Die Gartenlaube (1896)/Heft 4

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[53]

Nr. 4.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (3. Fortsetzung.)


Zenaide hatte in der That mit Sonneck und Ehrwald den besprochenen Ausflug unternommen. Es war ein ziemlich langer Weg gewesen, denn die Moschee lag weit draußen, im arabischen Teile der Stadt, und erst nach mehr als halbstündiger Fahrt erreichten sie den in einer engen Gasse ziemlich versteckten Eingang. Es war ein altes arabisches Bauwerk, eins der ältesten und mächtigsten, das Kairo aufzuweisen hatte, aber es diente längst nicht mehr religiösen Zwecken. Halb zur Ruine geworden, bildete es nur noch eine Sehenswürdigkeit für die Fremden, denn die mehr als tausendjährigen Mauern trotzten noch immer der Zeit. Der weite Hof war überflutet von dem letzten Sonnenglanz des scheidenden Tages. Durch die hufeisenförmigen Fenster des Sanctuariums fielen die Strahlen in rötlich zuckenden Lichtern und spielten auf zerbröckelnden Marmorsäulen, auf uralten Mosaiken und halb verwischten Inschriften. Ueberall Verfall und Verödung! Keine Schar von Gläubigen belebte mehr Hof und Hallen, kein Gebetsruf ertönte von dem Minaret. Tiefes Schweigen ringsum, nur eine Schar weißer Tauben, die in den Arkaden nistete, flatterte auf bei den Fußtritten der Nahenden. Sie war das einzig Lebende in diesen Mauern, die lärmende, staubaufwirbelnde Stadt lag wie versunken hinter ihnen.

Sonneck saß am Fuße einer der Säulen, das Skizzenbuch auf den Knien, und zeichnete den Brunnen, der sich in der Mitte des Hofes erhob. Er lag auch schon fast in Trümmern, nahm sich aber äußerst malerisch aus mit seinem verfallenen Kuppeldach. Drüben zwischen den Arkaden des Sanctuariums wurden von Zeit zu Zeit das helle Gewand Zenaidens und die hohe Gestalt Reinharts sichtbar. Sie schienen den Raum nach allen Richtungen zu durchwandern. Der Zeichnende störte sie nicht, bis sie endlich aus der dämmernden Halle in den sonnendurchleuchteten Hof hinaustraten und sich ihm nahten.

„Nun, Zenaide,“ sagte er, sich der Anrede bedienend, die er in seinem väterlich vertraulichen Verkehr mit der Tochter seines Freundes stets gebrauchte, „hatte ich nicht recht, daß diese alte, halbverfallene Gâma eines Besuches wert sei? Sie birgt eine Fülle des Malerischen wie keine andere. Sie und Reinhart haben sich auch nicht satt daran sehen können, wie es scheint.“

„O, das trifft nur bei mir zu,“ versetzte die junge Dame lachend. „Herr Ehrwald hat allerdings ritterlich bei mir ausgehalten, aber ich fürchte, er hat sich dabei sträflich gelangweilt, denn er teilt meine Bewunderung durchaus nicht. Ich habe da arge Ketzereien mit anhören müssen.“

„Ich habe nur erklärt, daß ich nicht viel Sinn habe für eine tote Vergangenheit,“ verteidigte sich Reinhart. „Mich reizt nur das Lebendige, wo sich noch alle Kräfte regen. Aber wir haben Sie wohl gestört bei Ihrer Arbeit?“

„Nein, ich bin fertig,“ erklärte Sonneck. Er wollte das Buch schließen, aber Zenaide streckte die Hand danach aus.

Das Denkmal des Malers Emil Schindler zu Wien.
Nach dem Entwurf von E. Hellmer.

[54] „Bitte, lassen Sie mich sehen! Wie schnell Sie das hingeworfen haben! Kairo hat Ihr Skizzenbuch wohl überhaupt sehr bereichert? – Ah, das ist reizend! Unsere kleine Elsa, wie sie leibt und lebt! Sehen Sie nur, Herr Ehrwald!“ Sie hatte in den Skizzen geblättert und hielt jetzt eine derselben dem jungen Manne hin. Es war in der That die kleine Elsa von Bernried, auch nur flüchtig mit dem Stifte hingeworfen, aber die Zeichnung gab das Köpfchen des Kindes in ungemein lebensvoller Auffassung wieder.

„Jawohl, der kleine Trotzkopf ist zum Sprechen ähnlich,“ bestätigte Reinhart. „Ich glaube, Herr Sonneck, wären Sie nicht zufällig ein berühmter Afrikaforscher, Sie wären ein berühmter Maler geworden.“

„Ein guter Zeichner vielleicht, weiter nichts,“ sagte Sonneck ruhig. „Was aber unseren kleinen Schützling betrifft, Zenaide, so treiben Sie Ihre Güte wirklich zu weit. Ich erbat nur auf acht Tage Ihre Gastfreundschaft für das Kind, nur bis zur Rückkehr des Doktor Walter, jetzt sind bereits drei Wochen verstrichen –“

„Und ich gebe es noch immer nicht heraus!“ ergänzte Zenaide scherzend. „Nein, meinen Liebling dürfen Sie mir nicht so schnell wieder nehmen. Das holde kleine Geschöpf ist mir so ans Herz gewachsen, daß Sie es mir durchaus lassen müssen bis zu seiner Abreise, und damit hat es ja noch Zeit.“

„Einstweilen – ja, denn dem Professor Helmreich verbieten Alter und Kränklichkeit die weite Reise hierher. Ich habe ihm aber das Versprechen gegeben, seine Enkelin nur unter sicherem Schutze heimzusenden, und dazu findet sich erst in einigen Wochen Gelegenheit. Ich sagte Ihnen bereits, daß dann einer unserer Missionäre, der gegenwärtig noch in Luksor weilt, nach Deutschland zurückkehrt und bereit ist, das Kind unter seine Obhut zu nehmen.“

„Ich weiß, und eben deshalb will ich Elsa mit nach Luksor nehmen. Auch mein Vater meint, es sei das beste, wenn wir sie dort dem geistlichen Herrn übergeben. Gern lasse ich sie freilich nicht fort, sie hängt an mir mit ihrem ganzen kleinen Herzen.“

„Sie verziehen sie aber auch nach Kräften, mein gnädiges Fräulein,“ warf Reinhart ein. „Es ist ja ein schönes Kind, aber auch der ausgemachteste Eigensinn, den ich kenne.“

„Nur gegen Sie allein, Herr Ehrwald,“ sagte Zenaide vorwurfsvoll. „Aber daran sind Sie selbst schuld. Sie necken und quälen das Kind ja fortwährend und lassen es nie in Ruhe.“

„Weil es mir Spaß macht, daß mir das kleine Ding den erzwungenen Kuß noch immer nicht vergessen kann! Sobald ich nur in Sicht bin, setzt es sich in Kriegsbereitschaft und gerade das reizt mich immer wieder, mit ihm anzubinden.“

„Ja, Dich reizt überhaupt nur der Widerstand, und wenn es der eines Kindes ist!“ entgegnete Sonneck. „Was Du mühelos erreichen kannst, weißt Du nicht zu schätzen. Uebrigens ist es wahr, die Kleine hat eine ungemein energische Empfindung, in der Liebe wie in der Abneigung. Was war das für ein leidenschaftlicher Ausbruch, als wir ihr klar machen mußten, daß der Vater gestorben sei. Das ging weit über ihr Alter hinaus. Doch ich denke, wir steigen jetzt auf den Turm hinauf, sonst geht uns der Sonnenuntergang verloren.“ Er deutete auf das Minaret, das an der Westseite aufragte, halb verfallen wie seine Umgebung, aber die gewundenen Treppen, die an der Außenwand emporführten, hielten noch stand. Sonneck schritt, zur Vorsicht mahnend, voran, die anderen beiden folgten und bald standen sie droben auf der Höhe, die einen weiten Ausblick über Nähe und Ferne bot.

Der rote Sonnenball stand schon tief am Horizont, aber er strömte immer noch Licht und Glut über die Erde hin. Tief unten lag die Stadt mit ihrem brausenden Leben, von dem nur einzelne verworrene Laute empordrangen. Dumpfe enge Gassen, wo eine wahre Menschenflut auf und nieder wogte, und weite offene Plätze, wo Wagen und Reiter sich wie im Fluge kreuzten. Die Häuser der Araber in ihrer ganzen Armseligkeit und Verkommenheit und dazwischen die ragenden Mauern und Kuppeln der Moscheen in ihrer ganzen Pracht. Schimmernde Paläste, von Palmengärten umgeben, und der mächtige Nilstrom, der langsam und majestätisch dahinzog – das alles war eingetaucht in die glühende Lichtflut, welche die kahlen gelben Höhenzüge des Mokattam, oberhalb der Stadt, mit tiefem Rot färbte und in dem Wasserspiegel des Nil flammte und blitzte. Dort aber, wo das Häusermeer endete, dehnte es sich weit und grenzenlos aus, eine unabsehbar öde Fläche – die Wüste! Und aus dem goldigen Dunst der Ferne ragten deutlich die Pyramiden auf, die tausendjährigen Wahrzeichen Aegyptens.

„Dorthin führt unser Weg!“ sagte Sonneck, indem er nach Süden deutete. „Wir gehen nilaufwärts bis zu den Katarakten und schlagen dann erst den Landweg ein.“

„Ja, aber wann – wann?“ fiel Ehrwald stürmisch ein. „Wir liegen ja hier wie festgekettet, schon seit Wochen, und von einem Tage zum anderen werden wir vertröstet und hingehalten – es ist zum Verzweifeln!“

„Fesselt Sie unser schönes Kairo so wenig?“ fragte Zenaide scherzend, aber es lag ein Vorwurf in der Frage und in dem Blick der schönen dunklen Augen. Doch Reinhart schien beides nicht zu verstehen. „Aber, mein gnädiges Fräulein, ich bin doch nicht hier, um die Schönheiten Kairos zu genießen,“ versetzte er unmutig. „Unser warten große kühne Aufgaben und eben darum ertrage ich nicht diesen erzwungenen Müßiggang. Ich begreife Herrn Sonnecks Geduld nicht, ich hätte längst einen Gewaltstreich gemacht und wäre trotz alledem aufgebrochen! Die Mittel sind uns ja bewilligt und zugesagt, man muß sie uns gewähren, und wenn wir nur erst unterwegs sind, kann und wird man uns nicht im Stich lassen.“

„Weißt Du das so genau?“ fragte Sonneck gelassen. „Ich dächte, Du hättest jetzt auch erfahren, mit welchen Schwierigkeiten selbst eine gesicherte Expedition zu kämpfen hat, ehe es wirklich zum Aufbruch kommt, ich kenne das längst. – Ja ja, Zenaide, ich habe meine Not mit diesem Heißsporn, der immer mit dem Kopf durch die Wand möchte. Er ginge am liebsten noch in dieser Stunde auf und davon und unternähme auf eigene Hand den Wüstenzug, ohne danach zu fragen, ob ich nachkomme!“

„Nein, so undankbar bin ich nicht,“ verteidigte sich Reinhart, „aber geträumt habe ich freilich oft davon, mich aufs Roß zu werfen und hineinzujagen in die Wüste, immer weiter und weiter, dem Glück entgegen, das dort in der Ferne liegt, das ich erringen und erjagen muß!“

„Und das Du nie erreichst!“ fiel Sonneck mit schwerem Nachdruck ein. „Nimm Dich in acht, es ist die Fata Morgana, der Du nachjagst! Kennst Du nicht die alte Wüstensage?“

„Fata Morgana!“ wiederholte Zenaide träumerisch. „Ich habe oft schon davon gehört. Hat sie sich Ihnen schon einmal gezeigt, Herr Sonneck?“

„O ja, mehr als einmal. Sie taucht ja selten genug auf, aber so ein alter Weltwanderer wie ich ist doch vertraut mit ihr. Du wirst sie auch noch kennenlernen, Reinhart, die lockenden, tückischen Geister der Wüste, die Djinns. Sie malen Dir fern am Horizont das Land Deiner Träume, ein Wunderland voll Glanz und Licht, aber noch hat keines Sterblichen Fuß es je betreten. Je mehr Du ihm nachjagst, desto weiter und weiter weicht es zurück, es bleibt ewig in endloser Ferne. Und wenn Du Weg und Steg verloren hast und verschmachtend zusammenbrichst, dann zerfließt das Trugbild höhnend vor Deinen Augen. Hüte Dich davor!“

Die Worte klangen tiefernst und der junge Mann mochte ihren geheimen Sinn wohl verstehen, aber mit seinem ganzen Uebermut warf er den Kopf zurück.

„Pah, ich fürchte mich nicht vor allen Djinns des Orients, ich nehme es auf mit ihnen! In unserer deutschen Märchenwelt wimmelt es ja auch von Hexen und Kobolden und von allerlei tückischem und dämonischem Geisterspuk. Als ich noch ein Knabe war, hat mich nichts so gereizt als die Sagen von den Drachen und Zauberwesen, die hoch oben auf steiler Felsenhöhe oder tief unten in Höhlen und Klüften hausen und Jedem Verderben drohen, der ihnen naht. Aber zuletzt kommt doch immer der Eine, der sie bezwingt, der zu ihnen dringt durch tausend Flammen und Gefahren und sie ohne Grauen fest in die Arme preßt. Dann sinkt die Hülle und die düstere Zaubergestalt verwandelt sich in ein leuchtendes Schönheitsbild. Dann ist der Bann gelöst und aus der Tiefe steigt das versunkene Reich in Pracht und Herrlichkeit – warum soll ich nicht dieser Eine sein?“

„Sehr bescheiden!“ spottete Sonneck. „Finden Sie das nicht auch, Zenaide? Er nimmt sich ohne weiteres die Rolle des Märchenprinzen!“

Zenaidens Augen hingen unverwandt an dem jungen Schwärmer, dessen Augen so feurig blitzten im kühnen Wagemut, und halblaut, wie unwillkürlich, sagte sie:

„Ich glaube, Herr Ehrwald wäre einer solchen Rolle gewachsen.“

„Sehr schmeichelhaft, mein gnädiges Fräulein,“ lachte Reinhart, indem er sich scherzend verbeugte. „Ich werde mir Mühe geben, die gute Meinung zu verdienen. An mir soll es nicht fehlen und [55] an den Kämpfen und Gefahren hoffentlich auch nicht. Wer weiß, vielleicht erobere ich mir dabei eine von den schönen Feen des Morgenlandes und mit ihr das Zauberreich der Fata Morgana!“

Die Sonne war gesunken und auch die rote Glut im Westen begann zu erblassen. Der Abendwind, der mit Sonnenuntergang aufgewacht war, machte sich fühlbar hier oben auf der luftigen Höhe. Er wehte scharf vom Nil herüber und ließ den Schleier am Hute der jungen Dame hoch aufflattern. Sonneck mahnte zum Aufbruch. „Wir müssen fort, es wird kühl und Sie sind sehr leicht gekleidet, Zenaide. Aber seien Sie vorsichtig beim Hinabsteigen, die Stufen sind uneben. Soll ich Sie führen?“

Die Frage war überflüssig, denn Ehrwald hatte der jungen Dame bereits die Hand geboten und leitete sie abwärts. Ihr Fuß glitt leicht genug über die zerbröckelnden Stufen und ihr Auge blickte schwindelfrei in die Tiefe, dennoch lehnte sie die angebotene Unterstützung nicht ab, ihre Hand lag fest in der Reinharts und ihre Wangen färbten sich höher dabei. Sonneck, der ihnen unmittelbar folgte, mochte seine eigenen Gedanken haben, denn es spielte ein leises Lächeln um seine Lippen, während sein Blick auf den beiden ruhte.

Jetzt hatten sie den Boden erreicht und schritten über den weiten öden Hof der Moschee, den kein Sonnenglanz mehr erfüllte, nur durch die Fensteröffnungen sah man noch den lichten Abendhimmel. In den Säulengängen lagerten schon tiefe Schatten und der Taubenschwarm hatte seine Schlupfwinkel aufgesucht.

Ueberall Abendruhe und Stille, aber als sich die Pforte vor ihnen öffnete, empfing die Hinaustretenden wieder das ganze brausende Leben Kairos und umwogte sie während der Fahrt, bis der Wagen vor dem Osmarschen Hause hielt. Hier verabschiedeten sich die beiden Herren von der jungen Dame und kehrten zu Fuß nach ihrem Hotel zurück. Es dunkelte bereits, als sie dort anlangten, aber es war noch eine volle Stunde bis zum Diner und Sonneck, der ungern in geschlossenen Räumen verweilte, suchte mit seinem Begleiter das flache Dach des Hauses auf, das man mit einzelnen Sitzen und Zierpflanzen zu einer Art hochgelegener Terrasse umgestaltet hatte. Es bot einen schönen Ausblick über die Stadt und wurde von den Gästen häufig aufgesucht. Jetzt freilich befand sich niemand mehr dort, und die beiden späten Besucher konnten ungestört plaudern.

Sie hatten sich niedergelassen und ihr Gespräch drehte sich, wie jetzt zumeist, um die bevorstehende Expedition. Reinhart ließ wieder seiner Ungeduld den Zügel schießen und erging sich in allen möglichen Plänen und Vorschlägen zur Beschleunigung der Sache, aber Sonneck schüttelte nur den Kopf dazu.

„Das ist alles nicht ausführbar,“ sagte er. „Hier heißt es warten und Geduld haben. Was stürmst und drängst Du denn so ungestüm vorwärts? Dich müßte Kairo doch jetzt mehr fesseln als jeden anderen und – wer weiß – wenn es endlich zur Abreise kommt, bist Du es vielleicht, der sie verzögert und hinausgeschoben zu sehen wünscht.“

„Ich? Niemals!“ rief der junge Mann hastig. „Was soll mich hier fesseln?“

„Eine seltsame Frage! Siehst Du wirklich nichts, oder willst Du nicht wissen, daß Du nur die Hand auszustrecken brauchst, um ein Glück zu gewinnen, um das Dich ganz Kairo beneiden würde.“

„Und wenn ich es wüßte! – Halten Sie es für ein Glück, der Mann einer reichen Frau zu sein?“

„Nein,“ sagte der Aeltere ernst, „aber der Gatte eines holden, liebenswerten Geschöpfes zu sein, das mit ganzer Seele an Dir hängen würde – das ist ein Glück, und der Glanz und Reichtum, der es hier umgiebt, würden es wohl nicht gerade beeinträchtigen.“

Es vergingen einige Sekunden, ehe Reinhart antwortete, endlich fragte er halblaut: „Und Herr von Osmar? Glauben Sie, daß ich ihm als Freier willkommen wäre? Daß Zenaide sich entschließen könnte, einem Manne anzugehören, den sein Beruf immer wieder von ihrer Seite reißt, der nur Monate bei ihr weilen kann und dann wieder hinauszieht in die Ferne?“

Sonneck zuckte mit vielsagendem Lächeln die Achseln.

„Das fragst Du mich? Du mußt eben die Probe machen, das Zagen und Bedenken ist doch sonst Deine Sache nicht! Uebrigens ist das ein Los, das die Frau jedes Schiffskapitäns auf sich nimmt, und wie Ihr beide nun einmal geartet seid, ist es das einzige, was Eurem Glücke Dauer verspricht. Die Gewohnheit, das Alltagsleben einer friedlichen Ehe ertragt Ihr vielleicht beide nicht, aber Trennung und Gefahr würden Eurer Liebe immer neuen Reiz geben und jedes Wiedersehen wäre eine neue Brautzeit. – Doch wozu all diese Erörterungen, hier handelt es sich nur um eins – liebst Du Zenaide?“

Reinhart hatte sich wieder niedergelassen und stützte den Kopf in die Hand. „Ich weiß nicht,“ sagte er langsam. „Ich habe mich bisher noch nie ernstlich gefragt.“

„So frage Dich und dann rede – oder schweige. Ich will Dich nicht beeinflussen, aber eine Natur wie die Deinige braucht einen Zügel, muß irgendwo Wurzel fassen, wenn sie sich nicht ins Schrankenlose verlieren soll. Da träumst Du von einem märchenhaften, unermeßlichen Glück, das da irgendwo in endloser Ferne liegt, und hast kein Auge dafür, daß die holde Wirklichkeit dicht neben Dir steht und Dir die Hand bietet. Entscheide Dich – noch hast Du die Wahl!“

Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Reinhart gab keine Antwort und folgte ihm auch nicht, aber man sah es, die Mahnung war diesmal nicht wirkungslos geblieben; wohl zehn Minuten lang verharrte der junge Mann unbeweglich an seinem Platze, dann erhob er sich und trat an die Brüstung.

Tief unten brauste der Straßenlärm von Kairo, der gegen Abend nur zuzunehmen schien, und überall blinkten die Lichter auf. Dort, über dem Gebiet des Nils, lag jetzt Nacht und Dunkel, aber die Sternbilder leuchteten am Himmel in ihrer vollen Pracht, sie schienen so viel größer, so viel näher als in der fernen nordischen Heimat. Diese geheimnisvolle, sternfunkelnde Nacht des Orients, sie hatte auch etwas von dem lockenden gefährlichen Zauber, der Reinhart jetzt wieder mit Macht umfing. Das schöne Antlitz mit den dunklen sehnsüchtigen Augen, das eben noch so deutlich vor ihm stand, erblich mehr und mehr und sein Blick verlor sich in jene Sternenweiten.




In der Muski, der großen Verkehrs- und Geschäftsstraße Kairos, wogte das bunte, rastlose Treiben, das sich hier tagtäglich vom frühen Morgen bis zum späten Abend entfaltete. Vor den Kaufgewölben, die in ununterbrochener Reihe die beiden Seiten der Straße säumten, standen Händler und Käufer, anpreisend und feilschend, ganz unbekümmert um das Menschengewoge, das sich an ihnen vorüber drängte und schob. Ernste würdevoll dahinschreitende Gestalten mit lang herabwallenden Bärten, den Turban auf dem kahlgeschorenen Haupte, Frauen in schleppenden dunkelblauen Gewändern, Kopf und Antlitz so dicht verhüllt, daß nur die Augen allein sichtbar waren. Schwarze und braune Burschen, nur halb bekleidet, allerlei Waren ausrufend und anbietend. Dazwischen rollten die Wagen, deren Kutscher Mühe hatten, die schnaubenden, bäumenden Pferde in dem Gewühl vorwärts zu bringen, hochbeladene Kamele schritten langsam und feierlich dahin, Reitesel, deren Führer ihre mit bunten Ketten und Münzen aufgeputzten Tiere mit lautem Geschrei Fremden und Einheimischen anpriesen, drängten die Fußgänger beiseite. Ueberall Staub und Lärm, überall ein dichtes Gewühl von Menschen und Tieren, das in der engen Straße oft lebensgefährlich zu werden drohte, und dazu brannte die Mittagssonne mit einer wahren Sommerglut, obwohl man sich mitten im Winter befand. Der Anblick war sinnverwirrend und doch so malerisch und phantastisch, so reizvoll in seinem ewigen Wechsel, daß sich das Auge nicht satt daran sehen konnte.

Am Eingange zu den Bazaren, wo das Gedränge am ärgsten war, tauchte jetzt eine lange, hagere Gestalt auf, die sich mit Schultern und Ellbogen sehr energisch Platz machte. Dabei schwang sie einen ungeheuren Sonnenschirm wie ein Notzeichen über dem Kopfe und rief unaufhörlich mit lauter durchdringender Stimme: „Selma! Selma!“ Der Ruf ging völlig unter in dem Straßenlärm und wurde auch nicht beachtet, man rief und schrie ja hier alles mögliche aus, nur ein Herr in europäischer Kleidung, der gerade vorüberging, blieb stehen, sah sich um und grüßte dann flüchtig.

„Guten Tag, Fräulein Mallner.“

„Herr Doktor Walter!“ rief Ulrike, die nicht sobald den Doktor erblickt hatte, als sie sich schleunigst zu ihm durcharbeitete und ihn am Arm packte. „Gott sei Dank, daß ich Sie finde! Sie müssen mir helfen. Meine Schwägerin ist mir abhanden gekommen, sie ist verloren gegangen und ich kann sie nicht wiederfinden!“

„Ah!“ sagte Walter überrascht, aber Fräulein Mallner fuhr ihn mit gewohnter Rücksichtslosigkeit an:

„‚Ah‘! kann jeder sagen! Sie sollen mir suchen helfen!“

„Das kann auch jeder sagen,“ versetzte der Doktor trocken. „Wollen Sie mir nicht gefälligst erklären, wo und wie Sie von Ihrer Schwägerin getrennt worden sind?“

Ulrike deutete auf den Eingang zu den Bazaren.

[56]

Mit Genehmigung der Photographischen Gesellschaft in Berlin.
Der letzte Staatsrat des Großen Kurfürsten.
Nach einem Gemälde von Fritz Roeber.

[57] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [58] „Da drüben an jener Ecke standen wir und wollten nach Hause. Selma war wie immer dicht an meiner Seite. Da kommt auf einmal einer von diesen verrückten arabischen Hochzeitszügen, bei denen man alles mögliche sieht und hört, nur die Hauptperson, die Braut, nicht. Alles rennt herbei, wir werden gedrängt und gestoßen und auf einmal ist Selma verschwunden. Ich rufe und suche überall, laufe zurück in die Bazare, umsonst – sie ist nicht wiederzufinden.“

„Nun dann wird sie irgendwo in der Muski sein.“

„Aber nicht mehr lebendig! Sie ist überfahren, totgetreten, man ist ja seines Lebens nicht sicher in diesem schändlichen Wirrwar und Selma ist ohne mich hilflos wie ein Kind. Aber das kommt davon, wenn man nach Afrika geschickt wird, eines bloßen Hustens wegen. Wenn mein seliger Martin das wüßte! Selma! Selma!“

„Das Rufen nützt nichts,“ sagte der Doktor. „Man hört es in dem Straßenlärm ja kaum einige Schritte weit; wir müssen die Sache strategisch anfangen. Suchen Sie in dem oberen Teile der Straße, ich werde den unteren auf mich nehmen, hier an den Bazaren treffen wir wieder zusammen. Wenn Frau Mallner überhaupt noch hier ist, müssen wir sie finden.“

„Ja, so wird es gehen,“ stimmte Ulrike bei, der dieser Vorschlag einleuchtete. Sie trat schleunigst ihren Entdeckungszug an, während der Doktor sich gleichfalls ohne weiteren Gruß nach der andern Richtung wandte. Er war längst dahingelangt, die Dame ebenso rücksichtslos zu behandeln, wie sie es sich gegen ihn erlaubte, und hätte sich schwerlich herbeigelassen, ihrer Aufforderung nachzukommen, wenn es sich nicht gerade um seine Patientin gehandelt hätte, deren Unselbständigkeit und Schüchternheit er kannte.

Die junge Frau befand sich allerdings noch in der Muski, aber in völliger Ratlosigkeit und Verzweiflung. Als sie sich so plötzlich von ihrer Begleiterin getrennt sah, hatte sie freilich versucht, diese wieder aufzufinden, aber da sie sich dabei nach der falschen Richtung wandte, entfernten sie sich immer mehr voneinander. Die arme Selma, der man kaum daheim in Martinsfelde erlaubt hatte, allein auszugehen, und die hier nun vollends nicht von der Seite ihrer Schwägerin kam, war in der That hilflos wie ein Kind! Es fiel ihr gar nicht ein, einen Wagen zu suchen, um nach dem Hotel zu fahren, dessen Namen der Kutscher doch wohl verstanden hätte, sie spähte immer nur angstvoll nach Ulrike und ließ sich dabei von der Menschenmenge geduldig schieben und stoßen. Aber ihre Furcht wurde immer größer dabei, und als sich nun vollends zwei Eselsjungen dicht an sie herandrängten und mit lautem zudringlichen Geschrei ihre Tiere anpriesen, flüchtete sie in Todesangst in eine kleine Mauernische, drückte sich dicht an die Wand und brach in Thränen aus.

„Grüß Gott, Frau Mallner!“ sagte auf einmal eine Stimme in deutscher Sprache neben ihr, und sich umwendend, gewahrte sie einen jungen Mann, dessen ganzes Gesicht strahlte in freudiger Ueberraschung, als er fortfuhr: „Das nenne ich Glück! Gleich bei meinem ersten Ausgange in Kairo treffe ich mit Ihnen zusammen!“

Er mußte der jungen Frau wohl als ein Helfer in der Not erscheinen, denn sie atmete auf bei seinem Anblick, aber sie wurde zugleich dunkelrot. „Ach, Herr Doktor!“

„Zu Befehl! Doktor Bertram, wohlbestallter Schiffsarzt vom Lloydschiffe ‚Neptun‘, hat die Ehre, sich zu melden. Also haben Sie mich doch nicht ganz vergessen, gnädige Frau? Ich hörte freilich nichts weiter von Ihnen, seit wir Sie in Alexandrien landeten. Aber was ist Ihnen denn, Sie sehen ja ganz verstört aus?“

„Ich ängstigte mich so,“ gestand Selma. „Ich wurde im Gedränge von meiner Schwägerin getrennt und nun bin ich ganz allein in dem Menschengewühl –“

„Jetzt nicht mehr, denn jetzt bin ich da,“ erklärte der junge Arzt, indem er sich wie ein Baum vor der Mauernische aufpflanzte. „Seien Sie ganz unbesorgt, gnädige Frau, ich bleibe an Ihrer Seite.“

„Ich – ich danke Ihnen,“ sagte Selma schüchtern. „Wenn Sie mir nur helfen wollten, meine Schwägerin aufzufinden!“

„Das sollten wir ruhig abwarten,“ meinte Doktor Bertram, der gar keine Eile zu haben schien, auch diese zweite Reisebekanntschaft zu erneuern. „Fräulein Mallner wird schon irgendwo wieder zum Vorschein kommen!“

„Nein, nein, ich habe schon zu lange gewartet,“ rief die junge Frau ängstlich. „Bitte, helfen Sie mir Ulrike suchen.“

„Wie Sie befehlen.“ Er bot ihr den Arm, Selma zögerte, ihn anzunehmen: sie war an solche Aufmerksamkeiten gar nicht gewöhnt. Aber der Doktor ließ ihr keine Zeit zum Besinnen, sondern bemächtigte sich ohne weiteres ihres Arms und führte sie mitten hinein in das Straßengewühl.

Der junge Arzt, der am Ende der Zwanzig stehen mochte, war eine stattliche hübsche Erscheinung. In dem von Sonne und Seeluft gebräunten Antlitz blitzte ein Paar lustiger, brauner Augen und die Marinemütze mit dem Abzeichen des Lloyd saß keck und schief auf dem dunklen, leicht gekrausten Haar. Er war offenbar sehr vergnügt über dies unerwartete Zusammentreffen und über seine Beschützerrolle und es gelang ihm auch, seine Schutzbefohlene etwas zutraulicher zu machen. Die kleine zarte Frau hing wie ein Kind an seinem Arme, aber sie kam sich auf einmal so geschützt und geborgen vor, antwortete auch bald nicht mehr so scheu und einsilbig wie im Anfange und lachte sogar bisweilen über die lustigen Bemerkungen ihres Begleiters. Dabei verlor sie aber den Zweck ihres Ganges einigermaßen aus den Augen und Fräulein Ulrike Mallner trat etwas in den Hintergrund.

Aber diese Dame wußte sich schon rechtzeitig wieder in den Vordergrund zu stellen. Urplötzlich tauchte sie in Lebensgröße vor den beiden auf und schoß wie ein Stoßvogel auf die verlorengegangene Schwägerin los. „Selma, habe ich Dich endlich! Du warst –“ sie verstummte urplötzlich und stand da wie eine Salzsäule. Die unerhörte Thatsache, die Witwe ihres Bruders am Arme eines fremden Mannes zu sehen, raubte ihr für den Augenblick Sprache und Bewegung.

(Fortsetzung folgt.)




Wiens größter Landschaftsmaler.

Ein Erinnerungsblatt an Emil Schindler von Ludwig Hevesi.0 Mit Abbildungen S. 53 und S. 61.


Der Himmel war blau und die Sonne schien warm, es war ein rechter Sommertag im letzten Oktober, da enthüllten die Wiener Künstler in ihrem Stadtparke das Denkmal des Wiener Landschaftsmalers Emil Jakob Schindler. Ein denkmalfähiger Maler, das ist der Kaiserstadt etwas ganz Neues; vollends einer, der „bloß“ Landschaften gemalt hat! Aber nun sitzt er unleugbar da, lebensgroß, in weißem Marmor, auf seinem Felsen, in seinem Hain, und träumt mit halboffenen Augen über den Schwanenteich hinweg und über die Dächer hinaus, in seine geliebte Wiener Luft hinein, aus der ihm der alte Stephansturm zuwinkt. Kunst grüßt die Kunst. Meister Emil war ein großer Träumer vor dem Herrn, aber so weit haben sich seine Phantasien niemals verstiegen. Der lyrischeste deutsche Landschafter blühte in Freud’ und Leid rastlos vor sich hin und strömte in wundersamer Fruchtbarkeit ein intimes Naturleben aus, dreißig Jahre lang, meist unbekümmert, ob ein Menschenauge es bemerke. Erdrückend widerwärtig umklammerten ihn die Verhältnisse, denn es war die schier endlose Oede nach dem „Krach“, und er konnte sie nicht anders bekämpfen, als indem er weiterblühte, zart und mächtig wie die Gebirgspflanze, deren unmerklich stilles Wuchern zuletzt plötzlich den Felsen sprengt. Sie hat sich befreit, aber er reißt sie stürzend mit sich in den Abgrund.

Das war ein Leben voll Kampf und Sieg, ein seltsames Trauerspiel, dessen Held schon im dritten Aufzug fällt; die beiden Schlußakte sind nur noch seine Apotheose! Am 27. April 1842 zu Wien geboren, starb er am 6. August 1892 zu Westerland auf Sylt. In dieser Spanne von bloß fünfzig Jahren eines bürgerlichen Künstlerlebens, ohne alle effektvollen Abenteuer, ist doch eine Schicksalsskala vom tiefsten Dunkel bis zum hellsten Licht durchmessen, voll idyllischer, romantischer, poetischer, tragischer Episoden.

Sie beginnen schon in der Kindheit. Der Großvater besitzt eine stattliche Baumwollspinnerei im Dörfchen Fischamend bei Wien, wo die kleine Fischa sich in die große Donau stürzt. An diesem Betrieb war sein Vater beteiligt. Alles gedieh und schien voll Zukunft, denn man hatte die Fabrik eben erst durch neue Einrichtungen auf die Höhe der Zeit erhoben. Sie brauchte nur noch versichert zu werden und schon war das Erscheinen der Versicherungskommission angesagt, als – die Nacht vorher – das Ganze in Flammen aufging. In der anstoßenden Mühle war ein Müllerbursche [59] entlassen worden und hatte aus Rache die Mühle angesteckt.

Der Wohlstand der Familie war erschüttert und Schindlers Vater war am schwersten betroffen, denn er litt an der Lunge. Ein Mann von lebhaftem, gebildetem Geist und voll Begeisterung für das Schöne, erinnerte er an seinen Bruder, den Parlamentarier und Rechtsgelehrten Julius Alexander, der als Dichter Julius von der Traun hieß. Nun, da der Kampf ums Dasein nochmals von ganz vorne beginnen sollte, fragte er den Arzt auf sein Gewissen, ob dies auch der Mühe wert sei. Er entriß ihm das Geständnis, daß in wenigen Monaten ohnehin alles vorüber sein werde. Der Vater faßte sich als Philosoph, aber wenigstens wollte er von dieser schönen Welt umständlich Abschied nehmen. Und er setzte sich mit seiner Frau in einen Fiaker und durchreiste mit der Gemächlichkeit des Feinschmeckers die ganze Schönheit der engeren und engsten Heimat, die mannigfaltige Herrlichkeit des Wienerwaldes in die Kreuz und Quere, und das „bucklige Land“ mit seinen lauschigen Waldwinkeln und weithin herrschenden Abteien, und all das lachende Donaugelände mit seinen vielerzählenden Burgruinen. Und jedem schönen Baumgreis drückte er noch einmal die Hand, und von jedem murmelnden Bächlein ließ er sich noch einen Auftrag geben für das Jenseits, und an jedem unvergeßlichen Punkte knallte der Pfropfen und er trank dem nachgerade abgethanen Diesseits den letzten Becher zu. Dieser Schwärmer für heimische Natur, der sich als Abkömmling eines Völkchens von leidenschaftlichen Landpartienmachern nicht verleugnen konnte, war der Vater unseres größten Landschaftsmalers.

Emil Jakob trat selbstverständlich in die Schule Albert Zimmermanns, der fast die ganze jetzige Wiener Landschafterei erzogen hat. Er war ihr Piloty. In der Ramsau, wo Zimmermann einem wilden König gleich hauste, zeichnete der Jüngling seine ersten Studien. Im nahen Salzburg, auf Schloß Leopoldskron wohnte sein dichtender Oheim, dessen frisches Töchterlein dem jungen Malbeflissenen leise ans Herz gerührt hatte. In dieser Stimmung traf ihn die Bestellung eines großen Cyklus zu Zedlitz’ „Waldfräulein“, der aber nicht fertig wurde, weil der Besteller unvermutet um sein Vermögen kam. Er war damals ein förmlicher Waldfanatiker und strömte diese Begeisterung auch noch weit später in seinen Tagebüchern aus, welche seitenlange Waldschilderungen enthalten. Die vierzehn ausführlichen Blätter, die ich von dieser Bilderfolge kenne, quellen über von knorriger Waldromantik im Schwindschen Stil, zwischendurch aber keimen schon die zarten Heimlichkeiten der erwachenden Schindlerlandschaft, eine schlankere, luftigere Welt der Stimmungen! Stimmung war das Wort der Zukunft. Er suchte sie zunächst dort, wo seine Wiege gestanden, in den Auen bei Fischamend und Kroatisch-Haslau und bei den Kaisermühlen an der alten Wiener Außen-Donan, wo ein braver Müller sein Herbergsvater wurde. Und dann folgte er dem munteren Donauweibchen stromaufwärts nach Weißkirchen bei Krems, wo er jene buntwuchernden Bauerngärtchen zu malen begann, in denen jede Brennnessel zur Zierpflanze wird, und die dann von tausend Malerinnen nachgepinselt wurden. Dann eroberte er den heimischen Prater, diese unerschöpfliche Welt feinster Motive. Im Prater fand er, was die französischen Impressionisten im Walde von Fontainebleau gefunden hatten: das lyrische Innenleben der Natur. Er malte den silbernen Flimmer der Aulandschaft, das säuselnde Schwanken des Rohres in den Tümpeln, das ewige Zittern der Silberpappel und Erle, eine vibrierende, von Schleiern umwallte Welt voll Morgenträumen und Nachmittagsschlummern. Und abends ging ihm der volle Mond über schauernden Wassertümpeln auf und gewann ihm die ersten Goldmedaillen. Er war damals durchaus Pratermensch und machte Schule, besonders weibliche. Die ahnungsvolle Sehnsucht des Vorfrühlings und die hingesprenkelte Märchenbuntheit des Spätherbstes waren seine Lieblingsmotive, deren lyrische Töne er anschlug wie keiner vor ihm.

Er wohnte dazumal im Prater, in einem der beiden Kunstpavillons, die von der Wiener Weltausstellung übrig geblieben sind. Manchen lauen Sommerabend haben wir damals zusammen verlebt, dort draußen im „dritten Kaffeehause“ oder im „Schweizerhause“; eine ganze Künstlergruppe war dort freundschaftlich zusammengewachsen, lauter junge Leute, denen der Himmel voll echter Stradivarigeigen hing! Es waren die Modernen von damals, „Secessionisten“ ohne Secession. Gegen Mitternacht brach Schindler auf und wanderte mit seiner gewaltigen mausgrauen Dogge, die er zum Schutz gegen die zu Zeiten berüchtigten Praterstrolche bei sich führte, durch die Schatten der Waldnacht seiner Werkstätte zu. Es war ein treues Tier, das sich im Gehen immer eng an ihn drückte und stets zwischen ihm und einem etwa Begegnenden zu finden war. Schindler hauste im Prater wie ein großer Herr. Sein Atelier war im persönlichsten Geschmacke ausgeschmückt, es schmeckte nach dem künstlerischen Saus und Braus jener Jahre, der prachtfrohen Makartzeit. Sogar ein Gärtchen hatte er sich vor seiner Thüre angelegt; Spuren davon finden sich noch heute. Das füllte er mit absonderlichem Pflanzenwuchs und auch Getier, kriechendem und fliegendem. Selbst ein prächtiger Widder war darunter, ein so malerisches Exemplar, daß Hans Makart ihm sein besonderes Wohlwollen widmete. Einst, als Makart sich mit dem Widder unterhielt, fragte er Schindler von ungefähr: „Du, wie heißt er denn eigeutlich?“ – „Hans,“ antwortete jener. Makart stutzte, ließ den Widder stehen und ging schweigend ins Haus. Nach geraumer Weile, als kein Mensch mehr an den Zwischenfall dachte, sagte Makart plötzlich: „Du, Schindler, ich muß Dich um etwas bitten.“ – „Was denn?“ – „Wenn Du Dir wieder einmal einen Widder anschaffst, so heiß’ ihn Emil.“ Die kleine Scene ist bezeichnend für die Art und Weise Makarts, in dessen großem Ariadnebild übrigens ein Widderpaar noch Zeugnis von seiner Vorliebe für jenen krummgehörnten Namensvetter giebt.

Schindler gehörte nämlich schon damals zu Makarts Kreise. Diese üppige, phantastische Lebewelt war ihm nicht zuträglich. Man lebte im Farbenrausche dahin und über seine Kräfte hinaus. Alle Philisterei war verbannt, auch das leidige Rechnen, welche Kunst Schindler überhaupt nie gelernt hatte. Dem Gelde gegenüber war er zeitlebens ein Kind, und auch Nein zu sagen, war seine Sache nicht. Er kaufte alles, was man ihm anbot, von einer alten Stickerei bis zu einem Keller voll Wein hinab. Er war eines der glänzendsten Ausbeutungsobjekte für gewissenlose Händler. Hatte er vollends Geld bei sich, so flog es ihm beim ersten Ausgang sicher davon. Eine tüchtige Frau wäre für ihn der größte Segen gewesen und er fand sie zu rechter Zeit. Auch dies war kein bürgerlicher Roman. Auf dem Faschingstheater der Künstlergenossenschaft pflegten burleske Operetten aufgeführt zu werden: „Friedrich der Heizbare“, „Das Wasserweib“ u. dergl. Franz Mögele hieß ihr lustiger Komponist. Schindler, ein leidenschaftlicher Musikfreund und geschmackvoller Tenorist, sang jahrelang die Liebhaber. Ein schönes Hamburger Fräulein aus dem Konservatorium war seine Partnerin. Manche Probe und Aufführung näherte die beiden jungen Herzen und eines Abends, in gehobener Theaterstimmung, warb er um sie. Das war 1878. Mit seiner jungen Frau hauste der Künstler wieder in der Stadt und malte zwei Jahre lang in Makarts kleinerem Atelier. Es war die letzte Frist jenes weltvergessenden, freien Künstlerstrebens, ohne Boden unter den Füßen. Makart malte eben sein Riesenbild „Einzug Karls V.“ Gar manchen Zug darin hat die junge Frau eigenhändig gekleckst, denn auf ihr tadelndes Dreinreden pflegte ihr Makart Pinsel und Palette in die Hände zu drücken mit den Worten: „Na, so machen Sie’s halt besser.“ In jenem Getümmel von Farben merkte man ihre Mitwirkung ohnehin nicht.

Aber schon stand Schindler an der Schwelle seiner schwersten Zeit. Das Gebäude seiner Schulden brach über ihm zusammen und begrub ihn unter Trümmern, welche die Wirtschaftskunst seiner Frau erst in vieljähriger planmäßiger Arbeit hinwegzuräumen vermochte. Erst kurz vor seinem Tode wurde sie damit fertig. Nun pochte einstweilen die bare Not an ihre Thüre. Bilder waren unverkäuflich, der Kredit Null. Im Hause fehlte das tägliche Brot, im Ofen der Brocken Steinkohle; kaum daß der Faden am Leibe noch hielt. Das scheint unglaublich, aber ein Tagebuch, in dem sich der schwer Bedrängte thränenlos auszuweinen pflegte, hat das Andenken dieses Elends bewahrt. „B. gab mir einen Gulden“, das ist noch einer der fröhlichsten Sätze darin. Schwere Krankheit kam hinzu; Diphtheritis, Blutvergiftung. Anderthalb Jahre lang schien er dem Tode verfallen. Die ziemlich kleine, aber früher zur Fülle neigende Gestalt ging ein, auf die schöne Wölbung seines Schädels lagerte sich der melancholische Frühschnee eines geprüften Lebens. Wo war die Zeit, da er noch in fast paradoxem Idealismus stundenlang von kühnen und tiefen Reden über seine Kunst und über Musik übersprudeln konnte! Auch die Pinsel ruhten, er war so gut wie tot. Borkum, die Nordsee machten ihn wieder lebendig.

In allen diesen Jahren hatte sich seine Kunst mit Natur vollgesogen und nach einander merkwürdige Gesichter angenommen. [60] In Holland berauschte er sich an Wasserlüften und Kanalperspektiven; auf Lacroma, der Insel des Kronprinzen Rudolph, badete er im trockenen Südlicht Dalmatiens; bei Lundenburg, in dem herrlichen Saupark des Fürsten Liechtenstein, sah er die ölglatte Thaya unter Wasserpflanzen fließen. Nervöse Unruhe trieb ihn immer weiter; eine Laune warf ihn 1880 nach Paris. Zu leidend, um die Stadt genießen zu können, floh er nach Fontainebleau in dessen Waldidylle. Heimgekehrt, malte er nach einer dort entstandenen Skizze das reizende Birkenwäldchen, dessen Reproduktion diese Nummer bietet. In Goisern endlich, dem lieblichen Dorfe bei Ischl, entdeckte er die eigentliche Schindlerwelt. Das Goiserer Thal, dieses herzige Amphitheater, voll von hüpfendem Wasser, kreisenden Mühlrädern, blühendem Unterholz, mutwillig geformten Felsbrocken, wohnlichen Häuschen und anderen kleinen Alltagsraritäten, wurde ihm eine unausschöpfbare Quelle von Motiven. Der halbe Schindler ist da herausgeflossen. Das Publikum begann nachgerade entzückt zu sein von diesen Schätzen der Idylle, es fanden sich Schindler-Liebhaber ein, ein großer Kunsthändler kaufte alles von der Staffelei weg! Die Sonne schien wieder … Die Kunst des Meisters hatte mittlerweile französische und holländische Einflüsse überwunden und war durch eine Welt von Braun und Grau zur aufrichtigen Naturfarbe gelangt. Jetzt erst waren die Versuche vorbei, war ein selbständiger Meister ausgereift. Und nun fand er jenes Plankenberg, das durch ihn zu kunstgeschichtlicher Berühmtheit gelangt ist. Eines Tages fuhr er von Sankt Pölten nach Wien. Da deutete jemand links ins Land hinein und sagte: „Dort drin liegt ein altes Schloß des Grafen Althan, Murstetten.“ Dieses alte Schloß ging Schindler nicht mehr aus dem Kopfe. Er suchte es mit seiner Frau auf, fand aber nur noch Trümmer davon, denn die Franzosen hatten es Anno dazumal zerstört. Bloß der Park war noch vorhanden, eine Art verflossener Park, verblichenes achtzehntes Jahrhundert, mit ausgewucherten Taxushecken, halb versunkenen Sphinxen, verfallenen Wasserbecken und Terrassenstufen, und das alles voll rot, weiß und rosa blühender Obstbäume, so lustig und so betrübt zugleich. Ach, wie könnte man da Maler sein! Wie schade, daß nicht einmal eine Hütte zur Unterkunft geblieben! Da riet der Kutscher, ein Viertelstündchen weiter zu fahren, nach Plankenberg, da hätten die Franzosen das Schloß nicht zerstört.

So fuhren sie nach Plankenberg und fanden richtig einen gewaltigen, weißsteinernen, öden Kasten, mit einer Halle im Erdgeschoß und einer Menge von Sälen und thorgroßen Fenstern, alles in schauderhaftem Zustand, aber durchaus herstellungsfähig. Das ist es! sagte Schindler und ging zum Fürsten Liechtenstein, der ihm die unbewohnte Baracke für einen Pappenstiel auf dehnbare Frist vermietete. Nun begann auf Schloß Plankenberg die glücklichste Zeit des Meisters. Der verwilderte Garten lebte durch neue Kultur auf und wurde in seinem reizvollen Gemisch von alter Verkommenheit und neuem Gedeihen höchst anziehend. Der Meister besorgte eigenhändig seine Gemüse- und Blumengärten, und wenn sie so waren, wie er sie brauchte, dann malte er sie. Die Plankenberger Gartenlandschaften gehören zu dem Kostbarsten, was Schindler geschaffen. Im großen weißen Hause herrschte Behagen, zwei Töchter wuchsen frisch heran, Musik erklang, Gäste kamen, Bild auf Bild entstand. Das Dorf, die ganze Umgebung sah in ihm seinen Herrscher. Und er hatte ja auch jenes Stück Niederösterreich kunstberühmt gemacht. Einige seiner herrlichsten Gemälde sind aus dieser bis dahin ungewürdigten Natur geschöpft, so die vielbewunderte kleine „Kartoffelernte“ und die großartige „Pappelallee“. Ja, die Pappelallee! Der niederösterreichische Landesausschuß hatte eines Tages beschlossen, alle Pappeln an den Landstraßen des Kronlandes aushauen zu lassen und statt dieses kurzlebigen Baumes dauerhaftere zu pflanzen. Da bat Schindler um Aufschub für ein herrliches Stück Pappelallee, das er schon längst malen wollte; mit Pappeln gleich grünen Obelisken und einer Krümmung, daß dem Perspektiviker das Herz im Leibe lachte. Und der Landesausschuß ging darauf ein und Schindler malte einige seiner Hauptbilder, deren Heldin jene Allee ist.

Das ganze vorige Jahrzehnt verging, ohne daß die Wiener Kunstausstellungen das Geringste von dem nun Berühmten aufzuweisen hatten. Er malte abseits des Marktes für eine Gemeinde von Feinschmeckern, die immer größer wurde. In München erkannte man ihn noch früher als in Wien; in beiden Städten ernannten ihn die Kunstakademien zu ihrem Ehrenmitgliede. Der kunstsinnige bayrische Prinzregent erwarb Schindlersche Bilder und besitzt sogar die Photographien von allem, was Schindler je gemalt hat, in einem kolossalen Album vereinigt, wie nur noch eines existiert, im Besitze der Witwe. Ein Geschäftsmann war der Künstler auch jetzt noch nicht geworden. Mit der größten Leichtigkeit konnte er Bilder verschenken. Einmal stellte er der Münchener Künstlerschaft, die ihn so herzlich empfangen hatte, frei, sich ein beliebiges unter seinen Bildern auszuwählen. Ein andermal schloß er mit dem Opernsänger Winkelmann, den er zufällig immer nur an ungünstigen Abenden gehört, einen Tauschvertrag, wonach an dem Abende, wo der Sänger dem Maler wirklich gefallen würde, dem ersteren ein schönes Bild von ihm gehören sollte, wogegen Winkelmann ihm bloß sein Spielhonorar für jenen Abend abzutreten hätte. Winkelmann hielt es für Scherz, aber eines Morgens erschien bei ihm ein Schindlersches Gemälde mit den Zeilen: „Sie haben mir gestern als Tannhäuser wirklich gefallen, das Bild gehört Ihnen.“

Die Jahre 1890 und 1891 stellten ihn auf den Gipfel des Erfolges. Er brachte seine großartige Stimmungslandschaft „Pax“, die jetzt der kaiserlichen Gemäldegalerie angehört. Ein uralter Friedhof bei Ragusa hatte ihm dazu das Motiv gegeben und es war als Schlußbild von Vieren gedacht, welche die Lebenstragödie eines Mönches umschließen sollten. Und ein Jahr später wollte er auf der Jahresausstellung des Wiener Künstlerhauses mit achtundzwanzig Bildern erscheinen, die sein reifstes Schaffen zusammenfassen sollten. Die Jury glaubte zu ihrer Annahme nicht berechtigt zu sein und beschränkte die Zahl auf vierzehn. Aber auch diese bedeuteten einen Sieg auf der ganzen Linie, wie ihn noch kein Landschafter in Wien erlebt hat. Einer befreundeten Dame antwortete Schindler damals auf ihre Glückwünsche: „Wenn’s nur nicht zu spät wird! Zwei Jahre sollt’ ich noch leben, dann könnt’ ich meinen Kindern etwas hinterlassen.“ Dieses düstere Vorgefühl beherrschte ihn zu einer Zeit, wo ein Strom von Glück ihn dahintrug. Auch seine Schaffenskraft war noch so mächtig, daß er in den letzten dreizehn Monaten seines Lebens, von denen er drei in einer Wasserkuranstalt müßig verbringen mußte, nicht weniger als acht Bilder schuf.

Und diese Lebenskraft wurde plötzlich gefällt! Kurz vor seiner letzten Sommerreise hatte er mich noch ersucht, ihm als Kenner Hollands ein dortiges Seebad zu empfehlen, mit Wald am Meere, aber ohne modischen Luxus. Ich empfahl ihm Domburg, das ihm völlig einleuchtete. Aber er ging nach Sylt, schon unterwegs krank, und kam tot zurück. Sein treuester Schüler und vertrautester Freund, Karl Moll, jetzt selbst ein bedeutender Maler, brachte die Leiche sozusagen auf seinen Armen heim. Die Stadt Wien gewährte ihr ein Ehrengrab und die Bemühungen Molls brachten in ungewöhnlich kurzer Frist das schöne Denkmal im Stadtpark zustande … Künstlers Erdenwallen!




Tragödien und Komödien des Aberglaubens.[1]

Die „Hexe von Straßburg“.
Von Dr. P. Schellhas.

Der alte Aberglaube, der Erzfeind des Menschengeschlechtes, ist trotz aller Fortschritte des Wissens, trotz aller Aufklärung noch nicht völlig ausgerottet; noch immer beunruhigt und schädigt er die Menschen, und die schlimmste und gefährlichste Gestalt zeigt er auf dem Gebiete der Kurpfuscherei und des Zauber- und Hexenwesens. Bedarf es noch der Worte hierüber? Welches Elend ist schon über ganze Familien gebracht worden durch die ruchlosen Quacksalbereien von Wunderdoktoren, „heilkundigen“ Schäfern und im Rufe der Zauberei stehenden alten Weibern! Da wird im Dorfe, wenn der Typhus ausbricht, anstatt des Arztes der Schäfer geholt, und er verschreibt den „Fiebersegen“, einen unsinnigen Vers auf einem Blatt Papier, das der Kranke auf den Leib legen muß, oder es werden neun Kreuze in den Rauchfang gekratzt, oder man „bindet das Fieber ab“, indem man dem

[61]

Radierung im Verlag von H. O. Miethke in Wien.
Junge Birken.
Nach einem Gemälde von Emil Schindler.

[62] Kranken einen Wollfaden um die große Zehe wickelt. Schlimmer noch als diese Dinge ist es, wenn man dem Kranken mit innerlichen Mitteln ähnlicher Art, wie Pulver von Kellerasseln, getrockneten Kröten u. dergl., zu Leibe geht. Der Kranke, der vielleicht durch eine vernünftige Behandlung zu retten gewesen wäre, geht zu Grunde infolge von Vernachlässigung, wenn nicht gar an den Folgen der „Kur“. Fast ebenso schlimm ist der Glaube an Zauber- und Teufelskünste. Irgend ein altes Weib ist im Dorfe, das im Rufe der Hexerei steht. Sie versteht es, Zaubersprüche zu schreiben, das Vieh zu verhexen, das Feuer zu bannen u. dergl., und dann giebt es zwei Möglichkeiten: entweder sie wird gefürchtet und gelegentlich mißhandelt, oder man zieht sie in schwierigen Fällen zu Rate und sie bekommt eine große Wunderpraxis. Im letzteren Falle geht es den Betrogenen gewöhnlich an den Geldbeutel. Wenn eine Betrügerin dieser Art eine Großstadt zum Schauplatz ihrer Thätigkeit erwählt und in dem bunten Treiben derselben es versteht, sich vor den Augen der Sicherheitsbehörde zu verbergen, so wird sie zu einer geradezu gemeingefährlichen Person, welche Leichtgläubigen selbst die letzten Spargroschen aus der Tasche zieht.

Erst im vorigen Jahre hat ein solcher Fall ein deutsches Gericht beschäftigt; es kam zu einem „Hexenprozeß“, dessen Verhandlung leider eine erstaunliche Fülle abergläubischer Verirrungen enthüllte.

In Straßburg, der „wunderschönen Stadt“, lebte die 58jährige Witwe Stehli. Der Umstand, daß sie schon wiederholt in früheren Jahren mit dem Strafgesetz in Berührung gekommen war und auch einmal im Jahre 1882 wegen abergläubischer Betrügereien eine Gefängnißstrafe von 11/2 Jahren erlitten hatte, hinderte nicht, daß sie wegen übernatürlicher Gaben und Kenntnisse einen großen Ruf genoß und von weit und breit um Rat angegangen wurde. Sie verstand es, Karten zu legen, Sympathie- und Zaubermittel zu verschreiben, und andere schwarze Künste mehr. Ihre Hauptkunden waren einfache Leute aus dem Volke, Dienstmädchen vor allem, denen sie in raffiniertester Weise das Geld abzunehmen verstand. Vor keiner noch so schwierigen Aufgabe schreckte die Stehli zurück, ihre Hexereien erstreckten sich auf ganz greifbare und praktische Dinge: sie heilte nicht nur krankes Vieh, sondern konnte auch verlorene Gegenstände wieder beschaffen, ja sogar – aussichtslose Forderungen von zahlungsunfähigen Schuldnern beitreiben, was oft dem gewiegtesten Gerichtsvollzieher nicht gelingt. Ganz besonderen Ruf genoß sie aber wegen ihrer Mittel, untreu gewordene Liebhaber zurückzuführen, und arme Dienstmägde und Kellnerinnen, die von ihrem Liebsten im Stiche gelassen waren, wandten sich in Menge an sie. Entweder handelte es sich darum, einen säumigen Bräutigam zur Heirat zu zwingen oder einen untreu gewordenen Liebsten, der eine Andere geheiratet hatte, zu bestrafen. Die Stehli verstand es, für dergleichen Hexereien von ihren abergläubischen Kundinnen die letzten Spargroschen herauszulocken, so daß man im Zweifel ist, ob man mehr über die Dummheit der letzteren oder über die Abgefeimtheit der Betrügerin staunen soll.

Die Polizei war schließlich auf das Treiben der Stehli aufmerksam geworden und hatte sie verhaftet. In der Gerichtsverhandlung, die im September 1895 vor der Strafkammer des Landgerichtes stattfand, entrollte sich dann ein klares Bild des Geschäftstreibens der Angeklagten, neben der noch ein Helfershelfer, der 26jährige Tagelöhner Sturni, auf der Anklagebank Platz nahm. Der sogenannte „Liebes- oder Heiratszwang“, den die Angeklagte ihren Kundinnen verschrieb, bestand in allerlei abergläubischem Hokuspokus. Da riet sie einem Mädchen, deren Verlobter untreu geworden war, Nadeln in Kerzen zu stecken und diese dann zu verbrennen, Salz auf Kohlen zu streuen, drei Stück Brot über Kreuz zu legen und ähnliches. Für diese Ratschläge ließ sie sich 50 Mark, in einem anderen Falle 63 Mark bezahlen! Ein einfacher „Heiratszwang“ kostete 20 bis 50 Mark, je nach der Dummheit der Klientin. Einem Mädchen nahm sie in einem gleichen Falle bei deren erstem Besuch für „drei Messen“ 6 Mark ab, dann 12 Mark für eine „doppelte Andacht“, dann 9 Mark für eine „blinde Andacht“, dann nochmals 12 Mark für eine „doppelte Andacht“ und endlich 15 Mark für den „Schluß“. Mit allen „Nebenkosten“ hat die Geprellte 150 Mark bezahlt!

Ihren abergläubischen Kunden spiegelte die Betrügerin gewöhnlich vor, daß sie mit Geistern und Zauberern im Bunde stehe. Sie erzählte, daß „drei Baseler Herren“, Namens Petri, Weber und Jean, ihr bei ihren Zaubereien Hilfe leisteten. Ihr Helfershelfer Sturni schrieb dann die angeblich von diesen Baseler Schwarzkünstlern herrührenden Briefe, Musterbeispiele blühenden abergläubischen Blödsinns, den die Kunden der Stehli mit ehrfurchtsvollem Schauder entgegennahmen. Diese Briefe mußten natürlich besonders bezahlt werden, denn die drei Schwarzkünstler gaben ihre Weisheit nur zu guten Preisen her. Auf diese Weise nahm die Angeklagte einer Dienstmagd im ganzen 200 Mark ab!

Einer der am ärgsten Geprellten war ein abergläubischer Landmann, der zu der Stehli gekommen war, weil seine Kühe und Hühner plötzlich krank geworden waren und daher Hexerei im Spiel sein mußte. Auch diesem versprach sie, mit Hilfe der Baseler Herren zu helfen. Sie erzählte ihm unter anderem, sie habe sich auf 16 Jahre dem Teufel verschrieben, und es gelang ihr – ein Beispiel, wie groß der geistige Einfluß solcher gefährlichen Personen auf beschränkte Köpfe ist – den Leichtgläubigen durch Zaubereien und Geisterspuk schließlich derartig zu verwirren, daß er sich einbildete, von Geistern verfolgt zu sein, und nachts in seinem Hause allerlei Geräusch hörte. Diese Heimsuchungen durch Geister waren wieder ein erneuter Anlaß zur Inanspruchnahme der „Baseler Herren“. Die von dem Helfershelfer Sturni geschriebenen Briefe derselben enthielten in der Regel das Verlangen nach Geld und waren ein zweckmäßiges Mittel, den Verdacht der Prellerei – sofern derselbe bei der grenzenlosen Leichtgläubigkeit der Betrogenen überhaupt aufkommen konnte – von sich abzuwenden. Alles in allem ist der abergläubische Landbewohner 500 Mark losgeworden! Ob er dadurch für immer geheilt ist?

Einer Kellnerin, die von ihrem Liebsten im Stich gelassen war, hat die Schwindlerin ihre ganze Habe abgelockt. Die Geprellte versetzte schließlich, um die geforderten Geldmittel herbeizuschaffen, alles, was sie besaß. Im ganzen hat die Stehli auch in diesem Falle 500 Mark eingeheimst!

Daß die Stehli auch in geschäftlichen Dingen nebenher recht bewandert war und auch „auf natürliche Weise“ Schwindeleien geschickt auszuführen verstand, zeigte die Vernehmung eines anderen Opfers, eines Fuhrmanns. Derselbe hatte von den Zauberkünsten der Stehli gehört und begab sich zu ihr, um ein Mittel zu erlangen, eine aussichtslose Forderung von seinem Schuldner beizutreiben. Die Angeklagte schreckte auch nicht davor zurück, an eine so nüchterne Aufgabe mit ihren Zaubermitteln heranzugehen, und sagte dem abergläubischen Gläubiger zu, daß sie ihm zu seinem Gelde verhelfen werde. Diese Gelegenheit benutzte sie, um ihn um ein Darlehn anzugehen. Sie spiegelte ihm vor, daß sie in der nächsten Zeit eine große Erbschaft zu erwarten habe, und verpfändete ihm außerdem noch die Möbel in ihrer Wohnung. Beides war eitel Schwindel und Betrug: die Erbschaft existierte nicht, und die Möbel waren nicht Eigentum der Stehli. Der vertrauensselige Fuhrmann ist sein Geld losgeworden, ohne daß die Zaubermittel seinem hartnäckigen Schuldner auch nur eine unruhige Nacht bereitet hätten.

In einem anderen Falle lockte die Stehli ebenfalls durch die Vorspiegelung von einer in Aussicht stehenden großen Erbschaft einer Kundin ein Darlehn von 100 Mark ab, über dem üblichen Preise, den sie sich für einen „Heiratszwang“, welcher den Bräutigam derselben zurückführen sollte, zahlen ließ.

Diese letzteren beiden Fälle sind deswegen besonders bezeichnend, weil sie klar erkennen lassen, daß die abgefeimte Person keineswegs etwa zu den „betrogenen Betrügern“ gehörte, die selbst von der Wirksamkeit ihrer Zaubermittel überzeugt sind, sondern daß sie mit dem vollen Bewußtsein der Unwahrheit ihrer Vorspiegelungen auf Betrug ausging. Es giebt ja gewiß Fälle, in denen derartige Personen selbst von dem abergläubischen Wahne vollständig befangen sind, und in der Regel ist das bei den ländlichen Kurpfuschern, Schäfern und Wunderdoktoren der Fall. Diese Leute, die zeitlebens unter einer abergläubischen und unwissenden Bevölkerung sich aufhalten und unter einer solchen aufgewachsen sind, müssen naturgemäß auch selbst von den Vorstellungen erfüllt sein, die ihrem abergläubischen Treiben zu Grunde liegen, und man kann daher bei ihnen in vielen Fällen von einer bewußten betrügerischen Absicht nicht sprechen. Ganz anders liegt die Sache offenbar bei der „Straßburger Hexe“. Der Umstand, daß sie in einigen Fällen zu den gewöhnlichen Mitteln des Betruges [63] griff, um Geld zu erschwindeln, läßt keinen Zweifel darüber, daß ihr auch bei ihren Zaubereien der Aberglaube lediglich ein Mittel zum Zweck war.

Welchen gefährlichen Charakter unter Umständen solche Schwindeleien annehmen können, zeigt ein anderer Fall. Ein Mädchen war von ihrem Bräutigam trotz gegebenen Eheversprechens verlassen worden, und der Ungetreue hatte eine andere geheiratet. Die Verlassene begab sich zu der Stehli und verlangte von ihr, daß sie durch Zaubermittel bewirken solle, daß die Frau ihres ehemaligen Bräutigams stürbe. Glücklicherweise waren die von der Stehli angewendeten Hexereien wirkungslos. Wie leicht aber dergleichen Dinge höchst bedenkliche Folgen nach sich ziehen können, liegt auf der Hand. Die Hexereien und Zaubereien beschränken sich nicht immer auf sogenannte sympathetische Mittel, und das heimliche Einmischen von gefährlichen Stoffen in Speise und Trank gehört bekanntlich ebenfalls zu den Künsten dieser Art.

Wenn man die Reihe der Personen überblickt, die im Prozeß gegen die Stehli als Zeugen vernommen wurden, so kann man den Gedanken nicht unterdrücken, wie viele Geprellte sich wohl aus Scham oder aus anderen Gründen nicht gemeldet haben mögen! Denn daß der Geschäftsbetrieb der Angeklagten ein recht bedeutender war, unterliegt keinem Zweifel, und es giebt in solchen Fällen immer eine ganze Menge Betrogene, die sich hinterher schämen, öffentlich vor Gericht die Rolle des Hereingefallenen zu spielen. Dieser Umstand kommt in vielen Betrugsprozessen den Betrügern zustatten. Die Angeklagte versuchte übrigens dem erdrückenden Beweismaterial gegenüber keinerlei Ausflüchte, sondern gab alles zu. Ihr Helfershelfer Sturni wollte dagegen von dem Zweck des von ihm besorgten Briefwechsels mit den „Baseler Herren“ keine Kenntnis gehabt haben und behauptete, nicht gewußt zu haben, daß es sich um etwas Strafbares handelte. Es wurde ihm indessen nachgewiesen, daß er einmal sogar seiner Herrin und Meisterin ins Handwerk gepfuscht hatte, indem er einen „Baseler Brief“ an eine Kundin für 11 Mark verkaufte.

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft führte in seinem Plaidoyer aus, daß der Gerichtshof geradezu eine Kulturaufgabe erfülle, wenn er eine gemeingefährliche Person von der Art wie die Stehli auf recht lange Zeit unschädlich mache. Der Vertheidiger der Angeklagten konnte als Milderungsgrund lediglich – und leider nicht mit Unrecht! – die ungeheuere Leichtgläubigkeit der Betrogenen ins Feld führen. Die Stehli wurde zu drei Jahren Zuchthaus und 1800 Mark Geldstrafe verurteilt; ihr Helfershelfer kam mit 6 Monaten Gefängnis davon. –

Wie ist es möglich, fragt man sich solchen Enthüllungen gegenüber, daß dergleichen verbohrter Aberglauben noch heutigestags in solchem Umfange gedeihen kann? Haben denn alle diese Personen, die da im Straßburger Hexenprozeß als Betrogene auftraten, nicht unsere Schulen besucht und zum wenigsten doch unsere Volksschulbildung genossen? Sind die Errungenschaften unserer Volksbildung so gänzlich fragwürdiger Natur? Es ist leider wahr, daß der Einfluß der Schule und der sonstigen Volkserziehung, trotz aller redlichen Mühe unserer Volksschullehrer, auf diese Art von Aberglauben nur gering ist. Er vererbt sich neben und trotz aller Volksbildung fort als eine Art von Geheimwissen, an dem weite Kreise der Bevölkerung, namentlich auf dem Lande, zähe festhalten. Ferner muß in Betracht gezogen werden, daß noch bei der überwiegenden Mehrzahl der Menschen die unwiderstehliche Neigung besteht, falls in irgend einer schwierigen Lage keine natürlichen Mittel mehr helfen, zu dem Uebernatürlichen seine Zuflucht zu nehmen.

Alle diese armen Mädchen, die von ihrem Liebsten, von ihrem Bräutigam im Stich gelassen waren, jener Fuhrmann, der seine bedrohte Forderung retten wollte, sie griffen sozusagen zu dem Strohhalm des Ertrinkenden. Diese Neigung kann man nicht nur unter den Leuten aus dem Volke beobachten, auch die gebildeten Kreise sind dem Wunderglauben zugänglich, sobald die geläufigen Mittel erschöpft sind und anscheinend jede Aussicht auf Erfolg entschwunden ist: wenn der berühmte Professor der Medizin den Kranken achselzuckend verlassen hat, so wird nicht selten als letzte Instanz der Wundermann vom Dorfe herbeigeholt! Der Mensch, den das Unglück mürbe gemacht hat, der an geistiger Widerstandsfähigkeit eingebüßt hat, ist immer geneigt, auf das Wunder zu hoffen, wenn im natürlichen Lauf der Dinge nichts mehr zu erwarten ist. In dieser Thatsache ist eine der wichtigsten Nährquellen des Aberglaubens zu finden, und sie erklärt zum Teil den großen Zudrang, den die Wunderdoktoren und ähnliche Leute noch heutigestags haben, und das blinde Vertrauen, das ihnen trotz aller öffentlichen Warnungen und Belehrungen entgegengebracht wird. Wenn die Straßburger „Hexe“ nach Verbüßung ihrer Zuchthausstrafe es wagen sollte, ihr Geschäft von neuem anzufangen, so ist es leider kaum zweifelhaft, daß sie als gewandte Person wieder großen Zulauf haben würde – trotz allem und allem, was geschehen ist. Es wäre wahrlich nicht das erste Mal, daß wir diese Erfahrung machten!

Um so ruchloser ist das Thun solcher Betrüger, die mit vollem Bewußtsein des strafbaren Zweckes diese Neigung der Menschen in gemeiner Gewinnsucht ausbeuten. Sie verdienen die strengsten Strafen des Gesetzes. Wie das Gesetz der Ausbeutung junger und unerfahrener Personen entgegentritt, so soll es auch die armen Unwissenden gegen die Ausbeutung ihrer Schwächen schützen. Der Straßburger Prozeß hat wieder einmal in erschreckender Weise gezeigt, daß die Gefahr, die der Aberglauben im Volke noch heutigestags in sich birgt, nicht zu unterschätzen ist. Ihn zu bekämpfen, muß in erster Linie die Aufgabe der Volksbildung bleiben, seine Ausbeuter und Förderer aber muß der Strafrichter unschädlich machen.




„Vons.“

Erzählung von Hermine Villinger.
(1. Fortsetzung.)


Am nächsten Sonntag war Edu wieder in der Strafe und sprang seelenvergnügt mit Gustel im Hof umher; er hatte mit Absicht sein sammetnes Barett in die Gosse geworfen, um vom sonntäglichen Thee ausgeschlossen zu werden, der allen Reiz für ihn verloren hatte, seit er am Tische des Herrn Schneider dessen nimmer müdes „Nimm Dir – nimm Dir!“ befolgen durfte.

Frau von Feldern aber saß in ihrem schwarzen Seidenkleid, mit einer Tüllrüsche bis an die Ohren, in einem Fauteuil ihres Salons und wartete auf ihre Gäste. Dies war die einzige Zeit, in der sie ihren Händen einmal Ruhe gönnte, denn kaum waren die Gäste gegangen, so waren diese fleischlosen langen Finger schon wieder in Thätigkeit.

Herr von Feldern im grauen Anzug, die Hände mit den langen Manschetten auf dem Rücken, ging unablässig auf und ab, vom Salon in den Speisesaal und umgekehrt. Seine Frau wurde manchmal ganz nervös von dieser „ewigen Pendelei“, wie sie die Promenaden des Gatten nannte, allein sie ließ sich von dem, was in ihr vorging, nichts anmerken; sie sagte sich: etwas muß der Mensch haben, und alles andre wäre teurer als dies Vergnügen!

Kunochen öffnete die Thüre, als es klingelte, und der erste Gast, Frau Müller, eine Dame reifen Alters, kam hereingerauscht – sehr wohlbeleibt, äußerst elegant, mit Schmuck überladen und einer Stimme wie eine Trompete. Frau Müller war die beste Kundin der Frau von Feldern, gab dieser durch ihre Putzsucht reichlich zu verdienen und konnte sie im Grunde ihres Herzens nicht ausstehen; aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Der zweite und letzte Gast des Hauses, Fräulein Malchen, spielte die Vermittlerin zwischen den beiden stets auf dem Kriegsfuß verkehrenden Damen, indem sie es verstand, jeder recht zu geben, und sich selber nie anmaßte, eine Meinung zu haben. Frau von Feldern protegierte in ihr eine Künstlerin; „Malchen“, wie sie im ganzen Theater, vom Intendanten bis zum letzten Choristen, genannt wurde, Malchen war seit ihrem zehnten Jahre ein Mitglied der Hofbühne und all’ die Zeit her nicht um eines Haares Breite von jenem damals eingelernten papageiartigen Ton abgewichen, mit dem sie von den Kinderrollen in die der jugendlichen Zofen und dann allgemach in das Fach der reiferen Vertrauten vorgerückt war.

Und wie sie auf der Bühne nie eine Hauptrolle spielte, so geschah es ihr auch im Leben; nie verließ eine Primadonna oder eine Tragödin das Theater, ohne sich von dem schluchzenden, sie an die Bahn begleitenden Malchen mit Gewalt losreißen zu [64] müssen. Und immer geschah es wieder, daß all’ die Versprechungen, all’ die Schwüre ewiger Freundschaft von der Scheidenden vergessen wurden und weder eine Einladung noch ein Brieflein das trostlose Malchen in ihrem Schmerze tröstete. In gerechter Wut über die erbärmliche Undankbarkeit des menschlichen Geschlechtes, hing sie dann flugs ihr Herz an den nächsten „Stern“ der Hofbühne, sich für die erlittene Kränkung und Zurücksetzung dadurch schadlos haltend, daß sie der neuen Freundin alle Toilettengeheimnisse, Liebesabenteuer und Familienverhältnisse der Treulosen preisgab. Hierauf war sie wieder ganz Aufopferung und Beflissenheit, nahm alle Unannehmlichkeiten, die der Künstlerin widerfuhren, für persönliche Beleidigungen und wußte noch im allerletzten Moment Rats für eine verunglückte Toilette, mit der sie zu Frau von Feldern rannte.

Diese hatte, seit sie Malchen protegierte, zwei Nähmädchen in ihrer Schlafstube sitzen und immer vollauf zu thun. Aber auch Malchen fand ihre Rechnung bei dem Verkehr; im ganzen Theater wußte man: Malchen ist des Sonntags bei „Vons“, Malchen hatte ihren Familienanschluß, mochten ihr noch so viele Freundinnen untreu werden, Malchen ist niemals verlassen!

Auf dem Theetisch der Frau von Feldern befand sich am Empfangstag eine zweite Theekanne mit wirklichem Thee und ein silbernes Brotkörbchen mit wirklich belegten Butterbrötchen.

Frau Müller saß kaum an ihrem Platz, so erkundigte sie sich auch schon nach dem fehlenden Eduard, dem sie aus purem Widerspruch und Frau von Feldern zum Trotz ihre Vorliebe geschenkt hatte.

Als ihr die Antwort wurde, Edu sei wieder in der Strafe wegen seiner entsetzlichen Ungebärdigkeit, verschluckte sich Frau Müller fast – sie hatte immer den Mund zu voll – mit solchem Eifer nahm sie sich des Abwesenden an.

„Immer ist der arme Bub’ in der Straf’ – warum denn? Weil er einen eigenen Kopf hat – nun ja, Sie werden noch an mich denken – aus dem wird was, das sag’ ich, die Müllern – Buben müssen Buben sein und keine Affen, ich für meine Person kann diese geschniegelten kleinen Affen nicht ausstehen!“

Frau von Feldern wechselte einen Blick mit Malchen; man verstand die Anspielung, aber man schwieg; Frau Müller war es nämlich einmal begegnet, ihr Butterbrot mit der Butterseite auf das Tischtuch fallen zu lassen. Nun gab es im Feldernschen Hause kein größeres Verbrechen als das Beschmutzen eines Tischtuches. Kunochen war deshalb über diese Unthat so entsetzt gewesen, daß er in die Worte ausbrach: „O Du Schweinchen, Du Schweinchen!“

Seither konnte Frau Müller den kleinen flachshaarigen Buben nicht mehr ausstehen, um so mehr, als sie bemerkte, daß er ihr fortwährend auf die Finger sah und sie auf diese Art zwang, auf sich acht zu haben.

Frau von Feldern, immer beflissen, erziehlich zu wirken, suchte der Unterhaltung eine geistreiche Wendung zu geben.

„Ich bin doch sehr glücklich, daß sich endlich der Zeitgeist der Frau bemächtigt und wir in unserer geistigen Bedeutung nunmehr gewürdigt werden.“

„Ja,“ sagte Malchen, „Gott sei Dank, daß es jetzt nicht mehr Mode ist, sich zu schämen, wenn man ledig ist, sondern im Gegenteil!“

Frau Müller lachte laut auf.

„Ich thät mich doch schämen, nein, das macht mir niemand weis, daß ledig sein keine Schand’ sei – ich war zweimal verheiratet und hätt’ zum drittenmal geheiratet, wenn mir nicht gerade noch schnell mein erster Mann mit der Zipfelkapp’ erschienen wär’! ‚Frau,‘ hat er gesagt und hat nur mit dem Finger gedroht; Jesses Gott, hab’ ich gedacht, am End’ holt er dich – und hab’s Heiraten bleiben lassen.“

Frau von Feldern rümpfte die Nase. „Wie mag ein gebildeter Mensch an Spuk glauben.“

„Glauben Sie vielleicht, ich thu’s; ’s fällt mir nicht ein,“ ereiferte sich Frau Müller, „ich glaub’ ganz gewiß an keine Gespenster, aber das eine Mal hab’ ich eins gesehen, und da beißt keine Maus den Faden ab.“

„Aber nicht wahr,“ wandte sich Malchen an Frau von Feldern, „wenn auch Frau Müller in der Hauptsache recht hat, ein lediges tugendhaftes Mädchen ist trotzdem eine ehrenhafte Person?“

„Das ist sie,“ unterbrach sie Frau von Feldern, „den Wert der Frau bestimmt weder das viele Heiraten noch das Ledigsein; unsere Auszeichnung liegt in uns selbst, und es giebt tausend Ehen, in denen der Mann gar nichts ist und die Frau alles –“

Malchen fiel Frau von Feldern um den Hals. „Sie sind immer so geistvoll!“

Herr von Feldern betrachtete angelegentlich seine Manschetten, und Kunochen, der von der ganzen Unterhaltung nichts verstanden hatte, rief vergnügt aus:

„Die Mama hat doch immer recht!“

Er wurde von Malchen abgeküßt und ein geniales Kind genannt, und schon im nächsten Augenblick stand er mitten im Zimmer und deklamierte den „Handschuh“.

„Jesses Gott, wenn ich doch nur die Viecher nimmer aufspazieren hören müßt’,“ murmelte Frau Müller, und ihre verzweifelten Blicke flogen von einem Gegenstand des Zimmers zum andern. Sie sprang auf, als Kunochen eben Atem schöpfte, um die „Bürgschaft“ anzufangen, allein Frau von Feldern drückte den Gast mit Gewalt auf seinen Stuhl nieder:

„Ich bitte Sie, Schillers Gedichte, Frau Müller – sollten Sie für das Höchste auf Erden, für die Poesie, kein Interesse haben?“

So etwas konnte man doch nicht auf sich sitzen lassen: Frau Müller hörte mit innerlichem Knirschen die „Bürgschaft“ an und dann noch den „Gang nach dem Eisenhammer“. Herr von Feldern schnarchte dazu, und allmählich wirkte das sanfte Geräusch auch beruhigend auf das erregte Gemüt der Witwe.

Als sie, nachdem sie sich so schnell als möglich nach den stattgehabten Genüssen verabschiedet hatte, vor das Haus trat, sah sie den Herrn Schneider vor seiner Ladenthür stehen und rauschte mit einem „Hol Sie der Teufel, grüß Sie Gott, Herr Schneider!“ auf den Mann zu.

„Warum soll mich denn der Teufel holen?“ fragte er.

„’s muß halt wo ’naus,“ gab sie zur Antwort, „denn wenn ich von da drin komm’, ist mir’s zu Mut wie einer Lokomotiv’, und ich möcht’ schnaufen und fauchen und alles in Grund und Boden ’nein rennen; o Herrgott, ist das alle Sonntag eine Tortur!“

„Ja, warum gehen Sie denn immer wieder hin?“ fragte Herr Schneider.

„Aber ich bitt’ Sie, was soll ich denn sonst mit meinem Sonntagnachmittag anfangen, daheim bleiben kann man doch nicht! und dann, schauen Sie, hat’s auch sein Guts – jetzt freu’ ich mich wieder die ganze Woch’ über meine Natürlichkeit, und daß ich mich nimmer anzustrengen brauch’ wie eine Prinzeß. Ach Gott, wenn ich’s ihr doch einmal sagen könnt’, wie mir’s auf der Seel’ sitzt – wenn ich sie einmal niederdonnern könnt’ –!“

„Aber wer hält Sie denn davon ab,“ unterbrach sie Herr Schneider, „so thun Sie’s doch ins Kuckucks Namen!“

„So, ja hopsa, daß sie mich beim nächsten Kleid in allen Ecken und Enden einpreßt und mir am End’ die neueste Mode unterschlägt! So ’was ist schon dagewesen, und wenn ich alles vertrag’, das vertrag’ ich nicht! Leben Sie wohl, Herr Schneider, und das ist gewiß, wir zwei verstehen sich und dabei soll’s bleiben!“

Kunochen hatte eines Tages den Bruder dabei entdeckt, wie er sich zur Vesperzeit bei Herrn Schneider gütlich that. Erst drohte er damit, Eduard bei der Mutter zu verklagen, dann aber gingen die Brüder einen Handel miteinander ein, indem Eduard versprach, dem Bruder die Schulaufgaben als Entgelt für die Wahrung des Geheimnisses zu machen.

Kunochen mußte nämlich die Eigenschaften, welche die Mutter so sehr an ihm rühmte – daß er wie ein Vogel aß und all’ seine freie Zeit bei ihr in der Stube verbrachte, mit einem vollkommenen Mangel an Kräften büßen; daher, welch willkommene Gelegenheit, dem Bruder seine Aufgaben zuschieben zu können! Er brachte seitdem bessere Noten mit nach Hause, nur für das Mündliche blieben sie schlecht; allein Frau von Feldern lief immer wieder in die Schule, um den Lehrern, deren Schrecken sie war, begreiflich zu machen, daß, wenn Kunochen schlecht antworte, dies nur an seiner Schüchternheit liege. Er habe das von ihr, auch sie habe in der Schule, sobald eine Frage an sie gestellt wurde, den Kopf verloren, obwohl sie mehr gewußt habe als die ganze Klasse.

Kunochen machte sich das unglückliche mütterliche Erbteil sofort zu nutze und spielte so trefflich den Bestürzten und Fassungslosen, daß er die Lehrer wirklich damit täuschte und sie ihn für befähigter hielten als seinen Bruder.

Eduard gab nie unverständige Antworten, aber er lernte schwer auswendig und seine Aufgaben waren hudelig und schlecht

[65]

Arbeitsuchende auf dem Hofe des Berliner Lokalanzeigers.
Nach einer Originalzeichnung von Werner Zehme.

[66] gemacht. Daran war außer dem Umstand, daß er zu viel Zeit an die Aufgaben seines Bruders verwenden mußte, noch etwas anderes schuld: Eduard wollte aus dem Gymnasium heraus.

Er war durch und durch angesteckt von den Gesinnungen des Herrn Schneider, der den Bürgerstand als den einzig richtigen in der Welt pries, in dem allein wirklich freie und unabhängige Männer zu gedeihen vermöchten.

„Ich kann thun, was ich will,“ sagte er zu dem begierig an seinen Lippen hängenden Knaben, „ich habe keinen Vorgesetzten, nach dem ich meine Meinung, meine Gesinnung zu richten brauche; der Beamten- oder Offiziersstand aber, was ist das anderes als Schulzwang bis ins graue Alter!“

Nicht auf einmal, so nach und nach hatte Herr Schneider des Knaben Sinn mit dergleichen Redensarten gefangen genommen; allemal wenn Frau von Felderns Hochmut den hitzigen Mann wieder in Harnisch gebracht, schwiegen dessen Gewissensbisse; er sprach von neuem in den Knaben hinein und freute sich, mit anzusehen, wie so ganz anders sich der kleine Mann entwickelte, als es seiner Mutter lieb sein mochte. Edu war ein gesunder kräftiger Bursche geworden, der nicht mehr von seinem knurrenden Magen abhing, sondern schon sein Lebensziel im Auge hatte. Er wollte Kaufmann werden: sein Ideal war die ungezwungene Fröhlichkeit und Behagen atmende Häuslichkeit des Kaufmanns Schneider; er gehörte längst dazu und saß vergnügt bei der Abendmahlzeit, wenn seine Mutter ihn im Bett vermutete.

Bei Schneiders standen Teller und Schüsseln, alle mehr oder weniger zerstoßen oder gesprungen, auf einem blau und gelb karrierten Wachstuch; es fielen keine Bemerkungen über die wenig schöne Art, wie jeder Messer und Gabel handhabte; man schmatzte lustig drauf los, sprach mit vollem Munde, und der Herr Schneider oben am Tisch gab kein besseres Beispiel. Eduard hatte es anders gelernt, allein wie er sich einstens seiner neuen Mützen und Kleider geschämt hatte, so schämte er sich jetzt seiner besseren Manieren und gab sich die erdenklichste Mühe, es den anderen gleich zu thun. Mitten aus diesem Beginnen riß ihn eines Tages die kleine Gustl:

„Du mußt nicht meinen, daß Du auch so wüst thun mußt, es ist viel schöner anders.“

Eduard wurde dunkelrot und merkwürdigerweise erfaßte diese Scham wie eine ansteckende Krankheit auch sämtliche Anwesende, Herrn Schneider an der Spitze, und alle sahen stumm und betreten nach der kleinen Sprecherin hin, die fein zierlich ihre Gabel in der Hand hielt, kerzengerade da saß und mit geschlossenen Lippen kaute.

Niemand wußte, wie es kam, aber die vielen sich bisher auf dem Tisch stoßenden Ellbogen waren plötzlich von der Oberfläche verschwunden, man hörte kein Schmatzen, man sah keine schmutzigen Hände mehr. Nur Herr Schneider schlürfte nach wie vor seine Suppe hinunter und gab sich die erdenklichste Mühe, gegen die neue Ordnung der Dinge stand zu halten, indem er verdrossen in sich hinein fluchte: „Will ich die Feldernschen Manieren an meinem Tisch? Hol’ sie der Teufel!“

Aber er holte sie nicht, sondern der gute Herr Schneider mußte eine Erfahrung machen, auf die er nicht gefaßt gewesen war – nämlich, daß in gleichem Maße, wie er der Mutter den Sohn abspenstig machte, ihm sein Kind abspenstig gemacht wurde – und zwar durch eben diesen Eduard. Er, der Vater, war nicht länger das Ideal seines Augapfels und hatte aufgehört, für sein Kind im Glanze der Unfehlbarkeit zu wandeln – den ganzen Tag mußte er hören:

„Vaterle, so macht man das nicht, der Eduard macht’s ganz anders –“

„Vaterle, warum hast Du nur immer so viele Flecken an Deinem Rock, siehst Du nicht, wie sauber der Eduard ist?“

Der hatte in der That aufgehört, länger seine gnte Erziehung verleugnen zu wollen; sah er sich doch unausgesetzt von Gustls großen Augen beobachtet, und er hatte nicht Lust, sich einer zweiten Rüge aus dem Munde des Kindes auszusetzen.

Er war am Ende des Schuljahres aus dem Gymnasium geschickt worden; seine Mutter hatte zwar etliche Anstürme versucht und es bei den Lehrern durchsetzen wollen, daß man den Sohn im Gymnasium behalte, allein Eduard hatte den alten Sprachen gegenüber so gründlich den Verstockten gespielt, daß von einer Wiederaufnahme keine Rede sein konnte.

Obgleich er nun im Realgymnasium ein vortrefflicher Schüler wurde und die besten Zeugnisse nach Hause brachte, so hatte er doch durch seinen Austritt aus dem Gymnasium die Liebe seiner Mutter völlig verscherzt. Er war in ihren Augen gesunken, hatte sich für immer um sein Anrecht auf den Umgang mit Hochstehenden gebracht. Sie sagte: „Ich kann mich für ein Kind mit gewöhnlichen Instinkten nicht interessieren; ich sehe mich um die Ernte gebracht, die Du mir schuldig warst!“

Eduard kränkten diese Worte mehr, als er sich’s selbst gestand; er beschloß in seinem Innern: „Ich werd’s der Mutter zeigen, ich werd’s ihr schon noch eines Tages zeigen, daß man sich meiner nicht zu schämen braucht!“

Darauf kam er immer wieder zurück, wenn er sich gegen Herrn Schneider aussprach. Mochte der Bruder ein feiner Herr werden und nur mit Adeligen umgehen, er wollte inzwischen tüchtig werden und reich und angesehen, und hoffentlich war’s dann ihm, nur ihm und nicht dem Bruder, vorbehalten, der Mutter ein sorgenloses Alter zu bereiten!

Das war immer das Endziel seiner Wünsche, und zum großen Aerger des Herrn Schneider war auch Gustls Phantasie fortwährend mit dieser Frau beschäftigt. Es drängte sie immer wieder, eine Gelegenheit zu suchen, Frau von Feldern entweder unter dem Thorweg des Hauses oder auf der Gasse zu begegnen, und eines Tages plagte sie die Neugier so stark, daß sie dem Gespielen ins Ohr sagte: „Du, ich möcht’ gar so gern einmal sehen, wie’s bei Euch ist –“

Eduard nahm sie bei der Hand. „Komm mit!“

Er hatte zwar die feste Ueberzeugung, daß die Sache nicht gut ausfallen würde, aber warum sollte er nicht ebensogut ein Recht haben, sein Kamerädchen mit in die Stube zu bringen, wie Kuno, der jetzt sehr oft Besuch bekam, welchen die Mutter nicht genug auszeichnen konnte.

So trat er, Gustl, der das Herz bis an den Hals schlug, am Händchen nach sich ziehend, in die Eßstube; Frau von Feldern saß wie immer am Nähtisch; Kunochen hatte einen Kameraden bei sich; die beiden Knaben waren dabei, Bleisoldaten aufzustellen und gegeneinander marschieren zu lassen.

Dies geschah, nachdem Kuno über zwei Stunden mit dem Hilfslehrer gearbeitet hatte, den Frau von Feldern für ihren Jüngsten nun zu halten gezwungen war; er war in seiner Klasse sitzen geblieben, da sein Bruder ihm nicht länger die Aufgaben hatte machen können.

Eduard und die Kleine hatten sich draußen in der frischen Herbstluft getummelt und traten nun mit hochroten Wangen und zerzausten Haaren in den friedlichen Kreis, einen vollen Gegensatz bildend zu dem abgearbeiteten Kunochen, das schweigend seine Bleisoldaten hin und her schob.

Frau von Feldern blickte erstaunt auf; es war ihr unbegreiflich, wie Eduard es wagen durfte, die kleine unerzogene Tochter des Herrn Schneider mit hereinzubringen. Sie reichte nichts destoweniger dem kleinen Gast die Hand, freilich mit einiger Vorsicht, indem sie hinzufügte: „Man muß sich immer hübsch waschen und sauber kleiden, bevor man Besuche macht … Kunochen,“ setzte sie hinzu, „warte der Kleinen von dem Zwieback auf –“

Dies geschah. Allein Kunochen stand schon eine ganze Weile mit seinem Teller vor Gustl, sie nahm nichts; der kalte, strenge Blick der Frau von Feldern lähmte das Kind vollständig; es hatte seine sonnenverbrannten, allerdings nicht ganz saubern Händchen unter der Schürze versteckt, atmete hörbar und war dem Weinen nahe. Eduard stand an ihrer Seite mit einem Gesicht, als wartete er nur auf den Augenblick, um seine kleine Freundin gegen die feindlichen Mächte zu verteidigen, die sie beängstigten. Da kam auch schon die Gelegenheit.

„Ist die aber dumm!“ rief Kunochens Freund vom Tisch her.

Im nächsten Augenblick hatte er seine Ohrfeige weg und lag brüllend mit dem Gesicht auf den Bleisoldaten.

„So ist es immer,“ sagte Frau von Feldern, streckte die Hand aus und zog Eduard kräftig am Ohr. „Du brauchst nur zu kommen, so geht der Unfriede los. Wenn Du denn schon ein Gassenjunge bist, so bleibe auch auf der Gasse, wenn man Dich nicht ruft.“

Eduard, der keine Miene verzog, obwohl sich sein Ohr unter den harten Fingern seiner Mutter blaurot gefärbt hatte, Eduard nahm seine kleine Gefährtin bei der Hand und zog sie zur Thür hinaus. Im Hofe riß sich Gustl von ihm los und flog, kaum die Erde mit [67] den Füßchen berührend, ein paarmal wie besessen um die Linde herum; dann kehrte sie atemlos zu dem Knaben zurück.

„Hast Du Deine Mutter lieb?“

„Heut’ nicht,“ gab er zur Antwort.

Aber es lag ihm daran, das Unliebsame dieses Erlebnisses bei der Kleinen in Vergessenheit zu bringen, denn welchen Eindruck es auf sie gemacht, zeigte sich deutlich in der noch größeren Sorgfalt, die sie auf ihr Aeußeres verwendete. Die Köchin sollte ihr alle Tage eine frische Schürze geben; Gustl bürstete und kämmte ihr lockiges Haar zum Erbarmen, und bei jeder Gelegenheit wurde der Kamerad gefragt: „Hab’ ich jetzt so saubere Hände wie Deine Mutter?“

„Ach was,“ sagte er eines Tages, „laß mich in Ruh’, jetzt sollst Du einmal etwas erleben, das Schönste auf der Welt – ein wenig Mut mußt Du freilich haben – hast Du?“

„O ja!“ versicherte Gustl.

Eduard holte eine Leiter aus dem Holzstall und legte sie an die Linde.

„Jetzt mir nach!“ befahl er, stieg hinauf, wartete auf dem untersten Zweig und nahm das Kind, das ihm willig gefolgt war, in Empfang.

„So,“ sagte er, „nur schön sachte von Ast zu Ast mir nach – es ist wie eine Treppe, man kann’s ordentlich merken, daß ich schon hundert Jahr’ da herauf komm’ – da oben ist’s überhaupt am schönsten auf der Welt – paß auf, wie Dir’s gefallen wird, Gustl, man meint auf einmal, man wär’ ein Vogel, und kein Mensch hätt’ einem mehr ’was zu sagen!“

So plaudernd war er vorausgestiegen, hatte der Kleinen immer zur rechten Zeit die Hand gereicht, und sie waren miteinander glücklich und wohlgemut bis in die höchsten Regionen des Baumes geklettert. Da saßen sie dicht beisammen auf einem Ast, fast in gleicher Höhe mit den Dächern rings umher, und tief unter ihnen lag der Hof.

„Gelt, so ’was hast Du noch nicht gesehen, Gustl?“ frohlockte der Knabe und machte Anstalten, sich auf einen höheren Ast zu schwingen; aber da hielten ihn zwei zitternde Hände krampfhaft fest, und die Gustl, die sich freuen sollte, brach in ein bitteres Schluchzen aus. Ihr war so bang, so angst in dieser schwindelnden Höhe, so fern vom Vater, von allen Menschen. In ihrer Verzweiflung umklammerte sie den Hals des Gespielen, drückte ihr Gesichtchen gegen dessen Wangen und benetzte ihn mit ihren Thränen.

„Ach Du dumm’s Tierle,“ schalt Eduard, die Kleine sachte mit seinen Armen umschließend, „ich halt’ Dich ja fest – wo hätt’ ich geglaubt, daß Du so ein dumm’s Tierle wärst, Gustl.“

Sie wurde still, hielt sich aber immer weiter an ihm fest, dann und wann tief aufseufzend, während er sich lächelnd mit ihr auf dem Aste wiegte. Nie in seinem Leben war er von zwei Armen so warm umfangen worden, zum erstenmal fühlte er ein klopfendes Herz nahe dem seinen, er drückte einen leisen Kuß auf die heiße Kinderwange, die sich an ihn schmiegte. „Wie schad’, wie schad’, Gustl, daß nicht irgend etwas Schreckliches kommt und ich Dich verteidigen kann!“

„Du dummer Bub’,“ schluchzte sie, „das ist doch schon schrecklich genug, daß ich da oben sitz’.“

Damit war der Zauber gebrochen. Der dreizehnjährige Knabe nahm die noch nicht zehnjährige, aber kräftige Kleine auf den Rücken und kletterte so mit seiner Bürde langsam und mühselig von Ast zu Ast. Als sie unten waren, erzählte Gustl ihrem Vater: „Weißt Du auch, das war einmal schön, wir sind ganz oben gewesen, in der Linde und haben die ganze Welt gesehen!“

„Ist das wahr?“ fragte Herr Schneider den Jungen.

Er nickte. „Ja, aber da oben hat sie geheult und von der ganzen Aussicht nichts gesehen.“

„Solche Dummheiten verbitt’ ich mir,“ sagte Herr Schneider.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.

Der letzte Staatsrat des Großen Kurfürsten. (Zu dem Bilde S. 56 und 57.) Einen für Preußens Geschichte bedeutsamen Augenblick stellt uns Professor Fritz Röber auf seinem geistvoll erfaßten und ausdrucksvoll ausgeführten großen Bilde dar. Am 7. Mai 1688 ließ der Große Kurfürst, schwer erkrankt, dem Tode nahe, sich zu dem rasch einberufenen Geheimen Rat hintragen; hier erteilte er seinem Sohn, dem späteren König Friedrich I., seinen Segen, indem er ihn mit feierlichen und rührenden Worten ermahnte, die Regierung nach den bisherigen bewährten Grundsätzen fortzuführen und den erworbenen Ruhm zu wahren. Der sterbende Fürst warf einen Rückblick auf seine eigene glückliche, aber mühevolle Regierung voll Krieg und Unruhe, auf die traurige Zerrüttung, in welcher er das Land beim Beginn derselben gefunden, auf seine mit Erfolg gekrönten Bestrebungen, es in besseren Stand zu bringen, so daß es jetzt von seinen Freunden geachtet, von seinen Feinden gefürchtet werde. Der Kronprinz antwortete tiefgerührt, was ihm der feierliche Augenblick und die Verehrung für den geliebten Vater, den großen Fürsten, eingab. Nicht lange überlebte der Fürst diese letzte feierliche Sitzung: er starb nach schwerem, mit Geduld ertragenem Todeskampfe am 9. Mai 1688. Vater und Sohn, welche den Mittelpunkt des Gemäldes bilden, spiegeln die ganze Bedeutung des geschichtlichen Augenblicks wieder: man sieht bereits die Schatten des Todes über das Antlitz des Großen Kurfürsten fliegen; aber sie nehmen ihm nichts von seiner geistigen Größe; noch immer tragen diese Züge das Gepräge eines imponierenden Charakters, einer willensstarken Herrscherseele, während der im Profil dargestellte Kopf des Kurprinzen von tiefem Schmerz und innerster Ergriffenheit zeugt. Man sieht gleichsam das untergehende und aufgehende Gestirn Preußens; aber man hat den Eindruck, daß die Strahlenglorie des ersteren von dem letzteren nicht erreicht werden wird: die Züge des Kurprinzen haben etwas Weicheres, was nicht bloß durch die Jugendlichkeit und den ergreifenden Augenblick bestimmt wird; man sieht es ihnen an, daß die Entschiedenheit des Charakters sich von dem Vater auf den Sohn nicht in gleichem Maße fortgeerbt hat. Als Zeugen dieser Abschiedsscene umgeben den Thron die Großen des preußischen Staates, die in Krieg und Frieden die Lorbeeren des scheidenden Herrschers geteilt haben. Da sehen wir mit dem Marschallstabe den Marschall Grafen von Schomberg. Er war ursprünglich ein französischer Marschall und lebte später in Portugal, von wo ihn der Große Kurfürst berufen und als obersten General an die Spitze seines Heeres gestellt hatte; Schomberg war zugleich Statthalter von Preußen geworden und nach den Prinzen von Geblüt der Höchste im Range. Dann sehen wir neben ihm einen der ältesten Söhne des Kurfürsten aus zweiter Ehe, den Gründer der Schwedtschen Linie; in einer anderen Gruppe auf der linken Seite des Bildes findet sich Geheimrat und General von Grumbkow, Obermarschall des Hofes und Vater des Generals, der nachher unter Friedrich Wilhelm I. eine so wichtige in vieler Hinsicht unliebsame Rolle spielte; er sieht zu Boden und greift mit der Hand in die Weste; an seiner Seite, den Ratsmantel über die Höflingstracht geworfen, steht Reetz, welcher die Direktion der Städtekasse hatte. In der Nähe des Kurfürsten stehen Otto von Schwerin, der Statthalter in Berlin, und der Kammerpräsident von Knyphausen. So interessant diese Gruppen der Räte durch die Porträtähnlichkeit ihrer Charakterköpfe sein mögen, die hauptsächliche Teilnahme wendet sich doch dem Kurfürsten und seinem Sohne zu; denn hier ist nicht nur der geschichtlich bedeutsame Augenblick festgehalten, es ist zugleich ein fesselndes Seelengemälde, das mit feiner Kunst ausgeführt ist. †     

Abschreiber und Nachahmer der „Gartenlaube“. In den 43 Bänden der „Gartenlaube“, die seit der Gründung des Blattes erschienen sind, ist eine Riesenmenge belehrenden und unterhaltenden Stoffes enthalten; darunter befinden sich Artikel, die zu den Perlen einer edlen echt volkstümlichen Darstellung zählen. Diese Bände, von denen so viele in Hausbibliotheken aufgestellt sind, bilden immerfort für Jung und Alt eine unversiegbare Quelle neuer geistiger Anregung. Die „Gartenlaube“ ist ja das deutsche Hausblatt, das in so vielen Fällen bereits von Großeltern den Enkeln vererbt wurde. In den alten verstaubten Bänden blättert aber nicht nur die Lesewelt, sie werden auch von Leuten von der Feder aufgeschlagen. Da stöbert darin so mancher ehrgeizige und unternehmende Mann, um das Geheimnis des Erfolgs der „Gartenlaube“ zu ergründen, um zu erfahren, wie Familienblätter redigiert werden sollen. Nicht immer ist das Studium von Erfolg gekrönt; das Nachmachen verfängt nicht; denn zum Schaffen guter Volksschriften und nützlicher Volksblätter gehört etwas mehr als „geschickte Mache“; dazu sind vor allem Liebe zum Volke, warme Teilnahme für seine großen und seine kleinsten Interessen nötig; dazu ist ein Aufgehen in den Bedürfnissen der Familie unentbehrlich, die als Bollwerk der guten Sitte die Grundlage aller Völkermacht bildet. Das Wirken in der Volkslitteratur ist einmal Herzenssache und wer kein Herz für das Volk hat, der zerbricht sich vergebens den Kopf über die Frage, wie „Volks- und Familienblätter gemacht werden“ sollen; selbst wenn er jahrelang in guten Redaktionen als Lehrling sich abgemüht hat, geht er doch von dannen, ohne das gelernt zu haben, was er als „Kunst“ oder „Geschäft“ auffaßte, und was im Grunde eine ernste Arbeit für das Volkswohl ist. Im Laufe der vier Jahrzehnte, da die „Gartenlaube“ für die deutschen Familien in der Heimat und jenseit der Meere ein einigendes Band geworden war, da sie mitstritt für die Freiheit des Denkens und Wirkens, für die Einigung der Nation, da sie bestrebt war, Bildung zu verbreiten und überall den gemeinnützigen Sinn zu fördern, ist anderen Leuten wiederholt der Gedanke gekommen, die „Gartenlaube“ zu kopieren, wobei sie ihr Vorbild recht schlecht zu machen suchten. Sie haben damit kein Glück gehabt, den großen und kleinen Kopisten ist dieses Unterfangen vielfach herzlich schlecht bekommen! Die Redaktion der „Gartenlaube“ pflegt ihre Leser mit einer derartigen Polemik nicht zu behelligen. Sie schweigt zumeist, wenn sie geschimpft wird; ihr aus allen Ständen des deutschen Volkes zusammengesetzter Leserkreis hat ja in diesem Streite zu entscheiden. Nun! Sein Urteil giebt uns die frohe Zuversicht und den Mut, weiter auf der erprobten Bahn fortzuschreiten, denn die schon als „alte Matrone“ Verspottete [68] kennt kein Altern, da sie sich mit der fortschreitenden Zeit immer aufs neue verjüngt, und wird sich auch weiterhin ein jugendfrisches Herz zu wahren wissen.

In den vielen dicken Bänden der „Gartenlaube“ blättern auch andere eifrig und fleißig, die sich berufen fühlen, mit der Feder das deutsche Volk zu belehren und zu erfreuen. So mancher hat aus den Musterartikeln der Meister der volkstümlichen Darstellung gelernt, wie man zum Volke reden muß, wenn man es erfreuen und belehren will. Er ist unser guter Freund und unser Bundesgenosse in gemeinnützigem Wirken, wenn er auch nicht zu unseren Mitarbeitern zählt. Es giebt aber auch sogenannte Schriftsteller, die in den alten Bänden der „Gartenlaube“ wühlen, um sie als Fundgrube auszubeuten. Sie schreiben die „Gartenlaube“ flott und eifrig ab und reichen ihre Schreiberarbeit als eigene Geisteserzeugnisse anderen Blättern ein. Daß es ihnen so oft gelingt, Abnehmer zu finden, kann uns eigentlich nur freuen; denn darin sehen wir wieder den Beweis, wie volkstümlich und allgemein interessant die Artikel der „Gartenlaube“ sind, daß sie nach Jahr und Tag von neuem so verschiedenen Redaktionen gefallen. In jüngster Zeit hat sich die Zahl der litterarischen Diebe, welche die „Gartenlaube“ und deren Mitarbeiter bestehlen und andere Redaktionen betrügen, merklich vergrößert. Es ist dabei köstlich, zu beobachten, wie so etwas „gemacht wird“. Zwei Beispiele mögen genügen: In der traurigen Kriegszeit im Jahre 1866 brachte die „Gartenlaube“ einen Artikel über „die Raubtiere des Schlachtfeldes“, ein schreckliches Bild raubgieriger Menschen, die, aller Menschlichkeit bar, Tote und Verwundete auf dem Schlachtfelde von Sadowa plünderten. Ein Berliner „Feuilletonist“ hat nun die ernste und weihevolle Zeit, in welcher Alldeutschland das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des letzten großen Krieges feiert, dazu benutzt, um als Erinnerung an die Kriegszeit ein Feuilleton über „die Hyänen des Schlachtfeldes“ zum besten zu geben. Er beschreibt darin Schreckensscenen, die er bei Gravelotte und Wörth mit eigenen Augen gesehen haben will – und wie elend, unverschämt lügt er dabei: Wort für Wort ist dasselbe in dem genannten Artikel des Jahrgangs 1866 der „Gartenlaube“ zu lesen! Einige Zeitungen haben in Treu und Glauben dieses „Feuilleton“ gedruckt und so wurde durch dieses diebische Machwerk eine schwere Verleumdung gegen die Bevölkerung von Elsaß-Lothringen geschleudert, die solche Hyänen niemals beherbergt hat!

Nicht minder charakteristisch ist ein anderer neuerdings erfolgter Diebstahl an der „Gartenlaube“. Im Jahrgang 1869 haben unsere alten Mitarbeiter, die Brüder Adolf und Karl Müller, eine höchst interessante und charakteristische Beobachtung „Aus dem Räuberleben des Hühnerhabichts“ beschrieben. Jüngst lasen wir in einem angesehenen Berliner Blatte einen fesselnden Bericht über einen Kampf, den Krähen mit einem Hühnerhabicht um einen Hasen geführt haben sollen. Der Verfasser jenes Berichtes versichert ausdrücklich, daß er den Vorfall am 16. September 1895 in der Nähe von Lübbenau beobachtet habe. Aber siehe da! Der Bericht des Betrügers stimmt Wort für Wort mit dem Artikel der Brüder Müller aus dem Jahre 1869 überein!

Sicher liegt es im Interesse der gesamten Presse und des Schriftstellerstandes, solchen „Autoren“ und „Berichterstattern“ das Handwerk zu legen. Wir warnen hiermit alle diese Herren Schatzgräber in den alten Bänden der „Gartenlaube“; denn in Zukunft werden wir nicht verfehlen, ihre Namen niedriger zu hängen.

Es ist nichts so fein gesponnen,
Es kommt doch an das Licht der Sonnen!

Ein Berliner Arbeitsmarkt. (Zu dem Bilde S. 65.) Es ist ein trüber, regnerischer Winterabend, von jenen häßlichen Abenden einer, wo der unablässig niedertriefende Regen sofort wieder als Nebel aufzusteigen scheint. Die Straßen liegen verödet und die rotgelben Flammen der Gaslaternen können gemächlich, fast ungestört ihr verzerrtes Bild im Spiegel des Asphalts betrachten; denn wir wandern durch einen Bezirk, der zwar dem brausenden Leben der Großstadt, ihrem unablässigen, farbigen Getümmel nahe genug liegt, sich aber doch immer noch eine gewisse Abgeschiedenheit bewahrt hat. Plötzlich erweckt starkes Menschengedränge unsere Aufmerksamkeit; die Helmspitzen einiger Schutzleute und seltsam viel Weiß schimmert aus der tiefen, traurigen Finsternis, auf die die Gaslaternen erst recht deutlich hinzuweisen scheinen. Der Menschenschwarm wächst noch beständig, in jeder Hand sehen wir Blätter bedruckten Papiers; aus dem Thor eines stattlichen, von elektrischen Sonnen bestrahlten Gebäudes strömen die Massen heraus und sammeln sich dann um das nächste trübselige Licht, um zu lesen … Wir sind im Hauptquartier des schrecklichsten, finstersten großstädtischen Elends. Hier wird in früher Abendstunde alltäglich der „Arbeitsmarkt des Berliner Lokalanzeigers“ gratis ausgegeben, und in Unmenge finden sich die Stellungsuchenden ein, die von dieser Gelegenheit, Arbeitsnachweis zu erhalten, Gebrauch machen.

Lange bevor noch die Verteilung des Anzeigers beginnt, sammelt sich die Schar auf der Straße; neben blassen, bejahrten Männern, Frauen aus dem Arbeiterstande, die „mitverdienen“ müssen, neben jungen Burschen, die zum Glück noch nicht allen Humor verloren haben und ihn nur etwas derb äußern, finden sich schwächliche, blutjunge Dingerchen, die gestern eingesegnet worden zu sein scheinen, und jüngere noch. Wie viel Verzweiflung, wie viel Gram und Not mögen auf diesem engen Raum zusammengedrängt sein! Erscheinen die Setzerjungen mit den noch feuchten Zeitungsblättern auf dem Hofe, so wird die Menge hineingelassen; es beginnt ein Schieben und Drängen, aber die Beamten sorgen dafür, daß den Zuerstgekommenen möglichst auch zuerst ihr Recht wird und die ganz Kleinen, ganz Verlassenen nicht allzu roh beiseite gestoßen werden. Wer ein Blatt erwischt hat, eilt mit dem kostbaren Schatze so rasch davon wie er vermag, seinen Inhalt zu verschlingen und dann im Sturm die „Vakanz“ zu erobern, ehe noch ein Zweiter, Dritter, Vierter ihm die lockende Stelle fortschnappt … Kampf ums Dasein! … Nicht ohne tiefste innere Regung kann man ein Zeuge dieses Ringens nach Arbeit sein; und bei solchem Anblick wird man sich voll bewußt, wie wichtig alle, in der jüngsten Zeit gottlob immer zahlreicher werdenden gemeinnützigen „Stellen für den Arbeitsnachweis“ in unsern Großstädten sind, wie sehr sie Förderung und Unterstützung verdienen!

Bettelsänger in Kairo.
Nach einer Originalzeichnung von M. Rabes.

Bettelsänger in Kairo. (Zu dem obenstehenden Bilde.) Die afrikanische Musik erfreut sich in Europa keines besonderen Rufes; sie ist zu „urkünstlerisch“; aber sie gefällt dem Neger. Tanz, Gesang und Musik bilden die Hauptfreude an jedem Negerfeste. Und wie es dunkelhäutige Tänzer und Tänzerinnen giebt, die ihre Kunstfertigkeit zum Gewerbe machen und sich gegen Belohnung sehen lassen, so kennt auch Afrika Straßensänger, die allerlei launige und gruselige Lieder vorsingen und dafür von dem Zuhörer durch milde Gaben erfreut werden. Man begegnet derartigen Barden überall im Dunklen Weltteil; afrikanische Großstädte aber wie Kuka, Kano, Timbuktu oder Kairo beherbergen eine ganze Anzahl verschiedenartiger weither gereister Sängertypen. Unser Bildchen zeigt uns zwei dieser Barden, deren Heimat der Sudan ist und die in Kairo ihr Kunstgewerbe ausüben, indem sie auf afrikanischer Guitarre ihre Lieder begleiten. *     



Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (3. Fortsetzung). S. 53. – Das Denkmal des Malers Emil Schindler zu Wien. Bild. S. 53. – Der letzte Staatsrat des Großen Kurfürsten. Bild. S. 56 und 57. – Wiens größter Landschaftsmaler. Ein Erinnerungsblatt an Emil Schindler von Ludwig Hevesi. S. 58. Mit Abbildungen S. 53 und 61. – Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Die „Hexe von Straßburg“. Von Dr. P. Schellhas. S. 60. – Junge Birken. Bild. S. 61. – „Vons.“ Erzählung von Hermine Villinger (1. Fortsetzung). S. 63. – Arbeitsuchende auf dem Hofe des Berliner Lokalanzeigers. Bild. S. 65. – Blätter und Blüten: Der letzte Staatsrat des Großen Kurfürsten. S. 67. (Zu dem Bilde S. 56 und 57.) – Abschreiber und Nachahmer der „Gartenlaube“. S. 67. – Ein Berliner Arbeitsmarkt. S. 68. (Zu dem Bilde S. 65.) – Bettelsänger in Kairo. Mit Abbildung. S. 68.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 4. 1896.



Präsident Paul Krüger. Märchenhaft ist die wirtschaftliche Entwickelung, die sich im Laufe des letzten Jahrzehnts in dem einst so armen Transvaal vollzogen hat. Man hat in seinen Bergen das jüngste Dorado entdeckt, das nun jahraus jahrein die Welt mit einem Goldregen überschüttet.

Tausende und Abertausende unternehmender Menschen, Bergleute, Ingenieure, Kaufleute und Abenteurer, eilen aus Europa und Amerika dorthin, und in der unmittelbaren Nähe der Goldminen wuchs in kurzer Zeit die Stadt Johannesburg, die heute an 100000 Einwohner zählt, davon die Hälfte europäische Einwanderer sind. In Gold- und Silberminen pflegt es in der Regel nicht besonders ruhig zuzugehen; aber zu Ehren der Boers, der Herren des neuen Goldlandes, muß gesagt werden, daß sie, soweit es in Menschenmacht liegt, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten wußten und durch weise Verordnungen die Entwickelung einer mit Riesenschritten wachsenden Minenindustrie ermöglichten. Die Schätze ihrer Heimat erweckten aber von neuem den Neid ihrer Nachbarn, der Engländer, die schon so oft die Unabhängigkeit der Boers mit diplomatischen Künsten und mit Waffen in der Hand bekämpften. Englische Gesellschaften stellten das Verlangen, daß die „Ausländer“ („Uitlanders“), die jüngst eingewanderten Goldsucher und vorübergehend sich aufhaltenden Kaufleute dieselben politischen Rechte wie die eingesessene Bevölkerung erhalten sollen, und als die Boers nicht sofort ihren Nacken vor dem Wunsche der Fremden beugten, entsandten sie eine von Offizieren der britischen Armee geführte Freibeuterschar, die den vermeintlich Bedrückten in Johannesburg zu Hilfe eilen und in der „Südafrikanischen Republik“ die Fahne des Aufruhrs aufpflanzen sollte.

Paul Krüger.
Präsident der Südafrikanischen Republik.

Der frevelhafte Räuberanfall wurde jedoch bald zurückgeschlagen, und die Mehrzahl der den Kampf überlebenden englischen Freibeuter wurde samt ihrem Rädelsführer Dr. Jameson in der Schlacht bei Krügersdorp gefangen genommen. Die Republik der Boers wurde gerettet, dank der Umsicht und Entschlossenheit, mit welcher der Präsident Paul Krüger ihre Geschicke leitet.

Der Name Krügers war in Deutschland schon seit lange wohlbekannt; hat er doch auch einst an der Spitze einer Boersdeputation in Berlin Kaiser Wilhelm I. besucht. Damals haben sich der greise deutsche Kaiser und der Bauernpräsident die Hände zum Freundschaftsbunde gereicht, und diese Freundschaft hat auch ungetrübt zwischen den stammverwandten Völkern bis auf den heutigen Tag bestanden. Unter den Staatsmännern der Neuzeit nimmt Paul Krüger eine besondere Stellung ein; er ist wohl der einzige unter ihnen, der keine wissenschaftliche Vorbildung, ja kaum eine nennenswerte Schulbildung besitzt. Am 10. Oktober 1825 als Sohn eines Farmers zu Rustenburg geboren, zeichnete er sich frühzeitig als tapferer Krieger aus. Die Geschichte von Südafrika weiß von seiner regen Beteiligung an den verschiedensten Kämpfen gegen feindlich gesinnte Negerstämme zu berichten. Der tapfere Boer wurde später zum Kommandantgeneral von Transvaal ernannt und zum Mitglied des „Vollziehenden Rates“ berufen. Hier erwies er sich als ein so gewiegter Staatsmann, daß er 1883 zum erstenmal zum Präsidenten der Republik gewählt wurde. Schon damals gelang es ihm, die Unabhängigkeit seines Vaterlandes englischen Ansprüchen gegenüber zu sichern. Er stand vor einer schwierigen Aufgabe, als die Goldgewinnung in Transvaal begann und überall neue Bedürfnisse auftraten und zu befriedigen waren. Daß er dieser Aufgabe gewachsen war, beweist das rasche Erblühen der Minenwerke und die Ordnung, die in der jüngsten afrikanischen Großstadt herrscht. Inmitten des Goldstromes, der sich über sein Land ergoß, hat Krüger seine Charaktertugenden bewahrt; ein einfacher Boer ist er geblieben; ehrenhaft und unbestechlich stellt er seine eiserne Thatkraft in den Dienst des Vaterlandes und hat sich die Achtung aller ehrlichen Zeitgenossen gesichert.

Der Marktplatz von Johannesburg. Johannesburg, die blitzschnell entstandene Hauptstadt der südafrikanischen Goldgräber, besitzt eine Reihe ganz besonderer Einrichtungen. Unter anderem kann sie sich des größten Marktplatzes von allen Städten der Erde rühmen. Daß derselbe so weitläufig angelegt wurde, hat seine guten Gründe. Wenn auch Johannesburg seit einiger Zeit durch Eisenbahn mit der Küste verbunden ist, so kann es doch durch diese allein nicht verproviantiert werden. Ein großer Teil der Lebensmittel für die hunderttausendköpfige Bevölkerung muß von den Farmen der Boers mit Hilfe der bekannten südafrikanischen Ochsengespanne herbeigeschafft werden. Diese Geschirre nehmen aber, wo sie halten, recht viel Platz in Anspruch, und zu Hunderten versammeln sie sich auf dem Markte von Johannesburg, welcher alsdann einen höchst eigenartigen Anblick bietet, den wenigstens zum Teil unsere nach einer Originalphotographie ausgeführte Abbildung dem Leser veranschaulicht. An dem Marktplatze befindet sich auch das riesige Postgebäude, das gleichfalls eine originelle Einrichtung besitzt. Johannesburg hat zahlreiche Straßen, aber eine Numerierung der Häuser ist noch nicht durchgeführt. Briefe werden darum nicht ins Haus bestellt, sondern auf dem Postamte abgeholt. Hier sind nun Tausende von Briefkästen aufgestellt, auf welche die Bewohner von Johannesburg abonnieren können und in denen die Abonnenten die für sie eingetroffenen Briefe vorfinden. Im Hintergrunde unseres Bildes ist das große Postamt sichtbar, das zur Belebung des Treibens auf dem Marktplatze nicht wenig beiträgt.

Der Marktplatz von Johannesburg in Transvaal.

[68 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]