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Die Gartenlaube (1896)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[805]

Nr. 48.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (10. Fortsetzung.)

13.

Ein schneeloser Wintertag. In dunkeln Wolken hängt der Himmel über der dunkeln Erde, und der Wind, der durch die dürren Aeste der Bäume und über die kahlen Felder streift, klingt wie ein Aechzen.

In den Parkanlagen vor den Thoren der Stadt schreitet in der Dämmerstunde ein junger Mann langsamen Schrittes auf und nieder. Er hat die Hände auf den Rücken gelegt, den Kopf auf die Brust gesenkt und geht in tiefem Sinnen dahin, wie jemand, der sich sicher fühlt, von niemand beobachtet zu werden und niemand auf diesem Wege zu begegnen. Zuweilen bleibt er stehen, richtet sich straffer auf und seine Lippen murmeln dann leise Worte vor sich hin, heftige, zürnende, aber bald verfällt er wieder in die schlaffe, nachdenkliche Haltung und geht langsam weiter.

Die Gedanken, in welche er versunken ist, scheinen ihn so völlig von der Außenwelt abzuziehen, daß er gar nicht bemerkt, wie

Gondelfahrt in Venedig vom Bahnhof zum Hotel.
Aus dem Prachtwerk „Hochzeitsreise nach Italien“ von C. W. Allers. (Verlag der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.)

[806] eine Dame auf dem schmalen Waldpfade ihm entgegenkommt. Als sie schon dicht vor ihm ist, fährt er auf und greift, während er eine ausweichende Bewegung macht, wie mechanisch nach dem Hute; dann erst, als sie den freiwerdenden Weg nicht benutzt, sondern ihre zögernden Schritte noch verlangsamt, fällt sein Blick auf ihr Gesicht.

„Ah – Fräulein von Giersbach“ – murmelt er, sie erkennend, und als sie immer noch nicht vorwärts geht: „Wir haben uns lange nicht gesehen, gnädiges Fräulein!“

„Ich habe Sie gesehen, Herr Brückner – gestern, auch vorgestern in diesem Gehölze, und da Sie mich niemals bemerkten, faßte ich den Mut, Ihnen einmal ganz nahe vorbeizukommen, denn ich hatte es mir fest vorgenommen, Sie zu sprechen.“

Er sah sie überrascht und verwundert an.

„Mich, gnädiges Fräulein? Ich bin wahrlich jetzt ein schlechter Gesellschafter!“

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie ruhig:

„Ich hörte es schon von Lisbeth, daß Sie sehr verstimmt sind, aber ich wollte es nicht glauben –“

„Nicht glauben,“ rief er, „nicht glauben – nach dem, was ich durchgemacht habe?!“

„Nein,“ sagte sie fest, „ich wollte es nicht glauben, denn ich kenne Sie doch auch und weiß, daß Sie ein kräftiger Charakter sind; den wirft ein Mißgeschick doch nicht gleich um.“

Er lachte, ein spöttisches, mißtönendes, rauhes Lachen.

„Wenn die Menschen,“ fuhr sie fort, „sich durch eine zertrümmerte Hoffnung, eine erfolglose Anstrengung gleich aus dem Geleise bringen ließen, wo kämen sie dann hin? Sehen Sie doch um sich – weiß nicht jeder Mensch von Mißerfolgen zu erzählen? So wie Sie hat das Leben auch andere angepackt, wenn auch vielleicht auf eine andere Art.“

„Nein,“ rief er heftig und richtete sich hoch auf, „so wie mich hat’s noch keinen getroffen! Ich habe alles mit einem Schlage verloren, die Gegenwart – und die Zukunft! Ich habe die Liebe der Meinen, die Freundschaft meiner Freunde, die Achtung der Menschen verloren und, was das Schlimmste ist, auch den Glauben an mich!“

Eine minutenlange Pause zwischen beiden, dann sagte sie wieder: „Ich habe neulich einmal sagen hören, wen das Schicksal so weich gebettet hat, wie Sie es bisher waren, der hätte es, wenn der Himmel sich einmal verdunkelt, am schwersten, denn er betrachtet beständigen Sonnenschein als sein Recht.“

„Nun, wenn ich unbewußt so etwas Aehnliches wirklich erwartet habe, dann ist mir’s klar gemacht worden, wie thöricht ich war! – Was habe ich nicht erfahren in dieser Zeit!“ Er hatte sich umgewandt und ging nun neben ihr auf dem mit welken Blättern bedeckten schmalen Steg. „In Berlin ging’s noch,“ fuhr er fort, „mein Gott, die Kameraden, die ich dort hatte, trösteten mich, so gut es ging! Man verwies mich mit billigen Trostworten auf mein gutes Glück, und auf dieses rechnete ich auch, wenn es mir auch nicht recht verständlich war, in welcher Form ich es erwarten könnte. Aber hier! Mein Vater ist ein Bureaukrat vom reinsten Wasser, für ihn fängt der Mensch erst mit dem Rat an, und ihm ist es undenkbar, daß jemand glücklich sein kann, der nicht die Anwartschaft auf eine höhere Stellung im Staatsdienste hat. Er weint über seinen verlorenen Sohn und er hat ja auch Grund dazu! Ich war leichtsinnig, habe zu wenig gearbeitet! Ich hätte nicht in Berlin bleiben sollen! Und meine Mutter, die mich geliebt, die mich verwöhnt, die mich vergöttert hat, schämt sich, mit mir auszugehen, schämt sich, überhaupt noch auszugehen! Ich habe kein teilnehmendes Wort von ihr gehört, keinen warmen Blick von ihr empfangen. Jetzt, da der Besitz dieses Sohnes ihrem Stolze nicht mehr schmeichelt, hat er auch ihr Herz verloren, und das jetzt, jetzt, wo ich der Teilnahme, der Liebe so bedürftig bin! Wenn nun die, die mir am nächsten stehen, so empfinden, muß ich mich da nicht selbst aufgeben?!“

„Nein,“ sagte Annie mit zitternder Stimme, aber nach Festigkeit ringend, „das müssen Sie nicht, das dürfen Sie nicht. Fassen sollen Sie sich und die Liebe der Ihrigen, die Sie verscherzt haben, wieder verdienen!“

„Ja, ja, das sagte ich mir zuerst auch. Aber Sie wissen noch nicht alles, kennen nicht die Täuschungen, die ich erfahren, wissen nicht, wie eine Hoffnung nach der anderen scheitert!“ Er erzählte ihr nun von den Schritten, die er gethan, um im Staatsdienst irgendwie unterzukommen, plötzlich unterbrach er sich aber jäh: „Doch wohin gerate ich? Ich weiß in der That nicht, wie ich dazu komme, Ihnen, gnädiges Fräulein, davon zu sprechen. Verzeihen Sie mir! Es ist die absolute Einsamkeit, in der ich lebe, die mich dazu verführt hat! Man schluckt allen seinen Gram und seine Schmerzen so in sich hinein; bis zum Uebersprudeln ist das Herz gefüllt und ein teilnehmendes Wort läßt es überfließen! Ich war so verzweifelt vorhin, als wir uns trafen, ich sehnte mich ordentlich nach dem einzigen Rettungsweg aus dieser Lage, der mir offen gelassen ist.“

„Dem einzigen Rettungsweg?!“ – sie wiederholte langsam diese Worte, und dabei sahen ihre Augen starr in die seinen.

„Fräulein Annie,“ sagte er leise und dringend, „stellen Sie sich einmal einen Menschen vor – ohne Lebenszweck – ohne Hoffnung – verachtet von seinen Mitmenschen verachtet von sich selbst – und dagegen die Ruhe des großen Nichts - -

„Nein,“ schrie sie auf und faßte nach seinem Arme, als könne die kleine, schwache Hand ihn von dein Abgrunde zurückhalten, „nein, das waren Sie nicht, der das sagte – nein, das waren Sie nicht! Solch’ ein thörichter Schwächling, der sich darin gefällt, mit Selbstmordgedanken zu spielen, weil ein paar hochmütige Menschen ihn über die Schulter angesehen haben — das sind Sie nicht! Besinnen Sie sich auf sich selbst und glauben Sie an Ihre Kraft, dann glauben auch andere wieder daran! Es ist unrecht – nein, es ist mehr als das – aus dem Leben sich stehlen zu wollen, da es noch so viele giebt, denen Sie – teuer sind! Wie können Sie an der Liebe Ihrer Eltern zweifeln, da Sie doch sehen, wie diese sich über Ihr Mißgeschick grämen, wie Ihr Papa darunter leidet! – Haben Sie ein Recht dazu, Ihrer Mutter andere Motive unterzuschieben, nachdem sie es doch genugsam gezeigt hat, welche Sorge und welche Liebe sie jederzeit für ihren Sohn gehegt? – Wenn ich denke, wie Papa sich schon um die Schularbeiten unserer Jungen sorgt und wie er sich quält in dem Gedanken, sie könnten etwas versäumen und nicht vorwärts kommen – dann finde ich es nur natürlich, daß Ihre Eltern tief verwundet sind. Erkennen Sie doch darin auch die große Liebe zu Ihnen! Wie glücklich werden Sie alle sein, wenn diese Zeit überstanden ist, wenn Sie sich durch redliche Arbeit einen Lebensberuf errungen haben, der Sie befriedigt! Muß es denn gerade ein Ratsposten sein, Herr Brückner? Können Sie nicht kleiner beginnen? Der Anfang ist vielleicht dann leichter . . . Wissen Sie noch, wie wir im Frühling auf der Bank im Tiergarten saßen?“

„Ja, es war eine schöne Stunde!“ unterbrach er sie.

„Ich wollte Sie an jene Stunde erinnern, weil Sie mir damals sagten – wir sprachen von Ihrem ersten Examensversuche – Sie hätten eigentlich nie wirklich studiert. Ihr vorzügliches Gedächtnis, Ihre schnelle Fassungsgabe und Ihr logisches Denken hätten Ihnen immer vorwärts geholfen, und Sie wären damit bisher stets weiter gekommen als andere, die sich krumm über den Büchern gesessen. War’s nicht so?“

„Es kann wohl sein, daß ich so sagte.“

„Nun, sehen Sie, diese Fähigkeiten nützen sicher im praktischen Leben am meisten; ob sie aber bei einer Prüfung, bei welcher es doch in erster Reihe auf erlernte Kenntnisse ankommt, diese ersetzen, das müssen Sie besser beurteilen können als ich.“

Sie waren aus dem Gehölz getreten, und nun ließ eine zerreißende Wolke die Sichel des Mondes sehen. Leo Brückner, der während der letzten Worte wieder sehr düster dreingeblickt hatte, wandte seine Augen in die Höhe, dann schaute er, sich zurückwendend, in Annies Gesicht.

„Sie mögen recht haben, Fräulein von Giersbach, und ich danke Ihnen; ich habe so sehr des Aussprechens gegen eine teilnehmende Seele bedurft. Vielleicht war es mir auch nötig, daß ein mir wohlgesinnter Geist, wie der Ihre, mich mit strafenden Worten aufrüttelte.“

„Habe ich das gethan? Und mit strafenden Worten?“

„Ja, Sie haben das gethan und ich danke Ihnen tausendfach. Gehen Sie jetzt nach Hause! Der Weg ist mondbeleuchtet, ich kann Sie sehen, bis Sie in die Stadt einbiegen, und ich werde hier stehen bleiben und Sie bewachen.“

„Ich bin nicht ängstlich und bin in diesen Tagen immer allein hierher gegangen.“

„Das ist eigentlich nicht richtig, aber ich habe so viel dadurch gewonnen, daß ich nichts dagegen sagen darf. Werden Sie morgen wieder hierher gehen, Fräulein Annie?“

Sie stutzte und schwieg einen Augenblick, dann sagte sie:

„Ja.“ [807] „Dann also – auf Wiedersehen?“

„Auf Wiedersehen!“

Und sie ging eilenden Schrittes die Landstraße entlang, während ihre aufgeregte Phantasie mit dem ihr so tief bemitleidenswert erscheinenden Schicksal des jungen Mannes und den „strafenden Worten“, zu denen sie sich mit so viel Ueberwindung gezwungen hatte, beschäftigt war.

Fast acht Wochen war er in der Stadt, täglich und stündlich hatte sie darauf gehofft, ihn zu sprechen, und immer erwies sich die Hoffnung als trügerisch. Dabei hatte sie den brennenden Wunsch, ihm in dieser Zeit des Kummers ein ganz klein wenig sein zu können, ihm, der, seit sie ihn das erste Mal gesehen, alle ihre Gedanken erfüllt hatte, für den sie freudig ihr Leben hingegeben hätte, wenn sie damit sein Glück hätte erkaufen können!

Ab und zu gelang es ihr, auf der Straße Lisbeth zu treffen, die, veranlaßt durch Annies warmherzige Teilnahme, ihr mehr von ihren häuslichen Verhältnissen erzählte als sie es gegen andere that. Von ihr erfuhr sie, wie Leo jetzt als Fremdling im elterlichen Hause lebte und wie seine Stimmung stets düsterer und hoffnungsloser wurde. Als die Mädchen das letzte Mal sich getroffen, hatte Lisbeth unter heißen Thränen ihr gestanden, sie fürchte das Schlimmste für ihren Bruder, er werde immer unzugänglicher, löse sich immer mehr von ihnen allen los, und sie sei gewiß, er brüte Entsetzliches. Alles deute darauf hin, und wenn er in der Dämmerstunde das Haus verlasse, erzittere sie allemal vor Angst und Pein, ob er wohl wiederkehre.

Nach diesen Mitteilungen war Annies Entschluß gefaßt, und am anderen Tage, als das Tageslicht verschwand, stand sie vor der Brücknerschen Wohnung und wartete auf Leo. Sie wollte ihn sprechen, wollte ihn trösten, ermahnen, ihm ins Gewissen reden – sie wollte als Freundin an ihm handeln, wollte, unbekümmert um die Welt, zu ihm stehen und ihn darauf verweisen, daß es Menschen gebe, denen er trotz seines verschuldeten oder unverschuldeten Mißgeschicks derselbe geblieben sei. Sie war ganz gefaßt darauf, daß er sie zurückweisen, daß er sie kalt und abstoßend behandeln würde, wie er jetzt sogar seine Schwester Lisbeth behandelte, aber sie war ihres Herzens sicher – er bedurfte ihrer, sie mußte ihm Teilnahme und Trost bringen!

So sah sie ihn das Haus verlassen, sah ihn durch einsame und stille Straßen gehen und schließlich die kleine Parkanlage, in der er vor jedem Menschen sicher war, aufsuchen. Auch dahin folgte sie ihm; aber nun sie vor der That stand, fehlte ihr der Mut, und sie ließ ihn wieder fortgehen, ohne ihn angeredet zu haben. Am nächsten Tage derselbe Versuch und wieder ohne Erfolg! Sie war auf der Landstraße dicht an ihm vorbei gegangen, er hatte nicht aufgesehen, war aus seinem brütenden Sinnen nicht erweckt worden, und als sie dann nach Hause ging, flossen ihre Thränen gleich heftig über sein elendes Aussehen wie über ihre eigene Energielosigkeit. Fast die ganze Nacht hatte sie schlaflos dagelegen, und als sie gegen Morgen einschlummerte, zeigte ihr der Traum ein solch’ entsetzliches Bild, daß sie mit einem lauten Schrei erwachte. Noch unter dem Einflusse dieses Eindrucks wurde es ihr verhältnismäßig leicht, ihr Ziel zu erreichen. Sie suchte ihn auf, veranlaßte ihn, sie anzusprechen, und wie sie spürte, daß es ihm gut that, sich das Herz frei zu reden, dem Groll und der Bitterkeit einmal Zügel schießen zu lassen und auch in Ruhe und Besonnenheit ihre Einwendungen und Vorstellungen anzuhören, da schwellte ein wahrer Heldenmut ihre Brust und sie war entschlossen, allem zu trotzen und alles zu ertragen, wenn sie ihm nur nützen konnte.

Einen Augenblick dachte sie sogar daran, ihren Eltern alles mitzuteilen, in erster Reihe auch ihr Versprechen, morgen wieder an jenem einsamen Platze mit ihm zusammenzutreffen, aber nach einiger Ueberlegung sah sie davon ab. Sie kannte ihren großdenkenden Vater, ihre edle Mutter; wenn sie ihnen später die Wahrheit eingestand, nachdem sie ihr Werk vollendet und Leo den Mut zum Leben zurückgegeben hatte, würden sie ihr die Eigenmächtigkeit des Handelns und ihre Verschwiegenheit verzeihen! Bis dahin wollte sie es allein tragen, aber ein eigenes hoffnungsfreudiges Gefühl in ihrem Herzen sagte ihr, daß sie dieses Ziel erreichen, bald erreichen werde.

Von nun ab gingen sie beide täglich in der Dämmerstunde nach dem Gehölze, oft waren es nur ein paar Minuten, die sie bei einander standen, nur ein freundliches Wort, eine teilnehmende Frage, die sie tauschten, aber dieses kurze Beisammensein tröstete sie und wurde bald der Mittelpunkt, um den sich alle ihre Gedanken drehten. Er hatte ihr noch oft von trüben Erfahrungen zu erzählen, sie mußte noch sehr häufig Ausbrüche seiner Entmutigung, seiner Trostlosigkeit anhören, aber ihren beschwichtigenden Worten gelang es immer wieder, ihn aufzurichten, ihm Mut und Vertrauen zu einer besseren Zukunft einzuflößen.

Einmal brachte er ihr auch einen Brief mit, den ihm ein Studiengenosse, welcher in einer kleinen Stadt der Provinz praktischer Arzt war, geschrieben und der ihn wegen seines warmen Tones tief berührt hatte. Beim schwachen Scheine eines Wachszündlichtchens las er denselben „seiner Freundin“ vor, und sie fühlte die Thränen in die Augen schießen, nicht nur über den herzlichen Ausdruck dieser Jugendfreundschaft, sondern vor unendlicher Freude darüber, daß er sie seine Freundin nannte.

Das war aber auch das einzige Mal, wo er seinem Empfinden für sie Worte gab. Nie änderte sich der Ton ihres Verkehrs. Wie gute Kameraden, die ihres gegenseitigen Interesses sicher sind und deshalb keiner besonderen Versicherung in diesem Punkt gebrauchen, so gaben sie sich einander. Sie sah ihn vor dem Gehölze stehen und den Weg hinunterschauen, den sie kommen mußte, wenn sie aus dem Stadtthore trat, und wieder stand er da und bewachte ihre Schritte, wenn sie sich getrennt hatten. Daß er nicht mit ihr ging, war eine stillschweigende Vereinbarung zwischen ihnen, und auch als sie ihn einmal aufforderte, sie nach Hause zu begleiten und den Abend bei ihren Eltern zuzubringen, lehnte er es ab.

So waren wieder Wochen vergangen. Da, an einem Spätnachmittage, um die Stunde, in der Annie sonst ihren täglichen Ausgang machte, ging sie in ihres Vaters Zimmer, zog die Thür fest hinter sich zu und setzte sich zu ihm auf das Sofa. Als sie nach einer halben Stunde wieder heraus kam, waren ihre Augen gerötet, aber ein heller, hoffnungsfreudiger Ausdruck lag in ihren Mienen und erhöhte sich noch, als sie wenige Minuten später an der Seite ihres Vaters den alltäglich begangenen Weg hinunterschritt.

Herr Leo Brückner war nicht eben angenehm überrascht, als er die beiden Plötzlich vor sich sah. Er kannte den Oberst eigentlich sehr wenig, war dem „brummigen Alten“, wie ihn Fernstehende schlechtweg bezeichneten, immer gern ausgewichen, und bei der Menschenscheu, die ihn jetzt beherrschte, wäre ihm gewiß nie beigekommen, sich Annies Vater irgendwie zu nähern. Aber er war doch zu sehr Weltmann und fühlte es auch als notwendige Rücksicht gegen Annie, daß er mit keiner Miene diese Empfindung verriet und ihrem Vater auf dessen Gruß ebenso unbefangen hier auf der Landstraße, in dem Dämmerlicht des Wintertages, entgegentrat wie in den Salons, in welchen sie sich vordem begegnet waren.

„Sie machen auch einen Spaziergang, Herr Brückner?“ fragte der Oberst. „Meine Tochter erkannte Sie gleich, als ich kaum noch eine Gestalt zwischen den Bäumen sah. Ja, junge Augen, das ist etwas anderes! Uebrigens ein ungemütliches Wetter – wollte die Kleine erst gar nicht mitnehmen – bin hier nämlich gewissermaßen auf einem Dienstwege, da ich dort drüben in der Vorstadt die Ställe einmal selbst ein wenig revidieren wollte. Recht lange nicht gesehen, Herr Brückner! Ist Ihnen nicht gut ergangen in der Zeit? Na, das ist nicht anders im Menschenleben – einmal geht’s mit uns bergauf, das andere Mal bergab! Hat’s jeder erfahren, der sich das Leben schon eine Weile so mit ansieht. Thut auch nichts – es stärkt die Muskeln zum Kampfe! Sich nur nicht selbst verlieren – nur den Mut nicht sinken lassen – immer stramm die Hand ans Gewehr! Uebrigens, Herr Brückner, ich bin ja noch in Ihrer Schuld. Sie sind damals in Berlin so überaus freundlich meiner Bitte gefolgt, mich bei meiner Tochter zu vertreten. Die Kleine war ganz glücklich, daß sie auf diese Weise das Schönste, was die Residenz bietet, in den zwei Tagen sehen konnte. Aber höre einmal, mein Kücken, Du kannst umkehren. Dieser Ostwind gefällt mir für Dich gar nicht. Da Herr Brückner nur einen Spaziergang macht, ist es ihm gewiß recht, mit mir zusammenzugehen – also, marsch vorwärts, und sieh zu, daß die Jungen zu Haus ihre Schuldigkeit thun!“

Erst nach fast zwei Stunden kam der Oberst nach Hause, und der Bursche, der ihm die Thür geöffnet, meldete es Annie, die eben die letzte Hand an den gedeckten Theetisch legte.

„Mit dem Herrn Oberst ist noch ein junger Herr mitgekommen, aber nur in Civil – kein Herr Lieutenant“, setzte er hinzu.

„Mutterchen, hier bringe ich Dir einen Gast,“ rief der Oberst, [808] indem er die Thür zum Wohnzimmer aufstieß und Leo Brückner mit einer Handbewegung hinein nötigte. „Sieh her, ein alter Bekannter – darum auch besonders willkommen!“ Und während Leo nun Frau von Giersbach und Annie begrüßte und die Knaben aus ihrer Stube neugierig die Köpfe hereinsteckten, frug er behaglich: „Was kriegen wir zu essen? Wir sind mordshungrig nach dem langen Spaziergang. Geh’, Annie, revidiere einmal die Speisekammer und fahre auf, was Du drin hast! Und, höre einmal, eine Flasche Rum auf den Tisch – wir sind durchgefroren – mag das fade Zeugs von Thee heute nicht – wollen uns einen steifen Grog brauen, nicht wahr, Herr Brückner, wie sich das für Männer gehört!“

„Wir kriegen auch Rum,“ rief der jüngste der Giersbachschen Sprößlinge, „nicht wahr, Papa? Wir sind auch ‚Männer‘ – bloß die Annie kriegt nichts.“

„Du wirst gleich was anderes kriegen, Schlingel,“ rief der Vater gutgelaunt und schüttelte den Jungen herzhaft, „was hast Du hier zu suchen? Hast Du schon Dein Exercitium fertig? Nicht? Vorwärts – ’raus mit Dir!“

Bald ging es ins Speisezimmer. Papa hetzte erst noch ein wenig sein Töchterchen herum, aber dann war er zufrieden.

„Sehen Sie,“ sagte er, „nun geht’s schon: Kartoffelsalat, Spickgans und Hasenbraten, na – und da ist ja auch noch eine Wurst! Reiche mir die nur her, Mütterchen, die werde ich tranchieren! Für Eure Frauenzimmer-Häppchen habe ich heute keine Passion. Und was – da ist ja auch Remoladensauce! – ei, sieh einmal, Kleine, Du hast Dich ja heute gewaltig herausgemacht! Ja, denken Sie nur nicht, Herr Brückner, daß es mir immer so gut geht; daß sich meine Damen so anstrengen, ist nur Ihnen zu Ehren.“

So ging’s weiter – Leo Brückner traute gar nicht seinen Augen und Ohren. War das der brummige Alte, der sich hier in seinem Hause so launig, so behaglich und so gemütlich gab? Und mit welcher Herzlichkeit er den Wirt machte – freilich, ein bißchen diktatorisch ging er dabei vor. Als er sah, daß Annie nur so des Scheines halber ein Stückchen Fleisch genommen und daran herum pickte wie ein Vogel, lud er trotz ihrer Gegenreden eine ganz kräftige Portion auf ihren Teller ab und befahl einfach: „Das wird ohne Murren aufgegessen – verstehst Du?“ Auch Grog mußten seine „Weibsen“ trinken, es half ihnen nichts, daß sie sich wehrten: und bald machte sich die Wirkung dieses ungewohnten Getränkes geltend und bei der kleinen Tafelrunde herrschte eine solch’ vergnügte Stimmung, daß des Lachens kein Ende war. Nach Tische kommandierte der Oberst die Knaben zum Gute-Nacht-Kompliment – der Kleine eroberte sich sogar noch einen harmlosen „Katzenkopf“, weil er infolge des halben Theelöffels Rum nicht gerade marschieren konnte – und dann sagte er mit einem wohlbehaglichen Schmunzeln: „Nun kommen Sie, junger Freund, und zünden Sie sich eine Cigarre an, ja – meine Frau erlaubt’s, trotz der frisch gewaschenen Gardinen! Das ist nun meine beste Stunde! Jetzt setze ich mich zu ihr aufs Sofa, rauche meine Cigarre, manchmal werden es auch zwei oder drei, und trinke meinen Abendtrunk. Nun, Annie, wo ist der Mosel?“ – und auf einen fragenden Blick seiner Tochter – „natürlich erste Sorte, wenn man einen lieben Gast hat!“

Und wie er das klare Naß in die Gläser schenkt, fährt er fort: „Sehen Sie, dieses ist ein ganz schöner Tropfen, der läßt sich schon trinken. Sonst ist mein Abendtrunk ein ,Surius‘ für achtzig Pfennige,“ und mit einem neckenden Blick auf seine Frau, „meine Frau giebt mir keinen anderen, da muß ich mir schon einen Gast einfangen, wenn ich einmal den da trinken will.“

„Aber, Papa,“ sagt da Frau von Giersbach und errötet ganz tief, was ihr ein ordentlich jugendliches Ansehen giebt, „aber, Papa, wie machst Du uns heute schlecht! Wirklich, Herr Brückner wird noch glauben, daß –“

„Der alte Giersbach von seiner jungen, hübschen Frau pantoffelt wird,“ lacht mit dröhnendem Basse der Oberst. „Na, sieh einmal, Mütterchen, dann trifft er doch nur den Nagel auf den Kopf! Was hilft das Verstellen, in der Stadt wissen es schon alle Menschen!“

Und in diesem heiteren Ton verlief der ganze Abend. Sie kamen wohl auch auf etwas Ernstes zu sprechen – ab und zu guckte einer in die Abendzeitung und das gab dann Stoff zu einem neuen eingehenden Gespräch, aber immer sahen sie die Welt und alle Geschehnisse milde und menschenfreundlich an, hofften bei jeder zweifelhaften Frage die friedlichste Lösung, gönnten jedem das Beste und freuten sich des Glückes, das anderen geworden war.

Als Leo nach Hause ging, trug er das Gefühl mit fort, um eine wirklich wertvolle Erkenntnis reicher geworden zu sein.

Nein, sagte er vor sich hin, die Welt ist nicht so schlimm, wenn es noch solche Menschen darin giebt! Und wenn solche Menschen mich nun trotz alledem nicht aufgeben, sondern noch ihrer Freundschaft wert halten, dann müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich es nicht fertig brächte, mich dieser Freundschaft noch einmal würdig zu zeigen! (Fortsetzung folgt.)


Mehr Ruhe!

Ein hygieinischer Mahnruf von Dr. A. Kühner.

Die fortschreitende Kultur hat namentlich in den Städten das Leben und Treiben der Menschen von Grund aus umgewandelt. In dem steinernen Häusermeer regt sich der emsigste Gewerbefleiß und durch die weiten Straßen flutet der rascheste Verkehr. Dahingeschwunden ist die Beschaulichkeit der guten alten Zeit, das neue Geschlecht lebt und arbeitet mit früher unbekannter Hast. Dabei tritt es geräuschvoller auf. Wo einst der biedere Schmied seinen Hammer schwang, saust jetzt dröhnend der Dampfhammer nieder; wo einst langsam die wackeren Fuhrknechte die schwerbeladenen Wagen zu den Thoren der Stadt geleiteten, fahren jetzt schnaubend die donnernden Züge der Eisenbahn aus und ein. Lärm, immer lauter werdender Lärm ist ein steter Begleiter der großen Wandlungen im Verkehr und in der Industrie, denen wir so viele Wohlthaten verdanken. Er ist aber eine der Schattenseiten der Kultur, ein zudringlicher Gesell, vor dem man sich nicht schützen kann, der selbst durch geschlossene Fenster dringt und uns in unserm Heim belästigt. Wer von den Einwohnern unserer Großstädte klagt nicht über Straßenlärm? Er stört den Kaufmann, der seine Ware feilbietet und vor Wagengerassel sich mit den Kunden kaum zu verständigen vermag; vor allem aber ist er unerträglich für das große Heer der geistigen Arbeiter, die gerade in den Großstädten schaffen müssen, für die Beamten, die rechnen und schreiben, für die Bureauarbeiter und Gelehrten und für alle, die lehren oder lernen müssen. Indem der Lärm Hunderttausende im Arbeiten stört, ihnen die nötige Ruhe und Sammlung raubt, wird er zu einem Feinde der Gesundheit; er ist eins jener schädlichen Momente, durch welche die Menschen mehr und mehr nervös werden.

Es ist darum eine beachtenswerte Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege, diesem Uebelstand in unserm großstädtischen Leben abzuhelfen. Freilich wird es niemals gelingen, den Lärm gänzlich von der Straße zu bannen, aber seine schlimmsten Auswüchse lassen sich wohl ausmerzen, so daß jenes Uebel wenigstens zu einem erträglichen wird. So kann z. B. der hauptsächlichste Ruhestörer in den Städten, das unaufhörliche Wagengerassel in verkehrsreichen Straßen, durch Einführung eines besseren, zweckmäßigeren Pflasters, z. B. des Asphaltpflasters, bedeutend gemindert werden.

Ueber geräuschloses Pflaster als Forderung der Gesundheit haben sich namhafte Aerzte ausgesprochen; v. Ziemssen sagt in einer Rede, welche die Begriffe „Uebung und Schonung“ behandelt: „Ganz besonders angreifend für das arbeitende Nervensystem ist Unruhe und Geräusch in der Umgebung, insbesondere das Wagengerassel auf den Straßen. Die wechselnde Erschütterung, welche die Gehörnerven immer von neuem trifft, wirkt auf das arbeitende Gehirn für die Dauer geradezu erschöpfend. Es ist deshalb wenigstens für die Großstädte die Beschaffung geräuschlosen Pflasters nicht mehr allein Sache finanzieller Erwägung, sondern eine eminent praktische Forderung der öffentlichen Gesundheitspflege, eine nervenhygieinische Notwendigkeit. Wer die Ruhe und Stille, in welcher sich der Verkehr in den asphaltierten Straßen der Reichshauptstadt abwickelt, in rascher Aufeinanderfolge vergleicht mit dem markerschütternden Gerassel

[809]

Schwarzwild im Schnee.
Nach dem Gemälde von C. Zimmermann.

[810] in den Straßen Hamburgs und Kiels, der wird wohl nicht mehr zweifeln, für welches Pflaster die Gemeindevertretungen sich zu entscheiden haben. Die Großstädte von heute gleichen nervösen Individuen, deren Nerven geschont werden müssen, wenn sie den wachsenden Anforderungen gegenüber leistungsfähig bleiben sollen.“

In ähnlichem Sinne hat sich auch die bekannte englische Zeitschrift „The Lancet“, eines der besten medizinischen Fachblätter, ausgesprochen. Dort heißt es: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß der in unsern Großstädten herrschende Lärm die Lebenskraft unseres Körpers untergräbt und das Leben abkürzt. Jede Reizung der Hörnerven reizt die Thätigkeit des Herzens, und eine übermäßige Wiederholung oder ungebührliche Stärke dieser Herzthätigkeit stellt steigende Ansprüche an die Lebensfähigkeit unseres Körpers. Unsere Fürsprache für ein geräuschloses Pflaster geht nicht etwa aus einem Verlangen nach einem wünschenswerten Luxus, sondern vielmehr aus der auf physiologischen Thatsachen gegründeten Ueberzeugung hervor, daß Ruhe für den Körper ebenso notwendig ist wie Schlaf oder Bewegung. Selbst aber, wenn man versuchte, sich gegen den Straßenlärm durch Schließen der Fenster zu schützen, so ist doch die Erschütterung der Häuser bei Granit- oder ähnlichem Pflaster nicht zu beseitigen; und auch diese macht den Aufenthalt in Häusern an verkehrsreichen Straßen geradezu unerträglich.“

Diesen Anforderungen der Gelehrten gegenüber ist es für Gemeinde-Verwaltungsbehörden etc. von großer Wichtigkeit, zu wissen, daß dort, wo gutes und billiges Steinmaterial nicht gerade in der Nähe zu haben ist, sich das Asphaltpflaster nicht unerheblich billiger stellt als Steinpflaster bester Beschaffenheit, welches allein mit jenem in Vergleich gezogen werden kann. Wenn man sich in den verkehrsreichen Großstädten so lange jenen nervenerschütternden, bis zur Unerträglichkeit gesteigerten, vom frühen Morgen bis zum späten Abend währenden Lärm, welchen der unaufhörliche Fuhrwerkverkehr auf Steinpflaster verursacht, hat gefallen lassen, so lag der Grund davon wesentlich darin, daß man es eben nicht anders kannte, daß man sich an diesen Lärm von Jugend auf gewöhnt hatte, ihn als ein unvermeidliches Uebel betrachtete. Nachdem indes der Beweis erbracht worden, daß dieser Lärm sich sehr wohl vermeiden läßt, wird zunächst wenigstens in den Großstädten die Forderung der Beseitigung des Steinpflasters nicht eher verstummen, als bis dem berechtigten Verlangen der Bevölkerung Rechnung getragen worden ist. Der Kostenpunkt kann in einer für das Wohlergehen der gesamten Bevölkerung so ungemein wichtigen Frage nicht ausschlaggebend sein.

Geräuschloses Pflaster bildet eine unerläßliche Forderung an den für Ruhe- und Kurbedürftige bestimmten Aufenthaltsorten, wo die Bedeutung der Gesundheit und deren Erhaltung die Grundbedingung des öffentlichen Lebens und Verkehrs bilden muß. Ich war ungemein überrascht, auf meinen Reisen wahrzunehmen, daß in kleineren, ja selbst in großen, von In- und Ausländern vielbesuchten Kurorten jenen Anforderungen nicht entsprochen wird, gewiß nicht zum Vorteil derselben und aller Beteiligten.

Einen unerträglichen Lärm, ein Getöse, das „Stein erweichen, Menschen rasend machen kann“, bildet das Abmeißeln von Trägern und Eisenschienen bei Neubauten. Auch dieser Uebelstand ist nicht etwa unvermeidbar, sondern, wie ich erst neuerdings in Frankfurt a. M. bei der Veranlagung von Geleisen der Straßenbahn in Erfahrung gebracht habe, abstellbar, indem große Maschinen das Bohren und Abtrennen der Schienen geräuschlos besorgen. Auch aus Rücksicht auf die Gesundheit der mit dieser Handarbeit zu Beschäftigenden muß der Arzt auf Maschinenarbeit drängen. Alle diese Arbeiter werden mit der Zeit taub. Ich habe in Frankfurt bei derartigen Klagen der Anwohner bezügliche Anträge bei der Polizeibehörde gestellt, die in allen Fällen sofort Abhilfe geschafft hat.

Eine oft recht unangenehme Ruhestörung verursachen ferner verschiedenartige Maschinen unsrer Industrie. Vieles auf diesem umfangreichen Gebiete harrt allerdings noch der Vervollkommnung und es steht zu erwarten, daß die Möglichkeit gegeben wird, noch manche Erfindungen mit der Zeit so zu vervollkommnen, daß ihr Betrieb weniger geräuschvoll und lärmend sich vollzieht. Manches zur Abhilfe ist bereits geschehen. Ich erinnere hier nur an den durch Eintönigkeit und Heftigkeit ungemein belästigenden Lärm der Auspuffmaschinen, eine Belästigung, die in Erholungs- und Heilstätten, in der Nähe von Krankenhäusern durchaus nicht geduldet werden soll. Anwohner, deren Ruhe durch solche Maschinen gestört wird, mögen bei der zuständigen Behörde wegen Abstellung vorstellig werden, da Schalldämpfer erfunden sind, welche jenen durch den ausströmenden Dampf erzeugten Lärm geräuschlos machen.

Einschränken, wenn auch nicht völlig beseitigen läßt sich auch das Signalisieren mit der Dampfpfeife, mag dies im Eisenbahnverkehr oder in Fabriken geschehen. Ueber den durch Signalisieren mit der Dampfpfeife einer Fabrik die Anwohner störenden Lärm liegen bereits gerichtliche Erkenntnisse vor, nach welchen Abstellung verfügt worden ist, da der Sachverständige mit Recht begutachtet hat, daß dieser Lärm den Gesundheitszustand Nervöser in der Nachbarschaft zu stören geeignet sei. Als lästiger Straßenlärm ist auch das Musizieren bei offenem Fenster zu betrachten.

Es giebt musikalische und unmusikalische Menschen. Wenn selbst musikalische Leistungen in Bezug auf Raum und Zeit innerhalb gewisser Grenzen zu halten sind aus Rücksicht auf die Gesundheit, so gilt dies noch mehr für unmusikalische. Das Ableiern von Tonleitern, das gedankenlose, jämmerliche Getrommel, Geklimper auf dem Klavier kann eine Qual für die Anwohner werden. Nach uns vorliegenden Erkenntnissen der Gerichte[1] ist das Klavierspiel bei offenem Fenster auch während des Tages als grober Unfug anzusehen – selbst wenn es vollkommen ordnungsmäßig geschieht, ohne daß auf dem Instrumente Mißtöne irgend welcher Art hervorgebracht werden – falls dadurch die Nachbarschaft belästigt und in der Ausübung ihres Berufes gestört wird.

Die Ruhe von Städten und Dörfern wird oft bei Tag oder Nacht durch das schon von Schopenhauer in einer langen Epistel gerügte Peitschenknallen empfindlich gestört. Daß diese Gepflogenheit ganz unnütz ist, erweist das Verbot des Führens von Peitschenschmitzen (Treibschnuren, Fitzerle) gerade in Städten, in denen am meisten, raschesten und sichersten gefahren wird, in London, Paris, Wien. Dort geschieht das Ausweichen durch ortsübliche Zurufe und Anzeichen, und diese Gewohnheit hat sich vollkommen bewährt. Bereits sind andere große Städte diesem Beispiel gefolgt. In manchen Kurorten findet man Tafeln, an welchen geschrieben steht, daß das „unnötige“ Peitschenknallen im Orte verboten ist. Lichtenberg, der bekannte satirische Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, sagt in den „Nachrichten und Bemerkungen von und über sich selbst“: „Ich bin außerordentlich empfindlich gegen alles Getöse, allein es verliert ganz seinen widrigen Eindruck, sobald es mit einem vernünftigen Zweck verbunden ist.“ Ich kann diesen Aussprnch voll aus eigener Erfahrung bestätigen, indem das heftigste Lärmen, wenn der Zweck desselben unvermeidbar ist, mich nicht so stört wie das unvernünftige Peitschenknallen.

Es giebt noch viele andere Gepflogenheiten, die in den Straßen der Städte ungebührlichen Lärm verursachen und leicht entbehrt werden können. Die Beseitigung derselben dürfte um so leichter gelingen, als verschiedene deutsche Gerichte den Lärm als gesundheitsschädlich bezeichnet haben.

Manche unserer Leser werden derartige Forderungen für übertrieben halten. Es giebt abgehärtete Menschen, die in Bezug auf Lärm und Ruhestörung unempfindlich sind gegen jede derartige Beeinflussung. Solche harte gefestigte Naturen verstehen Personen mit Nerven nicht zu beurteilen. So wie wir unseren Körper abhärten, widerstandsfähig machen gegen äußere Einflüsse mannigfacher Art, ebenso gelingt es auch mitunter in seelischer Beziehung. Viele große Männer legen hiervon Zeugnis ab. Goethe, bei dem alles so wahr, tiefdurchdacht und selbstbeobachtet ist, sagt anläßlich seines Studentenlebens in Straßburg: „Ich befand mich in einem Gesundheitszustand, der mich bei allem, was ich unternehmen wollte und sollte, hinreichend förderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ. Ein starker Schall war mir zuwider ... Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das Herz im Busen hätten zersprengen mögen.“

Man muß ein Mensch von Kraft und Frische wie der junge Goethe sein, um die Reizbarkeit der Nerven gegen störende Gehörserregungen in dieser Weise zu bekämpfen. Die Aerzte haben sich entschieden der Nervenschwachen anzunehmen, die nur zu oft und zu leicht als „eingebildet krank“ betrachtet und verlacht werden. Nur wenige [811] sind imstande, durch Willensstärke eine solche Schwäche zu besiegen. Ihnen allen diene zum Trost die Erfahrung, daß im zunehmenden Alter diese Reizbarkeit mit allen ihren unangenehmen Begleit- und Folgeerscheinungen für körperliches und geistiges Befinden oftmals wesentlich abnimmt, selbst vollständige Heilung erfahren kann.

Für viele besonders nervöse Personen ist ferner die Frage von Interesse, ob nicht Vorrichtungen zu beschaffen sind, um dem arbeitenden oder ruhenden Menschen Schutz vor störenden Gehörserregungen zu gewähren. Man hat mit großem Eifer nach mechanischen Mitteln gesucht, um das Verschließen des Gehorganges auf einfache und sichere Weise zu bewerkstelligen. Am meisten leisten hier der Größe des Gehörganges angepaßte Gummipfropfen. Watte, Wachs, Kakaobutter, gekautes Papier oder andere Stoffe zu diesem Zweck zu gebrauchen, ist nicht nur unnütz, indem der Abschluß nur sehr oberflächlich gelingt, sondern auch gefährlich. Die Ohrenärzte wissen vielfach von langwierigen Leiden zu berichten, die durch gelegentliches Liegenbleiben von Bruchstücken derartiger fremder Körper im Gehörgang entstanden. Am verbreitetsten ist das von Hauptmann a. D. Plessner in einer Schrift empfohlene oder das Böttchersche Antiphon (bestehend in einer stählernen Kugel mit kleinem Anker), das bei sorgfältiger Auswahl der dem Gehörgang entsprechenden Größe Vorzügliches leisten kann. Dasselbe wird von der Optischen Jndustrieanstalt in Rathenow angefertigt und ist bei den meisten Instrumentenmachern käuflich zu haben.

Daß Aerzte eine Vervollkommnung auf diesem Gebiete erstreben und anerkennen, ergiebt sich aus der Thatsache, daß vor kurzem Professor O. Rosenbach in Breslau diese Frage in Fachzeitschriften erörtert hat. Er empfiehlt, ein kleines Stück Verbandwatte mit Vaseline so stark als möglich zu tränken und daraus eine gleichmäßige Masse zum Ohrenverschluß zu formen, die, an beiden Enden etwas zugespitzt, Schallreize vom Ohr einfach und sicher fern hält. Dieser Cylinder darf weder zu dick noch zu dünn, noch zu lose gerollt sein, und es ist am besten, ihm einen etwas geringeren Umfang als den des eigenen kleinen Fingers zu geben, der gewöhnlich den Gehörgang ausreichend verschließt.

Wenn der Lärm den Grundton in unserer an Leistungen und Fortschritten so reichen Zeit bildet, so muß die Ruhe vor allem an jenen Stätten zu finden sein, die man vornehmlich zur Stärkung der Gesundheit aufsucht. Sommerfrischen, Bäder, Erholungs- und Heilstätten mögen die Ruhe als erstes und wichtigstes Haus- und Heilmittel betrachten, das sie dem Gast zu bieten haben, als ein Erfordernis, das ebenso wichtig ist wie Obdach, Speise und Trank, Reinlichkeit und alle Bedingungen von gesundem Leben.

Als Arzt, der sich vielfach mit Nervösen zu beschäftigen hat, darf ich diese Betrachtung nicht schließen, ohne auf ein Heilverfahren hinzuweisen, welches für reizbare Nerven gewissermaßen ein Universalmittel bildet, indem es, wie kein anderes, vor Lärm schützt und die sicherste Gewähr für Ruhe bietet. Es giebt hochgradig Nervöse, welche in unserer geräuschvollen, lärmenden Zeit nach Abhilfe verlangen. Verweist man sie aufs Land, so wird das Uebel, wenn das Erfordernis der Ruhe nicht allseitig gegeben ist, noch verschlimmert. Manche ertragen die „tödliche Langeweile“ des Landlebens nicht und ergeben sich dort schädlichen Gewohnheiten. Nun rät man zum Reisen. Aber die Erschütterungen des Eisenbahnfahrens, das Lärmen, Stoßen und Drängen der geschäftigen Leute auf den Bahnhöfen, der meist ruhelose Aufenthalt in den Hotels läßt Abhilfe nicht zu. Solchen von reizbaren Nerven Geplagten, die oft auf der Grenze von Gesundheit und Krankheit stehen, bisweilen aber dieselbe bereits überschritten haben, empfehle ich die Seefahrt als bestes Rettungs- und Heilmittel, ein Verfahren, das in Deutschland noch lange nicht in seiner Bedeutung erkannt worden ist. Eine Oceanfahrt von mehreren Wochen oder Monaten wirkt wunderbar umstimmend und heilsam auf die Nerven. Ein Vorversuch muß freilich feststellen, daß man nicht zu große Neigung zur Seekrankheit hat.

Dieses Heilmittel ist jedoch nur für wenige erreichbar, und es ist auch besser, danach zu streben, daß die Ausbildung nervöser Leiden verhütet werde. Ein wichtiges Mittel hierzu ist die Beschränkung des überlauten Lärms in unseren Städten. Mehr Ruhe! – Dieser Mahnruf sollte im Interesse der Gesundheit nirgends ungehört verhallen!


Die Wasserwunder von Plitvice.

(Zu dem Bilde S. 813.)

Es giebt noch heute Entdeckungsreisende in dem alten Europa. Die Touristen sind es, die mit Ränzel und Stab von den vielbegangenen Verkehrsstraßen ablenken und in Gebirge eindringen, um dort stille Thäler und schöne Landschaften aufzufinden. Mitunter gelingt ihnen das Vorhaben, sie überraschen die Welt durch Schilderungen des Geschauten und bald folgt den Pionieren der Schwarm der Sommerfrischler. Erst im vorigen Jahre haben wir unseren Lesern von der in den letzten Jahrzehnten für weitere Kreise erfolgten Erschließung der wundervollen Landschaft von Madonna di Campiglio berichtet (vergl. Jahrg. 1895, S. 654). Eine ähnliche „Entdeckung“ hat man auch in Kroatien gemacht. Zwischen den Bergzügen Kapella und Pljeschewiza, nahe an Bosniens Grenze, liegt eine Landschaft von märchenhafter Schönheit versteckt. Die Natur hat dort dem Gebirge den wilden zerklüfteten Karstcharakter aufgeprägt, sie hat aber dabei seine Hänge und Thäler mit dem grünen Mantel stiller Urwälder geschmückt und die Hochthäler und Schluchten mit Wasserspielen belebt, wie man ihresgleichen auf Gottes weiter Erde kaum wieder finden kann. Es sind dies die „Plitvicer Seen“, welche zu den herrlichsten Perlen des an Naturschönheiten so reichen Königreichs Kroatien zählen. Inmitten malerischer Bergzüge liegen auf eine Strecke von 8 km zerstreut nicht weniger als 13 Seen, die terrassenförmig übereinander angeordnet und durch 30 größere und zahllose kleinere Wasserfälle miteinander verbunden sind. Einige dieser blauen Seen sind dabei recht stattliche Gewässer, erreicht doch der größte von ihnen, der Kozjak, bei einer Breite von 600 m eine Länge von 3 km; andere, wie der Okrugliak und Milanowac entzücken durch die Lieblichkeit ihrer Ufer. Und wie malerisch wirkt die Anordnung der Seen! Beträgt doch der Höhenunterschied zwischen dem obersten und untersten dieser herrlichen Wasserbecken beinahe 200 m! Eine Wanderung an den gebirgigen Ufern derselben, inmitten der tiefsten Waldeinsamkeit, bietet dem Auge stets neue, wechselvolle Aussichten; denn diese Ufer sind vielgegliedert und zerklüftet, bald spiegeln sich heitere Buchen, bald düstere Fichten, bald wieder kahle, malerisch geformte Felsen in ihren Fluten. Ueberdies weisen diese Becken ein geradezu wunderbares Farbenspiel auf. Das eine strahlt klar und rein in der Bläue des wolkenlosen Himmels, das andere schillert in grünen, das andere wieder in gelben Tinten, während der oberste See die fahle graue Farbe der Karstgewässer aufweist.

Aber damit ist diese unglaubliche Wasserpracht nicht erschöpft, zwischen den Seen tost und braust, fließt und rieselt es an hundert Orten; Wasserfall reiht sich an Stromschnelle, und was die Natur sonst auf meilenweit voneinander entfernte Thäler und Schluchten zerstreut hat, das findet sich hier an einem Orte vereint. Alle Abarten der Wasserfälle bieten sich dem Auge dar. Hier stürzt das Wasser mit elementarer Gewalt in mächtigen Kaskaden in die Tiefe, dort entfaltet sich ein prächtiger Schleierfall neben einem Schnurfall und dort wieder tobt ein Sturzbach neben einem Staubbach. In stillen Buchten kann man dem Murmeln winziger Gewässer lauschen, und bald darauf steht man vor mächtigen Wasserfällen; stürzt doch der zweigeteilte Plitvicer Fall donnernd 78 m in die Tiefe! Und wie wundervoll ist eine Kahnfahrt auf diesen Seen! In der Flut sieht man Forellen in überraschender Fülle dahinhuschen, auf dem felsigen Grunde sitzen Scharen von Krebsen, hier ist noch ein Paradies der Angler in unberührter Frische. Der Kahn gleitet an Grotten vorüber, in deren lauschiger Stille Nymphen sich wohl fühlen würden, erreicht Inseln, die, vom grünen Wiesenteppich überzogen, mit Baum und Busch gekrönt, zum Ruhen und Träumen einladen. Dabei der wunderbare Frieden, die tiefe Abgeschiedenheit vom Lärm der Welt! Weit und breit erblickt man hier keine menschliche Ansiedlung und bis vor kurzem kannten nur kroatische Hirten Weg und Steg über Wald und Berg zu diesen Wasserwundern von Plitvice!

Nicht immer waren jedoch diese Seen so einsam, so weltvergessen. [812] Alte Trümmer auf der Stephanie-Insel im Kozjaksee deuten darauf hin, daß in früheren Zeiten die Römer diese prächtige Landschaft wohl zu würdigen verstanden und an den Ufern der Seen Villen gebaut haben. Plitvice war wohl damals ein berühmter Kurort. In den Wogen der Völkerwanderung brach die alte Kultur zusammen; die rohen Einwanderer schwärmten nicht für Naturschönheiten; das Seegebiet blieb unbeachtet; lag es doch auch an der unruhigen Grenze von der Türkei. Der Staat verwaltete die weiten Waldungen, Grenzoffiziere machten hin und wieder einen Ausflug zu den von geheimnisvollen Sagen umgebenen Gewässern, und sie waren es, die dort an den Ufern des Kozjak den ersten Unterkunftsort, das sogenannte Touristenhaus, bauten. Im Jahre 1888 besuchte die Kronprinzessin Stephanie das herrliche Seegebiet; eine Zeit lang stand es im Vordergrunde des Interesses für das österreichische Publikum, wurde aber wieder vergessen, bis im Jahre 1893 ein „Verein zur Hebung der Plitvicer Seen in Agram“ gegründet wurde. Dank seiner Thätigkeit wurde neben dem alten Touristenhause ein Hotel errichtet, das, mit großstädtischem Komfort ausgestattet, vierzig Fremden Unterkunft bieten kann. Ein Badehaus giebt Gelegenheit für Erfrischung in den durchsichtigen Fluten des Sees; man schuf Parkanlagen, sorgte für Anlage von Wegen und Brücken. Der Leser, der sich dafür mehr interessiert und einen Ausflug in jenes schöne Land unternehmen möchte, findet nähere Auskunft in dem soeben erschienenen interessanten Büchlein „Die Plitvicer Seen“ von Stefan v. Buchwald (A. Reinhards Verlag, Fiume). So wird Plitvice wieder zu einem Kurort. Für unser verwöhntes Publikum ist es allerdings nicht leicht zu erreichen; es liegt noch immer 75 bis 100 km von der nächsten Dampfer- oder Eisenbahnstation entfernt. Man plant darum, einen Schienenweg in die Urwaldeinsamkeit zu legen, und will auch die Wasserfälle zur Erzeugung der Elektrizität zwingen. Die Wasserwunder von Plitvice werden sich später in elektrischer Beleuchtung wohl märchenhaft ausnehmen, aber von unvergleichlicher, poesievoller Schönheit erscheinen sie schon heute dem Auge, wenn der Mond über der einsamen Berglandschaft aufgeht. Dann fühlt sich der Beschauer in eine eigenartige Welt versetzt; geisterhaft schimmern die Felsen und geisterhaft rauschen die Fälle; die alte Sage wird lebendig und raunt von einer „Schwarzen Königin“, die nach dem Volksglauben einst diese Seen mit ihren Wundern geschaffen hat. J. S.     


Kinderfüßchen.

Novelle von Victor Blüthgen.

      (Schluß.)

Frau von Einsiedel war wieder genesen. „Jetzt muß man ein Ende machen,“ wiederholte sie sich unaufhörlich. „Gerade jetzt vor Weihnachten, wie schwer es auch ist, wie hart es aussieht! Denn einmal muß das Ende doch kommen. Er wird die Kinder mit Geschenken überschütten – wenn nicht um ihretwillen, so um meinetwillen. Er knüpft Verpflichtungen zu einem Netz über mich – es ist eine Feigheit, wenn ich das dulde. Ich will es zerreißen, ich muß es zerreißen. Ich muß den Mut dazu finden. Meine Kinder werden zwei Weihnachtsstuben haben: eine üppige, verschwenderische unten, eine ärmliche oben, bei ihrer Mutter. Das geht nicht. Darauf muß man sich stellen, um ihm verständlich zu machen, weshalb man ihm die Kinder nimmt. Man braucht keinen andern Grund zu nennen. Wenn ich die Kinder wieder für mich allein habe, so habe ich freie Hand gegen ihn – wir werden einander fremd, wie wir’s waren, als mich das Verhängnis trieb, jenen unglücklichen Brief zu schreiben …

Warum mußte ich hierher ziehen?

Ich suchte Frieden, und nun kämpfe ich – nach außen – in mir …

Vor Weihnachten muß es geschehen; er soll doch nicht erst für die Kinder einkaufen!“

Ein echter Dezembermorgen war’s, das Licht, das durch das breite Eckfenster der Berliner Stube fiel, so grau gedämpft, daß es zuerst die Augen des Doktor Hartmann auf sich zog, als er früh eintrat. Das Fenster war von oben bis unten dick zugefroren. Aber das Zimmer war warm, und die Lampe über dem Frühstückstisch leuchtete einladend, und auf dem Teller, da lag ein Brief.

Es gab einen Schlag an das Herz: das lange, schmale, lichtgrüne Couvert … er schellte erst … dann wandte er es um, und da war auch das Silbermonogramm.

Er starrte in die Flamme, mit abwesendem Blick … eine fatale Ahnung sprach unverständlich aus ihn ein. Da kam die Frau Fricke und trug den Thee auf.

„Wer hat den Brief da gebracht?“

„Das Kindermädchen von oben, Herr Doktor!“

„Es ist gut.“ Er hätte sich das selber antworten können, der Brief war ohne Marke.

Frau Fricke sagte sich: er ist schlechter Laune, und beeilte sich, zu verschwinden. Doktor Hartmann nahm Platz und riß das Couvert auf. Erst mußte er diesen Brief lesen, mochte drin stehen, was wollte.

  „Sehr geehrter Herr Doktor!
So schwer es mir wird – ich muß Ihnen diesen Brief schreiben; zu meiner inneren Befreiung. Versuchen Sie, mir nicht allzusehr zu zürnen über das, was ich sage.“

„Das fängt gut an,“ preßte der Doktor durch die Zähne.

„Wie glücklich Sie auch meine älteren Kinder durch die gütige Art gemacht haben, wie sie sich ihrer angenommen, wie dankbar Ihnen mein Mutterherz dafür ist – ich leide darunter, schwerer als ich möchte. Abgerechnet den verzeihlichen Egoismus der Mutter, die sich gern den ersten Platz in den kleinen Herzen sichern möchte – diese Teilung der Kinder zwischen uns führt zu Konsequenzen, die eine Pein für uns beide sind. Wäre ein unbefangener Verkehr zwischen uns möglich, so würde ich diesen Brief nicht geschrieben haben: Sie wissen, warum ich das bezweifeln muß. Meine Zukunft ist abgeschlossen, ich wünsche mir nichts, als in Frieden meine Kinder erziehen zu dürfen; wenn Sie meine Lebenserfahrungen kennen würden, so würden Sie das begreifen und billigen. Ich will es – und ich muß es!

Glauben Sie mir das aufs Wort hin.

Ich bitte Sie, sich keinerlei Depensen für die Kinder zum Fest aufzuerlegen. Lassen Sie mich die Festtage benutzen, um meine Kinder wieder oben zu fesseln – es ist die beste Zeit dafür – und lassen Sie es meine Sorge sein, sie von Ihnen abzulösen, ohne daß eine Frage oder ein Vorwurf für Sie in ihren kleinen Herzen zurückbleibt. Sie sollen bei zufälligen Begegnungen die alte Zuneigung bei ihnen vorfinden.

Wenn Sie mir und meiner Zukunft Gutes wünschen, so verwinden Sie mit gutem Willen, was nicht zu umgehen ist … Jeder Versuch, es zu ändern, wäre nichts als eine Qual für mich. Ihre
Helene von Einsiedel.“ 

Doktor Hartmann sah sehr verstört aus, als er die beiden kleinen Bogen aus der Hand legte. Aber er biß die Zähne aufeinander. „Ich will Dich quälen!“ sagte er leidenschaftlich. „Ich will nicht auf Jahre hinaus verlumpen und vertroddeln, weil das Weib, das zu mir gehört wie mein Kopf und mein Arm, vor mir flüchtet! Was das für Marotten sind, verstehe ich nicht … aber das ist kein Abschiedsbrief. Du hast von dem Trank getrunken, schöne Frau, der selig oder verdammt macht, und ich bin Dein Schicksal...“

Er frühstückte hastig, zerstreut, las zwischendurch den Brief noch zweimal. Und er murmelte: „Meine Kinder … meine Puppen … Weihnachten ohne mich …“

Er wußte, was er thun würde.

Er ging zum Schreibtisch und schrieb eine Antwort:

  „Gnädigste Frau!
Ich werde Ihnen den Uebergang erleichtern: morgen verreise ich auf ein Vierteljahr nach dem Süden.

Allein jeder, der geköpft werden soll, hat das Recht auf drei Dinge. Erstlich: genau zu wissen, weshalb er verurteilt ist. Zweitens: Abschied zu nehmen von denen, die ihm am nächsten stehen. Drittens: auf ein Henkersmahl.

Ich will mein Recht.

Fanden Sie den Mut, mir diesen Brief zu schreiben, so müssen Sie auch den haben, mich noch einmal zu sehen. Ich will nichts als eine Auskunft, ein Lebewohl und – Ihnen die Hand küssen, die mich schlägt!       Der Ihrige  
Doktor Hartmann.“     

[813]

Die Plitvicer Seen in Kroatien.
Nach der Natur gezeichnet von A. Kircher.
1. Der Plitvicer Fall. 2. Blick auf den oberen Okrugliaksee. 3. Touristenhaus, Hotel und Kuranstalt. 4. Die Milanovacfälle. 5. Panorama der Plitvicer Seen.

[814] Er drückte auf die elektrische Klingel und übergab den verschlossenen Brief an Frau Fricke zur Besorgung. „Apropos – ich verreise morgen bis zum Frühjahr.“

Frau Fricke starrte ihn an, als ob er ein Geist wäre. „Ach, Herr Doktor –“ sagte sie – „jetzt … gerade vor Weihnachten...“

„Gerade jetzt; sehen Sie sich gefälligst das Fenster da an – glauben Sie, daß ich aus den Tropen nach Berlin verzogen bin, um hier Champagner auf Eis zu markieren? Sie können das Vergnügen alle Jahre genießen, drei bis vier Monate allein zu wirtschaften!“

„Ach Gott – aber die Wäsche, Herr Doktor, die reicht nicht weit – wir wollten bald waschen ...“

„Da geben Sie sie schmutzig mit; waschen können sie in Italien auch. Jetzt besorgen Sie erst den Brief!“

Sie ging, kam wieder, räumte ab, verschüchtert und innerlich geknickt. Er war nach vorn gegangen, wartete – eine Stunde. Diese Frau Hauptmann mit ihren drei Kindern hatte „Lebenserfahrungen“ – für ihn verhängnisvolle Lebenserfahrungen! Was heißt das? Sie hat einen kranken Mann gehabt, der ihr gestorben ist – das hat sie mit allen Witwen gemein. Er war vielleicht nicht der beste – was geht ihn das an? Oder sie trauert noch, hat sentimentale Reminiscenzen … ah! er wird erfahren, welche Blätter hinter ihr rascheln!

Und wenn dieser Schwan in einen Sumpf getaucht wäre, er ist schneeweiß herausgekommen!

Sein Herz brannte – er wurde dieses Gefühl nicht mehr los, schon lange nicht mehr! Und seine Ungeduld wuchs. Er zündete sich eine Cigarre an, that ein paar Züge und vergaß, daß sie ausging. Da oben … die Kinderfüßchen! … die Wehmut beschlich ihn,’eine Art Heimweh nach den Stinimchen, dem lieben, zärtlichen Treiben … das Spielzeug staud um ihu her, der Bock glotzte ihu an und die große Puppe lag mit den geschlossenen Angen wie ein totes Kind …

Endlich! Also doch ein Bescheid.

„Hier, Herr Doktor,“ sagt Frau Fricke. „Die gnädige Frau ist eben ausgegangen.“

Er antwortet nicht, reißt das Couvert auf.

„Kommen Sie nicht! Ich appelliere an den Ehrenmann.

Mich bindet ein Eid: ich werde nie einem zweiten Manne angehören, wie schwer ich auch um meine Freiheit kämpfen müßte! Die Gründe kann Ihnen Doktor Cujavius, unser Arzt, sagen.

Die Kinder will ich abends auf eine Stunde zu Ihnen schicken.

Im heitern Süden streichen Sie aus Ihrem Herzen
Ihre  
Helene von Einsiedel.“     

Doktor Hartmann ist gar nicht niedergeschmettert, im Gegenteil, er lächelt. „Eid gegen Eid!“ Und er bedeckt das Billet mit Küssen. „Was ist es doch ein gut Ding um trotzigen Manneswillen!“

Er wird jetzt doch zu Doktor Cujavius gehen.

Im Augenblick ist dieser Mann auf Praxis, bis Nachmittag muß er warten. Also wird er die Zeit benutzen, um zu packen und zu ordnen, soweit er das ohne Frau Fricke besorgen kann, denn die kocht.

Die eine geheime Angst ist von ihm genommen: es steht kein Mann zwischen ihm und der geliebten Frau! Dies einzige, was er nicht auszudeuten gewagt, hätte allenfalls die Kraft gehabt, ihn hoffnungslos zu machen.

Er speist und geht, sich bei einem Adreßbuch um die Nachmittagssprechstunde des Doktor Cujavius zu befragen, und er richtet es so ein, daß er kurz vor Beginn derselben seine Karte zu ihm hinein geben kann. Dieser Kollege hat ein gutes Gedächtnis, denn er erinnert sich der Begegnung auf der Treppe.

„Frau von Einsiedel ermächtigt mich, Sie um Mitteilungen über ihre Vergangenheit zu fragen. Haben Sie ein paar Minuten dafür übrig? Ich wäre Ihnen dankbar,“ sagt Doktor Hartmann.

„Mit Vergnügen. Nur muß ich befürworten, daß ich nichts von ihr weiß als die Leidensgeschichte ihrer letzten Jahre!“

„Ich denke, eben darum handelt es sich.“

„Die alte Geschichte einer Frau, die einen Morphinisten zum Manne hat – allerdings mit erschwerenden Umständen! Der Hauptmaun war nämlich ein ungewöhnlich rücksichtsloser Mensch, wenn er in Depression war. Sie können sich die Scenen ungefähr denken, wenn sie darauf bestand, ihm das Morphium zu entziehen. Er war leider bereits völlig haltlos, als ich ihn in die Hände bekam; die Frau jammerte mich unsäglich: er hat sie mißhandelt – das eine Mal war sie nahe daran zu verbrennen, als er des Nachts die brennende Petroleumlampe nach ihr geworfen. Sie selber ist eine seltene Frau, von großer Charakterstärke … Ihnen brauche ich ihre Vorzüge wohl nicht auseinanderzusetzen?“ Er sah den Besucher verständnisvoll an.

Doktor Hartmann lächelte ein ganz klein wenig.

„Ich höre, der Mann ist in einer Anstalt gewesen?“

„In einem glücklichen Augenblick haben wir’s geschafft – er war sechs Wochen in der Maison de santé. Dann hat er die arme Frau mit den beweglichsten Briefen überschüttet: er sei gesund, sie solle ihm verzeihen … kurz, sie wurde schwach, ließ ihn wiederkommen … natürlich wurde er alsbald rückfällig und sie hatte wieder die alte Last, und ich auch. Sie hat sich musterhaft benommen, mit wahrhaft rührender Pflichttreue; und weun er seine gehörige Dosis Morphium hatte, die er sich hinter ihrem Rücken doch verschaffte, erkannte er das weichmütig an – sonst war er so brutal wie möglich. Mehr als einmal hat er sie umbringen wollen – am Ende that er das Gescheiteste, was er thun konnte: er jagte sich eine Kugel durch den Kopf; in ihrer Gegenwart, gerade als sie mit Morphium gekommen, das sie ihm in der Verzweiflung am Ende selber geholt hatte.“

Hartmann hatte nur ab und zu gemurmelt zwischen dem Bericht des Doktor Cujavius. Jetzt sagte er bloß: „Die Unselige!“

„Ihre Familie hatte gewollt, sie solle sich von dem Manne trennen, aber sie hat sich entschieden geweigert, ich glaube, daß sie darüber mit den Ihrigen zerfallen ist. Mit einem Bruder von ihr habe ich einige Briefe gewechselt, er ist Rittmeister bei den blauen Husaren. Ich fürchte, ihre Verhältnisse sind keine sonderlichen – ihr Mann hat vor der Ehe arge Schulden gehabt und nachher sehr viel verbraucht. Sie hat übrigens die Verhältnisse nach dem Tode ihres Mannes ganz allein geordnet: ein Freund von mir, ein Rechtsanwalt, hat ihr geholfen; wie er mir sagt, hat sie jede Einmischung der Familie zurückgewiesen.“

„Wer ist denn Vormund der Kinder?“

„Eben mein Freund. Der Herr Hauptmann hat nicht einmal ein Testament gemacht.“

Im Nebenzimmer scharrten und murmelten Patienten und Doktor Hartmann stand auf und nahm seinen Hut.

„Ich danke Ihnen, ich weiß jetzt genug. Wie lange ist sie Witwe?“

„Etwas über ein Jahr.“

*               *
*

Doktor Hartmann war abgefahren, direkt durchgefahren bis Rom.

Er hatte an jenem Abend noch eine glückliche Stunde mit „seinen Kindern“ verlebt: seit der Unterredung mit dem Doktor Cujavius war eine große Ruhe bei ihm eingekehrt. Nur als er die Kinder entließ, überkam ihn eine weiche Stimmung, er küßte die beiden kleinen Geschöpfe immer wieder, was ganz gegen seine sonstige Art war, und schenkte ihnen das ganze Spielzeug, sie sollten es sich hinauf holen lassen.

Und diesen Brief sollten sie der Mama geben!

Es war nichts drin als seine Visitenkarte mit dem bekannten p. p. c.; aber auf der Rückseite standen die Worte: Ich warte.

Im übrigen hatte Frau Fricke Anweisung, pünktlich alle acht Tage ein Telegramm an ihn „postlagernd Rom“ zu senden, um ihn über das Befinden der Familie oben auf dem Laufenden zu erhalten.

So glaubte er gerüstet zu sein, um die Entfernung für ein Vierteljahr zu ertragen.

Und es ging. Selbst als Frau Fricke schrieb, die Frau Hauptmann hätte nicht gelitten, daß das Spielzeug zu den Kindern hinauf geschafft würde, that ihm nur drei Tage das Herz weh wie einem Kletterer, dem die Möglichkeit aufgeht, daß er sich rettungslos verstiegen hat.

„Nichts Neues,“ sagten die Telegramme, und das klang wieder so tröstlich!

Nur eins quälte ihn immerfort, und das war unsägliche Langeweile. Er hatte nicht die mindeste Lust, Bekanntschaften zu machen, noch Geduld, um sich die geistigen Genüsse zuzuführen, die man in Italien sucht. Er ging nach Neapel, nur um in dem größten Lärm, den man in Italien finden kann, recht einsam zu sein, und er blieb dort, als er im Museum einen ausgegrabenen Frauenkopf gefunden, der ihn an die geliebte Frau daheim erinnerte. Möglichst oft ging er dahin wallfahrten.

[815] Zweimal bereitete ihm die Gewissenhaftigkeit der Frau Fricke heitere Minuten, indem sie ihm telegraphierte: Oben hat alles den Schnupfen.

Im Februar wurde er unruhig und fuhr nach Florenz. Im März nach Nizza. Dort traf ihn ein Telegramm, welches besagte: Bodochen hat Darmkatarrh.

Bodochen – also das Kleinste.

Nun – der Doktor Cujavius hat ihm nicht mißfallen; das Kind wird also in leidlich vertrauenswürdigen Händen sein. Aber er depeschiert an Frau Fricke: Sofort telegraphieren, wenn eine ungünstige Wendung eintritt. Er bekommt zwei der gewöhnlichen Wochentelegramme: Bodochen noch nicht besser.

Drei Wochen – rechnet er nach – das ist ängstlich! Und er besinnt sich, wie lange er zu fahren hat, ehe er nach Berlin kommt. Und plötzlich überfällt ihn eine quälende Sorge – und eine Sehnsucht, nicht zu bändigen!

Weshalb soll er genau drei Monate absitzen? Er hat keinen Eid darauf geleistet. Es handelt sich ohnehin nur noch um Tage.

Er ermittelt den nächsten Kurierzug, rüstet Hals über Kopf die Abreise und fährt.

*               *
*

Es ist Abend, als Doktor Hartmann im Anhalter Bahnhofe eintrifft; er nimmt eine Droschke erster Klasse, um in seine Wohnung zu gelangen. Frau Fricke ist telegraphisch von der Zeit seiner Ankunft verständigt, hat am Fenster gewartet.

„Guten Abend, Frau Fricke,“ sagt er, als er sie an der Hausthür gewahrt. „Wie steht’s mit dem Kinde?“

Jetzt sieht er erst, was sie für ein Wehmutsgesicht schneidet. Er läßt sich den Koffer vom Bocke geben.

„Ist es tot?“

„Nein, Herr Doktor; aber der Arzt hat der Frau Hauptmann gesagt, es würde diese Nacht schwerlich überleben, sie solle drauf gefaßt sein! Es wäre schon nach dem Gehirn gegangen.“

„Gehirnhautentzündung wahrscheinlich.“

„Ja, ich glaube. Das Mädchen sagt, der Kleine macht ganz abwesende Augen und wimmert bloß und wirft den Kopf hin und her. Die gnädige Frau hat schon ein paar Nächte gewacht und ist wie halbtot, so daß sie kaum die Augen offen halten kann.“

„So,“ sagt er, „das ist schlimm … Fassen Sie mal den Koffer mit an!“

Sie haben das noch vor der Hausthür verhandelt. Jetzt fassen beide an, um den mäßig großen Koffer treppauf zu schaffen.

„Ich besorge gleich Abendbrot, Herr Doktor,“ spricht oben ihre klagende Aeolsharfenstimme.

„Das ist nicht nöthig, ich habe im Restaurationswagen gegessen. Holen Sie mir nur eine Flasche Wein herauf – eine mit der großen Goldkapsel, wovon noch fünf da sind – ich werde inzwischen einen Gang in die Apotheke thun.“

„In die Apotheke? Ach Gott, wenn Sie helfen könnten!“

„Weiß ich nicht. Apropos: wissen sie oben, daß ich kommen wollte?“

„Ja, Herr Doktor, ich hab’ es dem einen Mädchen gesagt.“

„Hm! Es ist gut so.“

Er hat noch den Hut auf dem Kopfe und geht. Als er wiederkommt, steht die Flasche entkorkt da. Er stürzt hastig ein paar Gläser hinunter, so wie er ist, eine Minute später drückt er oben an die Klingel bei der Thür.

Das Hausmädchen öffnet mit einer Leidensmiene.

„Ach, der Herr Doktor! – Die gnädige Frau sitzt hinten bei Bodochen …“

„Wo ist das?“ Er nimmt den Hut ab.

„In ihrem Schlafzimmer.“

„Schlafen die andern Kinder schon?“

„Ja.“

„Führen Sie mich zu Ihrer Herrschaft.“

Sie gehen bis auf den Korridor der hinteren Räume und das Mädchen zeigt auf eine Thür. Aus der offenen hellen Küche blickt neugierig das Kindermädchen. Die Führerin klopft leise an, öffnet und haucht in die Spalte: „Gnädige Frau, der Herr Doktor!“

Doktor Hartmann sieht, wie sie schattenhaft sich langsam erhebt – das Bild seiner Träume und Gedanken, das ihm vertraut ist wie dem Frommen der Gott seiner Gebete. Sie ist offenbar der Meinung, daß es der Hausarzt sei, der kommt, denn als sie aufblickt, den Doktor Hartmann vor sich sieht, der die Thür hinter sich geschlossen, verwirren sich ihre Augen und sie hebt mechanisch die Hände, wie um ihn abzuwehren.

Eine kleine Lampe mit rosa Blendschirm wirft ein dämmriges Licht hinter ihr.

„Sie?“ sagt die arme Frau und läßt zögernd die Hände sinken. „Sie?“ Und sie nimmt ein Taschentuch und drückt es auf die Augen.

„Helene,“ spricht er halblaut mit seiner tiefen, warmen Stimme, „ich bin gekommen, das Kind zu retten.“

Er weiß es gar nicht, daß er sie beim Vornamen nennt. Und sie antwortet nichts als ein tonloses: „Das ist nicht mehr möglich.“

„Der Doktor Cujavius sagt das. Ich glaube noch nicht dran. Wird er diese Nacht kommen?“

„Nein. Er sagt, es wäre zwecklos. Doch dachte ich …“

„Ich wäre er. Nun gut. Es ist ein anderer Arzt. Das Kind ist aufgegeben und Sie wagen nichts. Ich werde diese Nacht bei ihm zubringen und ich hoffe – verstehen Sie recht: ich hoffe! – es zu retten. Wie lange hat es diese Zufälle?“

Das Kind im Wagen wimmerte und regte sich wie in Zuckungen hin und her.

„Seit gestern.“

„Gut. Ich stelle eine Bedingung: ich sitze diese Nacht mit dem Kinde allein in der Küche – der Aufenthalt dort ist kühl, die Nähe des Herds und der Wasserleitung ist von Nutzen und Sie werden schlafen ...“

„Um keinen Preis …“

„Sie werden schlafen, Helene, denn Sie sind totmüde, ich weiß, daß Sie die letzten Nächte gewacht haben,“ sagte er ungeduldig durch die Zähne. „Ich werde mir von den Mädchen geben lassen, was ich brauche. Das Kind stirbt diese Nacht nicht.“

Sie kannte diesen Ton – eisern, wie das Muß des Schicksals; es lag eine zwingende Kraft darin.

„Mein Gott … ich bin müde … aber ich werde nicht schlafen können …“

„Sie werden es doch können!“

Sie schwieg.

„Doktor Cujavius sagt, das Kind dürfe nicht zu trinken bekommen,“ sprach sie schwach.

„Ich übernehme die Verantwortung für meine Maßregeln,“ antwortete er. „Und jetzt vertrauen Sie auf die geheimnisvolle Macht, die mich hundert Meilen entfernt antrieb, heute hier zu sein.“

Er ging an ihr vorüber, ergriff die Lampe, schlug das Verdeck des Kinderwagens zurück und beleuchtete das Gesicht des Kindes: ein faltiges Greisengesicht mit starren glasigen Augen. Es stieß wieder die irren Jammerlaute aus und zuckte mit dem Köpfchen.

„Mein Junge – wie sieht er aus!“ sagte sie mit mühsam aufrecht erhaltener Fassung. Dann überlief sie ein Zittern der Schwäche, sie sank auf einen Stuhl und preßte die Hände vors Gesicht; ihre Kräfte waren vollkommen erschöpft.

Er sah nicht zu ihr hinüber. „Gute Nacht, Helene! Ich muß das Kind retten – ich muß es retten – wiederholen Sie sich das so lange, bis Sie drüber einschlafen!“ Dabei setzte er die Lampe fort, öffnete die Thür und zog den Wagen aus dem Zimmer.

Sie hinderte es nicht; eine abergläubische Stimme sprach ihr zu: „Warum ist er hier, gerade heute? Das ist ein Wunder!“ So tröstlich war es, darauf zu hören … und sie ist so müde … so abgestumpft … sonst wäre ja das alles unmöglich …

Der Doktor Hartmann steht neben dem Wagen in der Küche und spricht mit dem Mädchen. Er hat den Ueberzieher anbehalten – es giebt eine kühle Nacht in der Küche – nur den Hut auf den Tisch geworfen. Er verlangt eine Lampe – die Deckenlampe da muß ausgelöscht werden – ein Paar feine Handtücher, einen Theelöffel, ein Glas; er fragt, ob sie abgekochtes Wasser da haben, und läßt sich zeigen, wie er im Notfall eine von beiden herausklopfen kann.

„So. Nun geht zu Bett!“

„Gute Nacht, Herr Doktor!“

Er zieht die Uhr, es ist halb elf geworden.

So ist er allein mit dem halb verlorenen Kinde, in der matt erleuchteten Küche. Er spielt va banque, das weiß er: wenn er siegt, gewinnt er alles; wenn er verliert, ist alles verspielt. Er will siegen – und es ist möglich!

Ans Werk also!

Er beugt sich zu dem Kinde hinab: es hat immerfort die Augen offen und in kurzen Pausen wimmert es und zuckt mit dem [816] Kopfe; das bleiche Faltengesichtchen, so zusammengeschrumpft, ist doppelt mitleidswürdig in den üppigen braunen Löckchen.

Er zieht ein Fläschchen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit aus der Tasche, flößt mit dem Löffel dem Kinde erst davon, dann etwas Wasser ein, wobei er das Köpfchen festhält. Darauf geht er die Handtücher holen, taucht sie in den Eimer, ringt sie aus und faltet sie zusammen. Das eine legt er unter den Kopf des Kindes, das andere wickelt er ihm um den Leib und deckt es sorglich zu. Nun ergreift er einen Küchenstuhl und setzt sich vor den Wagen.

Mäuschenstill alles, nur die Küchenuhr tickt, in der Lampe zischt das verbrennende Petroleum, und ganz fern verworren murrt das Nachtleben der Großstadt.

Jetzt stößt das Kind wieder seine Klagetöne aus. Wird er es retten? Das eigentliche Uebel ist nicht in einer Nacht zu heben – aber diese toddrohende Wendung, die es genommen! Und nach einiger Zeit steht er auf und untersucht die Tücher, sie sind heiß, daß sie rauchen. Er nickt befriedigt, näßt sie wieder durch und bringt sie an die alte Stelle.

Dann sitzt er wieder, der verkörperte Rettungswille. Die Krankheit hat den Kampf mit ihm aufgenommen – das ist schon etwas. Und als er wiederum untersucht, weiß er, daß es lohnt, ihn durchzuführen: so heiß wieder die Tücher!

Wohl eine halbe Stunde vergeht.

Er kümmert sich nicht um die Zeit, er näßt ab und zu die Tücher, wenn sie durchhitzt sind. Die kläglichen Laute verstummen, das Kinderköpfchen liegt ruhig. Und wie er jetzt fühlt, ist das Tuch unter dem Kopf nur wenig erwärmt.

Er legt es fort, wickelt das andere ab, der kleine Leib ist kühl. Sorgfältig deckt er das Kind zu, und wie er einen Blick in das Gesichtchen wirft, sieht er, daß die Augen geschlossen sind, und hört ruhiges Atmen. Der kleine Patient ist eingeschlafen.

Ein wundervolles Glücksgefühl durchströmt den Arzt, wie er es nur als Student bei seinen ersten Erfolgen empfunden hat, und es hält vor – er kann es ausgiebig durchkosten. Es geht auf und nieder, wie ein Feuer, und manchmal fährt’s wie ein Windstoß hinein, daß es hell aufschlägt. So hält er die einsame Wacht weiter, nur ab und zu sich vorbeugend, um die ruhigen Atemzüge zu hören.

Er weiß nicht, wie lange. Eine leichte Ermüdung bemächtigt sich seiner, die wilde Eisenbahnfahrt übt ihre Nachwirkung und er versinkt langsam in sich.

Plötzlich fährt er auf, nur ein ganz leises Geräusch in den Kissen war es, was ihn geweckt. Er steht auf, beugt sich zu dem Kinde, das hat die Augen offen. Noch tiefer – das sind doch klare, verständige Kinderaugen … Er holt die Lampe näher, bei Gott, das ist nicht mehr der wirre Idiotenblick, das sind gesunde Augen, die ihn verlangend ansehen, und dieser jetzt übergroße Mund mit den schmalen Lippen führt Bewegungen aus wie ein schluckender Fisch. Es hat Durst! sagt Doktor Hartmann für sich.

Er mischt frisches Wasser mit abgekochtem, warmem, und setzt das Glas an des Kindes Lippen. Das trinkt – trinkt, unersättlich. Er nimmt das Glas fort, aber die schmalen Lippen bitten um mehr.

Dann sinkt das Köpfchen schlaff zurück, nach Sekunden ist das Kind wieder eingeschlafen.

Der Arzt auf dem Küchenstuhl sitzt wieder in verdämmerndem Bewußtsein – das Kind weckt ihn noch einmal, zweimal – es will trinken. Und Doktor Hartmann giebt ihm und lächelt – „Nichts zu trinken geben!“ hat der Kollege Cujavius anbefohlen!

Dann schlafen sie beide, das Kind und der Arzt. Der Kopf des Doktor Hartmann ist fast bis auf die Kniee hinabgesunken.

*               *
*

Die Küchenuhr zeigt die fünfte Stunde, da öffnet sich leise die Thür vom Korridor her; die junge Mutter, mit der angstvollen Frage in den Augen. Sie sieht aus, wie Doktor Hartmann sie am Abend zurückgelassen – so hat sie sich auf das Bett geworfen, geschlafen wie eine Tote, ist plötzlich erwacht und weiß nicht, warum.

Doktor Hartmann ist beim leisen Knirschen der Klinke aufgefahren, aufgesprungen, so munter, als hätte er den Kopf in Wasser getaucht.

Er hat das erlösende Wort für sie – aber wie sie dasteht, mit all ihrem edlen Reiz, so hilflos bange, so mädchenhaft, da überkommt’s ihn, nimmt ihm den Atem; sein Herz stockt, die Hände sind ihm eiskalt, wie er auf sie zutritt. Sie fragt ihn nichts, nur ihre Augen suchen ihn. Er lächelt schwach – ein Lächeln wie in Schmerzen, und dicht vor ihr breitet er die Arme, und eine Flut von Leidenschaft bricht aus seinen Blicken über sie – und dann fällt er nieder und umfaßt ihre Kniee …

„Helene,“ sagt er mühsam, „da ist Dein Kind, und es wird leben!“

Sie steht wie erstarrt, aber aus ihren Augen fallen die Thränen auf ihn, und ihre Hände streicheln weich über sein Haar.

„Was thu’ ich!“ … spricht sie über ihm … „Mein Eid … ich hab’ es ja verschworen ... Aber mein Kind! mein Schmerzensreich! …“


Aus Karl Vogts Jugendzeit.

Unter den vielen bedeutenden Forschern, deren gemeinsames Lebenswerk unserm Jahrhundert die Bezeichnung des „naturwissenschaftlichen“ eingetragen hat, ragte Karl Vogt bis an sein Ende unter denen hervor, die neben dem Drange, selbst zu forschen, den Trieb in sich fühlten, die Resultate der Forschung allen Kreisen des Volkes mitzuteilen. Wie wenige hat er es verstanden, dies in einer wirklich volkstümlichen, gemeinverständlichen und anregenden Weise zu thun. Der gelehrte Zoologe und Geologe, der in hundert Specialarbeiten die großen Erkenntnissätze der natürlichen Entwicklungslehre erprobt und bestätigt hat, war zugleich ein deutscher Volksschriftsteller ersten Ranges, der als solcher wesentlich dazu beigetragen hat, jene Forschungsresultate der allgemeinen Volksbildung zu vermitteln. Als solchen ihn zu rühmen, war nach seinem am 5. Mai vorigen Jahres erfolgten Tode ganz besonders die „Gartenlaube“ berufen, die er so oft als Tribüne benutzt hatte, um in seiner frischen, von Geist und Laune belebten Darstellungsweise neue Fragen und Errungenschaften der Naturwissenschaft vor das Forum des weitesten Leserkreises zu bringen. Wie auf seiner ersten großen Forschungsreise nach dem Nordkap hat er in allen Phasen seines späteren Gelehrtenlebens unter dem frischen Eindruck neuer Eroberungen des Wissens zur Feder gegriffen, um mit froher Entdeckerlust in der „Gartenlaube“ über dies Neue zu berichten und dessen Wert festzustellen für das Gemeinwohl und den allgemeinen Bildungsschatz der modernen Menschheit.

Schon damals ist an dieser Stelle Karl Vogts Eigenart als Volksschriftsteller im Zusammenhang gewürdigt worden mit seiner Thätigkeit als Volkstribun in jenen Freiheitskämpfen des deutschen Volkes, welche das Metternichsche Polizeiregiment niederwarfen und der Entwicklung des Vaterlands zum neuen Reich freie Bahn schufen. Wie tief aber dieser Zusammenhang schon in Vogts Herkunft und in den Verhältnissen, unter denen er aufwuchs, begründet war, das entzog sich bisher unserer näheren Kenntnis. Erst das Fragment seiner Selbstbiographie, welches vor kurzem unter dem Titel „Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke“ bei Erwin Nägele in Stuttgart erschienen ist, verbreitet darüber Licht, und zwar in ebenso reichlicher wie vielfach überraschender Weise. Das Buch schildert die Jugendzeit Karl Vogts bis zu seiner ersten Flucht als politisch Verfolgter nach der Schweiz und seinen ersten Versuchen, dort als Gelehrter festen Fuß zu fassen. Die Absicht des greisen Forschers, diese „Rückblicke und Erinnerungen“ auch durch seine Mannesjahre fortzusetzen, ward leider durch seinen Hingang vereitelt; der Tod nahm ihm die nimmermüde Feder aus der Hand. Seine Kunst, über ernste Dinge amüsant zu plaudern, hat Karl Vogt in diesen Aufzeichnungen ganz besonders bewährt. Was die alte Musenstadt des Nassauer Hessenlandes, Gießen, an komischen Originalen in den Jahren besaß, da die Knaben des Professors Wilhelm Vogt in ihr echte und rechte Gassenjungen und daneben auch Gymnasiasten waren, das läßt er auf dem Wege zu den Stätten seiner Jugendspiele und Jugendthaten mit frohem Behagen vor uns aufmarschieren. Dennoch ist die Hauptwirkung des Buches ernst belehrend und anregend zum Nachdenken über die wichtigsten Fragen der Erziehung und Bildung, wobei die leitenden Gedanken der Ueberzeugung Vogts entstammen, daß die Wissenschaft und alles Lernen tot ist, wenn sie nicht das Leben

[817]

Versteckt.
Nach dem Gemälde von C. Mücke.

[818] befruchten, das Leben der Einzelnen wie das der Gesamtheit! Sein eigenes Charakterbild aber entwirft er als echter Darwinianer nach den Grundsätzen der Entwicklungslehre; „ich bin der Meinung,“ sagt er in dieser Beziehung, „daß der Einzelne nicht nur das Produkt seiner Ahnen, sondern auch seiner Umgebung ist und daß die zuerst einwirkenden Eindrücke auch diejenigen sind, welche den größten und nachhaltigsten Einfluß üben.“ Und indem er unter diesem Gesichtspunkt sein Werden betrachtet, entsteht ganz unabsichtlich der Nachweis, wie er seine besondere Geistesrichtung dem Umstand zu danken gehabt hat, daß er im Gegensatz zu den anderen Professorenkindern, deren Eltern aus der Ferne nach Gießen berufen waren, ein Gießener Stadtkind war, tausendfach verwachsen mit alteingesessenen Familien des Hessenlandes, in denen teils die Geschicklichkeit eines Handwerkes, teils die Sorge für das öffentliche Wohl seit langem schon sich vererbt hatte.

Karl Vogts Urgroßvater väterlicherseits war ein ehrsamer Metzgermeister in dem drei Stunden von Gießen entfernten Städtchen Lich. Schon dessen Vorfahren waren Metzger gewesen, und als Karl Vogts Großvater Theolog und Pfarrer in einem reichen Dorfe der Wetterau, Dauernheim, wurde, schlug er damit aus der Art. Von dieses Pfarrers sechs Kindern war Karls Vater das jüngste; er durfte Medizin und Naturwissenschaften studieren und wurde Professor der Heilkunde und Arzneimittellehre in Gießen. Dieser Professor Wilhelm Vogt war, wie in der Neigung für die Naturwissenschaften so auch in Bezug auf die Lebensbahnen, die seinen Sohn im Jahre 1848 auf die Rednerbühne des ersten deutschen Parlaments und weiter in die Reichsregentschaft führten, in gewissem Maße sein Vorgänger. Schon Wilhelm Vogt war in die „demagogischen Umtriebe“ eng verstrickt, welche die Wiedergeburt des Vaterlandes im Zeichen der Einheit und Freiheit anstrebten und die im Anfang der dreißiger Jahre ihren Hauptherd in Hessen hatten. Wie Professor Jordan in Marburg, der Pfarrer Weidig in Butzbach, der junge Dichter Georg Büchner in Gießen, gehörte Professor Wilhelm Vogt zu den geistigen Führern der Bewegung, die 1833 im Frankfurter Attentat zu früh aufflackerte und kläglich verpuffte. Wie jene traf ihn die Verfolgung der Machthaber; fliehend mußte er Bern aufsuchen, dessen Universität ihm gerade rechtzeitig eine Professur angeboten hatte. Karl Vogts Mutter aber war die Schwester jener drei Brüder Follenius, welche, nachdem sie alle an den Befreiungskriegen gegen Napoleon rühmlichen Anteil genommen, zu Hegern und Pflegern der patriotischen Ideale in der Burschenschaft wurden, als solche der Verfolgung und Aechtung verfielen, im Ausland treue Verfechter des freiheitlichen Gedankens blieben, bis sie in fremder Erde ihr Grab fanden. Den Vater dieser drei opfermutigen Idealisten, die sämtlich auch poetisch veranlagt waren, also seinen Großvater mütterlicherseits, den Landrichter Follenius in Gießen, hat Karl Vogt als Knabe auch noch gekannt. Als derselbe nach Friedberg übersiedelte, bezogen Vogts das Follenius’sche Stammhaus. Mit seinen winkeligen Hintergebäuden war dieses schon seit dem ersten Verbot der Burschenschaft ein Schlupfnest für politisch Verfolgte gewesen, was es auch blieb. Auf dem Hof standen Turngeräte, an denen die vom Staat verpönte Turnkunst von heimlichen Burschenschaftern gepflegt ward, und das dahinterliegende Gasthaus zum Hirsch, dessen Wirt den Vogtschen Knaben sehr wohlwollte, war für diese verklärt von legendären Ueberlieferungen, deren Helden die beiden exilierten Onkel Follenius waren, die übrigens die lateinische Endung ihres Namens als undeutsch längst abgestreift hatten.

Der jüngste dieser drei Onkel, Paul, lebte aber noch während der Jugendzeit Karl Vogts in Gießen als Advokat; erst die durch das Frankfurter Attentat heraufbeschworene neue Demagogenverfolgung ließ ihn nach Amerika entweichen. Er war wie seine Brüder ein blonder Recke, hoch und schlank gewachsen, in allen Leibesübungen Meister, ein warmblütiger Idealist von hochfliegender Phantasie. Im Gegensatz zu ihm war die Art des Professors Vogt, Politik zu treiben, wie es dem Beruf des Mediziners entspricht, von realistischerem und praktischerem Wesen. Wenn der Onkel Follenius politisierte, sprach er von hohen Begriffen, für welche die Zeit noch keine Verwirklichung hatte; wenn er seinen Neffen Karl mit auf die Jagd nahm, fragte er beim Ausrücken „Knittelverse oder Hexameter?“ und den ganzen Tag durfte nur in der gewählten Versart gesprochen werden. Der Vater knüpfte seine politischen Bestrebungen am liebsten an das gemeine Bedürfen, und war er mit seinen Jungen im Garten vor der Stadt, so wies er ihnen, welche Sorgfalt und praktische Einsicht das Okulieren der Bäume erheischt. Und wie es ihm ein Fest war, einmal im Jahre in der weißen Metzgerjacke neben wirklichen Metzgergesellen das Handwerk seiner Ahnen am Hackbrett zu üben, indem er den Wintervorrat an Würsten im Hause selbst fabrizierte, so hielt er seine Kinder dazu an, jeden schlichten Bürgersmann, der seine Pflicht that, all den Professoren gleich zu achten, die es unter ihrer Würde hielten, sich irgendwie in die Bürgerschaft der Stadt zu mischen. Dafür war denn auch der Professor Vogt bei dieser ungemein beliebt, um so mehr, da er auch als Arzt dem Aermsten die gleiche Sorgfalt zuwandte wie den Höchstgestellten.

In der Metzgerzunft hatte er sich vollends einer begeisterten Verehrung zu erfreuen, sie betrachteten ihn sozusagen als Ehrenmitglied ihrer Gilde. Die Metzger aber bildeten das oberste Handwerk der Stadt, die damals noch einen sehr ländlichen Charakter trug und deren „Borjer und Ansässer“, soweit sie nicht als Hausbesitzer und Ladeninhaber von der Universität lebten, mit Vorliebe Landwirtschaft trieben. „Fast jede Bürgerfamilie,“ so schildert unser Buch den Zustand, „fütterte ein oder mehrere Schweine, welche im Winter geschlachtet wurden – viele, die eine größere Oekonomie besaßen, hatten auch eine oder mehrere Kühe. Täglich ertönten die verschieden gestimmten Hörner der Hirten durch die Straßen, öffneten sich Haus-, Hof- und Winkelthüren, um grunzende Schweine und schwerhinwandelndes Rindvieh zu entlassen – uns Buben immer zum Gaudium!“ Natürlich kamen diese Verhältnisse dem Stande der Metzger zu gute, und ihre Stimme fiel in Gemeindeangelegenheiten erheblich in die Wagschale. So hatte Professor Vogt die ganze Bürgerschaft hinter sich, sowohl als Gießener Gemeinderat wie auch bei der Wahl zum Abgeordneten von Gießen in die Kammer zu Darmstadt. Er wurde mehrmals in diese gewählt, betrat sie aber nie, weil ihm die Regierung stets den dazu nötigen Urlaub verweigerte. „Sein Einfluß,“ erzählt der Sohn, „wurde dadurch nur um so größer, und wie ihn einerseits die Bürgerschaft stützte und trug, so führte er sie anderseits größerer, politischer Selbständigkeit und gemessenem Fortschritt zu. Man nannte ihn deshalb auch oft scherzweise den ‚Großherzog von Gießen‘. Daß sich diese Zuneigung auch auf uns Kinder übertrug, war selbstverständlich – es erschien nur als ein Zufall, daß der Vater auch den Gelehrtenkreisen angehöre, und neben Eulers Konrad und Reibers Wilhelm (zwei anderen Professorssöhnen) standen Vogts Karl und Emil als vollkommen gleichberechtigte Bürgerssöhne da.“

Im übrigen waren Universität und Bürgerschaft in jener Zeit, wo Gießen noch keine Industrie hatte, nur 6000 Einwohner zählte und im Durchschnitt von 600 Studenten besucht ward, sozial durch mauerhohe Vorurteile getrennt. Der Student stand den jüngeren Bürgersöhnen ebenso schroff gegenüber wie der Professor den älteren Bürgern. Zu den Bällen und Gesellschaften der einen wurden die andern nicht zugelassen; der Professor schaute auf den Bierbrauer, den Metzger, den Kaufmann von oben herab, und der Bürger rächte sich dafür durch Schabernack und Verhöhnung der Schwachheiten und Vorurteile der Gelehrten. Die Titelsucht der Professoren wurde von den Bürgern in der Weise verhöhnt, daß die hervorragenden Gewerbtreibenden mit dem Titel „Rat“ belegt wurden – es gab einen „Wurstrat“, „Kappenrat“, „Bierrat“ – und diese Bezeichnungen verdrängten im Verkehr schließlich völlig die eigentlichen Familiennamen. Karl Vogt fügt hinzu, die „Räte“ aus der Bürgerschaft seien nicht minder komische Charaktere gewesen als manche der „Hofräte“ und „Geheimräte“ der Universität, deren Eitelkeit mit diesen Nebennamen gegeißelt wurde. Auch im Gymnasium herrschte ein pedantischer Kastengeist und die Erinnerungen, die unser Buch demselben widmet, gemahnen lebhaft an Ernst Ecksteins Schulhumoresken, die ja auch auf Erlebnissen im Gießener Gymnasium beruhen; ein getreuer Schulkamerad Karl Vogts war Franz Eckstein, der Vater Ernsts. Außer Griechisch und Latein, die ganz formalistisch betrieben wurden, ward in dem damals übelberufenen Gymnasium nichts gründlich gelehrt. Der Unterricht in Geschichte und Mathematik war ganz dürftig. Wer nicht zu Hause, durch Eltern und Bekannte, mit den deutschen Klassikern vertraut worden war, hätte aus der Schule nicht wissen können, daß es einen Lessing und Wieland, einen Schiller und Goethe gegeben habe. Von Naturwissenschaften keine Spur; nur in dem letzten Semester wurde eine sogenannte Physik einstündig gelehrt, die aus possenhaften Experimenten bestand. Da waren die [819] Anregungen, die dem gelehrigen Knaben das Vaterhaus und das Streifen durch die schönen Umgebungen der Lahnstadt bot, von größerem Wert! Seine Neigungen waren naturwissenschaftliche; er sammelte allerlei Getier, namentlich Schmetterlinge, züchtete Raupen.

Die Eltern ließen ihm für diese Liebhaberei volle Freiheit. Anderseits nahm ihn der Vater auch nicht an das Gängelband seines besseren Wissens. „Hilf Dir selber!“ war das Motto seiner Erziehung. Und schon als kleine Burschen ließ er seine beiden ältesten Söhne beim Beginn der Ferien, das Ränzel auf dem Rücken, hinauswandern auf die Vetternstraße, der zu Seiten allenthalben im Land Verwandte wohnten, Pfarrer, Beamte, Förster, wo sie früh in die verschiedensten ländlichen Verhältnisse Einblick gewannen und speziell Karl, der kleine Zoologe, mit den Tieren des Feldes und Waldes immer vertrauter wurde. In Dauernheim, dem stattlichen Dorf in der Wetterau, dessen Pfarre vom Großvater Vogt auf dessen Schwiegersohn Kolb übergegangen war, hatten die Knaben eine zweite Heimat, mit den Söhnen der Bauern dort standen sie auf Du und Du, und als Karl Vogt im zweiten Jahr seines Studiums als Mitglied des burschenschaftlichen Korps „Palatia“ zum Opfer der Demagogenverfolgung wurde – er sollte die revolutionäre Zeitschrift „Der Leuchter“ verbreitet haben – da fand er in Dauernheim die sicherste Zuflucht, und der Sohn eines dortigen Pächters stellte die Pferde zur weiteren Flucht. Weniger gemütlich als in dem reichen Pfarrdorf der Wetterau war’s in Gladenbach, wo die jüngste Schwester des Vaters an den Steuerkommissär Eckhard verheiratet war; der Aufenthalt dort gewährte ihnen Einblick in die im hessischen Hinterland herrschende Armut. In dieser armseligen Landstadt war ihnen der Revierförster Venator eine besonders sympathische Persönlichkeit. Er war sehr gutmütig und nahm die anstelligen Buben gern mit auf seine Dienstgänge in den Wald. Diesem Mann lag es ob, gegen Holzfrevler einzuschreiten und die Betretenen ihre Strafen durch Arbeiten im Walde abverdienen zu lassen. Aber Venator war nachsichtig. „Wie sollen denn die armen Leute durch den harten Winter kommen,“ sagte er, „wenn sie nicht Holz freveln? Kaufen können sie es nicht, und Schiefer, die sie zur Genüge haben, brennen nicht … Wenn es auf mich ankäme, ließe ich nur diejenigen abfassen, die Holz stehlen, um es zu verkaufen! Die sind Diebe – die andern nicht! Aber was wissen die Herren in Darmstadt von den armen Leuten im Hinterlande, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht wünschen!“

So hatte Karl Vogt, als er vom Gymnasium auf die heimische Universität überging, in der Schule des Lebens weit mehr gelernt als auf den Bänken der Schule. Und auf der Universität hatte er dann das große Glück, zu einem Lieblingsschüler desjenigen Gelehrten zu werden, der für seine Wissenschaft gerade darin ein Reformator war, daß er auf die praktische Verwertung ihrer Forschungsresultate den größten Nachdruck legte – das war der nachmals zu Weltruhm gelangte große Chemiker Justus Liebig. Auch in dessen Laboratorium herrschte der Grundsatz: Hilf Dir selbst! „Die heutigen ‚Bequemlichkeiten des Lebens‘ in den großen Laboratorien unserer Zeit waren noch nicht erfunden; man mußte sich seine Glasgerätschaften selbst blasen, die Korke schneiden und bohren, die Gummistöcke zu Röhren zusammenlöten, die Platintiegel schmieden.“ Ebenso ließ Liebig die bevorzugten unter seinen Hörern, die in seinen Privatlaboratorium arbeiten durften, durch eigenes Nachdenken und selbständige Versuche in der Welt ihrer Wissenschaft heimisch werden. Und wie er sie so vor allem zu praktischen Chemikern machte, so wies er ihnen praktische Ziele, Ziele, die auf Hebung der Industrie und Landwirtschaft ausgingen. Bei Liebig hat Karl Vogt, obgleich er sich die Chemie nicht zur Fachwissenschaft erkor, jene Geistesrichtung erhalten, die bei allen Errungenschaften des ernsten Forschens an den Gewinn dachte, welchen die Welt außerhalb der Wissenschaft aus ihnen ziehen konnte, jene Richtung, die, von seiner Kenntnis des Volks und seiner Begeisterung für die Interessen des Volks genährt, ihn später zu einem so ausgezeichneten Volksschriftsteller unter den Gelehrten der von ihm gepflegten Wissenschaften werden ließ. Auch hierin folgte er Liebigs Beispiel direkt; als dieser 1844 seine „Chemischen Briefe“ erscheinen ließ, die darauf ausgingen, die gewaltigen Fortschritte der Chemie dem allgemeinen Verständnis nahe zu bringen, auch der Hausfrau nutzbar zu machen, ließ ihnen Vogt mit gleicher Tendenz seine „Physiologischen Briefe“, seine „Zoologischen Briefe“ folgen, und in seinen „Untersuchungen über Tierstaaten“ knüpfte er an seine naturwissenschaftlichen Darlegungen politische Kritik und politischen Ratschlag. Diese seine Thätigkeit als wissenschaftlicher Volksschriftsteller bildete auch das Band, das ihn nach seiner dauernden Ansiedlung in der Schweiz mit dem Vaterland in innigem Zusammenhang erhielt, auch später, da er sich in Genf ganz als Schweizer Bürger fühlte und als Mitglied des Großen Rats und des Schweizer Nationalrats frei die politischen Talente entfalten durfte, deren energische Regsamkeit ihm in der Heimat seiner Jugend Acht und Verfolgung zugezogen hatte. Johannes Proelß.     



Blätter und Blüten.


Schwarzwild im Schnee. (Zu dem Bilde S. 809.) „Brrr! lieber F., das war doch eine verdammt kalte Sitzung, das halte der Teufel länger aus!“

Bei diesen zu meinem langjährigen Jagdfreunde, dem dicken fürstlichen Revierjäger F., gesprochenen Worten erhob ich mich von meinem Sitze, stampfte mit den Füßen und schlug mir die Hände ein paarmal um die Schultern, um die steifgefrorenen Glieder wieder gelenkig zu machen – – und vierzig Schritte von uns unter dem Futterschuppen klapperten die Geweihe zusammen und an die Raufen und aus dem Schatten heraus stürmten die Hirsche und das Wild in den schneebedeckten, vom Vollmond fast taghell strahlenden Buchenwald.

„Ja, es ist hier oben auf der Eiche ein bißchen luftig, aber wenn man Hirsche bei der Futterung sehen will, muß man den Frost nicht scheuen, sonst geht’s nicht.“

Dicht bei der Hirschfutterung in „Schlechterskampe“ steht eine mächtige Eiche, in deren Geäst eine Kanzel erbaut ist, von der aus wir die Hirsche, das Wild und auch einige Sauen beobachtet hatten, wie sie langsam nach den vollen Raufen herangezogen kamen – immer vorsichtig sichernd, ob auch die Luft rein wäre und ihnen keine Gefahr drohte. Zuerst war das Leittier an die Raufen getreten, dann war das geringe Zeug hingeeilt, hatte sich gedrängt und geschoben; zwei Schmaltiere hatten sich auf die Hinterläufe gestellt, die Luser (Lauscher) wie bissige Pferde zurückgelegt und „gefrangt“, sich spielend mit den Vorderläufen „geschnellt“. Plötzlich aber war die ganze Gesellschaft auseinander geprescht, als wäre eine Bombe zwischen ihnen geplatzt – vor einem Nichts, einer eingebildeten Gefahr – dann war das Kahlwild wieder herangetreten, und auch die Hirsche kamen angetrollt – zuletzt die starken, die „jagdbaren“, von denen ein Sechzehnender den Schluß bildete. Wo ein solcher ehrwürdiger Herr an die Raufe trat, wurde ihm sofort respektvoll Platz gemacht – und wagte es einmal ein Alttier oder geringer Hirsch, auf sein gutes Recht zu pochen und stehen zu bleiben, so machte er sie mit einem seitlichen Schlage des Geweihes darauf aufmerksam, daß hier der Wille des Stärkeren das höchste Gesetz sei.

Jetzt war alles Wild verschwunden, höchstens sahen wir noch einmal in der Ferne ein Stück zwischen den Stämmen auftauchen. Langsam kletterten wir die Leiter herab. Der fast kniehoch liegende pulverige Schnee dämpfte unsere Schritte und wir gingen so leise, als schritten wir auf Dunen dahin. Kein Luftzug regte sich, kein Wölkchen stand am Himmel; die Sterne glitzerten und funkelten wie tausend Diamanten und die Vollmondscheibe beschien mit lichtem Glanz die Bäume und malte die Zweige in ihren feinsten Linien auf den weißen Schneeteppich, durch den überall die Fährten des Wildes Pfade gezogen hatten.

Unser Weg führte uns am Rande einer Fichtenschonung hinaus, hinter welcher Bnchenhochwald lag. Bei solcher Kälte ist man nicht zum Sprechen aufgelegt, der Bart ist gefroren und die eisige Luft liegt schwer auf der Brust. Aber Freund Grünrock flüsterte mir trotzdem zu, ruhig zu sein und leise zu gehen, da allabendlich um diese Zeit in den hohen Buchen eine Rotte Sauen bräche – vielleicht hätten wir Glück und könnten sie beobachten.

Als wir das Ende der Schonung erreicht hatten, schob ich langsam den Kopf hinter den schneebedeckten Zweigen der letzten Fichte weg – richtig, oben am Hange bewegte es sich zwischen den Stämmen und schwarze Schatten hoben sich scharf von der weißen Schneedecke ab, aber zu weit von uns, als daß wir die einzelnen Stücke deutlich hätten sehen können, und wenn ich das Glas ans Auge setzte, so war es beschlagen, bevor es seinen Zweck erfüllt hatte. Aber die schwarzen Schatten schienen näher zu kommen, und wir hatten noch keine 5 Minuten gestanden, da trollte die schwarze Gesellschaft eins hinter dem andern in langer Linie fast geradeswegs auf uns zu. Unter einer dicken Samenbuche, die kaum 50 Schritte von uns entfernt stand, wurde Halt gemacht, und hier fing die „Rotte“ auch gleich an, unter Schnee und Blättern knurrend und schmatzend nach Buchmast zu suchen. Aber nicht lange sollte für uns das Vergnügen dauern, die borstige Rotte in so unmittelbarer Nähe bei ihrer Arbeit beobachten zu können. Trotzdem sich kein Zweig bewegte, mußte doch ein unmerklicher Hauch nach den Schwarzkitteln hinziehen, der starke Keiler, der uns am nächsten stand, warf auf, äugte nach uns herüber, blies zischend den Wind durchs Gebräch – ruff! und trollte bedächtig, gefolgt von der ganzen Gesellschaft, der nahen Dickung zu. Karl Brandt.     

Allers’ Hochzeitsreise nach Italien. (Zu den Bildern S. 805 und 820.) Nach dem Abschluß der schönen Bildercyklen, die den großen Einsiedler in Friedrichsruh zum Helden haben und daher neben ihren künstlerischen Reizen die Eigenschaft wichtiger zeitgeschichtlicher Dokumente besitzen, lenkt C. W. Allers [820] mit seinem neuesten Werke wieder in die Bahnen ein, auf denen er zuerst zu Ruhm und Beliebtheit gelangte. Seiner „Hochzeitsreise in die Schweiz“ läßt er jetzt als Gegenstück eine „Hochzeitsreise nach Italien“ folgen (Stuttgart, Verlag der „Union“). Die Fülle von Poesie, welche die drei Worte des Titels heraufbeschwören, findet sich auf den zahlreichen Blättern dieser prächtigen Bildermappe in einer Weise versinnlicht, die dem jungen Menschenpaar, das unter dem Himmel Italiens die Wonnen seines Honigmonds genießt die gleiche Rücksicht schenkt wie der zaubermächtigen Schönheit der italienischen Landschaft, den blauen Seen zwischen Locarno und Como, den herrlichen Städten Oberitaliens von Genua bis Venedig. Und die Poesie einer solchen Reise ist auch solchen nicht fremd, welche nicht in der Lage waren, für den Traum der Brautzeit von ewigem Lenz und ewigem Glück in den Orangenhainen der Isola madre Bestätigung zu suchen, in denen wirklich ein ewiger Frühling herrscht. In diesen herrlichen Gegenden hat die Kunst der Dichter und Maler uns alle heimisch gemacht, und Mignons Sehnsuchtslied mit seinem Lockruf: „Dahin, dahin – möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!“ – welchem Mädchenherzen wäre es fremd geblieben? Wer aber nun gar, ein treues Lieb an der Seite, wirklich dieselben Straßen gezogen ist, auf denen wir auf Allers’ Bildern das junge lebensfrohe Paar das eigene Herzensglück im Einklang mit der Schönheitswelt des Südens genießen sehen, wer wie sie mit der Gotthardbahn nach Lugano, in sanftschaukelndem Nachen nach den Borromeischen Inseln, in der schlanken Gondel Venedigs durch den Canale Grande in die Lagune zur Piazetta gefahren ist, auf welche die leuchtende Front des Dogenpalastes ihren magischen Schein wirft… dem erneut sich durch die lebendige Darstellung das einstige eigne Glück, und holdselige Träume, süß wie Magnolienduft, versetzen uns zurück in jene Tage, deren Symbol das strahlende Blau des südlichen Himmels war!

Ankunft auf italienischem Boden.

Wie es dem Künstler auch diesmal wieder gelungen ist, während er gleichsam eine Novelle in Bildern erzählt und die Schicksale seines Hochzeitspärchens uns vorführt, auch das reichbewegte Volksleben jener Stätten und das für den Fremdenverkehr dort Typische vortrefflich zu charakterisieren, davon liefern die drei Bilder, die unsere Nummer auf S. 805 und nebenstehend wiedergiebt, bezeichnende Proben. Man braucht kein Hochzeitsreisender zu sein, um in ähnlicher Weise und mit gleicher Freude an der Umgebung die Gondelfahrt zu genießen, die jeden Ankömmling in Venedig vom Bahnhof zu seinem Gasthofe bringt. Den lärmenden Attacken einer trinkgeldhungrigen Straßenjugend ist überall in Italien jeder ausgesetzt, der auf irgend einer Ankunftsstation sich unterfängt, sein Gepäck persönlich tragen zu wollen. Und auf dem Markusplatz in Venedig, wo die dem Schutzpatron der Stadt geweihten Tauben zu Hunderten sich herumtreiben, immer bereit, das ihnen dargebotene Futter mit großer Zutraulichkeit auch aus fremder Hand aufzupicken, gehören Bilder von ähnlicher Anmut wie das untenstehende zur täglich sich erneuernden Staffage. Die herumflatternden schmiegsamen Tauben mit ihrem schimmernden Gefieder treten dabei in ein reizvolles Wiederspiel mit den graziösen Bewegungen weiblicher Jugend. Und Futter ist immer zu haben. Mitten unter den Markustauben bewegen sich die Händler, die mit unerschütterlichem Gleichmut ihre Tüten mit Korn ausbieten: „Compra grano per i colombi!“P.     

Die Tauben auf dem Markusplatz in Venedig.
Aus dem Prachtwerk „Hochzeitsreise nach Italien“ von C. W. Allers.
(Verlag der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.)

Der Wald in Deutschland. Das Deutsche Reich hat eine Bodenfläche von 540 483 qkm. Fast ein Zehntel davon ist „unproduktiver Boden“, der mit Gewässern, Wegen, Haus und Hofräumen bedeckt ist; nahezu die Hälfte (47,8 %) hat der Mensch in Acker und Gartenland verwandelt; Wiesen, Weiden und Hütungen erstrecken sich über 16% der Fläche und der Wald bedeckt ein Viertel der Fläche des deutschen Bodens. Deutschland steht in dieser Hinsicht hinter Oesterreich-Ungarn und Rußland, in welchen Ländern die Waldungen sich über 30% und 35% der gesamten Bodenfläche erstrecken. Es ist aber gottlob noch lange nicht so entholzt wie Frankreich, dessen Waldbestand nur 17% der Bodenfläche beträgt, oder gar Großbritannien, wo Wälder selten geworden sind und nur 3% des Landes einnehmen. Unter den deutschen Staaten ist Baden der waldreichste. Der Wald macht hier 37% der Gesamtfläche aus; nach ihm folgt Bayern mit 33%, die thüringischen Staaten mit 32%, Hessen mit 31%, Württemberg und Elsaß-Lothringen mit je 30%. Preußen und Sachsen halten die Mitte mit etwa 25%, während Oldenburg mit nur 10% als das waldärmste Land im Deutschen Reiche bezeichnet werden muß. Im Laufe der Zeit ist der Wald nicht nur räumlich zurückgegangen; auch sein Charakter hat sich verändert. Der Laubwald ist immer mehr zurückgetreten, während der genügsamere Nadelwald verhältnismäßig an Verbreitung gewonnen hat. So hat Bayern nur eine halbe Million Hektar Laubwald und 2 Millionen Hektar Nadelwald, während in Preußen 2½ Millionen Hektar Laubholz 5½ Millionen Hektar Nadelholz gegenüberstehen.

Versteckt. (Zu dem Bilde S. 817.) Den strammen Holsteiner Bootsführer hat die Sehnsucht nach seiner jungen Frau, kaum daß er an Land war, schnell nach Hause getrieben; das hübsche spitzbübische Weibchen aber will ihm den Genuß des bereitgestellten Kaffees noch durch eine vorhergehende kleine Enttäuschung erhöhen und versteckt sich hinter dem großen Glasschrank, dem Prunkstück ihrer Ausstattung, aus welchem die blitzblanken Kannen und Gläser so angenehm hervorleuchten. Suchend blickt er zur Thüre herein: nichts zu sehen als die hingeworfene Arbeit und die Wärmkiepe vor dem Stuhl. Aber o! er kennt bereits die Schelmenstreiche seines Weibchens und späht aus, natürlich mit dem Ungeschick eines Seebären nach der verkehrten Seite. Nun, bei den Raumverhältnissen seines jungen Haushalts wird er nicht lange zu suchen brauchen und dann seinen Kaffee so bald und so warm bekommen, als es unter diesen verheißungsvollen Aussichten nur immer möglich ist. Bn.     


Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (10. Fortsetzung). S. 805. – Gondelfahrt in Venedig vom Bahnhof zum Hotel. Bild. S. 805. – Mehr Ruhe! Ein hygieinischer Mahnruf von vr. A. Kühner. S. 808. – Schwarzwild im Schnee. Bild. S. 809. – Die Wasserwunder von Plitvice. S. 811. (Zu dem Bilde S. 813.)– Kindersüßchen. Novelle von Victor Blnthgen (Schluß). S. 812. – Die Plitvicer Seen in Kroatien. Bild. S. 813. – Aus Karl Vogts Jugendzeit. Von Johannes Proelßs. 816. – Versteckt. Bild. S. 817. – Blätter und Blüten: Schwarzwild in Schnee. Von Karl Brandt. S. 81n. (Zu dem Bilde S. 809.) Allers’ Hochzeitsreise nach Italien. S. 819. (Zu den Bildern S. 805 und 820.) – Der Wald in Deutschland. S. 820. – Versteckt. S. 820. (Zu dem Bilde S. 817.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 48. 1896.


Vom Weihnachtsbüchertisch. Als man unlängst die Frage, wer in Deutschland zur Zeit der gelesenste Autor sei, durch statistische Erhebungen in den Volks- und Leihbibliotheken zu beantworten suchte, stellte sich heraus, daß die Romane von W. Heimburg und E. Werner es sind, die sich gegenwärtig der größten Nachfrage erfreuen. Die Leser der „Gartenlaube“ kennen die Ursachen dieser Beliebtheit. Schätzen sie doch selber seit langem die besonderen Vorzüge gerade dieser Erzähler: die das Gemüt anheimelnde, dabei spannende Darstellungsweise, die ergreifende Gestaltung von Schicksalen, die das reinmenschliche Mitempfinden erregen! Diese Beliebtheit ist in ganz besonderem Maße den schön ausgestatteten illustrierten Ausgaben der „Gesammelten Romane und Novellen“ der Genannten zu gute gekommen, ein Beweis, wie gern diese Erzählungen wieder und wieder gelesen werden, nachdem die erste Bekanntschaft mit ihnen durch die „Gartenlaube“ vermittelt wurde. Die illustrierte Ausgabe der bisherigen Wernerschen Erzählungen, die auf 10 Bände geplant war, ist soeben vollständig geworden; der letzte Band enthält, von Oskar Gräf mit zahlreichen Abbildungen versehen, den Roman „Die Alpenfee“. Dagegen hat der Verlag von Ernst Keil’s Nachs. in Leipzig, nachdem die erste Reihe illustrierter Romane und Novellen von W. Heimburg schon früher ihren Abschluß gefunden, eine „Neue Folge“ in Angriff nehmen können, welche auf 35 Lieferungen zu 40 Pf., bezw. 5 Bände geplant ist. Der 1. Band, „Mamsell Unnütz“, von W. Claudius schön illustriert, liegt in seinem hübschen Einband bereits vor. Neben diesen Bänden legt der Keilsche Verlag auch schmucke Buchausgaben von E. Werners letztem großen Roman „Fata Morgana“ und den zwei Novellen „Der Egoist – Der höhere Standpunkt“ auf den Weihnachtstisch, ferner die stimmungsvolle Erzählung aus der Jugendzeit J. S. Bachs „Sturm im Wasserglase“ von Stefanie Keyser, den spannenden Roman „Forstmeister Reichardt“ von Marie Bernhard und in 3. Auflage das ergreifende Zeitbild „Aus eigner Kraft“ von Wilhelmine v. Hillern. Die vorm Jahre beim Erscheinen in der „Gartenlaube“ mit so viel Beifall aufgenommenen geist- und lebensvollen Erzählungen „Vater und Sohn“ von A. Wilbrandt und „Die Lampe der Psyche“ von Jda Boy-Ed kamen in Buchform bei Cotta heraus. Besonders anziehende Ausstattung hat die reizende Zusammenstellung kürzerer Novellen Ernst Lenbachs erfahren, deren Titel „Auf der Sonnenseite“ treffend den sonnigen Humor und die heitere Lebensanschauung kennzeichnet, die in ihnen walten. Der reiche Bilderschmuck stammt von verschiedenen Künstlern, Mandlick, Reinicke, Buchner u. a.; eine ganze Reihe jener Geschichten, die den Namen des rheinischen Poeten so schnell beliebt gemacht haben, wie „Stropp der Hund“, „Mäuschen“, „Maien“, finden sich in dem anmutigen Bande vereinigt. Nicht geringere Anwartschaft auf freundliche Aufnahme bei unseren Lesern haben gewiß die folgenden drei, gleichfalls durch echten, gesunden Humor ausgezeichneten Bände: „Aus unserer Zeit“ von H. Villinger, „Aus alten und neuen Tagen“ von Hans Arnold (beide illustriert im Verlag von A. Bonz & Comp. in Stuttgart) und „Stille Geschichten“ von Eva Treu (Lühr und Dircks in Garding).

Probe-Illustration aus der Illustrierten Ausgabe von E. Werners
„Gesammelten Romanen und Novellen“.

Einem deutschen Volkserzähler ersten Ranges, welcher aber während seines kurzen Lebens nicht den verdienten Erfolg fand, dem schon im Alter von 30 Jahren verstorbenen Thüringer Volksschullehrerssohn Heinrich Schaumberger, widmet J. Zwißler in Braunschweig eine ebenfalls künstlerisch illustrierte Ausgabe seiner „Gesammelten Werke“. Der uns vorliegende erste Band enthält, von Köselitz illustriert, die oberfränkische Dorfgeschichte „Im Hirtenhaus“. Als kurz nach Schaumbergers Tod in der „Gartenlaube“ die allgemeine Aufmerksamkeit auf Schicksal und Bedeutung dieses Dichters durch Friedr. Hofmann gelenkt ward, rühmte er „Im Hirtenhaus“ mit Recht als ein wahres Volksbuch. Möge es auch in der neuen Ausgabe eine stets wachsende Verbreitung finden! Auf Thüringer Boden wie diese nordfränkische Dorfgeschichte ist der ansprechende Inhalt der neuen Gabe von A. Trinius „Im Banne der Heimat“ (Minden, Bruns) erwachsen. In frischester Schaffenskraft stehend, hat sich neuerdings Ludwig Ganghofer mit seinen großen historischen Romanen „Der Klosterjäger“ und „Die Martinsklause“ an die Spitze derer gestellt, die Natur und Volk des deutschen Hochgebirges in breitgespanntem Rahmen künstlerisch schildern. Auch die illustrierten Buchausgaben dieser Romane haben, wie die neuen Auflagen beweisen, sich des verdienten Erfolgs zu erfreuen. In gleicher Ausstattuug, von H. Engl mit Bildern geschmückt, lassen Bonz & Comp. diesen geschmackvollen Bänden jetzt die Sammlung von Ganghofers älteren Dorfgeschichten aus dem bayerischen Hochgebirge „Bergluft“ folgen – auch die epische Gestaltung des „Herrgottschnitzers von Ammergau“ befindet sich in dem Bande. Ein neuer größerer Roman Ganghofers, „Die Bacchantin“, mit Abbildungen von A. F. Seligmann, spielt dagegen in ganz anderer Umgebung; ein moderner Künstlerroman, der bald Wien, bald Sorrent zum Schauplatz hat, setzt er beim Leser Verständnis für das Seelenleben eines von düsterem Mißgeschick verfolgten hochstrebenden Künstlers voraus. Auch Peter Rosegger tritt uns in doppelter Gestalt entgegen, mit lachendem und ernstem Gesicht. In zweiter, sehr vermehrter Auflage reicht er uns den Band „Stoansteirisch“ (Graz, Leykam), der all die lustigen Schnurren und Schwänke umfaßt, die er dem Volksleben seiner engeren Heimat scharfäugig abgelauscht hat und deren herzerfrischender Humor von der innigsten Menschenliebe durchwärmt ist. Diese ist es auch, welche den reinen Quell des tragischen Heldentums bildet, das uns die neue Erzählung „Das ewige Licht“ (Leipzig, Staackmann) in dem erschütternden Lebensbild eines steirischen „Waldpfarrers“ vorführt. Verwandt in der Grundstimmung mit dieser tiefpoetischen Erzählung Roseggers ist „Aus fremder Seele“ von L. Andreas-Salomé (Stuttgart, Cotta); auch hier werden uns ergreifende Seelenkämpfe eines in ländlicher Einsamkeit wirkenden Pfarrers in meisterhafter Weise geschildert. Aehnlich, wie Rosegger weiß in seiner Heimat der Tiroler R. H. Greinz Bescheid, dessen historische Erzählung „Die Rose von Altspaur“ (Leipzig, G. H. Meyer) einen erfreulichen Beweis davon liefert. Vom Standpunkt eines Großstädters, der als Stammgast einer Sommerfrische Zeuge des Geschilderten wird, ist dagegen des Wieners Hevesi humoristischer Sommerroman „Die Althofleute“ erzählt, dessen anmutiger Eindruck noch durch zierliche Illustrationen von W. Schulz erhöht wird (Stuttgart, Bonz). Der Verfasser von „Alte und neue Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto“, S. Kohn, hat in früheren Jahren durch den Roman „Gabriel“ sich den Ruf eines vorzüglichen Kenners altjüdischen Lebens, im besonderen des einstigen Prager Ghettos, von poetischer Darstellungskraft erworben; auch der neue Band (Zürich, C. Schmidt) verdient dieses Lob. Und als ausgezeichneter Darsteller des Lebens in unseren alten Hansestädten und ihren am Meeresstrand sich hinstreckenden Umgebungen bewährt sich Hermann Heiberg, wie schon so oft, auch in seinen stimmungsreichen Novellen „Aus allen Winkeln“ und dem Roman „Menschen untereinander“ (Leipzig, G. Fock).

Mitten in die geistigen und sozialen Kämpfe der Gegenwart, welche derselben ihren Charakter verleihen, führt der interessante Roman „Moderne Jugend“ von Bianca Bobertag (Stuttgart, Cotta). Wendet er sich daher auch nur an einen Leserkreis, in welchem volles Verständnis für diese Kämpfe herrscht, so darf er in diesem auch auf besondere Anerkennnng seiner eigenartigen poetischen Vorzüge rechnen. Weniger scharf ist in R. v. Gottschalls unterhaltendem Zeitroman „Moderne Streber“ (Jena, Costenoble) die im Titel angedeutete Tendenz ausgeprägt. Ein ernstes Problem, dessen Motive Anklänge an Goethes „Wahlverwandtschaften“ haben, bildet die Grundlage von Ernst Ecksteins neuem Roman „Roderich Löhr“ (Berlin, Grote), dessen handelnde Personen gleichfalls echte Kinder unserer Zeit sind. Desselben Autors farbenprächtiges Gemälde aus der römischen Kaiserzeit „Nero“ durfte soeben die 5. Auflage (Stuttgart, Cotta) erleben. Als ein hocherfreuliches Zeichen, daß das große poetische Talent von Marie v. Ebner-Eschenbach, nachdem es sich längst der wärmsten Anerkennung in engeren Kreisen erfreut hat, nun auch zu den breiteren Wirkungen gelangt, für die ihre Werke berufen sind, begrüßen wir schließlich das schnelle Erscheinen neuer Auflagen ihrer größeren Erzählung „Božena“ und der Sammlung ihrer kleineren „Erzählungen“. Diese warmherzige Seelenforscherin und Seelenkünderin, die in den Hütten ihrer mährischen Heimat ebenso vertraut ist wie auf den Höhen des Lebens, das Wiener Volksleben ebenso treu zu schildern weiß wie das Leben in den Herrensitzen des österreichischen Adels, vermag, wo sie volkstümlich erzählt, mit so einfachen Mitteln zu rühren und zu ergreifen, daß sich niemand dem Zauber ihrer machtvollen Gestaltungskraft entziehen kann. Und mit gleicher Sympathie verzeichnen wir das Anwachsen der Wertschätzung, deren sich die Novellen und anderen Werke W. H. Riehls zu erfreuen haben; neben einer 4. Auflage der „Religiösen Studien eines Weltkinds“ erinnert die 3. Auflage der Novellen „Am Feierabend“ daran, welchen Schatz die deutsche Familie dem kerngesunden Geiste dieses gemütstiefen Denkers und Dichters zu danken hat.

[820 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Z. B. Entscheidung des Landgerichts München v. J. 1895.