefangenheit, um die Stimme nicht zu hören, die jetzt in ihr tönte.
In manchen Augenblicken konnte sie sich selbst betrachten wie etwas Fremdes und beinahe sorglos lächeln.
„Ist es eine Krankheit, die wir Mädchen alle durchmachen müssen? – Der arme Hubert! Was kann er denn dafür? Er hat mich immer gern gehabt, von Kindheit an, der gute alte Kamerad. Wenn er mich einmal will zu seiner Försterin, dann wird er kommen und mir’s sagen!“
Dann wird er kommen!
Und ihr Herz klammerte sich doch wieder an das Wort, es allein blieb übrig von ihrer Betrachtung und wiederholte sich hundertmal und wies immer nur auf das eine, wie auf das einzige Ziel in der rollenden Zeit.
Am Sylvestertag war sie guter Dinge, scherzte und lachte. Sie las dem Vater zweimal den guten lustigen Brief vor, den Bruder Franz geschrieben hatte. Sie schwatzte ihm lauter lustige Dinge vor und freute sich auf den Abend.
„Vater, heute müssen wir recht heiter sein, wenn Hubert kommt. Ich will Euch einen famosen Punsch brauen, das sollst Du sehen! Und wenn Du auch nicht mitwillst, so müssen wir nach dem Abendessen doch auf einen Sprung zu Meiers; Gusti hat so darum gebeten. Wir bleiben aber nicht lange aus. Und dann erwarten wir hier das neue Jahr, wie wir’s sonst immer gethan. Wie es warm und gemütlich sein wird! Wenn Hubert nur einmal recht pünktlich ist! Heute darf mir nichts verkochen und verbraten.“
Aber Hubert war pünktlich, und sie saßen gut gelaunt beisammen um den kleinen Tisch. Im Ofen knackte und puffte das Holz mit lustigem Eifer, und oben zischten wieder ein paar Aepfel, weil der Vater sie so gerne mochte.
„Wenn alle Jäger so friedlich beim Ofen sitzen,“ sagte Hubert, „dann haben es die Kerle gut, die uns draußen Holz stehlen und in die Gehege gehen. Was uns das Volk für Plackereien macht!“
„Ist’s so arg jetzt?“ fragte der Vater.
„Ja, da ist besonders einer – aber wir können ihn gar nicht erwischen. Ich laure schon so, daß mich der Förster auslacht. Eine rechte Bande!“
„Weil sie keinen Heller in der Tasche haben und zu Hause frieren!“ meinte Käthe. „Heut’ wo wir’s hier gemütlich haben, sollst Du nicht an Euren Jägergroll denken.“
„Ja, ja! Aber ewig herumbalgen muß man sich doch deshalb. Du hast aber recht, Käthel, heute abend wollen wir lustig sein.“
„Geht dann nicht zu spät hinüber,“ sagte der Vater, „daß wir noch ruhig beisammensitzen können im alten Jahr und gemeinsam das neue erwarten.“
„Bei Meiers soll’s ja flott zugehen! Das Lehrerpaar ist wohl drüben und der Doktor mit seiner besseren Hälfte.“
„Wie es stürmt!“ sagte Käthe.
„Gieb nur acht, daß Du mir dann nicht fortgeblasen wirst!“ lachte Hubert.
„Ja, Du möchtest mich so leicht nicht wiederfinden. Es schneit noch immer.“
„Was wird Franz machen?“ fragte der Vater.
„Er sitzt auch wo in einer warmen Ecke und denkt hierher,“ entgegnete Hubert.
„Wie viele Jahre schon saßen wir immer so beisammen!“
„Aber immer um eins weniger,“ sagte der Vater.
Käthe stand auf und küßte ihn auf die Stirn und der Alte machte einen Scherz, als ob er nichts gemeint hätte.
Endlich nahm Käthe ihr großes Wolltuch um, Hubert seinen Wettermantel, und sich an den Händen haltend, liefen sie über den Markt hinüber. Der Wind pfiff und schlug ihnen die eisigen Flocken schneidend ins Gesicht. Sie lachten aber und waren in einem Augenblick drüben.
Die ganze Gesellschaft saß unten in der Eßstube. Man hörte schon auf dem Flur ihr lautes Sprechen und das derbe Lachen des Hausherrn.
Herr Meier war galant. Er saß neben der Lehrersfrau und erwies ihr kleine Aufmerksamkeiten. Hatte sie sich ein Stück zugelegt, so spießte er es von ihrem Teller fort und sagte: „Pardon, Pardon, schöne Nachbarin, aber ich muß darauf sehen, daß Sie ’was Besseres bekommen!“ Und bei jeder Speise erzählte er, auf welche Art zubereitet sie ihm am besten schmecke. Er sprach laut und viel, nur wenn er sich von einem Hühnerbein nicht trennen konnte, schwieg er. Dann hatte er den Kopf ein wenig vorgeneigt, und man hörte seine starken Kiefer arbeiten. Schon gleich nach dem Abendessen war der Punsch gebracht worden, und als Käthe und Hubert kamen, war Herrn Meiers Gesicht schon ganz rot und glänzend vor Vergnügen.
„Wissen Sie?“ sagte er zu Hubert, „jetzt werde ich Ihnen eine Cigarre geben, so eine haben Sie noch gar nicht geraucht!“
„Also aufgepaßt, Jägersmann!“ rief der Doktor vom Ende des Tisches herüber und zwinkerte mit seinen possierlichen Augen.
Ueber dem Tische, auf dem zwei Lampen standen, hing schon eine Wolke von Tabaksrauch und aus einer großen Terrine stieg der Dampf von dem heißen Punsch auf und vermischte sich damit. Gusti hatte für Käthe und Hubert links und rechts von sich Stühle herbeigerückt und war voll sprudelnder Laune.
„Wir müssen heute ein Vielliebchen mitsammen essen,“ rief sie und hielt Hubert mit ihrer kleinen rosigen Hand eine Krachmandel entgegen. Er griff danach, aber sie ging schwer entzwei, und sie mußten sich eine ganze Weile beide daran bemühen.
„Uff!“ sagte Gusti aufatmend. „Das war eine Arbeit, Käthe! Er hat mir dabei fast die Finger zerquetscht.“
Sie machte aber ein heiteres Gesicht und blitzte mit ihren Augen immer lachend zu ihm hinüber, so von der Seite, als ob sie ein übermütiges Wort auf den Lippen hätte. Sie plauderten und lachten, die Drei unter sich, und Gusti riß mit ihren spaßigen Geschichten Käthe mit fort, so daß auch diese beinnahe mutwillig wurde.
„Meinem Punsch müssen Sie ordentlich zusprechen,“ rief Herr Meier. „Ja, Kinder, da ist ein ganz besonderer Rum dabei! Da kosten ein paar Flaschen so viel wie ein paar Faß Bier, wissen Sie!“
Nach einiger Zeit glaubte er, er müßte seinen Gästen einen Trinkspruch sagen.
Er klopfte also laut an seinn Glas und sah mit einem Blick, der fast etwas Herausforderndes und Tadelndes hatte, im Kreise herum, bis alle schwiegen.
„Ich werde Ihnen was sagen,“ begann er dann.
„Hört! Hört!“ rief der Lehrer leise dazwischen und sah so angelegentlich nach Herrn Meiers Mund, als ob nun gleich die Weisheit selbst davon herunterfließen sollte.
„Der Sylvesterabend,“ sagte Herr Meier, „ist eine ganz prächtige Einrichtung. Seh’n Sie, ich genieß’ ihn immer sehr. Ein Jahr ist wieder abgetreten. Aber was macht denn das? – Wenn es schlecht war, seien wir froh, daß es fertig ist“ – hier stach er mit der Gabel, die er noch immer in der Hand hielt, ins Tischtuch, als ob es ein schlechtes Jahr wäre, dem er den Garaus machen möchte – „und wenn es gut war, kommt ein noch besseres nach. Ich kann Ihnen sagen, daß ich aus langer Erfahrung spreche. – Seh’n Sie, meine Herrschaften, ich habe mir das so eingerichtet, daß ich meine Jahresbilanz immer ein paar Tage vor Sylvester mache. Warum? werden Sie natürlich fragen. – Nun, deshalb, damit ich meiner Sache sicher bin, und damit ich nicht vielleicht nach einem lustigen Sylvesterabend einen moralischen Katzenjammer zu haben brauche.“
„Sehr gut!“ sagte der Lehrer halblaut und blickte nachdenklich auf seinen leeren Teller.
„Und damit ich weiß,“ fuhr Herr Meier fort, „daß ich es
[305][306] verdiene, wenn einer mich angratulieren will. – Das Verdienen ist die Hauptsache im Leben, meine Herrschaften! – Ich bin in der glücklichen Lage,“ schloß er mit einem Lächeln, das beinahe bescheiden aussah, „daß ich mir mit ruhigem Gewissen kann gratulieren lassen. – Dieses nun wünsche ich Ihnen allen auch aufs beste und erhebe mein Glas auf Ihr besonderes Wohl. Dreimal Hoch, wenn ich bitten darf!“
Während er sprach, war Gusti ganz verlegen geworden. Es hatte fast den Anschein, als ob sie ihren beiden Nachbarn den Genuß des väterlichen Trinkspruches verkürzen wollte, denn sie lenkte Käthes Aufmerksamkeit ab, indem sie ihr fortwährend etwas zuflüsterte, und dann wieder Hubert, indem sie ihm das Glas vollschenkte, ihm den Teller mit den Bäckereien zuschob oder ihn durch Gebärden um einen möglichen Wunsch fragte. Zuletzt war sie ganz rot geworden, zerzupfte ein Stückchen Brot in kleine Kügelchen und sah starr vor sich hin, beinahe, als ob sie sich schämte, daß ihr Vater ein so glücklicher Mann war.
Endlich mußte Käthe Hubert an den Heimweg mahnen, und sie gingen. Unablässig wirbelte der Schnee herab. Sie nahmen sich wieder an den Händen wie vorher.
„Komm,“ sagte Käthe. „Mir ist heute ganz übermütig zu Sinn. Wir wollen einmal um den alten Brunnen herumlaufen; es ist ja keine Seele auf dem Markte.“
Sie thaten es, bis beide ganz außer Atem waren. Sie hielten sich immer fest an der Hand.
„Was für Kinder wir sind!“ rief Käthe dann. „Und doch war es schön, Hubert, als wir wirklich noch Kinder waren!“
„Versteht sich, Käthe! Nur finde ich’s jetzt nicht minder schön,“ entgegnete er.
Im Flur klopften sie sich den Schnee von den Kleidern, und als Käthe zum Vater in die Stube trat, atmete sie auf.
„Wie es da still und gemütlich ist! Weißt Du, ich glaubte es gar nicht mehr aushalten zu können, drüben. Es ging gar so laut her, und dieser Tabaksqualm!“
Dann verbrachten sie ihren ruhigen Sylvesterabend, bis die Uhr aushob und zwölf schlug. Da reichten sie sich alle Drei die Hand und sagten sich ein freundliches Wort zum Neuen Jahr.
Als aber Käthe dann oben in ihr Zimmer kam und die Thür hinter sich geschlossen hatte, brach sie plötzlich heftig schluchzend in Thränen aus, so plötzlich, als hätte sie nur den Augenblick erwartet, wo sie allein war, so heftig, als gelangte ein geheimer Sturm in ihrem Herzen zum Ausbruch. Sie saß zusammengesunken auf ihrem Bette und vergrub das Gesicht in den Händen. Und immer und immer fort liefen die heißen Tropfen über ihre Wangen herab.
Und am Erker heulte der Sturm der Sylvesternacht und rüttelte an den alten Fenstern, daß die kleinen Scheiben zitterten.
Eines Abends war Gusti da, und als sie ging, verabschiedete sich auch Hubert und geleitete sie hinüber. Sie klagte scherzend über die Kälte und hing sich fest in seinen Arm.
„Wie groß Sie sind,“ sagte sie, „ich muß mich recken.“
Und sie streckte sich, während sie neben ihm ging, und er fühlte ihre Gestalt an seiner Seite lehnen. Drüben angekommen, hielt sie seine Hand fest.
„Ich gebe Sie nicht frei,“ lachte sie, „bis Sie nicht versprechen, daß wir bald wieder singen. Ich hab’ so etwas Hübsches – ein Duett!“
Er sagte zu, sie schüttelte ihm die Hand mit einer komischen Gebärde, nach Männerart, und als sie sich getrennt hatten, wandten sie sich gleichzeitig wieder um, sie unter dem Thore, im Lichte der Lampe, die am Flur brannte, und er im Schatten draußen. Dann ging er nachdenklich heim.
Das nächste Mal brachte er eine besondere Nachricht. Er kam wegmüde aus der Försterei zurück. Die Dämmerung war angebrochen und von der Kirche klangen die Vesperglocken.
„Nur im Vorübergehen,“ sagte er, in die Stube tretend, wo Käthe und der Vater saßen. „Ich muß gleich weiter, aufs Amt. Aber ich wollte Euch zuerst ’was Rechtes erzählen. Heut’ habe ich mir die Sporen verdient!“
„Was war denn los?“
„Den Stoser haben wir endlich erwischt! Mehr als ein Jahr lang haben sie ihm aufgepaßt, und immer umsonst. Die schönsten Böcke hat er uns abgeschossen, das meiste Holz hat er gestohlen, und nie hat man ihm ankönnen. Nun sitzt er fest!“
Hast Du’s gemacht? fragte Käthe und sah mit Stolz auf ihn.
„Ja – so aus blindem Glück, der reinste Zufall. Wir waren zwei, der Forstwart und ich. Marx war etwas zurückgeblieben. Da fiel der Schuß. Ich bin wie eine Katze geschlichen. Aber es galt Eile. Keine dreihundert Schritt weit traf ich ihn. Er war gerade beim Ausweiden. Was der Lump behend ist! – Er merkte nichts, bis ich knapp hinter ihm stand. – Dann aber, Herrgott, das hättet Ihr sehen sollen. Er machte einen Satz in die Luft, wie ein Wiesel, auf seine Büchse los. Aber ich hatte ihn schon am Kragen. Wir balgten uns im Schnee. Wer weiß, wie schließlich es gegangen wäre! Aber Marx war da, es war alles nur ein Augenblick. Der Marx, der hat eine Faust! – Er nahm ihn nur so, riß ihn von mir los und hieb ihn nieder. Dann war er im Handumdrehen gefesselt und unschädlich. Aber wie eine wilde Bestie hieb er noch um sich, mit dem Kopf und mit den Füßen. Der Kerl ist wie ein Tier. Mit den blutrünstigen Augen hat er mich förnnlich aufgefressen, und fortwährend schrie er! „Jetzt könnt Ihr mich ins Loch werfen! Ich komm’ schon wieder heraus. Dann hüt’ Dich, Du Milchbart. Sollt Deine Pille kriegen!“
„Wie schrecklich!“ rief Käthe.
„Ach, es ist ja imnner das gleiche Geflunker!“ sagte Hubert. „Alle, die wir fassen, schwören uns Mord und Totschlag. Freilich, länger sitzen sollten sie. Aber so, was hilft’s? In ein paar Monaten sind sie wieder heraus und die Geschichte geht von vorn an.“
Käthe hatte regungslos zugehörck, aber ihr Herz pochte angstvoll.
„Nun muß ich gehen,“ sagte Hubert. „Der Forstmeister wird sich freuen! Abends komm’ ich wohl wieder!“
Als er im Flur war, kam Käthe ihm nach. Er hatte eben die Hand nach der Klinke gestreckt und wandte sich auf ihren Ruf noch einmal um.
Sie kam ganz nahe heran und sah ihm wie bittend in die Augen, während das Blut ihr plötzlich in die Wangen trat.
„O Hubert – ich habe Angst um Dich!“
Er lachte gutmütig.
„Deswegen? – Sei kein Kind, Käthe!“
„Nimm Dich in acht!“ bat sie.
„Ja, ja, natürlich!“ Und als ob er nun erst in dem Halbdunkel den feuchten Schimmer in ihren Augen gewahr würde und nach der ganzen Aufregung ein weicher Ton ihm ins Herz fiele, nahm er sie an der Schulter, zog sie so zu sich, und sie mit seinen hellen Augen musternd, sagte er beruhigend: „Sieh’ mal, altes Käthel! Mir scheint, Du fürchtest Dich wahrhaftig!“
„Ich hab’ Angst um Dich!“ sagte sie wieder, und plötzlich schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mehrmals und innig, und er fühlte an seiner Wange die Thräne, die verstohlen über die ihrige rann. Sie hielt ihn so umschlungen, eine ganze Weile. Dannn machte sie sich los und schob ihn zurück.
„Geh – geh nun! – Und lach’ nicht über mich –“ und damit drehte sie sich um und lief die Stiege hinauf.
Bei Meiers drüben erzählte der Doktor von Huberts tüchtiger Aufführung, denn der Fall war ihm bald bekannt geworden und wurde in drastischer Wiedergabe besprochen.
„Ja, sehen Sie, Fräulein Gusti,“ sagte der alte spaßige Herr, „dieser Hubert, das ist ein braver Mensch und ein hübscher Bursch dazu. Schau’n Sie ihn sich nur recht gut an! Sie werden sehen, Sie entdecken so etwas an ihm – so etwas Heldenhaftes. Oder haben Sie das vielleicht ohnehin schon entdeckt?“
Worauf Gusti ihm ein Schnippchen schlug und aus dem Zimmer tanzte. Sie hatte aber das Heldenhafte wirklich schon ohne ihn entdeckt. –
Das besprochene Duett kam zustande. Käthe und Hubert wurden in aller Form dazu eingeladen.
„Wir werden es uns sehr gemütlich machen,“ sagte Gusti. „Wir Drei werden ganz allein sein. Zuerst wollen wir spielen und singen und dann werden wir ein Schälchen Kaffee trinken.“
Sie waren in Meiers guter Stube beisammen. Und diese hatte ein fast kokettes Aussehen.
Auf den weißgebohnten Dielen waren Streifen aus dunklem Eichenholz eingelegt, die im Kreuz darüberliefen. An der Wand, [307] den beiden Fenstern gegenüber, stand das Sofa aus großblumigem Zitz, und darüber hingen in zwei ovalen, vergoldeten Rahmen die Bilder des Ehepaares, in Oel gemalt. Auf jedem der beiden Rahmen saß oben ein geschnitzter Vogel, der einer Taube ähnlich sah. Der Tisch war mit einer gehäkelten weißen Decke belegt; darauf stand in der Mitte eine hohe Vase aus grünem Glas mit einem Fuß aus Nickel. Sie sah wie ein großer Champagnerkelch aus. Außerdem standen ein paar Körbchen aus Laubsägearbeit da, mit kleinen Schleifen aus roter Seide, die aber schon etwas verblaßt waren, und darin lagen etliche Photographien, von der Zeit und von der Sonne vergilbt. Auf jeder Stuhllehne lag ein gehäkeltes Deckchen mit langen Fransen, und auch die Vorhänge an den Fenstern waren so. In einer Ecke stand ein Glasschrank mit vielen porzellanenen Figuren, Hunde, Kätzchen, Schäferinnen und Chinesen, mitten drin ein ausgestopfter Kanarienvogel, dessen Gefieder leider schon ein wenig gelichtet war, und der mit einem Auge ins Zimmer sah, als ob er anfangen wollte zu singen. Aus dem andern Auge war die Glasperle herausgefallen. Zwischen den Fenstern stand ein kleines altes Klavier aus hellem Holze. Dort hing ein Spiegel in einem vergoldeten und gemalten Rahmen, und unter diesem war eine Stickereiarbeit, die Gusti in der Schule gemacht hatte, wie ein Fries an die Wand genagelt. In der Mitte des Zimmers hing von der Decke herab an einer blauen Schnur ein Straußenei und drehte sich immer eine Weile erst nach einer Richtung und dann nach der andern. Dazwischen aber machte es eine Pause, als ob es eigentlich doch schon gelangweilt oder schwindlig wäre. Neben dem Glaskasten hing eine geschnitzte Schwarzwälder Uhr, und jedesmal wenn sie eine Stunde schlug, sprang oben ein Aeffchen heraus und machte einen Diener.
Zuerst spielte ihnen Gusti etwas vor, das „Gebet der Jungfrau“ und die Gavotte „Louis Treize“. Dann sang sie ein paar kurze Lieder von Kücken.
Ihr blonder Kopf wiegte sich ein bißchen, während sie spielte, und wenn sie sang, erhob sie ihn. Ihr schelmisches Gesicht setzte beinahe eine ernste Miene auf; sie spitzte den kleinen Mund wie zu einem Kusse, und ihr Profil mit dem geraden Näschen und dem feinen Kinn sah in dem hellen Fensterrahmen reizend aus.
Und endlich sangen sie das Duett.
Hubert stand etwas hinter ihrem Stuhle und Gusti wurde beinahe feierlich. Käthe, die im Sofa saß, sah gerade hin auf das Fenster, von dem sich beider Gestalten abhoben, in jeder Linie scharf wie Silhouetten. Und sie sangen:
„Ich wollt’ meine Liebe ergösse sich
All’ in ein einzig Wort –“
Es ging ganz gut; sie sangen es noch einmal. Dann stand Gusti ganz errötet vor Freude und Stolz auf und rief:
„Siehst Du, Käthe, er hat es doch gelernt!“
Und es war beinahe, als ob die Freundin ein wenig verlegen sei und Gusti um ihre Fertigkeit beneidete. Sie blieb auch so, während sie den Kaffee tranken aus den geblumten Schalen mit dem Goldrande, die nur für Gäste genommen wurden.
Gusti machte sich geschäftig. Sie schnitt ihnen den Kuchen vor und zuckerte Huberts Tasse.
„Ich muß mich um Sie bemühen,“ lachte sie, „denn Sie waren sehr brav!“
Der alte Doktor hätte entdecken können, daß Hubert nicht nur etwas Heldenhaftes an sich hatte, sondern daß sich auch ein poetisches Licht um ihn zu breiten begann.
(Fortsetzung folgt.)
BLÄTTER UND BLÜTEN.
Der Eiertribut an der Oberspree. (Zu dem Bilde S. 301.) Unter den Städten, in denen der Rudersport zu höchster Blüte gelangt ist, nimmt die deutsche Reichshauptstadt gegenwärtig eine der ersten Stellen ein. Berlin ist ja für jede Art von Wassersport einer der bevorzugtesten Orte. Spree und Havel, die beiden an sich ja nicht sehr bedeutenden Wasserläufe, werden gerade in der näheren Umgebung der deutschen Kaiserstadt durch den Hang zur Seenbildung überaus stattliche Gewässer. Der zur Havel gehörige Wannsee im Westen, der zur Spree gehörige Müggelsee im Osten Berlins sind so ausgedehnte Wasserflächen, daß sie die Bethätigung jeder Art des Wassersports gestatten. Während die Havel, die von Spandau an, über Potsdam und Brandenburg hinweg, eine ununterbrochene Seenkette bildet und dadurch auf dieser ganzen großen Strecke sich als ein breiter majestätischer Strom darstellt, vornehmlich den verschiedenen Segelklubs als Schauplatz ihrer Uebungs- und Wettfahrten dient, haben sich die Berliner Rudervereine die Oberspree, jenen seenreichen Flußlauf zwischen Berlin und Köpenick, beziehungsweise Grünau und Friedrichshagen, hauptsächlich zu ihren Fahrten und Regatten erkoren. Bei Grünau an der Dahme oder Wendischen Spree, die sich bei Köpenick mit der Spree vereinigt, findet die große Frühlingsregatta statt, der neuerdings ja auch der deutsche Kaiser sein Interesse zugewendet hat, nachdem vor mehr als einem Jahrzehnt schon der damalige Kronprinz, nachmalige Kaiser Friedrich III., mit seiner Familie einer Grünauer Frühlingsregatta beigewohnt hatte. Seit jener Zeit hat der Berliner Rudersport den weltstädtischen Charakter angenommen, welchen er heute hat.
Der Rudersport nun giebt der Oberspree und den zahlreich an ihren Ufern gelegenen sommerlichen Vergnügungslokalen ein besonders charakteristisches Gepräge. Sobald das erste Birken- und Weidengrün sich schüchtern aus den Knospen hervorwagt, ja früher noch, wenn nach überstandenem Winterfrost die Wasser der Spree nur halbwegs eisfrei geworden sind, zieht der Berliner Ruderfreund sein Boot, das winterüber umgestülpt am geschützten Strande oder auch geborgen unter Dach und Fach gelegen, bereits in die Fluten. Zu derselben Zeit beginnt in den Restaurants und Sommergärten an der Oberspree, zu Treptow, Stralau-Rummelsburg, in den beiden „Eierhäuschen“ und weiter hinauf bis Köpenick, Grünau und Friedrichshagen ein gar geschäftiges Treiben, ein Großreinmachen und Erneuern dessen, was während des rauhen Winters in Verfall geraten. Die Lampen und Laternen in Garten, Halle und Saal blitzen frisch geputzt und frisch gefüllt, die Schilder glänzen neu gemalt, Zäune, Thore, Buden, Tische und Stühle desgleichen, die Gartenwege leuchten hell vom frisch gestreuten, mit Eierschalen untermischten Kies; der nächste schöne Sonntag soll ja die lange verödet gewesenen Sommerlokale wieder füllen; die Scharen der nach frischer freier Wald- und Wasserluft begierigen Residenzler werden von nun an wieder alltäglich sich hinaus ergießen zu jenen Orten „am grünen Strand der Spree“. Und der erste Gast, der erste Frühlingsbote, der den Restaurationswirten und Sommergartenbesitzern die fröhliche Kunde bringt, daß der Lenz und mit ihm die goldbringende Saison gekommen, ist nicht etwa der Storch oder die Lerche oder die Schwalbe, sondern ein Ruderboot, das sich vor den andern beeilt hat, hinauszukommen. Denn als ein besonderer Sport der Berliner Ruderfreunde hat es sich herausgebildet, als der Erste im Jahre auf dem Platze oder vielmehr den Plätzen zu sein, an denen sich während des Sommers die Klubboote zu tummeln pflegen. Und die Wirte jener Restaurants und Sommergärten, die so vielen guten Verdienst den durstigen Rudererkehlen verdanken, feiern die willkommenen Frühlingsboten in den Ruderkähnen auf eigentümliche sinnige Weise: sie überreichen ihnen eine Mandel Enteneier. Eier haben ja symbolische Bedeutung für das Osterfest, das Fest des beginnenden Lenzes. Möglichst viele solcher Eierspenden einzuheimsen, ist der Ehrgeiz jedes Berliner Ruderklubs. Wird doch der Name des betreffenden Klubs, dessen Boot als erstes im Frühjahr in einem der Restaurants an der Oberspree angekommen ist, nebst dem Namen des Bootes selbst und seiner Insassen an einer Saalwand jenes Restaurants verewigt. Da die so frühe Ruderfahrt wegen der zu dieser Zeit oft noch treibenden Eisschollen nicht ungefährlich ist, so gewinnt diese Eierspende allerdings die Bedeutung einer Anerkennung für eine wirkliche sportliche Leistung.
Unser Bild zeigt das Ueberreichen des Eiertributs – die Eier sind in der Regel in einem zierlichen Körbchen verpackt – vor einem solchen Restaurant bei Treptow. Hat das siegreiche Boot seinen Tribut in Empfang genommen, so eilt es weiter, von Restaurant zu Restaurant, oft von andern Klubbooten verfolgt, die ihm den Rang abzulaufen suchen, bis an dem Endziele eine solenne Kneiperei der vereinigten Ruderer dem Restaurateur an der Oberspree beweist, daß für ihn mit dem ersten, vor seinem Steg erscheinenden Klubboot thatsächlich die Zeit der guten Einnahmen, des stattlichen Sommerverdienstes hereingebrochen ist. O. N.
Frühlings Erwachen im Hochgebirg. (Zu dem Bilde S. 305.) Eisumpanzert standen die Berge, als sollte es kein Entrinnen aus den strengen Fesseln des Winters mehr geben. Starr und kalt umschlossen sie das enge Thal, in dem unter der lastenden Schneedecke alles Leben erloschen schien. Da kam ein frischer Gesell aus dem Süden. Ungestüm zauste er an dem dichten Schneemantel, in den sich der grausame Despot gehüllt hatte. Wohl schleuderte dieser dem kecken Eindringling mächtige Lawinen und Felsblöcke entgegen – aber der Jugendfrische und sonnigen Kraft desselben konnte er nicht stand halten; er wurde zurückgedrängt – immer höher und höher, bis in die Regionen des ewigen Eises. Nun gab es kein Halten mehr; von allen Höhen rieselte es, neues Leben entsproß der freudig spendenden Mutter Erde. Mit zartem grünen Flaum schmückte sich der kräftigen Erdgeruch ausatmende Boden; das war ein Drängen und Treiben, Knospen und Blühen in Flur und Feld und Wald, im Thal und auf den Höhen! Und in all’ dem Jubel der neuerwachten Natur, im goldenen Sonnenschein wandelt ein glücklich Menschenpaar, Frühling im Herzen. Wie vieles haben sie sich zu sagen, was sie in der Brust verschließen mußten, wie es die Sitte verlangt; denn mit Gefühlen zu prunken, ist dort nicht Brauch. Diese Scene stellt unser Bild dar, das wir der Kunst des selbst aus solcher Bergwelt stammenden Münchener [308] Meisters Mathias Schmid verdanken. Aber der Gegenstand des Bildes hat für den Maler noch ein ganz persönliches Interesse.
Gar oft war Hannes die steilen Höhen des Langesthayer Berges
hinaufgewandert in die „Gufel“, wo die blonde Annamarie weilte. Die
ruhige Heiterkeit ihres Gemütes, ihre kräftige blühende Erscheinung hatten
es dem schmucken Burschen angethan, und wenn er ihrem emsigen Schaffen
zusah, sagte er sich, die Annamarie wäre für ihn das richtige Weib. Aber wie sie
gewinnen? Anders wie in den Städten gestaltet sich Leben und Charakter der
Menschen, die von Jugend auf zu hartem Kampfe mit der Natur gezwungen werden,
die machtlos zusehen müssen, wie Werke jahrelangen Fleißes und mühevoller
Arbeit in wenigen Minuten durch die Allgewalt der Elemente zerstört werden. Gute
Gesundheit und körperliche Kraft stehen hier in hohem Ansehen. Unserm Hannes
kam ein Zufall zu Hilfe, seine außergewöhnliche Kraft beweisen zu können. An
den steilen Abhängen des Langesthayberges war eine Kuh abgestürzt, die nun wieder
hinaufgeschafft werden mußte. Hannes packte sich das drei Centner schwere Tier
auf den Rücken und stieg mit dieser Last den steilen Berg eine Stunde hinan. Noch
heute erzählen die Bewohner des Thales von dieser außerordentlichen Leistung. Auf
Annamarie machte sie solchen Eindruck, daß sie dem Werben des jungen Mannes Gehör
schenkte und ihm versprach, sein Weib zu werden. Seiner Kraft und Ausdauer,
verbunden mit großer geistiger Begabung, vertraute sie, daß er ihr auch im schweren
Kampf ums Dasein ein starker Helfer und Berater sein werde, und ihre Hoffnung
hat sie nicht betrogen. Glückliche friedevolle Jahre verlebte das junge
Paar im „Voräule“ (siehe „Gartenlaube“ 1885, Seite 348) in dem Häuschen, das Hannes für sein junges Weib erbaut hatte. Die trefflichen
Eigenschaften der Eltern vererbten sich auf eine zahlreiche Kinderschar.
Einer der jüngsten aus derselben aber ist Mathias Schmid, der mit diesem
Bilde seinen Eltern ein Erinnerungsmal widmen wollte. V. d. Needer.
Oberirdische Kartoffelzucht. Es war im vorigen Frühjahr, als der kleine Sohn meines Freundes in der Großstadt den Wunsch äußerte, Kartoffeln im Topfe zu ziehen, um die nützliche Pflanze, die er sonst nur flüchtig auf Spaziergängen durch Feld und Au kennenlernte, gründlicher studieren zu können. Der Vater, ein eifriger Naturfreund, leitete mit dem Knaben die lächerlich erscheinende Kultur und brachte mit Hilfe einiger Kunstgriffe Kartoffelpflanzen hervor, die in dem Bekanntenkreise nicht geringes Erstaunen erregten; denn es gab dort im Fensterstock Kartoffelpflanzen zu sehen, die – wie auf Fig. 1 – ihre Knollen über der Erde und selbst oben im Kraut zwischen den Blättern trugen.
Auf welche Weise kann man wohl eine Pflanze veranlassen, sich in so eigenartiger, von der Regel völlig abweichender Art zu entwickeln? Jedermann weiß ja, wie die Kartoffelpflanze in der Natur ihre Knollen bildet. Die Kartoffel treibt zweierlei Sprosse. Die einen wachsen über der Erde, tragen Blätter und Blüten; die anderen, die man Ausläufer oder Stolonen nennt, verzweigen sich unter der Erde. Ihre Enden verdicken sich und werden zu Knollen oder Kartoffeln. Für die Pflanze sind diese Knollen von hoher Bedeutung; denn jede von ihnen enthält eine Anzahl von Augen oder Knospen, aus welchen neue Pflanzen entstehen können, während das Innere der Knolle mit Nahrungsstoffen, wie Stärke und Eiweiß, gefüllt ist, die von der jungen Pflanze während ihres Wachstums verbraucht werden.
Was nun die oberen Sprosse der Pflanze verhindert, Knollen zu entwickeln, ist lediglich der Einfluß des Lichtes. Das läßt sich durch einen Versuch beweisen. Ziehen wir eine Kartoffel im Topfe und stecken den unteren Teil der Pflanze – wie auf Fig. 2 – in einen Kasten, daß er völlig in Dunkelheit bleibt, so tritt die merkwürdige Erscheinung ein, daß die an der Basis des Stengels vorhandenen Sprosse Kartoffeln bilden, als wenn sie unter der Erde sich befänden. Ebenso lassen sich Knollen an der Spitze der Pflanze erzeugen, wenn man dieselbe in einen völlig undurchsichtigen Kasten leitet.
Noch merkwürdiger ist aber die Thatsache, daß man die Kartoffelpflanze zwingen kann, Knollen oberirdisch auch unter voller Einwirkung des Lichtes zu bilden. Zu diesem Zwecke muß man die Pflanze vorher aller Ausläufer oder Stolonen berauben. Man schneidet also einen Steckling von einer Kartoffelpflanze in der Weise, daß an dem in die Erde kommenden Stengelende keine Knospen vorhanden sind, die sich zu Ausläufern umbilden würden. Ein solcher Steckling bildet nur Wurzeln an denen keine Knollen entstehen können, und wir haben dann eine Kartoffelpflanze vor uns, der die natürlichen Mittel zur Knollenbildung fehlen. Aber die Pflanze verzichtet nicht darauf, Speicherräume für die in den Blättern erzeugte Stärke anzulegen. Gewöhnliche Knospen, die unter normalen Umständen zu beblätterten Seitenzweigen sich verwandeln würden, verdicken sich und werden zu vollständigen Knollen. So entsteht ein wunderbares Kartoffelkraut, das in fast allen seinen Blattachseln Knollen trägt, obwohl es dauernd dem Einfluß des Tageslichtes ausgesetzt bleibt!
Diese hochinteressanten Versuche hat
zum erstenmal Dr. H. Vöchting vor einigen
Jahren ausgeführt und in Pringsheims „Jahrbüchern“ beschrieben. Als ich nun dieselben
aus dem Gelehrtenlaboratrium in die Stube eines Naturfreundes verpflanzt sah,
kam mir der Gedanke, daß solche Kulturen, die uns tiefe Einblicke in das Leben und
Weben der Pflanzen gewähren, von Blumenfreunden öfter ausgeführt werden könnten.
Dadurch würde die Liebhaberei an Reiz nichts einbüßen, wohl aber an tieferem
Ernst gewinnen und beitragen, namentlich die reifere Jugend zu richtigem wissenschaftlichen
Beobachten heranzubilden. *
Abendidylle an der Riviera. (Zu dem Bilde S. 293.) Schon mehr als einmal hat H. Nestel die Leser der „Gartenlaube“ im Bilde an die schönen Gestade der Riviera geführt, auf jenen gesegneten buchtenreichen Küstenstrich, der sich von Nizza bis Spezia dem nördlichen Rande des Ligurischen Meerbusens entlang zieht und um seiner landschaftlichen Reize wie um seiner gesundheitlichen Vorzüge willen alljährlich von vielen Tausenden, Kranken, Genesenden und Gesunden, aufgesucht wird. Auch unser heutiges Bild vergegenwärtigt uns den ganzen Zauber dieses irdischen Paradieses, in dem sich der Berge üppig bewachsene Hänge mit dem leuchtenden Meeresspiegel und dem leuchtenden Himmelszelt zu einem unvergleichlich schönen Ganzen zusammenschließen. Es ist ein Fleck Erde, so recht geschaffen zum beschaulichen Träumen, wie es der junge Hirte thut, der am felsigen Abhang zwischen Oliven und Cypressen seine Ziegen weidet, oder das Mädchen unten am Wasser, das gedankenverloren emporblickt zu den im letzten Lichte des scheidenden Tages erglühenden Höhen.
„Die Musik.“ (Zu dem Bilde S. 296 und 297.)
Frühling, Liebe und Musik, diese drei stehen von
alters her in engem Bunde. Es ist die blondgelockte
Crato, die Muse des holden Liebesgesanges, die aus
dem Bilde R. Rößlers unter Rosen mit den kleinen
Schelmen von Amorinen sich gelagert hat und zum
Schall von Laute und Flöte ihre süßen Weisen erklingen
läßt. Die ernstere Schwester-Muse Polyhymnia
fehlt freilich bei diesem Frühlingskonzert, aber
wer wollte das beklagen? Der Mai gehört der Liebe
und ihr uraltes Lied füllt, von den Lippen der
Göttin tönend, die Menschenherzen mit größerem
Entzücken als die kunstvollsten Weisen der ernstgestimmten
hohen Musik. Bn.
Das Blut der Giftschlangen. Die Giftschlange
ist gegen ihr eigenes Gift gefeit, die Kreuzotter z. B.
kann eine andere Kreuzotter nicht durch einen Biß töten.
Worauf beruht diese Unempfänglichkeit des Kriechtieres
gegen ein Gift, das allen anderen Tieren den Tod
bringt? Die Naturforscher Phisalix und Bertrand haben
jüngst diese Frage beantwortet. Sie fanden in dem
Blute der Kröte dasselbe Gift, welches diese durch ihre
Hautdrüsen ausscheidet. Sie untersuchten daraus den
Feuersalamander und fanden auch in dessen Blute
das Salamandrin, das Gift, das er im Zustande
der Erregung oder in Todesangst ausschwitzt. Schließlich
untersuchten sie auch das Blut der Viper und
entdeckten, daß es ebenfalls giftig ist, daß es, wenn
auch in geringeren Mengen, so doch entschieden den Giftstoff enthält,
den das Reptil durch seine Giftdrüsen abscheidet. Wir erfahren daraus,
daß der Giftstoff nicht ausschließlich in den Giftorganen jener unheimlichen
Tiere gebildet wird, sondern deren gesamten Körper durchtränkt –
und da ist es kein Wunder, daß sie gegen das Gift ihresgleichen
gefeit sind. *
Inhalt: [Verzeichnis der Beiträge in GL 1895, Heft 18 – noch nicht transkribiert.]