Die Gartenlaube (1896)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 49.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Das alte Christkindchen.

Seht her, was ich euch mitgebracht!
Ich weiß, daß es euch Freude macht.
Ihr habt geschmückt den Weihnachtsbaum
Bis zu der Zweige fernstem Saum.
Die Krippe und das Elternpaar,
Die Engelschar und Hirtenschar
Im Moose prangt – eins aber doch,
Ihr lieben Kinder, fehlt euch noch!
Hoch oben, auf der höchsten Spitz’
Der Tanne ist des Christkinds Sitz –
Und daran hab’ ich heut’ gedacht,
Und euch ein Christkind mitgebracht
In Gold und Flitter! Schaut’s euch an!“ –
„Mama, das war sehr wohlgethan!“ – –

Das war vor vierunddreißig Jahren,
Da wir blutjunge Eh’leut’ waren.
Das war die Mutter, die beglückt
Den Weihnachtsbaum erst recht geschmückt
Uns Kindern, die zum erstenmal
Den Weihnachtsbaum geziert im Saal.

[822]

Mir ist, als ob’s seit gestern kaum,
Daß ich geschmückt den Tannenbaum,
Hoch oben auf der Treppe stand,
Das Christkind in den Wipfel band.
Nun hat schon vierunddreißigmal
Das Christkind angeschaut im Saal
Sich die Bescherung, hat gesehen
Im Kreise Alt’ und Junge stehen,
Vernahm vom Turm das Festgeläut’,
Hat sich am Elternglück erbaut,
Sah, wie die Mädel sich gefreut
Und wie ein Jung’ den andern haut’!
Ach, immer war in unserm Nest

Weihnachten ein vergnügtes Fest!
Und, wie wir auch gesorgt, gelitten,
Wenn Weihnacht kam ins Land geschritten,
Lebendig war in jeder Brust
Die echte, rechte Christtagslust –
Und war einmal zu wüst ein Kind,
Dann sprach die Mutter, ernst gesinnt:
„Du, Du! Ja, schämst Du Dich denn nicht
Hier vor des Christkinds Angesicht?“
Und stille ward’s im Kreis der Kleinen,
Ein Ende nahm das Schrei’n und Weinen,
Und zu dem Kindlein im Geäst’
Sah man empor am Weihnachtsfest
Und war gehorsam, lieb und gut. –

Von Kerzendampf, von Lichterglut
Ist nun geschwärzt das Weihnachtskind,
Verblichen Gold und Silber sind,
Ein Wachsfleck hat beschmutzt das Kleid;
Doch alle Puppenherrlichkeit
Wiegt uns nicht auf, was zum Geschenk
Einst Mutter gab, und eingedenk
Sind wir der schönsten Tage immer,
Wenn in der Weihnachtslichter Schimmer
Das „alte Christkind“ niederblickt. – –

Nun hat Gott tiefes Leid geschickt;
Mein liebes Weib ist heimgegangen –
Heut’ wird kein Christkind aufgehangen,
Kein Weihnachtsbaum streut Flammen aus
Jetzt in des alten Witwers Haus –

[823]

Der aber hat in diesen Stunden
Bei Kind und Enkeln Heim gefunden!
Mit seinen Lieben, nah’ und fern,
Weiß er im Glanz vom Weihnachtsstern
Sich eins, und keine Trauer soll
Verdunkeln Herzen, freudevoll.
Und, wenn uns Gott das Leben schenkt,
Der Großpapa im stillen denkt,
Sei in des eignen Hauses Welt
Für alt und jung das Fest bestellt
Wenn erst ein Jahr vorbeigegangen –
Dann wird das Christkind aufgehangen,
Das volle vierunddreißig Jahr’
Der Weihnachtsfreuden Zeuge war.

 Emil Rittershaus.

[824]

Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (11. Fortsetzung.)

14.

In dem vormals so lebhaften Brücknerschen Hause war es sehr still geworden. Die langen Wochen schlichen ohne Ereignisse einförmig dahin und die Frau Geheimrat, sonst die Seele der Geselligkeit, überließ jetzt das Veranstalten und Betreiben von Festen den anderen. Sich an Lisbeth näher anzuschließen, deren geräuschloses aufopferndes Walten sie längst als etwas Selbstverständliches betrachtete, kam ihr nicht in den Sinn, ja, sie fühlte sich eigentlich stets gereizt durch die Wahrnehmung, wie intim Lisbeths Verkehr mit dem Römerschen Hause war und blieb. Dort stellte sich nun allmählich klein Liesel auf ihre dicken Füßchen und war ein so ausgemachtes Wunderkind, als nur je eines das Entzücken liebender Großeltern und einsamer Tantenherzen erregte. Arnold war froh, sein Kind in so guter Obhut zu wissen; ihn selbst traf bald nach Gertruds Tode der Ruf in das Reichspostamt nach Berlin, und obgleich die Eltern sein Scheiden beklagten, mußten sie sich doch sagen, daß eine solche neue und starke Thätigkeit ihm wohl am besten über die erste schwere Trauerzeit hinweghelfen würde. So hatte Lisbeth dort viel mit zu erleben, aber sie selbst brauchte ebenfalls recht notwendig die Wärme der gemütlichen Familienstube bei ihren alten Freunden und die Liebe des blonden Lockenköpfchens, das sich so besonders gern an ihre Schultern schmiegte. Denn in ihrem eigenen Hause senkten sich die Wolken immer tiefer. Die Geheimrätin hatte, so schwer es ihr ankam, von Waldens ehelichen Zerwürfnissen sprechen müssen; da sie ihren Gatten dabei nach Möglichkeit schonen wollte, so war es eben immer wieder Lisbeth, die ihre Klagen anzuhören hatte. Seit sie wieder ihre gewohnte Autoritätsstellung zu Hause einnahm, beurteilte sie Elfes Betragen gegen ihren Mann und Waldens Schwäche und Inkonsequenz noch um vieles schärfer als vorher.

Sie schrieb ausführlich an Elfe, bat, beschwor sie, sich zu ändern, um nicht schließlich durch eigene Schuld das schätzbare Gut einzubüßen, das ihr zugefallen war, und grämte sich bitterlich darüber, daß ihre Tochter es nicht für nötig hielt, davon Notiz zu nehmen. Dann, als sie trotzdem, getrieben von ihrem mütterlichen Pflichtgefühl, nicht abließ, antwortete Walden darauf und bat sie, diese gewiß sehr gutgemeinten, aber seine Frau zu sehr erregenden Ermahnungen doch zu lassender kenne seine Elfe, wisse, wie wenig ernst ihre Neckereien und Vorwürfe zu nehmen seien, und meinte schließlich, er sähe bestätigt, daß keine dritte Person ein eheliches Verhältnis richtig beurteile, nicht einmal eine so zärtlich liebende Mutter wie sie.

Die Geheimrätin warf in heftigem Aerger den Brief auf den Tisch; diesem Manne war also nicht zu helfen, sie würde kein weiteres Wort in der Angelegenheit und in seinem Interesse verlieren – mochte er die Folgen seiner Schwäche tragen! Dann versank sie, tief in den Sessel zurückgelehnt, in unerfreuliche Gedanken. Das war nun der Lohn ihrer rastlosen sorglichen Muttertreue! Alles mißglückt, nirgends ein Trostpunkt! Selbst Lisbeth, an der persönlich nichts auszusetzen war, wie fern und fremd stand sie der Mutter durch ihre Verständnislosigkeit für die höheren Lebensziele gegenüber! Welche gewöhnliche Neigungen! Ob sie, die Geheimrätin, wohl je im Leben auf den Gedanken gekommen wäre, sich derartig intim mit einer Volksschullehrersfamilie einzulassen! Und nicht allein, daß sie diese Freundschaft pflegte, sie ging sogar so weit, derselben in jeder Gesellschaft zu erwähnen, sich gewissermaßen dieser Beziehungen zu rühmen. Immer, wenn sie etwas Gutes, Braves, Nachahmungswertes bezeichnen wollte, schwebte der Name Römer auf ihren Lippen! Und gar die Zärtlichkeit für das Enkelchen der alten Leute! Täglich mußte sie das Kind sehen, und in den Nachtstunden saß sie in ihrem Zimmer bei der Lampe, um Püppchen, Spielereien oder zierliche Kleidungsstücke für dasselbe zu arbeiten. Und konnte man annehmen, daß dieses nur Aeußerungen einer freundschaftlichen Empfindung waren, oder stand der Geheimrätin das schon einmal Erlebte aufs neue bevor? – Ach, daß auch die Frau dieses Arnold Römer sterben mußte, diese Frau, gegen welche sie unausgesprochen immer ein dankbares Gefühl gehegt, weil sie ihr eine Sorge vom Herzen genommen hatte, deren Schwere sie jetzt noch fühlte!

Zehn Jahre waren es nun her, daß dieses Stück spielte, zehn Jahre, daß sie alles gethan, um Lisbeth von einem Schritte zurückzuhalten, der in ihren Augen gleichbedeutend mit Schande war. Ihre Tochter – die Braut eines Postschreibers! Wie hatte sie sich gesorgt, wie viel dagegen geredet und wie über die Möglichkeit zu Lisbeth gespöttelt, bis sie einen Erfolg ihrer Vorstellungen bemerkte und ihr dann selbst die gehegte Befürchtung grundlos erschien! Aber daß Lisbeth seit jener Zeit eine so ganz andere geworden war, so schweigsam und frühreif und daß ihr kindlicher Frohsinn ganz und für immer schwand, hatte ihr dann gezeigt, wie ernst die Sache gewesen und wie recht sie gehabt, doch so energisch einzugreifen. Und jetzt, nach zehn Jahren, kamen die gleichen Sorgen wieder und sie mußte sich sagen, daß ihre älteste Tochter nicht mehr das weiche, biegsame Geschöpf von ehedem war, das sich ihren Ansichten und Wünschen in diesem Punkte unterordnete. Wenn sie ihr Herz an ihn gehängt, würde sie sein Weib werden, sobald er sie dazu erwählte, ganz ohne Rücksicht, ob ihre Eltern darunter litten, sie in solcher „untergeordneten Lebensstellung“ zu sehen! Welch’ ein Glück war es unter diesen Umständen, daß Arnold Römer nach Berlin versetzt war! Vielleicht fand er dort einen Ersatz für Gertrud, und der bittere Kelch ging dann auch dieses Mal an ihnen vorüber!

„Man sollte eigentlich nicht eher Befürchtungen hegen, als bis die Ereignisse in Sicht kommen, es ist doch auch viel unnötiger Kummer, den man sich mit dem Voraussorgen macht,“ sagte sie sich oft auch wieder zum Trost. Das Zusammenleben mit Leo hatte sich doch auch verhältnismäßig besser gestaltet, als sie nach ihres Mannes und Lisbeths Briefen erwartet hatte. Er hielt sich zwar sehr zurück, versäumte aber keine Höflichkeit, und der finstere Gesichtsausdruck war einem zwar ernsten, aber auch energischen gewichen, der ihr einen gewissen hoffnungsvollen Mut einflößte. Er lag nicht mehr stundenlang unbeschäftigt in seinem Zimmer auf dem Sofa. wie in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr, sondern saß jetzt fest hinter den Büchern und arbeitete mit einer Zähigkeit, als könnte er das Versäumte nicht schnell genug nachholen. Ins Wirtshaus ging er nie, und wenn er gegen Abend das Haus verließ, so war es sicher nur, um einen Spaziergang zu machen, denn wenn er auch zuweilen länger fortblieb, so fand er sich immer wieder zur guten Zeit zu Hause ein, wie das sonst nicht bei ihm Sitte gewesen war. Wo er diese Stunden verlebte, sagte er nicht, und daß sie ihm das Lebenselixir waren, das ihm Mut und Kraft zum Ertragen der Gegenwart, Vertrauen und Glauben an sich selbst einflößte, empfand er vielleicht selbst nicht einmal klar bewußt. Aber der von Woche zu Woche intimer werdende Verkehr in der Giersbachschen Familie hatte ihn Frieden und Ruhe wiederfinden lassen, hatte ihm Selbsterkenntnis gebracht und ihn aufgerichtet, denn er sah sich von diesen vorzüglichen Menschen, die er täglich höher schätzte, geachtet und geliebt. Einmal hatte er auch daheim seiner Beziehungen zu ihnen erwähnt, als sein Vater ihn morgens am Kaffeetische nach der Ursache seines gestrigen verspäteten Heimkommens fragte.

„Ich traf beim Spaziergange den Herrn Oberst von Giersbach und der nahm mich mit nach Hause,“ sagte er, und der Geheimrat sah ihn verwundert an. Ob das wohl so stimmte? – Dann war es jedenfalls sehr merkwürdig! Er hatte nie gehört, daß Leo in der Zeit vor seinem Examen in des Obersts Familie zwanglos verkehrte, und was früher nicht gewesen war, würde jetzt gewiß nicht sein! Dem Wortlaut nach war es sicher richtig, Leo würde dem Vater keine Unwahrheit sagen, aber fraglos handelte es sich um irgend eine Geschäftslage in feinen Militärangelegenheiten, die ein Eintreten in das Arbeitszimmer des Oberst für einige Minuten zur Folge gehabt hatte! Deshalb war sicher nicht seine Heimkehr verspätet worden!

Auch die Geheimrätin meinte das Gleiche und schüttelte verständnislos den Kopf. Auf welche Thorheiten er noch verfällt, dachte sie. Sollten diese Worte nicht den Glauben erwecken, er sei im Hause des Oberst von Giersbach Gast gewesen? Als ob ihm so etwas noch jemand glauben würde! Ja, um den Verkehr mit solchen Leuten hatte er sich nun gebracht!

Ein anderes Mal ging Leo in Visitentoilette fort, und wieder war es der Vater, der ihn später nach dein Zwecke dieses Ausganges fragte.

„Ich war beim Regierungspräsidenten,“ antwortete er, „denn ich

[825]

Weihnachtskuchen.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

[826] mußte mich doch vergewissern, ob ich mich bei der Bewerbung um ein Kommunalamt auf sein mir früher gespendetes Lob beziehen darf.“

„Und was sagte er Dir?“

„Er sei zu jeder Empfehlung bereit.“

„Aber das ist ja wirklich sehr – gütig! Ich werde ihm gelegentlich meinen Dank aussprechen. Uebrigens war das wohl nur eine Form – die Angelegenheit mit der Stadtratsstelle in C. ist doch erledigt?“

„Ja,“ sagte Leo ruhig, „die ist längst besetzt. Aber das war wohl auch zu hoch gegriffen. Mit solchem Amt in solcher großen Stadt enden andere und bessere ihre Beamtenlaufbahn, ich werde also wohl kleiner anfangen müssen.“

Der Geheimrat - schwieg bekümmert und seine Gattin wand unter dem Tische die Hände nervös ineinander. Noch kleiner – noch kleiner – er, der sonst nur von den höchsten Aemtern und Würden geträumt – und wie gelassen er das sagte! War es nicht furchtbar, daß ein Mensch so herunterkommen konnte! –

Bei Waldens wurde, viel früher als man es erwartet hatte, ein Söhnchen geboren, das wenige Stunden nach seiner Geburt starb. Zunächst war es nur die Sorge um das Leben der jungen Frau, welche die Ihrigen in die größte Angst versetzte und wochenlang darin erhielt. Dann erst, nachdem eine Wendung zum besseren eintrat und die täglichen Briefe und Depeschen, welche Walden an seine Schwiegereltern sandte, zunächst einen beruhigenden Ton hatten und später die sichere Erwartung der Genesung aussprachen, begannen die Thränen der Frau Geheimrat über die so grausam zerstörten Hoffnungen zu fließen. Mein Gott, was sollte nun werden? Wie konnte der Himmel es zulassen, daß dieser einzige Rettungsanker versagte! Welch eine schöne und heilige Mission hatte dieses Kind erfüllen sollen, indem es seine Eltern in Liebe vereinte, sie zusammenfügte zu seelischer Gemeinschaft! Sie schloß die Augen vor der Zukunft, eine Ahnung sagte ihr, daß der Kummer um Elfe noch nicht seinen Höhepunkt erreicht habe und ihnen allen noch Schweres bevorstehe!

So lange Elfes Leben in Gefahr schwebte, hatten die Aerzte durchaus verlangt, daß jeder Besuch der Ihrigen unterbliebe. Nun sie es gestattet hätten, lehnte Elfe es ab, und die Mutter dankte es ihr. Sie selbst hätte ihren Gatten jetzt unter keinen Umständen verlassen, da die vielfachen Aufregungen ihn sehr nervös gemacht und auch körperlich so heruntergebracht hatten, daß sie vor allen Dingen auf ihn Rücksicht nehmen mußte, der am leichtesten sein Gleichgewicht im beständigen Zusammensein mit ihr wiederfand. Und Lisbeth nach Berlin zu schicken, wie es vorher verabredet gewesen war, hätte ihr jetzt auch neue Unruhe bereitet, denn Arnold Römer war ja dort, und in der Abneigung, die sie gegen ihn fühlte, erwog sie weder die räumliche Trennung, die auch dort zwischen den beiden bestehen würde, noch die durch die Pflege der Schwester bedingte Inanspruchnahme Lisbeths!

Elfe war ja auch wie eine Prinzessin versorgt. Die berühmtesten Aerzte der Residenz gaben sich ein Rendezvous an ihrem Krankenbette, erprobte Pflegerinnen lasen den leisesten Wunsch von ihren Augen, bewachten ihren Schlaf, wenn diese sich schlössen, und Walden schien nur noch den einen Lebenszweck zu kennen, alles herbeizutragen, was ihr gut thun, was sie stärken oder erfreuen könnte. Und als sie einmal, gerührt von dieser Güte, zu ihm sagte: „Ich bin so vieler Liebe gar nicht wert,“ kannte sein Entzücken keine Grenze und er wiederholte diese Worte so oft jedem, mit dem er in Berührung kam, daß man schon über den älteren Mann lächelte, der sich mit diesem dehnbaren Ausspruch seiner jungen schönen Frau brüstete.

So war der Winter hingegangen unter manchem Kummer und mancher Sorge; aber jetzt, da die Frühlingssonne durch jedes Fenster und in jedes Herz hineinschien, fand sie schon viel hellere Augen, sowohl bei den alten Römers, als bei Giersbachs und Brückners. Bei letzteren hatte sich der kleine Familienkreis noch verkleinert; Leo war, schon zum zweitenmal in den letzten Monaten, zu einem längeren Besuch nach dem kleinen Landstädtchen W. an der russischen Grenze, in welchem sein Freund als Arzt praktizierte, gereist, und vor acht Tagen hatte eine Karte den Seinen mitgeteilt, daß er in dieser Woche heimkehren würde.

Der Geheimrat mutmaßte, daß irgend ein Plan, irgend eine Besprechung wegen seiner Zukunft ihn dorthin führe, aber er fürchtete sich selbst so sehr vor immer neuen Enttäuschungen, daß er nicht fragen mochte, vor allen Dingen auch, um seiner Frau gegenüber mit Erfolg als Uneingeweihter zu erscheinen.

Eben brauste der Kurierzug in die Bahnhofshalle, und, seinen Handkoffer an sich nehmend, schwang sich Leo aus seinem Coupe in das Menschengewühl hinein, das auf dem Bahnsteige hin- und herflutete. Seine Augen überflogen dasselbe und ein erleichternder Atemzug ging über seine Lippen, als er kein bekanntes Gesicht erblickte. Mit mancher kräftigen Bewegung sich Platz schaffend, durchschritt er die Menge, wandte sich dann an einen Bahnhofsdiener und übergab ihm Gepäck und Reisemantel zur Besorgung, während er selbst, Krawatte und Hut noch ein wenig zurechtrückend, einen anderen Weg einschlug und nach einem ziemlich hastig zurückgelegten Gange den kleinen Stadtpark erreichte, der so unendlich oft im Herbste und Winter das Ziel seiner Wanderungen gewesen war.

Jetzt bedeckten den Boden schon sprießende Gräser, das Unterholz zeigte überall kleine Blättchen und die Bäume trugen so große Knospen, daß wohl der erste warme Regen sie springen ließ. In den Sonnenstreifen, die durch die Bäume fielen, spielten goldgelbe Falter.

Aber die Schönheit dieses Frühlingsabends kann die Gedanken Leos nicht fesseln. Er läßt unruhig den suchenden Blick auf den Weg nach der Stadt schweifen. „Wenn sie sich gesehnt hat wie ich mich nach diesem Zusammensein, dann muß sie kommen,“ murmelt er leise vor sich hin; „sie weiß es doch, daß vorgestern der entscheidende Tag war und daß ich somit heute hier sein kann!“

Und wie er wieder nach der Lichtung geht und spähend seine Augen umherschweifen läßt, da zuckt er freudig zusammen, denn dort biegt eben eine wohlbekannte liebe Gestalt in den Weg und wenige Minuten später in das Wäldchen ein, und Annie schreit hellauf, als plötzlich Leo vor ihr steht.

„Sie hier – wirklich, Sie sind zurück?“ ruft sie freudestrahlend, und wie er ihre beiden Hände in die seinen nimmt und zärtlich drückt, erklärt sie ihm hoch errötend dieses merkwürdige Zusammentreffen. „Das herrliche Wetter lockte mich heraus, und da wollte ich doch einmal sehen, ob hier auch schon Anemonen blühen wie in anderen Wäldern.“

Er sah zärtlich auf sie herab und fragte dann: „War das wirklich der alleinige Grund, Fräulein Annie? Sie wussten es, vorgestern war der große Tag für mich, da dachten Sie – gestehen Sie es nur: wenn er sich so gesehnt nach mir, wie ich mich nach ihm, dann kommt er heute zurück und kommt in unserer Stunde nach unserem Wäldchen, denn ich muß doch zuerst die Neuigkeit hören!

War’s nicht so?“ –und er legte leicht seinen Arm um ihre Schulter.

Sie errötete noch tiefer und ihre Augen flogen unruhig umher, bis sie mit seinen strahlenden zusammentrafen.

„So ungefähr –“ meinte sie stockend und sich ein wenig von ihm zurückziehend, um sich dann wieder lebhafter ihm zuzuwenden: „Also? – Was bringen Sie für Nachricht?“

„Gute!“ sagte er einfach und verschlang fast mit seinen Augen dieses rosige Geschichtchen, in dem die Freude in jedem Muskel zuckte „Sie sind gewählt!“ rief sie jubelnd und schlug die Hände zusammen. „Ihre Hoffnung ist erfüllt! Sind Sie nun auch sehr, sehr glücklich?“

„Gewiß!“ sagte er. „Man ging sehr gut mit mir um, fast einstimmig fiel die Wahl auf mich, und, Annie, ich sagte mir in jener Stunde immer wieder: ich will dieses Vertrauen verdienen!“

Sie nickte schweigend.

„Gestern hatte ich danach noch viele Besuche zu machen, viele Verabredungen zu treffen – ich kam nicht mehr recht zum Bewusstsein – und heute dann, als ich die vielen Stunden allein im Coupé saß, drängten sich mir erst die Schattenseiten dieses Schrittes auf, und ich habe eigentlich Schweres durchgemacht.“

Voll Verwunderung richteten sich ihre Augen auf ihn. „Ich verstehe Sie nicht.“

„Sehen Sie, Fräulein Annie, es sind doch nur kleine, ganz kleine Verhältnisse, in die ich hineinkomme.“

„Das wussten Sie doch, das konnte Sie doch nicht überraschen! Sie kannten ja das Städtchen von achttausend Einwohnern.“

„Und es sind auch ziemlich schwierige Zustände; die Stadt ist arm, und es ist durch die lange Krankheit meines Vorgängers in dem Kommunalwesen alles vernachlässigt und zurückgeblieben.“

„Wissen Sie nicht mehr, daß Papa Ihnen noch neulich gesagt, das sei gerade das Gute für Sie! Da könnten Sie Ihre Kraft zeigen und sich die Sporen verdienen.“

„Ich dachte bei der Betrachtung dieser Ärmlichkeit auch nicht an mich, sondern - -“

„An wen denn sonst?“ [827] „Sehen Sie, Fräulein Annie – – ich träumte einen Traum – einen beseligenden Traum, von einem zwar kleinen, aber reizenden Häuschen, in dem ein süßes Weibchen waltet und schaltet und ihres Eheherrn, des gestrengen Herrn Bürgermeisters, harrt, – aber das Häuschen war nur in meinen Träumen so reizend, in Wirklichkeit ist es enge und düster, wie alle Verhältnisse dort – – darf ich der Geliebten solche entsagungsvolle Zukunft anbieten, kann ich erwarten, daß mir zuliebe mein Schutzengel aus der sonnigen Sphäre seines gegenwärtigen Lebens herab in meine arme Hütte steigt, um –“

Sie hatte mit purpurroten Wangen vor ihm gestanden, das Köpfchen tief gesenkt; nun stahl sich eine Thräne unter den Lidern hervor, und die hoben sich und ihre Augen blickten ihn an in namenloser Liebe. Und plötzlich lag sie an seiner Brust und jubelte und schluchzte, und er bedeckte ihr Antlitz mit heißen Küssen und die Thränen rollten immer wieder und wieder aus seinen leuchtenden Augen in den Bart.

„Hier,“ flüsterte er ihr zu, „hier, an dieser Stelle war es, wo Du mich vor Verzweiflung rettetest – und hier wirst Du auch die Meine!“

„Ich war das längst,“ gab sie zurück und schmiegte sich fester in seine Arme, „mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzuge habe ich Dir gehört, seit ich Dich kannte, und siehst Du, Leo, bei mir bewahrheitet sich wieder das Wort: Wer ausharret, wird gekrönt! Zuweilen bin ich daran verzweifelt, daß dieses Glück mir werden könnte.“

„Dieses Glück! Süßes Herz! Andere werden Dich anders darüber belehren. Was habe ich Dir zu bieten, Dir, der man Gold und Ehren zu Füßen legen würde, um Dich zu erreichen!“

Sie lachte hell und lustig, ein bezauberndes, geringschätzendes Lächeln haftete an ihrem kleinen roten Munde.

„Gold?! – Kann man damit Glück kaufen – solch ein Glück, solch ein hohes, beseligendes Glück, wie uns die Liebe schafft? – und Ehren? – denkst Du, daß es für mich eine größere Ehre auf der Welt geben kann, als Leo Brückners Hausfrau zu werden? Schatz, Liebster, hilf mir, daß ich nicht übermütig werde, sondern mich immer dieses Glückes und dieser Ehre würdig zeige!“

Sie hielten sich wortlos in seligem Vergessen der ganzen Welt umschlungen.

„Laß uns nach Hause gehen, Leo,“ mahnte Annie endlich, „man wird mich schon vermissen, und Du wirst wohl nicht zaudern wollen, die Eltern so freudig zu überraschen.“ Er sah sie, indem ein Schatten über sein Gesicht flog, mit etwas unsicherem Ausdruck an, und sie hing sich liebevoll an seinen Arm.

„Papa wird sich furchtbar über den neugebackenen Herrn Bürgermeister von W. freuen,“ sagte sie, indem sie sich innig an ihn drückte, „und noch mehr über den Schwiegersohn, den er ja längst so zärtlich liebt, als wäre es der eigene Sohn.“

„Weißt Du das so gewiß, Annie?“

„Ja, das weiß ich gewiß, und nun komm’! – Ueberraschung gegen Ueberraschung – es erwartet Dich dort auch etwas Neues!“ – – –

Am anderen Morgen betrat Leo das Speisezimmer, als seine Eltern sich eben zum Frühstück niedergelassen hatten. Man begrüßte ihn mit jener mitleidsvollen Freundlichkeit, die er nun schon gewohnt war, und während man den Kaffee nahm, fragte man ihn nach seinem Ergehen, nach dem seines Freundes in W., und erzählte von den kleinen Vorkommnissen im Hause und von dem Inhalt der Waldenschen Briefe, ehe man zu den interessanten Stadtneuigkeiten überging. Lisbeth, vielleicht die einzige, die ihn schärfer beobachtete, bemerkte das Leuchten in seinen Augen, den Glanz, der über ihn ausgegossen schien; aber da weder Vater noch Mutter ein Wort dafür hatten, so schwieg sie auch.

Nun zündete der Geheimrat sich eine Cigarre an und griff nach der Morgenzeitung, seine Frau rückte ihm näher, um mit einzusehen, und während Lisbeth den Kaffeetisch abräumte, trat Leo ans Fenster, sah hinein in den sonnigen Frühlingsmorgen und überlegte, wie er jetzt wohl hervorkommen sollte mit all dem Glück, das ihm die Brust schwellte.

„Käthchen,“ rief in dem Augenblick der Geheimrat, „sieh’ her, das ist eine Neuigkeit!! Wer hätte das gedacht, das muß da eine Freude sein! Lisbeth, Leo, hört einmal! Da ist eine Notiz der Redaktion: ,Soeben geht uns die Nachricht zu, daß Herr Oberst von Giersbach von Sr. Majestät zum Generalmajor ernannt ist und schon in nächster Zeit unsere Stadt verläßt, um nach Berlin überzusiedeln‘. Wer das gedacht hätte, Käthchen! Ich habe keine Ahnung gehabt, daß der Mann solche Aussichten hat. Wir haben uns übrigens immer viel zu wenig um diese liebenswürdige Familie gekümmert, Frauchen. Aber was sagst Du denn dazu? Wie die wohl im Glück schwelgen werden! Na, Leo, und Du schweigst auch – die Sache ist doch wahrlich keine Kleinigkeit!“

„Nein, eine Kleinigkeit ist das nicht, und so fassen sie es dort auch nicht auf,“ antwortete dieser und trat näher. „Es ist ihnen eben auch ganz überraschend gekommen, und die Rangbeförderung eine ehrenvolle Anerkennung seiner Verdienste, die er und die Seinen nach ihrem vollen Werte schätzen.“

„Also, Du wußtest es schon?“ fragte erstaunt der Geheimrat und sah ihn höchst verwundert an. „Nach diesem Zeitungsbericht ist die Beförderung doch erst gestern aus dem Kabinett gekommen.“

„Ja, so ist es,“ sagte Leo, „wir haben aber gestern abend schon die Bowle über diesen Glücksfall und alle sonstigen freudigen Neuigkeiten, die in dieses gesegnete Haus kamen, getrunken, und –“

„Wir haben schon die Bowle –“ wiederholte die Geheimrätin und starrte ihn an, als ob sie fürchtete, er sei nicht recht bei Sinnen – „Du, bei Generals?!“

„Alle sonstigen freudigen Neuigkeiten?“ unterbrach zugleich der Geheimrat seine Worte. „Was ist denn sonst noch passiert? Er ist wohl auch gleich in eine höhere Ordensklasse hinaufgerückt – wie?“

„Nein, – das nicht, – aber Annie hat sich verlobt, und –“

„Fräulein Annie sich verlobt?“ rief die Geheimrätin und fühlte sich wieder auf etwas festerem Boden, „sieh’, sieh’, welche Ueberraschung! Da ist ein Schlauer flink dabei gewesen! Wer ist denn der Glückliche?“

Und während Lisbeth, über deren Gesicht plötzlich eine dunkle Blutwelle flutete, sich hastig vorbeugte und dem Bruder ahnungsvoll starr ins Antlitz sah, ohne ein Wort über die zitternden Lippen bringen zu können, rief die Geheimrätin nochmals:

„Wer ist denn der Glückliche?“

Da richtete sich Leo in die Höhe und rief mit einem ununterdrückbaren Jubelton in der Stimme:

„Ich bin’s! Vater, Mutter, – ich bin der Glückliche. Ja, ja, es ist mir selbst immer, als wäre es ein Traum – so viel des Glückes auf einmal!“

„Du?!“ riefen die Eltern wie aus einem Munde, sahen sich an und reichten sich die Hände, um sich aneinander festzuhalten bei dem, was nun kommen mußte, denn daß der Leo – –

„Junge, besinne Dich,“ rief der Geheimrat, „fasele nicht! Du – Bräutigam? Was bist Du denn, daß Du an so etwas denkst?“

„Nun, Vater, vorläufig freilich nichts Großes: Bürgermeister von W. mit dreitausend Mark Gehalt – aber mit der Zeit soll es wohl besser werden! Vielleicht mache ich euch noch einmal die Freude, daß ihr mich mit der goldenen Amtskette eines Oberbürgermeisters seht.“

„Was bedeutet das alles?“ sagte die Geheimrätin, die ganz blaß vor Aufregung geworden war, und schlug ihre Hände vor das Gesicht. Du Bürgermeister von W.? Du Schwiegersohn des General von Giersbach? Und die Eltern sind damit zufrieden? Und Annie nimmt Dich und wird in dem kleinen Neste die Bürgermeistersfrau!?“

„Ja, Mama,“ sagte Leo, ohne jede Schärfe und Bitterkeit in der Stimme und mit so glückstrahlendem Lächeln, daß es die Eltern überzeugte, „ja, sie nimmt mich und ist eine glückselige Braut, denn – denke Dir, Mamachen – mein Schatz ist so thöricht, zu behaupten, es gäbe für eine Frau keine größere Ehre auf der Welt, als des Mannes Weib zu sein, den sie liebt!“

„Das verstehe, wer’s kann,“ murmelte die Geheimrätin vor sich hin und legte den Kopf in ihre Hände, aber Leo fuhr ohne jede Empfindlichkeit fort:

„Ich wollte euch die Sachlage nur erst mitteilen, jetzt gehe ich, meine Braut zu holen, damit wir gemeinsam euch bitten können, unserem Bunde euren Segen zu geben!“

Und während Lisbeth sich innig in ihres Bruders Arme warf, rief der Geheimrat: „Nein, Leo, so machen wir es nicht! Wir wissen auch, was sich in solchem Falle ziemt. Kleide Dich an, liebe Frau, wir wollen gleich zu General Giersbach fahren, um unsres Sohnes geliebte Braut und seine verehrten Schwiegereltern zu begrüßen!“ (Fortsetzung folgt.)


[828]

An das Christkind.

Weihnachtsgeschichte von Eva Treu. Mit Abbildungen von C. Liebich.

Kling!“

Das war die Hausglocke, die Thür wurde geöffnet, und nun stapfte und trampelte auch draußen etwas auf dem Flur, als ob Schnee von Schuhen und Stiefeln geklopft würde. Denn es schneite tüchtig draußen und setzte sich gleich in dicken Klumpen an die Sohlen, wenn man nur hundert Schritte über die Straße mußte.

„Wer kommt denn da so früh am Tage?“ fragte die alte Dame, die strickend am Fenster saß, ein wenig verwundert, „sehen Sie doch einmal nach, Toni, ja?“

Fräulein Toni, ein hübsches schlankes Mädchen mit einem dicken blonden Haarknoten und guten braunen Augen, hatte schon von selbst das Staubtuch, mit dem sie eben die zahlreichen Kleinigkeiten auf der Etagere abwischte, beiseite gelegt und war zur Thür geeilt, die sie nun öffnete.

„Ei, wen haben wir denn da?“ rief sie munter, „das sind wohl gar Willy und Dodo? Guten Morgen, guten Morgen! Und einen Brief habt ihr auch mitgebracht? Dürft ihr denn ein bißchen bei uns bleiben?“ Damit küßte sie das kleine Mädchen, dem die weichen Flachshärchen lockig unter der dunklen Sammetkapuze hervorguckten, auf den willig dargebotenen frischen Kindermund. Der etwa ein Jahr ältere dunkelhaarige Junge wich jedoch der zugedachten Liebkosung mit männlicher Zurückhaltung aus und bot nur die im dicken gestrickten Fausthandschuh steckende Hand zum würdigen Gruß. Seit er – es waren nun zwei Jahre – in die Schule ging, ließ er sich durchaus nicht mehr „von Frauenzimmern küssen“.

„Wir dürfen bis heute abend hier bleiben,“ erklärte er.

„Bis das Christkind kommt,“ fügte Dodos sanftes Stimmchen hinzu.

„Der Herr Doktor läßt sich empfehlen und fragen, ob die beiden Kleinen vielleicht über Mittag da bleiben dürften,“ sagte das begleitende Dienstmädchen. „Es steht alles in dem Brief, den Willy abgeben soll. Wenn’s dunkel ist, komme ich dann und hole sie wieder.“

„Brauchst Du gar nicht!“ protestierte Willy.

„Ach, Grete – es ist doch wohl nicht –“ fing Fräulein Toni an.

„Ja,“ nickte das Mädchen lächelnd, mit einem verstohlenen Seitenblick auf die Kinder, „es steht alles in dem Brief, läßt der Herr sagen.“

„Ach, das ist ja reizend, Grete – und alles wohl?“

„Jawoll, Fräulein. Und dürfen dann die beiden hier bleiben?“

„Das werden sie sicher dürfen. Ich will sie gleich zu Frau Justizrat hineinbringen. Antwort braucht es wohl nicht auf den Brief?“

„Nein, Fräulein.“

„So, da gehen Sie nur, Grete! Abzuholen brauchen Sie die Kinder nicht. Ich muß in der Dämmerung selbst noch fort und bringe sie dann hin. Es wird ja bei Doktors genug zu thun geben.“

„Danke, Fräulein! Gott, ja, genug zu thun giebt’s freilich! Adieu denn, Fräulein, und fröhlich’ Fest!“

„Fröhlich’ Fest!“ wiederholte das junge Mädchen freundlich. „So, meine kleinen Herrschaften, nun abgelegt und flink hineinspaziert!“

Drinnen die alte Dame sah nicht eben übermäßig beglückt über Brille und Strickzeug hinweg auf die kleinen Gäste. Sie selbst hatte nie Kinder gehabt und sah in ihnen eigentlich nur Wesen, welche die Gewohnheit haben, in jedes friedliche Haus Unruhe zu tragen, mit unsauberen Schuhen auf gute Teppiche zu treten, die am sorgsamsten gehüteten Nippsachen mit kleinen, unvorsichtigen Fingern anzufassen, sich den Magen mit unreifem Obst zu verderben und unpassende Dinge zu sagen. Eine nervöse Unruhe ergriff sie allemal, wenn die lebhaften Kleinen in ihre stille Stube einbrachen. Jedoch bot sie den beiden Kindern gnädig die Hand und streichelte ihnen die Wangen, was sich Willy offenbar nur sehr widerwillig gefallen ließ.

„Die Kinder haben einen Brief mitgebracht, Frau Justizrat,“ sagte Toni bescheiden, das Schriftstück überreichend.

Fräulein Toni war seit zwei Jahren im Hause, beinahe ganz genau seit ihrem achtzehnten Geburtstage, und spielte ein klein wenig die Rolle eines „Mädchens für alles“. Sie war zugleich „Stütze“ und Gesellschafterin und oft genug auch Kammermädchen und Krankenwärterin der alten Dame, die sich steif und fest einbildete, dem jungen Mädchen, dem sie nur ein sehr bescheidenes Honorar zahlte, eine sehr große Wohlthat mit der Aufnahme in ihr Haus erwiesen zu haben. Hatte doch Toni, als ihr vor zwei Jahren kurz nacheinander beide Eltern wegstarben, ganz mittellos und allein dagestanden, sie, die als Tochter eines angesehenen Beamten nie daran gedacht hatte, einmal auf sich selbst angewiesen zu sein! Frau Justizrat Willrich ließ deshalb auch selten eine Gelegenheit ungenutzt vorübergehen, ihrer kleinen Gesellschafterin in Erinnerung zu bringen, wie großen Dank dieselbe ihr schulde. Im übrigen [829] aber behandelte sie das junge Mädchen keineswegs unfreundlich, und Toni, die von der Natur mit frischer Gesundheit und einem frohen Sinn begabt war, ließ den Kopf nicht hängen.

Nachdem die alte Dame den von den kleinen Besuchern mitgebrachten Brief gelesen hatte, reichte sie denselben lächelnd dem jungen Mädchen, und Toni las leise für sich:

 „Liebe Tante!
Bei uns ist in dieser Nacht ein Töchterchen angelangt, welches ich gleich auf dem Standesamt anmelden will. Da sind dann die beiden Großen hier ziemlich überflüssig, und Du erlaubst wohl, daß wir sie Dir den Tag über ein wenig borgen. Gegen Abend dagegen hätten wir sie gern zurück. Meine kleine brave Frau hat schon vor mehreren Tagen die ganze Christbescherung vorbereitet, der Baum steht geputzt und braucht nur angezündet zu werden, und es geht Olga so gut, daß wir es mit der gehörigen Vorsicht wagen dürfen, hier zu Hause zu bescheren. Auch ist ja, wie Du weißt, seit gestern meine Schwiegermutter bei uns. Das neue Schwesterchen soll als Hauptgeschenk paradieren, sei deshalb so gut, uns die Ueberraschnng nicht zu verderben.

Mit den besten Grüßen  
  Dein Ernst.“ 

„Schreibt Papa, wohin Mama gegangen ist?“ fragte Willy eifrig. „Wir haben sie noch gar nicht gesehen heute morgen, Großmama sagte, sie hätte zu thun, aber ich glaube, daß sie ausgegangen war.“

Fräulein Toni blickte ernsthaft in den Brief. „Freilich schreibt Dein Papa etwas davon. Sie hat einen Brief zu schreiben gehabt, an das Christkind wegen der Bescherung. Es wird ja nun Zeit, wenn man noch Wünsche hat, die gern erfüllt werden sollen.“

Die Kinder nickten verständnisvoll.

„Findest Du nicht, daß Mama wohl ein bißchen früher hätte schreiben können, Tante Toni?“ meinte Willy unruhig. „Es ist doch sehr spät, heute erst zu schreiben! Findest Du nicht, Tante Toni?“

„O, es geht schnell mit der Post, Willy.“

„Glaubst Du, daß der Brief noch ankommt?“

„Ich denke wohl.“

Dann mußte das junge Mädchen in die Küche, um nach dem Mittagsbrot zu sehen. Die Kinder begannen nun im Zimmer umherzuwandern, hier eine zarte Meißener Porzellanfigur anfassend und von ihrem Platze nehmend, dort in einem schön gebundenen Buche blätternd, nun die Goldfische im Bassin und dann wieder den Kanarienvogel in seinem Bauer störend – Willy immer voran, Dodo getreulich wie ein kleiner gut dressierter Pudel hinterher.

Mit steigender Erregung sah ihnen die alte Dame zu. Das Strickzeug war längst beiseite gelegt, wie gebannt hingen die Blicke der Justizrätin an den unruhigen, überall Gefahr drohenden Händen der kleinen Gäste. Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie schellte. Toni kam eilig in das Zimmer gelaufen.

„Lassen Sie gleich bei sich heizen, Toni, damit es nach Tische dort warm ist. Sie können dann die Kinder mit zu sich hinüber nehmen. – So, und nun laßt das Umhergelaufe, Kinder, ihr macht mir Kopfschmerzen, da setzt euch auf die Stühle am Fenster – ganz still, hört ihr! Es schickt sich gar nicht für artige Kinder, alles anzufassen und zu besehen. Artige Kinder verhalten sich ruhig, wenn sie zu Besuch sind.“

Gehorsam setzte sich das Geschwisterpaar auf die Stühle am Fenster. Es wurde sehr still und sehr langweilig im Zimmer. Nur zuweilen entrang sich Willys bedrücktem Gemüt ein schwerer Seufzer. Es war wirklich nichts weniger als nett bei Tante Justizrat, wenn Tante Toni in der Küche zu thun hatte. Und noch dazu war Weihnachten!

„Tante Justizrat?“ platzte er endlich wieder heraus.

Die alte Dame sah stirnrunzelnd zu ihm hinüber. Er störte sie. Sie war eben dabei, Maschen abzuzählen.

„Vierunddreißig – jetzt nicht, Willy!“

„Tante Justizrat, wenn Mama nur auch alles recht gewußt hat, was wir uns wünschen?“

„Vierzig!“

„Wenn sie nun aber etwas vergessen hat, Tante Justizrat?“

„Achtundvierzig. – Jetzt nicht, sage ich, Kind! Artige Kinder schweigen still, wenn sie nicht gefragt werden.“

Ein Seufzer, so laut und schwer, daß es klang, als würde er aus einem ganz tiefen Brunnen hervorgeholt! Willy fand, daß von artigen Kindern manchmal eigentümliche Dinge verlangt würden, wagte aber nicht, etwas darüber zu sagen.

Zum Glück erschien jetzt Toni, um zu melden, daß angerichtet sei, und wenn bei Tante Justizrat auch artige Kinder weder mit den Gabeln klappern, noch Wasser verschütten, noch mit den Stühlen schurren durften, so war und blieb das Mittagsmahl doch immer eine angenehme Beschäftigung. Kaum hatte man sich jedoch erhoben, so stürzte Willy auch bereits auf Toni zu. Jetzt endlich mußte er seinem sorgenvollen, gepreßten Herzen Luft machen.

„Tante Toni, ich bin bange, Mama hat vieles gar nicht gewußt, was ich mir wünsche!“

„Ja, das ist sehr möglich, Willy.“

„Wenn sie mich doch nur vorher gefragt hätte! Was machen wir nun?“

„Ja, was machen wir nun?“ echote Dodos sanftes Stimmchen.

„Da wird nichts anderes übrig bleiben, als ihr schreibt dem Christkind noch selbst einen Brief.“

„Glaubst Du nicht, daß das zu spät ist?“

„Ja, Willy, wissen kann man das nicht. Um Weihnachten hat die Post sehr viel zu thun, aber man könnte es ja versuchen. [830] Kommt ihr beiden nur mit in meine Stube, da ist Platz genug, um einen Brief zu schreiben!“

Der Vorschlag zur Güte wurde jubelnd angenommen. Brauchte man doch in Tante Tonis Stube keineswegs still auf dem Stuhl am Fenster zu sitzen, sondern durfte anfassen, was, und fragen, so viel man wollte. Denn Tante Toni war „riesig nett“. Wenn je etwas bei Willy und Dodo festgestanden hatte, so war es, so lange sie denken konnten, dieser Glaubenssatz. Bloß das eine war schade, daß Toni bei Tante Justizrat wohnte; im übrigen aber hatte sie keine Fehler!

So, nun war in dem bescheidenen, sauberen Mädchenstübchen der Tisch abgeräumt, zwei Stühle waren herangerückt, für Dodo einer mit einem hohen Polster darauf, und Tante Toni nahm aus ihrer Schreibmappe das nötige Papier und zog die Linien. Dann spitzte sie zwei Bleistifte.

„Aber ich kann doch mit Tinte!“ rief Willy im tiefsten Herzen empört.

„Ach so! – Da hast Du also Tinte! Was wollt ihr euch denn nun wünschen?“

„Oh, ’ne ganze Masse! Einen Weihnachtsbaum und eine Eisenbahn und Aepfel und ein Flozipet –“

„Was für ein Ding? Ach so, ein Velociped! Du, werde nur lieber nicht zu unbescheiden.“

„Und ein Dampfschiff –“

„Und einen Puppenwagen,“ fiel Dodo ein.

„Und –“

„Ja, denkt aber einmal, ich habe Kinder gekannt, denen brachte das Christkind etwas ganz Reizendes, etwas so Niedliches, wie ihr noch nie gehabt habt.“

„Was war es?“ Vier erwartungsvolle Augen sahen Toni groß an.

„Denkt bloß – eine kleine Schwester brachte es ihnen.“

„Lebendig?“ fragte Dodo atemlos.

„Ganz lebendig. Aber wünscht euch lieber keine. Etwas so Schönes können nicht alle Kinder bekommen!“

Dodo seufzte tief und schwer. „Konnte sie die Angen von selbst auf und zu machen?“

„Ja; auch von selbst schreien – alles!“

Ein abermaliger dicker Seufzer.

„Wenn man das Christkind nun sehr bäte, Tante Toni?“

„Ja, versuchen könnte man es ja, Dodo. – Du möchtest wohl keine haben, Willy, nicht?“

Willy lächelte überlegen. „Ja, siehst Du, Tante Toni, haben möchte ich ja schon eine, aber – siehst Du – das geht doch nicht! Dazu ist es doch schon zu spät! Dann hätten wir es früher sagen müssen. Denn – ein Flozipet und so etwas, das kann das Christkind jetzt ja noch überall bekommen, aber die Störche sind doch lange weg, in Egiptien, das ist doch sehr weit. Das hätte man früher bestellen müssen, nicht? Nein, davon will ich lieber gar nicht erst etwas schreiben.“

„Na, so mache es, wie Du willst, Willy! Und nun schreibt nur recht hübsche Briefe und macht keinen Klex! Ich muß unterdes den Kaffee besorgen.“

Damit ging Toni hinaus, und die Kinder machten sich über ihre Briefe her.

Willy ging die Sache geschwind von der Hand. Ohne viele Umstände stand da geschrieben: „1 Weihnachtsbaum, 1 Flozipet, Damfschiff, 1 Eiserbahn, 1 Matrosenanzuch, 1 Helm, 1 Sebel, 1 Gewehr, 1 Tafel, 1 Griffel, 1000 Epfel, 1000 Braunkuchen.“

Aber wehe! bei den „Braunkuchen“ geriet Willy so in Eifer, daß er einen dicken Klex mitten auf den schönen Wunschzettel fallen ließ. Schleunigst fuhr die rote Zunge heraus und leckte das schwarze Scheusal fort. Der Erfolg war aber leider wenig erfreulich, ein breiter schwarzer Streifen zog sich schräg über den Briefbogen.

Indessen schrieb Dodo mit dem Bleistift emsig und sauber: „Libes Christkind im Himmel, bitte schenke mich 1 Weihnachsbaum 1 Puppe 1 puppen Wagen und noch mehr spilzeuch. für mein pappa und mamma auch etwas, für mein Bruder Willi auch etwas. für tante Toni die bei tante Zustri Juzi Justrizrätin ist auch etwas. 1 Märchenbuch und vom Krapp Klapperstroch storch bitte eine kleine Schwester. Deine liebe Dodo.“

So, das war gethan!

„Willy, ich bin fertig!“

„Ich noch nicht,“ sagte Willy verdrießlich aus einer entfernten Ecke des Zimmers her. „Ich muß einen anderen Bogen haben, ich habe einen Klex gemacht.“

Damit bemächtigte er sich der Schreibmappe, welche Toni vorhin offen auf die Kommode gelegt hatte, und schüttete ihren Inhalt ungeniert auf den Tisch. Eine Anzahl von Briefbogen und Couverts fiel heraus und ganz zuletzt auch eine Photographie, auf welche die Kinder jedoch zunächst nicht achteten. Willy nahm sehr eigenmächtig einen Briefbogen, zog sehr schiefe Linien mit dem Bleistift darauf und begann seinen Wunschzettel von neuem, brachte ihn diesmal auch ohne Unfall zu Ende, machte kurz und bündig seine Namensunterschrift „Willy“, dann stopfte er das unbenutzte Papier wieder in die Mappe und legte diese dorthin, woher er sie genommen hatte, die Photographie blieb mit der Bildseite nach unten auf dem Tisch liegen.

„So, nun noch die Adresse“, erklärte Willy, das Couvert herbeiziehend.

„Die laß Tante Toni machen, Willy!“

„Meinst Du, ich kann es nicht?“ Und mit kühnen Zügen schrieb er: „An das Christkind im Himmel“. Punktum.

„Wenn nun nur Tante Toni käme, dann könnte der Brief in den Kasten kommen.“

„Du, da liegt ein Bild!“ rief Dodo.

Sie wandten die Photographie um und betrachteten sie neugierig. Es war das Antlitz eines jungen Mannes mit einem großen blonden Vollbart. –

Wie – die brave Toni verbarg in ihrer jungfräulichen Briefmappe das Bild eines blonden Herrn? War das wohl ein schickliches Benehmen für ein junges Mädchen?

Ich will mir darüber kein Urteil erlauben, muß aber leider zugeben, daß der blonde Herr nicht etwa Tonis Bruder oder Verlobter war, was ihr ja am Ende eine Art von Recht gegeben haben würde, sein Bild in ihrer Schreibmappe mit sich zu führen. Nein, die Sache hing so zusammen.

Das Bild hatte Tonis verstorbenem Vater gehört und stellte jemand dar, für den sie schon seit ihren Kinderjahren eine stille, innige Neigung in ihrem guten kleinen Herzen hegte, eine Neigung, von der sie in ihrer großen Bescheidenheit nie einem einzigen Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen gewagt hätte, weil der Mann, dem sie galt, nach ihrer Meinung unendlich hoch über ihr stand und viel, viel zu gut für sie war. Sie hatte sich aber in aller Stille nach dem Tode der Eltern das Bild angeeignet, verwahrte es im verborgensten Schreibmappenfach und sah es manchmal, wenn sie ganz allein war, voll Liebe, Verehrung und Sehnsucht an.

Nicht, als wenn das Original weit fort gewesen wäre! Im Gegenteil, Toni hatte jeden Sonntag und auch sonst recht oft Gelegenheit, es ganz in der Nähe zu sehen; aber das Bild war ihr trotzdem fast der größte Schatz, den sie besaß.

Daß der Mann, den es darstellte, ihr jemals zu eigen gehören könnte, das bildete sie sich nicht ein. Gewiß, er war immer sehr freundlich gegen sie – sehr! Er war es immer gewesen, schon als die Eltern noch lebten; aber sie zu seiner Hausfrau zu machen, daran dachte er doch wohl nicht, solch ein unbedeutendes kleines Ding wie sie war!

Die kleine Toni wußte, daß sie niedlich aussähe, aber „er, der Herrlichste von allen,“ er legte auf solche Aeußerlichkeiten doch gewiß nicht viel Gewicht, und sonst – ja, sonst hatte sie ja gar nichts zu bieten, davon war sie fest überzeugt. Daß er stets freundlich und gut gegen sie war, das hatte gewiß nur seinen Grund darin, daß er ihre Eltern geliebt und verehrt hatte.

Nein, Toni machte sich gar keine Illusionen, aber das Bild – ja, das Bild hatte sie unsinnig lieb.

„Du,“ sagte Dodo, „weißt Du, wer der Mann ist?“

„Natürlich, das kann man doch gleich sehen!“

„Wer ist es denn?“

„Das ist doch Pastor Bruhn. – Kennst Du den nicht ’mal?“

„Ja, das ist auch wahr.“

Willy schwenkte unternehmend den Federhalter. „Den mag ich furchtbar gern leiden – den! Einmal haben wir unsern Ball in sein Fenster geworfen – das Fenster ging ganz kaput – und meinst Du, er schalt? Gar nicht! Er sagte, es machte nichts! Und einmal –“

[831] Willy verstummte jäh. Aus der lebhaft geschwungenen Feder war ein großer Tintentropfen grade mitten auf das freundlich ernste Gesicht des jungen Predigers gespritzt. Er nahm sich da sehr unkleidsam aus. Willy hatte heute entschiedenes Unglück mit der Tinte.

„O, Willy – Willy!“ rief Dodo, aufgeregt von ihrem Stuhle herunterrutschend.

„So sei doch still, Dodo, laß doch!“ Der kleine Missethäter war rot geworden bis an das Haar. „Das thut doch nichts; ich lecke es ab, dann ist nichts mehr davon zu sehen. So sei doch still, Dodo!“

Und heraus fuhr die rote – nein, noch von dem ersten Experiment ziemlich schwarze Zunge wieder, und Willy „leckte es ab.“

Wenn er aber gehofft hatte, es würde nun nichts weiter davon zu sehen sein, so hatte er sich leider schwer getäuscht. Die Kunst des richtigen Ableckens hatte er offenbar noch nicht völlig inne. Auch diesmal zog sich ein breiter, schwarzer Streifen über das ganze Bild hin. Willy leckte allerdings noch ein Weniges mehr daran herum, die Sache wurde aber dadurch nicht eben verbessert, und schließlich schob er das Bild scheu und schuldbewußt in einem sehr wenig schönen Zustande in die Briefmappe hinein.

Da öffnete sich die Thür und Toni, die unterdes den Kaffee besorgt hatte, trat ein.

„Seid ihr fertig?“

„Ja.“ Es kam ein bißchen gedrückt heraus.

„Laßt sehen!“

Lächelnd überflog sie die beiden Briefe. „So, nun eine Freimarke!“ Damit öffnete sie die Mappe, um eine Postmarke herauszunehmen. Die Kinder saßen stumm, ängstlich erwartungsvoll.

Dann ein Schrei: „Mein Bild! O, wer hat das gethan?“

Einen Augenblick wurde es ganz still, nur daß die arme Toni herzbrechend schluchzte. Sie hatte es ja so lieb gehabt, das Bild, das ihr nun so unvermutet entstellt und verdorben in die Hände fiel, und für den Augenblick verlor sie die Selbstbeherrschung und weinte wie ein Kind.

Dann rührte eine Kinderhand leise an ihren Arm.

„Tante Toni, ich habe es gethan,“ sagte Willy ehrlich und kummervoll. „Ich that es nicht mit Absicht, ganz gewiß nicht. Es kam so von selbst: auf einmal war es da. Und dann wollte ich es ablecken, aber davon wurde es auch nicht wieder sauber. Es thut mir schrecklich leid. Hattest Du es denn so lieb, Tante Toni?“

„Ja,“ schluchzte das Mädchen noch ganz fassungslos, „ja, es – es – hatte meinem Papa gehört, und – ach, das verstehst Du doch nicht, Willy.“

„Bitte, sei mir wieder gut, Tante Toni!“

„Ich bin nicht böse auf Dich, mein Junge,“ sagte das Mädchen, dem der kummervolle Ton des Knaben zu Herzen ging, sich die Thränen abtrocknend und ihm mit der Hand über das Haar streichelnd, „obgleich Du schon groß genug bist, um zu wissen, daß man in fremder Leute Sachen nicht kramen darf.“

„Aber Du bist doch kein fremder Mensch!“ sagte Willy erstaunt, „Dich haben wir doch lieb!“

Das Mädchen strich ihm noch einmal über das krause Schwarzhaar, lächelte ein bißchen krampfhaft und ging an den Waschtisch, um sich das verweinte Gesicht zu kühlen. Es war ja ganz thöricht, sich so aufzuregen, und was wußte denn das Kind davon?

Unterdes fügte Dodo mit heißen Backen noch eine Nachschrift an ihren Wunschzettel.

„Libes Christkind, ich habe noch etwas fergesen. bitte liebes Christkind, schenke doch tante Toni bei Tante Zuzrizrätin einen neuen Pastor Brun, weil sie ihn so lieb hat, sagt sie. und sie weint so laut, weil Willy ihn foll Dinte gelekt hat. bitte libes Christkind, weil wir tante Toni so lieb haben. 0 deine Dodo.“

„So, nun gebt schnell die Zettel,“ sagte Fräulein Toni, sich umwendend, ohne die Nachschrift der Kleinen zu bemerken; sie war jetzt wieder ganz ruhig und freundlich. Man lernt Selbstbeherrschung, wenn man fremdes Brot ißt. „Nun wollen wir Kaffee trinken, und nachher stecken wir den Brief in den Kasten. Dann bringe ich euch nach Hause.“

Damit nahm sie die beiden inhaltsreichen Manuskripte, faltete sie zusammen und schloß das Couvert.

„Nun kommt, daß wir Tante Justizrätin nicht warten lassen.“ Und Hand in Hand gingen die drei in das Wohnzimmer hinüber.

Eine Stunde später steckte der Brief „an das Christkind im Himmel“ sicher im nächsten Postkasten. Dann machten die Drei noch einen kleinen Spaziergang durch den wundervollen Weihnachtsschnee, und endlich, als es anfing zu dämmern, lieferte Toni die beiden Kinder, die vor Ungeduld und Erwartung sich kaum zu fassen wußten, zu Hause ab. Sie selbst hatte noch einen Gang zu einer alten Frau vor, der sie eine kleine Gabe bringen wollte. –

– – Es dunkelte schon stark. Hinter dem Postschalter saß der blasse Postsekretär und stempelte in fliegender Hast die Briefe ab, die der Bote soeben den Kästen an den Straßenecken entnommen und sortiert hatte.

Tup – tup – tup – tup – ging es in ununterbrochener Folge, und für das sonst mitunter genossene Vergnügen, die offenen Postkarten und Drucksachen einer kleinen Durchsicht zu unterziehen – eine Lektüre, die in dem kleinen Ort unter Umständen nicht ohne Reiz war – blieb heute nicht ein Augenblick Zeit. Nur vorwärts – guter Gott, die Menschheit mußte sich ja halb tot geschrieben haben, um alle diese Briefe zu verfassen!

Plötzlich aber hielt die mechanisch stempelnde Hand doch inne, und der Postsekretär lachte laut auf.

„Schlüter!“ rief er dem im Hintergrunde hantierenden Briefboten zu, „kommen Sie doch ’mal eben her! Sehen Sie ’mal, was da unter den Briefen ist: ,An das Christkind im Himmel!’“ Und er hielt ihm das von Willy so schön adressierte Couvert entgegen.

Schlüter, der Briefbote, grinste über sein ganzes breites gutmütiges Gesicht. „Jaa – Herr Sekertär, das wird wohl seine Schwierigkeiten haben mit der Bestellung. Da sind wir doch am Ende nich findig genug zu.“

„Hat dieser Brief Ueberporto?“ kam es von außerhalb des Schalters her.

Der Sekretär schob sein Schiebefenster zurück. Draußen stand ein Herr mit einem großen blonden Vollbart, einen Brief in der Hand haltend.

„Der?“ Der Brief wurde nur leicht in der Hand gewogen und taxiert.

[832]

Weihnachtsschulfeier in Deutsch-Afrika.
Nach Skizzen und Photographien gezeichnet von Fritz Bergen.

[833] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [834] „Nein, der nicht, Herr Pastor. Da fehlen noch ein paar Gramm. Aber bitte, sehen Sie doch einmal, was wir hier zur Besorgung bekommen haben. Vielleicht wäre es Ihnen noch am ersten möglich, es an seine Adresse zu befördern. Sie haben da am Ende noch eher Verbindungen als wir.“

„An das Christkind im Himmel!“ Der junge Pastor lachte, der Sekretär lachte und der Postbote Schlüter lachte am allermeisten. Er konnte sich gar nicht wieder beruhigen.

„Geben Sie ihn immerhin mir, Herr Sekretär,“ sagte der Pastor, den Brief in die Tasche steckend, „ich kenne dergleichen; habe schon allerhand kuriose Schriftstücke bekommen und schon manchen armen Kindes Wunsch erfüllen können. Guten Abend! Vergnügte Feiertage!“

„Gleichfalls, Herr Pastor, gleichfalls!“ Tup – tup – tup – tup – machte der Stempel, das Schalterfenster war schon wieder zugeflogen.

Der junge Pastor lächelte draußen noch vor sich hin, zog den Brief wieder aus der Tasche und öffnete ihn vorsichtig. Es war noch eben hell genug, um die großen Buchstaben zu entziffern, und er hatte Zeit. Allerdings wollte er in die Kirche, die in einer halben Stunde begann, aber den Gottesdienst hatte heute nicht er zu leiten, sondern sein Kollege, und er beabsichtigte, vorher noch einen Besuch bei einer alten Frau zu machen.

„1 Weihnachtsbaum, 1 Flozipet“ – etc. bis hinunter zum „Willy“. Aha, das war wohl Doktor Rupertis kecker kleiner Schwarzkopf, der da so „bescheiden“ wünschte. Richtig, das blonde Schwesterchen war ja auch dabei.

„Libes Christkind im Himmel, bitte schenke mich –“ u. s. w.

So war er bis an die Nachschrift gekommen. Da stieg plötzlich eine heiße Röte in dem hübschen, männlichen Gesicht empor, und dreimal, viermal las der junge Pastor, was die ungeschickte Kinderhand geschrieben hatte. Er lachte gar nicht mehr. Ihm war auf einmal ganz ernsthaft und ganz – ja ganz sonderbar zu Mute.

Was schrieb das Kind da? Was schrieb es von der kleinen Toni?

Der Zusammenhang konnte ihm ja natürlich nicht klar werden, er war sich nicht bewußt, von Willy „soll Dibte gelekt“ zu sein, aber was schrieb das Kind? Dieses reizende kleine Veilchen, die Toni, hatte um ihn geweint und gesagt, sie hätte ihn lieb? Das Kind mußte das irgendwie erlauscht haben, so etwas ersinnt kein Kinderkopf! Unbegreiflich, wie der Zusammenhang ihm war, es stand doch da, schwarz, oder vielmehr grau auf weiß!

Er hatte sie lieb, die bescheidene kleine Mädchenblume, lange schon, und nur, weil sie ihm immer so scheu auszuweichen schien, weil sie ihn nie verstand, wenn er ihr einmal näher zu kommen suchte, hatte er ihr’s nicht gesagt bisher. Nicht aus Hochachtung und Respekt sollte sie ja doch seine Frau werden, und nur das, gar nichts weiter hatte er bis jetzt aus ihrem Wesen heraus zu lesen gemeint; schon war er im Begriff gewesen, den Mut zu verlieren!

Das Blatt mit den kindlichen Schriftzügen zitterte in seiner Hand. Ach, wenn es sein konnte – wenn er sie fragte! Wenn es doch Liebe wäre, nicht die kalte, dumme, unausstehliche Hochachtung, was sie für ihn fühlte! Er atmete tief auf.

So war er bis an die Thür des ärmlichen Hauses gekommen, in dem er seinen Besuch machen wollte. Schon hielt er den Griff in der Hand, da wurde derselbe von innen bewegt und die Thür öffnete sich. In der Dunkelheit sah er eine schlanke Mädchengestalt heraustreten.

„Herr Pastor!“ stotterte das Mädchen erschrocken und überrascht.

„Fräulein Toni!“ rief er ebenso verwirrt wie sie.

„Vergnügte Feiertage, Herr Pastor!“ und sie wollte an ihm vorüber eilen.

„Sie sind so eilig?“

„Ja, es wird dunkel, und Frau Justizrat hat es nicht gern, wenn ich dann allein draußen bin.“

„Da ist Fran Justizrat vollständig im Recht. Sie müssen mir schon erlauben, Sie nach Hause zu geleiten, ich – ich wollte Sie ohnehin schon lange etwas fragen, Fräulein Toni.“

„Sie – mich?“

„Ja,“ sagte er und zog ihren Arm durch den seinen. Eben begannen die Glocken zu läuten von dem alten kleinen Kirchturm am Markt. Wie schön es klang, wie festlich und feierlich, wie heimatlich und verheißungsvoll!

Glück zu! Sie ist das Fest der Liebe, die heilige Weihnacht! 00000000000000000 Am nächsten Morgen früh, kaum war’s noch rechter Tag – es wird spät Tag um Weihnachten – schellte es gewaltig an der Thür der Frau Justizrat.

Toni, über deren Gesicht heute eine wundersame Verklärung lag, eilte, zu öffnen, und schon klangen auch die hellen Stimmchen der Doktorskinder draußen auf dem Flur.

„Tante Toni!“ schrie Willy überlaut und triumphierend, „wir wollten Dir bloß was sagen!“

„Tante Toni!“ das war Dodo – „und wir haben doch ein Schwesterchen bekommen! Ein ganz neues!“

„Ein ganz lebendiges!“

„Und schreien kann es auch! Ganz von selbst!“

„Ei, was ihr sagt!“

„Ja, vom Christkind. Und was hast Du bekommen?“

„Ich? Ja, mir hat das Christkind einen neuen Pastor Bruhn geschenkt; es war ganz gnt, daß Du den alten voll Tinte geleckt hast, Willy, der neue ist viel besser,“ sagte Toni und küßte in ihres Herzens Glückseligkeit beide Kinder auf den Mund.


[835]

Weihnachtsschulfeier in Deutsch-Afrika.

Von C. Falkenhorst.
(Mit dem Bilde S. 832 und 833.)

Schon im Herbst, da im deutschen Vaterlande die Weihnachtsfreude noch lange nicht vor der Thür steht, werden in unseren Seehäfen schlanke Tannen in ihrem immergrünen Schmuck auf Schiffe verladen. Ueber weite Meere wandern sie nach den heißen Ländern des Südens, ein sinniger, herzerfreuender Weihnachtsgruß für die Deutschen, die unter fremdem Himmel wohnen, aber in der Brust deutsche Sitte wahren und hegen. Fürwahr, wie herrlich muß die Freude sein, in fremden Weltteilen am Christabend einen deutschen Tannenbaum im Lichterglanze erstrahlen zu sehen und den würzigen Duft heimatlicher Tannenwälder wieder einzuatmen! Nach allen Richtungen, nach allen Ländern gehen diese Weihnachtsbäume, vor allem aber nach unseren jungen afrikanischen Kolonien, in welchen bei aller Pracht und Fülle des Pflanzenwachstums die herrlichen Tannen nicht gedeihen.

Dem war früher nicht so gewesen. Die ersten Erforscher des Dunklen Weltteils verbrachten die Weihnachtstage in der Wildnis, oft unter Entbehrungen und Gefahren, ohne äußeren Glanz, und die ersten Ansiedler schmückten fremdartige Bäumchen mit Licht und buntem Flitter, wenn die Heilige Nacht kam. Solche Weihnachtsfeste in der Fremde sind schon oft geschildert worden, heute bringt die „Gartenlaube“ ihren Lesern ein anderes Bild, ein Weihnachten unter einem deutschen Tannenbaum in einer deutschen Kolonie!

In Westafrika, im Togoland an der Sklavenküste, hat jene Weihnachtsfeier im vorigen Winter unter Beteiligung von jung und alt, von Schwarz und Weiß stattgefunden. Auch dort erklang das deutsche Lied, auch dort waltete wärmend das deutsche Gemüt, aber trotz alledem gab es dort ein anderes Weihnachten als in der nordischen Heimat!

Weihnachten ist bei uns ein Winterfest. Der kürzeste Tag, Frost und Schnee gehören zu der echten und rechten Weihnachtsstimmung; inmitten der toten Natur mutet uns das Immergrün der Tanne besonders mächtig an: es predigt die Hoffnung auf die Wiederkehr des Frühlings, raunt uns zu die frohe Verheißung von einem Wiederauferstehen. Solche Eindrücke bietet uns um die Weihnachtszeit die Natur in den Tropenländern nicht. Togoland liegt nur wenige Breitegrade vom Aequator entfernt, und die Tage werden in ihm auch zur Zeit der winterlichen Sonnenwende nicht merklich kürzer, Nacht und Tag bleiben sich gleich lang. Fortwährend sendet dort die Sonne glühende Strahlen nieder, und wo Regen fallen, wo Flüsse und Bäche den Boden mit Feuchtigkeit tränken, dort giebt es keinen Stillstand im Leben der Pflanzen, dort grünt und blüht und reift es ohne Unterlaß, dort herrschen ewig Frühling und Sommer in treuem Bunde. Nur in Landstrichen, wo zeitweilig Regen ausbleiben, verdörrt die Hitze Gras und Baum auf dürrem Grunde; öde sieht dann die Steppe aus und dann hat auch Afrika seinen, freilich heißen Winter. Aehnlich ist im Togoland der Winter beschaffen. Dort kommen in den Monaten Dezember und Januar nördliche Winde zur Geltung. Sie entstehen über den wasserleeren sonnendurchglühten Sand- und Felsenflächen der Sahara und sind wegen ihrer austrocknenden Wirkung gefürchtet.

Harmattan heißt dieser Wüstenwind, und wenn er sich erhebt und tage- oder gar wochenlang anhält, dann wandelt er in kurzem das Bild der Landschaft um. Während des Harmattans ist die Luft mit feinstem Staube erfüllt; unter seinem Hauche verdorrt das Pflanzenleben, die Blätter an den Bäumen werden gelb und fallen ab, das Gras wird dürr, jedes Grün mit Ausnahme der Bananen verschwindet; nur an Flüssen und Seen kann die Pflanzenwelt dem übermächtigen Gegner trotzen. In den menschlichen Wohnungen richtet der Wind ebenfalls Schaden an: Bretter biegen sich, Thüren und Fenster erhalten Risse und Spalten und alles überzieht sich mit einer dichten Staubdecke. Mensch und Tier aber verfallen in einen Zustand des Unbehagens und der Ermattung. Glücklicherweise stellt sich dieser Winterwind des Togolandes nicht immer ein und seine Herrschaft währt nicht lange. Bald türmt sich im Süden oder Westen ein schwarzes Gewölk auf, es breitet sich über den Himmel aus und unter Sturm, Blitz und Donner bricht der Tornado ein; mit Regenströmen überflutet er die Erde, und wenn dann die Sonne wieder vom blauen Himmel niederlacht, so erholt sich alles in kürzester Zeit, im Handumdrehen grünt und blüht wieder die Landschaft und in solcher Frühlingspracht und bei Sonnenglut feiert man alsdann Weihnachten im Togolande.

Nur eine kleine Gemeinde ist es aber, die an jenem Tage dem großen Erlöser von Nazareth huldigt und den Tag seiner Geburt zu einem Fest der reinen Liebe gestaltet. Was weiß die große Masse des schwarzen Volkes dort vom Christengott und seinen Geboten der Nächstenliebe! Wie vor Jahrtausenden steckt sie noch heute im niedrigsten, schlimmsten Heidentum, betet elende Fetische an und opfert in zitternder Angst den grausamen Ausgeburten des eigenen Aberglaubens. Ihre Gottheiten sind böse rachsüchtige Geister.

Die Küstenbevölkerung dieses Landstriches ist schon vor Jahrhunderten mit Christen in Berührung gekommen, welcher Art aber diese Berührung war, davon zeugt der auf Landkarten verzeichnete Name des Landes – Sklavenküste! Hier, wie in Guinea an der Westküste Afrikas überhaupt, blühte ja einst die scheußliche Jagd anf den schwarzen Menschen; von hier aus wurde die Meuschenware von christlichen Händlern nach der Neuen Welt verfrachtet, um den Boden Amerikas fruchtbar zu machen und die Blüte seiner Pflanzungen herbeizuführen. Lange, bis in die neue Zeit hinein, währte dieser schimpfliche Sklavenhandel. Noch leben in einigen Küstenorten alte Männer, die durch Sklavenlieferungen zu Wohlstand gelangten. Nur langsam begann sich eine Wendung zum Besseren zu vollziehen, als Missionare in das Land kamen und der Handel mit Palmöl auch an diesen Gestaden aufzublühen begann. Eine neue Aera brach jedoch für dieses Gebiet an, als vor zwölf Jahren im Togolande die deutsche Flagge gehißt wurde. Unter der deutschen Schutzherrschaft blühten hier die ersten größeren Pflanzungen auf und beim Anbau von Kaffee, Kakao, Baumwolle und Tabak wird der Neger der Segnungen einer regelmäßigen Arbeit, die er früher nicht kannte, teilhaftig. Die Thätigkeit der Missionare wurde anderseits durch die Gründung einer deutschen Schule ergänzt, aus der mit der Zeit hoffentlich ein Stamm braver schwarzer Bürger hervorgehen wird. Der Neger, der bis dahin mit den Weißen nur geschäftlich verkehrt hatte, lernt jetzt dieselben von einer andern Seite kennen. Er sieht sie im gemeinnützigen Interesse wirken, er lernt sie achten und wird sie mit den Jahren lieben lernen. In der That ist in dieser Hinsicht bereits ein großer Fortschritt erzielt worden; einen Beweis dafür bildet gerade die schöne, oben bereits erwähnte Weihnachtsfeier in der Kolonie. Ein so erfreuliches Fest wäre noch vor wenigen Jahren im Togolande geradezu unmöglich gewesen!

Still und friedlich liegt die Negerstadt Klein-Popo am Meeresstrande; der Seewind zieht leise durch die Palmen, die ihre riesigen Kronen über den niedrigen strohbedeckten Lehmhütten wiegen; die Sonne geht unter und der erste Weihnachtsstern erstrahlt am dunklen Himmelszelt. Und siehe da, auch auf der Erde leuchten Lichter auf; auf dem Wege, der zu dem weißgetünchten Schulgebäude führt, werden bunte Lampions angezündet. Das gewölbte Eingangsthor ist reich mit Palmenzweigen geschmückt, zwischen denen gleichfalls bunte Lichter schimmern. Die Schule hält ihr Weihnachtsfest. Schon längst sind die Schüler, etwa fünfzig an der Zahl, im Schulhofe versammelt und stehen in Gruppen beisammen – hier die älteren Jungen, die zum Teil schon das Jünglingsalter erreicht haben, dort die jüngeren bis zum sechsjährigen Abcschützen. Alle tragen rote Mützen, die sie im Jahr vorher zu Weihnachten bekommen haben; im übrigen hat sich jeder so gut wie möglich herauszuputzen versucht. Diese haben ihr schönstes Hüftentuch umgeschlungen, [836] jene tragen ein buntes Nachthemd, andere wieder einen mehr oder weniger vollständigen Anzug von europäischem Schnitt.

Durch das geschmückte Thor treten indessen die geladenen Gäste ein. Der Landeshauptmann, der Stabsarzt und die Schwester vom Krankenhause, Beamte und deutsche Kaufleute; neugierig nahen auch die schwarzen Väter der Schüler, Häuptlinge und Dorfälteste von Klein-Popo; alle werden von dem Lehrer Köbele und seiner jungen Gattin willkommen geheißen und in das große Schulzimmer geleitet, in dem die Feier stattfinden soll. Dort sind die weißgetünchten Wände mit reichem Palmenschmnck geziert, zwischen dem die Bildnisse des Kaisers und der Kaiserin hervorblicken. Auf der Tafel prangt in gotischer Schrift der Weihnachtsspruch „Ehre sei Gott in der Höhe“. Für die Festgäste sind Stühle aufgestellt, ein Tisch ist mit Christgaben für die Schüler bedeckt; aller Augen sind aber auf den Weihnachtsbaum gerichtet – eine echte deutsche Tanne, die in hellem Lichterglanz und buntem Schmuck erstrahlt. Die Schüler stellen sich inzwischen im Halbkreis um den Christbaum, ihre dunklen Augen sind auf den Lehrer gerichtet, der am Klavier steht, und mit dem dreistimmigen Choral „Kommt, kommt, den Herrn zu preisen“ wird die Feier eröffnet. Wie eigenartig werden die Zuhörer durch diese hellen Klänge in der Sprache der Heimat ergriffen! Fast wie ein Märchen kommt es ihnen vor, daß Negerbuben so geläufig ein deutsches Lied vortragen. Die Ueberraschung war aber noch größer, als die Deklamationen an die Reihe kamen. Da tritt der kleine Jakob vor. Er sieht schüchtern und schmächtig aus; wie er aber anfängt, so sicher und in klarer Aussprache die Weihnachtsgeschichte vorzutragen, richtet sich jedes Auge mit Wohlgefallen nach dem klugen Gesicht mit den ernsthaften Augen. Weniger Glück hat sein Nachfolger Ador; er, der keckste unter den Schülern, verliert heute in der feierlichen Stimmung die Geistesgegenwart. Mit unsicherer Stimme beginnt er das Gedicht von Gerok „Jesus in der Krippe“ und verwechselt mehrere Gliedmaßen des Kindes, die darin besungen werden. Vielleicht beengt ihn die neue helle Hose, die der Uebermut zur Feier des Tages anhat, denn er zieht sie krampfhaft höher und höher, als fürchte er, sie bei seinen Anstrengungen zu verlieren. Endlich ist der letzte Satz herausgewunden und Ador tritt beschämt zurück. Die Ehre der Schule rettet nun der Primus, der das Melodrama „Das Glöcklein von Jnnisfär“ vorträgt. Ein deutscher Beamter hat die Klavierbegleitung übernommen und die sichere ausdrucksvolle Art, wie der schwarze Junge das lange Gedicht dazu hersagt, erregt allgemeinen Beifall; auch die anderen Schüler, welche die kleinen Chöre dazwischen singen und mit der Schulglocke das Glockengeläute markieren, machen ihre Sache gut. Zum Schlusse singen die schwarzen Schüler und die anwesenden Europäer einstimmig den erhebenden Choral „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’!“ Noch eine Rede des Landeshauptmanns, der dem Lehrer Anerkennung zollt, und nun erfolgt die Verteilung der Gaben an die jungen Burschen. Filetjacken bildeten das Hauptgeschenk, aber es fehlte auch nicht an knusprigen Weihnachtsgaben; ein Schiffskapitän sandte ein Faß Schiffszwieback für die „Jungens“ und ein Kaufmann stiftete Pfeffernüsse.

Fürwahr, ein solcher Weihnachtsabend in Deutsch-Afrika läßt das deutsche Herz höher schlagen, aber wie groß muß sein Eindruck auf die schwarzen Gäste gewesen sein! Ernst schritten die wackeren Dorfältesten nach Hause und in dem Negerdorfe erzählte der Kindermund von dem Jesuskinde, zu dem die Weißen beten; erzählten von der Liebe, die es lehrte, von dem Frieden, den es der Welt verhieß. Da wankte wohl in mancher Brust zum erstenmal der düstere Glaube an die böse Dämonenwelt und den Fetischkultus und der Glanz des Christbaumes drang aufklärend in die finsteren Tiefen des traurigsten Aberglaubens.

So wirkt heutzutage der „deutsche Schulmeister“ im Dunklen Weltteil, ein Vorkämpfer der Kultur im vollsten Sinne des Wortes. So wirkt und ringt er unter tausend Beschwerden; denn ungefügig sind noch die Schüler, die er aus der angeborenen Wildheit höherer Gesittung zuführen will, und unwirtlich, mit Fieberdünsten geschwängert ist das Land, in dem er lebt. Hat doch Lehrer Köbele, dem wir die Vorlagen zu dem Bilde, das unsere Nummer schmückt, und die näheren Angaben für diese Schilderung verdanken, ein weiteres Weihnachtsfest nicht mehr erleben können. In der Blüte des Mannesalters hat ihn bereits am 11. Mai dieses Jahres ein bösartiges Fieber dahingerafft. Ehre seinem Andenken und Ehre den anderen deutschen Lehrern, die gleich ihm im Dunklen Weltteil aufopferungsvoll wirken, mit Waffen des Geistes und des Herzens die jungen Kolonien erst wahrhaft für das Vaterland erobern helfen!


Ein Weihnachten auf der Rauhen Alb.

Von Paul Lang.
(Mit dem nebenstehenden Bilde.)

Jawohl, Mutter, das ist ein alter Brauch im Schwabenland, daß man dem Schäfer, wenn er nicht zum Christkindle in die Stube kommen will, den Christbaum aufs Feld bringt, den Baum mit brennenden Lichtern und Glaskugeln dran. Ein Schäfer muß doch auch wissen, daß es Weihnachten ist. Ganz gewiß, ein alter guter Brauch ist’s.“

Also beteuerte die dreiundzwanzigjährige Margarete ihrer Mutter, der verwitweten Krämerin Bosch gegenüber, und dabei arbeitete sie wacker drauf los, um ihre Spitzenklöppelei für den heutigen Heiligen Abend vollends fertig zu bringen. Das kunstvolle Werk war ein Geschenk für die gnädige Frau im Schloß, bei der Margarete seit einer Reihe von Jahren im Dienste stand. Und so manches sie im Schloß schon gelernt hatte, was sie sich unter dem niedrigen Dach ihres Elternhauses niemals zu eigen gemacht hätte, das Klöppeln ging ihr doch nirgends so von der Hand wie unter den Augen der Mutter, die eine auch von ihrer Tochter noch nicht übertroffene Meisterin in dieser Fertigkeit war.

„Ein alter Brauch? So? Nein, davon weiß ich nichts und bin doch um ein Gutes älter als Du,“ entgegnete die Mutter. „Aber man hat ja alle die alten Bräuche einschlafen lassen und vergessen; man wüßte gar nichts mehr davon, wenn man sie nicht noch hier und da in den Büchern fände wie Deine gnädige Frau. Die hat Dir’s wohl erzählt?“

„Ja, und drum soll der Vetter Daniel heute abend bei seinen Schafen auch seinen Christbaum haben,“ versicherte Margarete bestimmt; und wenn sie einmal etwas gesagt hatte, so blieb es in der Regel dabei.

„Ich weiß nicht,“ nahm die Krämerin nach einer Pause wiederum das Wort, „ob ihr dem Vetter eine besondere Freude macht, wenn ihr ihn heute abend nicht ganz allein und in Ruhe laßt bei seinem Pferchkarren, seinem Hund und seinen sinnierigen Gedanken. Und die Leute im Dorf müßten Dich ja für närrisch halten, wenn Du mit einem brennenden Bäumle durch den dunkeln kalten Wald laufst.“

„Das Mariele geht natürlich mit mir. Und wenn der Vetter Daniel heut’ abend nicht für sich selber einen Christbaum haben will, so soll er sich doch wenigstens seinem Kind zulieb in den alten schönen Brauch schicken. Das Mariele ist halt ein armer Tropf! Vierzehn Jahre lang hat sie von ihrem Vater nichts gehabt, weil er in der Fremde herumgefahren ist, das eine Mal auf dem Schwarzwald, das andere Mal auf der Alb, das dritte Mal gar im Preußischen“ – sie meinte das Fürstentum Hohenzollern-Hechingen. „Und jetzt, wo der Vetter zum erstenmal wieder nach langen Jahren Gelegenheit hätte, den Geburtstag seines Kindes und das Geburtsfest unseres Heilands mit anderen Christenleuten in der warmen Stube zu feiern wie sich’s gehört, jetzt will er nicht hergehen, sondern lieber auf dem freien Felde draußen eigenbrödeln. Nein! Das ist nicht recht!“

„Mir thut’s auch weh für ’s Mariele. Aber es hat seinen

[837]

Ein Weihnachten auf der Rauhen Alb.
Nach einer Originalzeichnung von K. Rickelt.

[838] Grund. Heute vor dreizehn Jahren, dazumal hat der Vetter noch in Distelweiler gewohnt und hat seine Hämmel bis nach Straßburg und nach Paris hinein verhandelt und ist ein wohlhabender zufriedener Mann gewesen mit seinem braven fleißigen Weib – Gott hab’ sie selig! Also heute vor dreizehn Jahren ist das Mariele auf die Welt gekommen, und das hat ihrer Mutter das Leben gekostet. Am Stephanstag haben wir sie begraben, und ich hab’ ihrer Mutter keinen einzigen Liebesdienst mehr erweisen können als den, daß ich ihr Kind aus der Taufe gehoben habe. Am Abend, wie die Leidtragenden aus dem Hause gewesen sind, hat der Vetter den noch von seinem Weib aufgeputzten Christbaum angezündet, und ich bin darunter gesessen, das arme Tröpflein auf meinem Arm, und hab’ geweint. Die Lichter sind so nach und nach verloschen und der Vetter hat gesagt: ‚So, Base Lene, jetzt zünd’ ich keinen Christbaum mehr an!‘ Ich hab dann das Kind mit von Distelweiler herübergenommen durch Schnee und Regen, und Dein Vater hat das Mariele aufgezogen wie seine eigene Tochter, bis ich ihm selber die Augen zugedrückt habe. Die Glaskugeln und was sonst noch an dem Christbaum gehängt ist, hab’ ich auch mitgebracht; der Vetter hat mir’s sorgfältig in eine Schachtel gepackt in schneeweiße Lammwolle. Aber ich hab’s seitdem in der Schachtel gelassen und nicht angerührt.“

„Ja,“ fiel das Mädchen ein, „ich weiß noch gut, wie man mich vom Schloß geholt und mir gesagt hat, jetzt sei mein liebster Wunsch in Erfüllung gegangen, ich hab’ ein Schwesterle gekriegt. Aber ich bin fast ein bißle eifersüchtig geworden auf all die Liebe, die Du und der Vater an die Neuangekommene gewendet habt.“

„Wir haben dem Kind erwiesen, was sich gehört hat,“ fuhr die Mutter fort. „Und sie ist uns so etwas wie ein Ersatz gewesen für Dich; denn Du bist schon dazumal lieber auf dem Schloß gesteckt als in unserem engen Kramlädle. Der Vetter Daniel aber ist in die Fremde gegangen als ein armer Schafknecht, bis er sich im vergangenen Frühling in der Schäferei unserer Gutsherrschaft hat einstellen lassen. Nicht als ob er nach seiner Tochter in den dreizehn Jahren nicht gefragt oder nicht für sie gesorgt hätte. Zu ihrem Geburtstag hat er ihr immer etwas Schönes geschenkt. Aber vom ,Christkindle‘ hat er nie etwas aus der Fremde geschrieben. ‚Ich zünd’ keinen Christbaum mehr an‘ – das hat er bis zum heutigen Tag gehalten, und dabei wird er wohl bleiben.“

„Das kann er halten, wie er mag,“ entgegnete Margarete. „Aber wir zünden ihm den Baum an, versteht sich, erst draußen auf dem Kapellenbühl. Das Mariele trägt den Baum, und Du, liebe Mutter, gehst auch mit.“

„Ich weiß nicht, ob ich meinen Kramladen so stehen lassen kann. Am Heiligen Abend kommen ja gerade noch viele Kunden.“

„Ei, die Nachbarin wird gern für Dich einstehen, hat’s ja schon manchmal gethan.“

„Wir wollen sehen,“ entgegnete Frau Bosch und brach das Gespräch ab; denn in diesem Augenblick trat Vetter Daniel, der Schäfer, von seinen beiden Verwandten freundlich begrüßt, zur Thür des traulichen Gemaches herein.

Der Schäfer hängte seinen alten Pelzkragenmantel und seinen wetterfesten Lodenhut an den hölzernen Pflock in der Nähe des warmen Ofens, unter dem es sich sein treuer Hund Nero, ohne sich lange zu besinnen, behaglich gemacht hatte. Dann setzte er sich auf die Einladung der Base hin an den reinlich gedeckten Tisch.

Er hatte die wenigen Schafe, die ihm eigen gehörten, und mit denen er am Nachmittag und auf den Abend wieder ausfahren wollte, weil das Futter heuer gar so „klemm“ (rar) war, im Stall sorgfältig untergebracht, und nun ließ er seine erstarrten schwielenharten Finger, die heute morgen die Schippe regiert hatten, in der Stnbenwärme auftauen. Seiner Gamaschen, einer Fußbekleidung, die er sich in Straßburg beigelegt hatte, entledigte er sich nicht; er trug sie mit Stolz und ließ es sich wohl gefallen, daß man ihn im Dorf den „Gamaschendaniel“ nannte.

Nun schlug vom nahen Kirchturm des Dorfes die Mittagsstunde und das Mariele kam aus der Schule, wo sie in der letzten Stunde vor Mittag beim Pfarrer Konfirmandenunterricht genossen hatte. Sie ward von einigen Buben mit Schneeballwürfen verfolgt, denn ein Geburtstagskind muß es sich nach altem Herkommen im Dorf gefallen Lassen, daß ihm die Kameraden zur Erhöhung des Festes mit Neckereien zusetzen. Doch vor dem Hause kam Lammwirts Konrad der Flüchtigen zu Hilfe. „Schämet euch, vier Buben gegen ein Mädle!“ Das Mariele aber flog mit leuchtenden Augen und von der Kälte geröteten Wangen in die Stube, wo sie mit Jubel erst den Nero, der unter dem Ofen hervorkroch, begrüßte, dann die Base Lene, die Margarete und den alten Vater.

Kaum hatte der Schäfer Daniel Zeit und Gelegenheit, seine väterlichen Glückwünsche zum Geburtstag anzubringen, so wichtig war es seiner Tochter, ihm die Neuigkeit mitzuteilen, daß sie heute nachmittag keine Schule habe.

Das schmackhafte Mittagsmahl wurde von den Vieren ohne sonderlich lebhafte Unterhaltung eingenommen. Die Landleute auf der Alb nehmen es mit dem Essen ernsthaft; insbesondere bewies der Vetter Daniel, indem er kräftig zulangte, daß man dem Schäfer und seinem Hund nicht mit Unrecht nachsagt, sie seien keine Kostverächter.

Nach Tische wurde das Mariele in dem Gemache nebenan, in der „Stubenkammer“, wohin sich die beiden Mädchen zurückgezogen, von Margarete in das Geheimnis eingeweiht, daß man heute dem Vater nach altem guten Brauch den Christbaum auf den Kapellenbühl bringen werde.

Marie klatschte bei dieser Nachricht vor Freuden in die Hände. „Weißt Du,“ sagte sie, „das ist dann bei uns ganz so, wie es in alten Zeiten in Bethlehem gewesen sein muß. ,Und es waren Hirten in der selbigen Nacht auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn umleuchtcte sie, und sie fürchteten sich sehr.‘“

„Dein Vater fürchtet sich aber nicht,“ entgegnete Margarete. „Wenn er Angst hätte so allein auf dem Feld, so käm’ er zu uns in die warme Stube am Heiligen Abend und an Deinem Geburtstag.“

„Vor was sollt’ er auch Angst haben?“ fragte das Kind treuherzig. „Ist ja der Nero bei ihm.“

„Je nun, ich weiß, warum eigentlich Dein Vater heute die Nacht auf dem Felde zubringen will. Nach einem Schatz will er graben. Weißt Du, draußen auf dem Kapellenbühl, auf der Heide sind Gräber von alten Königen, die man dort vor zweitausend Jahren begraben hat. Das hat im letzten Sommer der gelehrte Herr Professor aus Stuttgart, der auf dem Schloß gewohnt hat, Deinem Vater gesagt. Bei den Schäfern aber ist’s ein alter Glaube, daß dort, wo an einem Rain auf der Heide drei Schafe in der Christnacht bei einander stehen und fressen, die Köpfe gegeneinander, daß dort ein vergrabener Schatz zu finden sei. Das mußt Du aber für Dich behalten und darfst meiner Mutter beileibe nichts davon sagen. Sie kann solchen Aberglauben nicht leiden. Und besser wär’s schon, Dein Vater guckte in der Christnacht an einem brennenden Christbaum hinauf als in ein altes Heidengrab hinunter.“

Marie nickte nachdenklich. Es war ihr doch etwas unheimlich, daß ihr Vater auf dem Kapellenbühl in der Heiligen Nacht Schatzgräberei treiben wollte, wenn er’s auch nur dem Stuttgarter Professor zulieb that. Margarete kam rasch auf etwas anderes zu reden. Schon um fünf Uhr sei die Bescherung auf dem Schloß. Um sieben sei sie frei, dann könne man den Christbaum auf den Kapellenbühl hinaus tragen. Mariele solle nur den herrschaftlichen Jäger Oswald darum bitten, daß er aus dem Park ein nettes Tannenbäumle abgebe.

Die Lichter könne man im Kramladen haben; für die Glaskugeln und den sonstigen Schmuck des Baumes werde die Mutter sorgen. Auf dem Schloß solle Marie einen Korb mit ein paar Weinflaschen und Backwerk holen, den die gnädige Herrschaft für ihren treuen Schäfer schon zurechtgestellt habe. Und im „Lamm“ müsse sie dann noch für eine Laterne sorgen, der Hausknecht werde ihr gern eine geben.

Das Kind ging mit Freuden auf alles ein, was Margarete dem Vater zulieb thun wollte. Nur hinsichtlich des Jägers Oswald hatte sie einige Bedenken. „Er ist so streng,“ sagte sie, „und hat die jungen Tannenbäume so lieb, wie wenn’s seine Kinder wären. Auch fürcht’ ich mich vor seinem Hund.“

„Dann nimmst Du den Nero mit.“

„Den braucht der Vater! Mir giebt der Jäger kein Tannenbäumle. Ich mein’ aber, Dir thät er’s nicht abschlagen, Margret.“

Margarete wandte sich errötend ab. Sie war allerdings selbst schon seit einigen Monaten überzeugt, daß ihr der stattliche herrschaftliche Jäger kaum einen Wunsch abschlagen würde. Aber gerade deswegen konnte sie nicht zu ihm gehen und ihn um eine Gefälligkeit bitten. Ein dreizehnjähriges naseweises Ding braucht ohnehin von solchen Sachen nichts zu wissen. „Zum Jäger gehst Du, Mariele,“ sagte sie kurz abbrechend. „Ich hab’ an meiner Klöppelarbeit noch zu thun. Doch kann ich den Korb bei der gnädigen Herrschaft abholen.“

Während Mariele die ihr von Margarete erteilten Aufträge mit [839] flinker Freudigkeit ausrichtete. machte der alte Daniel im lederüberzogenen Großvaterstuhl am Ofen sein „Nickerle“. Margarete aber saß emsig am Klöppelkissen, während ihre Gedanken bei Oswald weilten. Später vertrat sie im Kramladen die Mutter, welche in die Bühnenkammer hinaufstieg, um den Christbaumschmuck hervorzusuchen. Sie fand in der Schachtel, in schneeweiße Lämmerwolle verpackt, alles wie es der Vetter vor dreizehn Jahren hergerichtet hatte. Sie fand aber noch etwas, wovon sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte. Auf dem Boden der Schachtel lag eine notariell ausgestellte Urkunde. Darin erklärte der Vetter Daniel Heinrich Bader, Schäfer aus Distelweiler, „für Leben und Sterben“, daß er all seine Ersparnisse – es war eine schöne Summe – bei einer Bank in Straßburg hinterlegt habe. Das Geld gehöre zur Hälfte seiner Tochter Marie Bader, zur Hälfte der Tochter seines freundes Bosch, Margarete Bosch. Es solle jedoch der Marie Bader erst etwas davon gesagt werden, wenn sie konfirmiert sei, und der Margarete Bosch erst, wenn sie sich zu verehelichen gedenke. – –

„Aber Vetter, Vetter Daniel, was treibt Ihr für Sachen?“ fagte Frau Bosch erregt, indem sie mit der Urkunde in der Hand in die Stube trat.

Der alte Schäfer fuhr von seinem „Nickerle“ im Lehnsessel auf. „Was soll’s, Base Lene?“ fragte er verdutzt.

„Nun, was Ihr da habt schreiben lassen, Vetter! Das sieht ja aus, als hätten wir nicht alles, was wir dem Mariele erwiesen, gern umsonst gethan!“

„Ja, Base Lene, habt denn Ihr und Euer Mann gemeint, ich wolle euch so mir nichts, dir nichts ein Pflegekind anhängen? Ihr habt, soviel ich weiß, nicht gerade viel übrig gehabt, und ich – ich bin nach dem Tode meines Weibes wohl als ein armer Schafknecht in die Fremde gegangen, aber ein ganz unvermöglicher Mann bin ich in Distelweiler nicht gewesen. Also wenn’s Euch so recht ist, Base Lene, von dem, was da geschrieben steht, erfährt mein Mariele zum erstenmal etwas an ihrem Konfirmationstag, und Eure Margret an ihrem Hochzeitstag.“

„Wenn mir’s aber nicht recht ist, Vetter?! Und es ist mir gar nicht recht! Eurem Weib hab’ ich versprochen, daß ich das Mariele aufziehen wolle wie mein eigen Kind. Und jetzt soll ich mich von Euch wie mit einem Kostgeld abfinden lassen? Nein, Vetter –“

„Base Lene,“ sagte der Schäfer, „es thut mir leid, daß es Euch nicht recht ist. Aber ich kann’s nicht ändern! Wenn ich Euch von Rechtswegen heimzahlen sollte, was Ihr, Ihr und Euer Mann selig, an meinem Kind Gutes gethan habt um Gottes willen, ich blieb Euer Schuldner. Und – Kostgeld! Ein ‚Christkindle‘ ist’s für die Margret!“

Damit stand er auf, nahm seinen Lodenhut und seinen alten Pelzkragenmantel vom Pflock und verließ, von seinem Hund Nero geleitet, die Stube. Draußen ließ er die Schafe aus dem Stall und zog „mit sinnierigen Gedanken“, wie man’s vom „Gamaschendaniel“ gewöhnt war, die Dorfgasse entlang. – –

Abends um sieben Uhr war der Christbaum, der dem Schäfer auf den Kapellenbühl getragen werden sollte, stattlich aufgeputzt.

Die Besorgung des Kramlädchcns hatte Frau Bosch der zuverlässigen Nachbarin übergeben. Margarete war seelenvergnügt von der Bescherung im Schloß zurückgekehrt. Noch freudiger aber glänzten Marieles Augen: sie kam sich mit ihrem Baum vor wie ein Weihnachtsengel.

Man hätte können aufbrechen, wenn man nicht noch auf des Lammwirts Konrad, den biederen Hausknecht vom „Lamm“ und den Jäger Oswald gewartet hätte. Alle Drei hatten sich zur Begleitung auf den Kapellenbühl angeboten: Konrad, weil er den Korb mit den Weinflaschen tragen wollte, der Hausknecht, weil er meinte, die Laterne sei „von wegen den Baumwurzeln“ nur in seiner Hand vor einem Unfall sicher, der Jäger, weil er, wie er behauptete, nicht fehlen durfte, wo es gelte, einen alten guten Brauch wieder zu Ehren zu bringen.

Und die Drei fanden sich, ohne daß man allzulang auf sie warten mußte, der Reihe nach ein. Konrad bemächtigte sich mit seinen Pelzhandschuhen des gesamten Mundvorrats. Der Hausknecht zündete seine Laterne an. Der Jäger kaufte für seine kurze Pfeife im Kramladen ein Päckchen Tabak; er hatte das Tannenbäumchen der Bittstellerin recht freundlich verwilligt. Und nun ging’s auf möglichst einsamen Pfaden, weil man „unbeschrieen“ bleiben wollte, durch die mäßig verschneiten Wiesen und die waldige Berghalde entlang zu dem eine halbe Stunde entfernten Kapellenbühl.

Wir lassen die Wanderer durch den Wald allein gehen; für Oswald und Margarete, die dicht nebeneinander schreiten, … wären wir eine lästige Gesellschaft. Aber auch Frau Bosch, Mariele, Konrad und der lichtspendende Hausknecht können unserer Begleitung füglich entraten.

Wir eilen voraus zum Kapellenbühl und machen am Pferchkarren Rast.

„Des Schäfers sein Haus und das steht auf zwei Rad,
Steht hoch auf der Heiden, so frühe wie spat;
Und wenn nur ein mancher so’n Nachtquartier hätt’!
Ein Schäfer tauscht nicht mit dem König sein Bett.“

singt Mörike! Und er hat recht.

Freilich, unser alter Daniel ist ein gestandener Mann, nicht mehr so jugendlich leichtblütig wie Mörikes Schäfer. Allerlei Gedanken, ernste und heitere, gehen ihm durch den Kopf, während er zu dem grau überlaufenen Nachthimmel hinauf, zu dem schweigenden Wald hinüber blickt. Mit dem Schatzgraben ist’s heute nichts; der Bodcn ist, wiewohl der Frost nicht allzustreng waltet, doch hart gefroren. Auch kommt es nie dazu, daß drei Schafe ihre Köpfe zusammenstecken, ihm das erwünschte Zeichen für die richtige Stelle zu geBen.

Allerlei Gedanken: sein Weib, das er noch nie hat vergessen können, sein Kind und die Konfirmation im nächsten Frühjahr, was die Base Lene von der Urkunde denkt, und ob Margret nicht doch bald Heiratstag haben wird ...

Nero, der Hund, wird unruhig und schlägt an; denn er hat in der Ferne des Hausknechts Laterne bemerkt und Tritte nahen hören durch die tiefe Stille der Nacht. Sein Herr bringt ihn nur mit Mühe zum Schweigen.

Nun flammen im völlig windstillen Dunkel sechs, sieben, acht andere Lichter auf.

Jetzt erkennt der Schäfer Daniel die Base Lene, die zwischen dem Jäger und ihrer Tochter sich eine unerschütterliche Stellung erkämpft hat. Da keucht der schwerbeladene Konrad heran. Aber allen voraus schreitet sein Kind und bringt ihm den Christbaum, damit er auch Weihnacht feiern kann auf dem Feld.

„Aber Base, Base Lene, was denket Ihr, was treibet Ihr!“ ringt es sich von des alten Mannes Lippen los. Und weil die Base keine Antwort giebt, stimmt Margret mit hellem Klang das alte liebe Lutherlied an:

„Vom Himmel hoch, da komm’ ich her
Und bring’ euch gute neue Mär.“

Der Schullehrer hat’s mit dem gemischten Chor für den morgigen Festtag eingeübt. Und der Jäger Oswald nimmt andächtig die Pfeife aus dem Mund und fällt mit seinem kräftigen Baß ein.

Wie aber das Lied zu Ende gesungen ist, wird der brennende Baum auf ein paar zusammengestellte Hürden gepflanzt, und der alte Schäfer Daniel sieht sich in einem Kreis froher Menschen die Geschenke an, mit denen er sonst noch bedacht worden ist.

Viel Worte macht er ebensowenig wie die Base Lene, aber das Herz ist ihm zum Zerspringen voll. Und schließlich hat er nichts dagegen einzuwenden, wie sie alle aufbrechen, um ihn allein zu lassen bei seinem Pferchkarren und seinen Schafen, mit seinem Hund und seinen sinnierigen Gedanken.

Der Hausknecht hat ein neues Licht in der Laterne aufgesteckt. Konrad schwenkt den Arm, der keine Last mehr heimzutragen hat. Der Jäger und Margret sind schon ins Dunkel des Waldes getaucht.

Doch ehe die Base Lene den alten Daniel verläßt, nimmt er sie ein wenig beiseite und sagt: „Lene, nichts für ungut, aber ich meine, die Urkunde auf dem Boden der Schachtel ist für die Zwei da vorn nicht so ganz ohne. Was meint Ihr?“

Man sagt den Schäfern nach, sie können das Wetter prophezeien. – Warum nicht auch eine Verlobung?


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Blätter und Blüten


Der Cottasche Musen-Almanach für 1897. Auch für das kommende Jahr ist wieder dieser von Otto Braun herausgegebene Musen-Almanach erschienen, eine willkommene Gabe für alle, welche der poetischen Kunst des gegenwärtigen Geschlechts ihre Teilnahme zuwenden. Pünktlich stellt er sich ein für den Weihnachtstisch, und dies alljährliche regelmäßige Erscheinen beweist, daß er ein festes ständiges Publikum hat, das gewiß von Jahr zu Jahr zunimmt. Bietet er doch auch unseren besten und bewährtesten Dichtern ein Stelldichein, setzen diese doch eine Ehre darein, in diesem Almanach der Musen sich in würdigster Weise vertreten zu sehen! Es mag hinzukommen, daß die geschmackvolle äußere Ausstattung des in lichte Seide gekleideten Bandes ebenfalls ihre Anziehungskraft ausübt und daß sich kaum eine zierlichere Spende des Büchermarktes auf den Weihnachtstisch legen läßt. Von den namhaften Lyrikern wird man wenige in dem Almanach vermissen – fehlt ein Name zufällig in diesem Jahrgang, so wird man ihn jedenfalls in den früheren finden. Paul Heyse hat eine kurze stilvolle Novelle in reimlosen Versen beigesteuert: „Die Mutter des Siegers“. Der Stoff ist dem Altertum entnommen. Ein Preisgekrönter der olympischen Spiele ist der Held – das Mütterlein desselben hat sich gegen das Verbot, welches den Frauen wehrt, den Spielen beizuwohnen, in Mannskleidern dort eingeschlichen. Die Todgeweihte wird indes von den strengen Richtern freigesprochen, doch stirbt sie infolge der Aufregungen. Die beiden Balladen „Johannifeuer“ und „Die Lawine“ von Hermann Lingg haben große historische Perspektive und atmen markige Kraft. Den Mut als Tugend des geistlichen Standes feiert Felix Dahn in der originellen Ballade „Das Urteil Gregors VII.“ Albert Möfer läßt in dem Gedicht „Tiberius“ den schwererkrankten Tyrannen einen Boten nach Palästina schicken, damit er den Rabbi von Nazareth herbeihole, von welchem das Gerücht so merkwürdige Wunderkuren erzählt, doch der Bote kehrt zurück mit der Trauerkunde, daß der Rabbi von Pontius Pilatus zum Tode verurteilt worden und am Kreuze gestorben sei. Die „Bergmannstochter“ von Martin Greif ist ein fein ausgeführtes tragisch gestimmtes Genrebild. „Ismail“ von Arthur Fitger beschwört die Märchenwelt des Morgenlandes; die Darstellung ist farbenreich und schwunghaft, das Kolorit von gespenstigem Reiz. Wilhelm Hertz spendet Proben aus seiner neuen meisterhaften Übersetzung von Wolframs „Parzival“. Noch reicher ist der Blülenstrauß der lyrischen Gedichte: den Reigen eröffnen die Veteranen Hermann Lingg und J. G. Fischer mit kurzen kernhaften Liedern; Rudolf von Gottschall feiert in einem Sonettencyklus „Genua“ diese Stadt, sein eigenes Lebensgeschick in das italienische Städte- und Landschaftsbild verwebend; sinnig, reich an eigenartigen Bildern sind die Gedichte von Wilhelm Jensen. Ludwig Fulda hat eine schwunghafte Ode „Blindheit“ beigesteuert, Eduard Paulus Lieder von melodischem Fluß; nicht minder glücklich vertreten sind Heinrich Kruse, Adolf Stern, Emil Rittershaus, Julius Rodenberg, Georg von Oertzen, Ernst Ziel, Ernst Eckstein, Max Kalbeck, Heinrich Vierordt und von den Jüngeren Ernst Lenbach, Carl Busse, Max Hartung und andere. Die verschiedensten Tone sind angeschlagen, aber es ist kein Mißton darunter. Sehr in den Vordergrund tritt Isolde Kurz mit einer schönen fesselnden Novelle, „Unsre Carlotta“, deren Heldin eine jener südlichen Elementarnaturen ist, wie sie auch Paul Heyse gern darstellt, und mit einer größeren gedankenreichen Epistel „Der neue Gott“. Kleinere originelle Erzählungen von romantischer Grundstimmung haben Ernst Eckstein und Hans Hoffmann geliefert. Die Xenien von Quidam sind meistens treffend, sie geißeln litterarische Zustände und Mißstände; sinnig sind die Albumblätter von Julius Rodenberg. Zur besonderen Zier gereichen dem Almanach die gelungenen Kunstbeilagen von Pram-Henningsen, Nestel, Püttner, Reinicke, Hasemann und Zick. Möge auch dieser Jahrgang des Cottaschen Musen–Almanachs recht zahlreiche Freunde und Leser finden! †      



Weihnachtskuchen. (Zu dem Bilde S. 825.) Die Vorbereitungen zum Fest, die der Hausfrau so viel Mühe und Arbeit bereiten, sind für die Kinder des Hauses eine reiche Quelle der Vorfreude. Was für eine angenehme Beschäftigung bildet nicht z. B. schon das Teilnehmen am Kuchenbacken! Da fällt manche Rosine und Mandel als Abschlagszahlung auf die kommenden Genüsse ab. Und wie schön spannend ist die Erwartung, ob der Kuchen auch beim Bäcker gelingen werde! G. Schöbel hat in seinem Bilde „Weihnachtskuchen“ diese kindliche Freude gar anziehend dargestellt. Der wichtige Augenblick ist gekommen, in welchem der backfertige Kuchen zum Bäcker geschafft wird. Wie fröhlich wird die süße Last getragen! Wie folgt selbst das Allerkleinste mit seiner Puppe dem Duft des Kuchenteigs nach! Der gute alte „Onkel“ Bäcker begrüßt mit heller Freude die kleine Schar. Hoffen wir, daß dank seiner Fürsorge die Napf- und Blechkuchen, die Mandel- und Rosinenstriezeln gut geraten, und auch Magen und Gaumen am Festtage befriedigt werden! *      

Verfrühte Weinachtsüberraschung. (Zu der Kunstbeilage XIII.) Es wird niemals herausgebracht werden, auf welche Weise klein Ellychen in Abwesenheit der Mama ins Bescherzimmer eindringen konnte. Rosa, das vortreffliche Kindermädchen, beteuert, sie unausgesetzt im Auge gehabt zu haben, einen Augenblick ausgenommen, wo sie die Gangthüre öffnen mußte, weil die Köchin Wally nicht klingeln hörte, was diese in gewohnter strenger Wahrheitsliebe bestätigt. Und in diesem kurzen Augenblick fand die Kleine den langen Weg über den Korridor, entdeckte durch Eingebung die beste Art, den von der liebenden Großmama gestifteten Puppenwagen an- und auszupacken, fand darinnen das herzige, goldige Püppchen und brach darüber in ein Jubelgeschrei aus, das die mit den letzten Einkäufen beladenen Eltern eben noch zu hören bekommen, Mama voll atemlosen Schreckens, Papa herzlich lachend über seine kluge Maus. Was nun? Hinaus natürlich und hinüber in die Kinderstube, wo die Beteuerungen der beiden „Perlen“ klein Elly zum reinsten Wunderkind stempeln; aber das war sie vorher auch schon, damit sagt man der höchst verstimmten Mama nichts Neues! Der Weihnachtsabend ist verpfuscht, total verpfuscht – sie bekennt es sich unter mühsam verhaltenen Thränen. – Wenn aber dann das lockige Köpfchen sich an ihre Wange schmiegt und die kleine Stimme treuherzig sagt: „Weißt Du, Mama, jetzt verdeß’ ich’s danz deswind wieder!“ – ja dann ist doch der Aerger plötzlich wie ausgelöscht und die junge Frau denkt voll Entzücken, was ihr jede Leserin nachfühlen wird: daß es doch kein schöneres Weihnachtsglück giebt, als solch ein herziges Kindchen sein eigen zu nennen! Bn.     

Madonna del Granduca. (Zu der Kunstbeilage XIV.) Wer einmal so glücklich war, die herrlichen Galeriesäle des Palazzo Pitti in Florenz zu durchwandern und den unermeßlichen Reichtum seiner Kunstschätze anzustaunen, der erinnert sich auch des wunderlieblichen Rafaelschen Bildes der Jungfrau, welche den Jesusknaben auf der einen Hand trägt und mit der anderen leise an sich drückt. Es gehört zu den frühesten seiner vielen, hauptsächlich in Florenz gemalten Madonnenbilder und zeigt in dem still und sanft vor sich hinblickenden Kopf der Mutter noch einen Anklang an Perugino und die Befangenheit der umbrischen Schule. Aber weit über diese hinaus geht bereits der Ausdruck beglückter Zärtlichkeit, mit welcher sie trotz aller demütigen Scheu das Kind in den Armen hält. Dieses selbst in seiner entzückenden Lebensfrische und Holdseligkeit eröffnet die lange Reihe göttlicher Knaben, welche, durch Rafael als Jdealtypus geschaffen, seither von Unzähligen nachgeahmt und von keinem mehr erreicht worden sind. Die Jesuskinder seiner späteren Bilder zeigen lebhaftere Beweglichkeit, paaren Anmut mit Kraft bis zu dem Wunderknaben der Sixtinischen Madonna hinauf. Aber die süße erste Kindlichkeit in ihrer rührenden Unschuld hat dieser „Bambino“ der Madonna del Granduca vor allen voraus. Das Bild ist so benannt, weil es einst Privatbesitz des Großherzogs (Granduca) von Toscana war und in seinen Gemächern hing; es gehört zu den größten Schätzen der nunmehrigen Nationalgalerie in dem alten Fürstenpalast. Unsere Leser werden die wohlgelungene Reproduktion sicherlich mit Freude begrüßen. Bn.     



Kleiner Briefkasten.

Eine Anfrage an unsere Leser. Wir wenden uns an unsere Leser mit der Bitte, dem berühmten Maler Professor Arnold Böcklin behilflich sein zu wollen, den Verbleib eines seiner Bilder zu ermitteln. Im Jahre 1873 schuf Arnold Böcklin ein Gemälde, das eine römische Vigne (Weinberg) darstellte. Es ist ein Bild in Breitformat; im Vordergrunde befindet sich ein angeheiterter Mann mit einer Flasche im Arm, über den sich eine Gruppe von Frauen belustigt. Die Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G. in München möchte nun eine Wiedergabe dieses Gemäldes in das bei ihr erscheinende Böcklinwerk aufnehmen. Leider aber ist der Maler selbst nicht imstande, über den Verbleib des Bildes Auskunft zu geben. Es ist bald nach der Fertigstellung in Privatbesitz übergegangen. Da alle Nachforschungen und öffentliche Anfragen in Kunstblättern bisher ergebnislos gewesen sind, setzt die Kunstanstalt ihre Hoffnung auf die weite Verbreitung der „Gartenlaube“ und bittet jeden, der über das Bild etwas Näheres weiß, es ihr mitzuteilen.


manicula Hierzu die Kunstbeilage XIII: „Verfrühte Weihnachtsüberraschung“. Von L. Blume-Siebert
und die Kunstbeilage XIV: „Madonna del Granduca“. Von Rafael.

Inhalt: Das alte Christkindchen. Gedicht. Von Emil Rittershaus. S. 821. Mit Abbildungen S. 821, 822 und 823. – Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (11. Fortsetzung). S. 824. – Weihnachtskuchen. Bild. S. 82S. – An das Christkind. Weihnachtsgeschichte von Eva Treu. S. 828. Mit Abbildungen S. 828, 829, 831 und 834. – Weihnachtsschulfeier in Deutsch-Afrika. Von C. Falkenhorst. S. 835. Mit Illustration S. 832 und 833. – Ein Weihnachten auf der Rauhen Alb. Von Paul Lang. S. 836. Mit Abbildungen s. 836, 837 und 839. – Blätter und Blüten: Der Cottasche Musen-Almanach für 1897. S. 840. – Weihnachtskuchen. S. 840. (Zu dem Bilde S. 825.) – Verfrühte Weihnachtsüberraschung. S. 840. (Zu der Kunstbeilage XIII.) – Madonna del Granduca. S. 840. (Zu der Kunstbeilage XIV.) – Kleiner Briefkasten. S. 840.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 49. 1896.


Der Weihnachtsbüchertisch der Jugend. I. Unsere Jugendlitteratur bewegt sich in festen und ruhigen Bahnen. Dichter, Schriftsteller und Künstler, die für die Jugend schaffen, haben naturgemäß enger gezogene Schranken; niemals dürfen sie vergessen, daß sie nicht nur anregend, sondern auch erzieherisch wirken müssen, und der Erfolg ist ihnen dann gesichert, wenn sie die Gabe einer gewandten Darstellung mit pädagogischem Geschick zu verbinden wissen. Nach solchen allgemein anerkannten Grundsätzen wird seit Jahren eine Anzahl von Jahrbüchern für die Jugend herausgegeben, die sich einer großen Beliebtheit erfreuen. Mit reichem Bilderschmuck versehen, bringen sie Erzählnngen, führen ihre Leser und Leserinnen in die Sagen- und Märchenwelt ein, belehren durch gediegene Artikel und geben auch Winke für nützliche Beschäftigung oder anregendes Spiel. Schon für die jüngste Stufe der deutschen Lesewelt, für Kinder, die gerade im Anfang des schulpflichtigen Alters stehen, ist ein solches Jahrbuch vorhanden: „Herzblättchens Zeitvertreib“ von Thekla von Gumpert (Glogau, Karl Flemming), von dem heute bereits der 41. Band vorliegt. Das „Töchter-Album“ derselben Verfasserin, in demselben Verlage erschienen, ist dagegen für die heranwachsende weibliche Jugend bestimmt; es hat bereits 42 Jahrgänge erlebt. Ausgezeichnetes bietet uns ferner auf diesem Gebiete die „Union Deutsche Verlagsgesellschaft“ in Stuttgart. Als ein lieber und gern gesehener Hausgast erscheint in diesem Verlage zum 21. male „Der Jugendgarten“, der von Ottilie Wildermuth gegründet wurde und nunmehr von ihren Töchtern Agnes Willms und Adelheid Wildermuth fortgeführt wird. Dank der trefflichen Auswahl spannender Erzählungen, der Berücksichtigung verschiedenster Zweige des Wissens in den zahlreichen klar geschriebenen Aufsätzen bildet das Buch in seinem schmucken, durch Farbendruckbilder anmutig gestalteten Gewande eine wahre Festgabe fürs Haus, welche Knaben wie Mädchen die gleiche Freude bereiten wird. Ausschließlich für Knaben oder Mädchen sind dagegen zwei andere Jahrbücher desselben Verlags bestimmt: „Das Kränzchen“, Illustriertes Mädchen-Jahrbuch, Achte Folge, und „Der Gute Kamerad“, Illustriertes Knaben-Jahrbuch, Zehnte Folge. In ihnen ist der letzte Jahrgang der unter gleichen Titeln erscheinenden und weiter Verbreitung sich erfreuenden Wochenschriften für die Jugend zu stattlichen Geschenkbänden vereint. Schließlich giebt die „Union“ noch ein Jahrbuch für Haus und Familie, besonders aber für die reifere Jugend, unter dem Titel „Das Neue Universum“ heraus; von ihm liegt uns der 17. Jahrgang vor, in welchem an der Hand eines außerordentlich reichhaltigen Jllustrationsmaterials die neuesten und interessantesten Erfindungen und Entdeckungen auf allen Gebieten des menschlichen Wissens und Könnens besprochen werden.

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Die schwarze und die weiße Dame.
Aus dem „Neuen Universum“ Bd. 17.
(Verlag der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.)

Eine weitere beliebte Art der Jugendschriften bilden illustrierte Reime und kurze Geschichten sowie Fabeln für kleinere und Märchen und Sagen für größere Kinder. Auf diesem Gebiets schöpfen wir zumeist aus dem unvergänglichen Schatze, den uns die Altmeister wie die Brüder Grimm, L. Bechstein, Hey u. a. hinterlassen haben. Die Illustration hat für diese Bücher eine besonders wichtige Bedeutung, da durch gute Bilder das Verständnis für das Erzählte bei dem kleinen Kinde erleichtert wird. Schon die älteren Kinderschriften bieten in dieser Hinsicht Bewährtes und Ausgezeichnetes. So sind auch von Oskar Pletschs reizenden illustrierten Büchern „Allerlei Schnick-Schnack. Alte liebe Reime für unsre Kleinen“ die fünfte und von den Erzählungen und Gedichten „Wie’s im Hause geht“ die achte Auflage (Stuttgart, W. Effenberger) erschienen. Als Neuheiten auf diesem Gebiete möchten wir neben H. LeutemannsGroße Menagerie, wie du sie sahst noch nie“ (ebenda) noch „Nur für brave Kinder“ ein ergötzliches Verwandlungsbilderbuch von Lothar Meggendorfer (Eßlingen, J. F. Schreiber), „Neues Tier-A-B-C“ von Dr. Granarius, „Neues Einmaleins“ mit Bildern von Lothar Meggendorfer und Versen von Ferdinand Feldigl, das Bilderbuch „Wie die Kinder spielen“ (ebenda) und „Des Kindes Welt im Jahreslauf“ mit Reimen von E. Rasche und Bildern von E. G. Walther (Dresden, Alexander Köhler) verzeichnen. Was Märchenbücher anbelangt, so liegen uns in schöner Ausstattung, mit Bildern von Eug. Klimsch und F. Flinzer geschmückte „Kinder-Märchen“ von den Brüdern Grimm vor (Stuttgart, W. Effenberger). Große Freude werden der jungen Welt „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ (ebenda) bereiten, die für die Jugend von Georg Paysen Petersen neu bearbeitet wurden. Von den vielen deutschen Bearbeitungen des „Robinson Crusoe“ von Defoe geben diesmal zwei Anlaß zu besonderer Hervorhebung. Die mustergültige Ausgabe von G. A. Gräbner (Verlag von Gustav Gräbner in Leipzig) hat gerade die 25. Auflage erlebt. Von der bahnbrechenden Bearbeitung J. H. Campes „Robinson der Jüngere“ sind aus Anlaß der Feier des 150. Geburtstages des Verfassers neue Auflagen im Verlage von Fr. Vieweg und Sohn in Braunschweig erschienen, und zwar die 118. Auflage der Prachtausgabe und die 119. Auflage der kleinen illustrierten Ausgabe.

Wenden wir uns den Büchern zu, die für die reifere Jugend bestimmt sind, so verdienen vor allem diejenigen Beachtung, welche die Pflege vaterländischer Geschichte bezwecken. Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß auf diesem Gebiete das Bestreben vorhanden ist, durch billige Schriften diese so wichtigen Kenntnisse weitesten Volkskreisen zu vermitteln. Zwei Sammlungen oder „Bibliotheken“ dieser Art verdienen genannt zu werden. „Aus unsrer Väter Tagen“ (Dresden, Alex. Köhler) ist ein Unternehmen, das in Form von Erzählungen die wichtigsten Abschnitte der deutschen Geschichte dem Volke vermitteln will. Die bereits auf 25 Bändchen angewachsene Bibliothek wurde neuerdings durch folgende Schriften vermehrt: „Unter dem französischen Joche. Geschichtliche Erzählung 1806 bis 1812“ von Reinhold Bahmann, „Aus Weimars Blütezeit“ von Dr. R. Siegemund, „Der Spion, Geschichtliche Erzählung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ von E. Stephan. Dasselbe Ziel verfolgen Karl FlemmingsVaterländische Jugendschriften“, die durch folgende Bändchen bereichert wurden: „Hieronymus Rhode, der Schöppenmeister von Königsberg“ von J. Grundmann, „Heinrich der Eiserne und sein Sohn Otto der Schütz“ von F. Soldan und „König Friedrich Wilhelm I. und Kronprinz Friedrich“ von L. Würdig. Ein schönes, reich ausgestattetes Werk geschichtlichen Inhalts sind die „Lebensbilder deutscher Männer und Frauen“ von J. Stieler, die, mit Bildern von L. Richter und W. Friedrich geschmückt, in zweiter Auflage (Glogau, Karl Flemming) erschienen sind.

Seit einigen Jahren sucht man namentlich die Knaben durch spannende Erzählungen für die deutschen Kolonien zu interessieren. „Jung-Deutschland in Afrika“ ist der Titel einer Serie von Kolonialerzählnngen C. Falkenhorsts, auf die wir bereits wiederholt hingewiesen haben; zu den früheren hat sich ein neues Bändchen „Zum Schneedom des Kilimandscharo“ (Dresden, Alex. Köhler) gesellt. Zwei andere Jugendschriften, deren Schauplatz gleichfalls in Afrika spielt, sind: „Unter Wilde verschlagen“ von Ludwig Foehse und „In den Amatolas“ von Ernst Peltz (Stuttgart, W. Effenberger). Nach wie vor erfreuen sich aber auch die Jndianergeschichten in ungeschwächtem Maße des Beifalls unserer Knaben. Der „Lederstrumpf“ erlebt neue Auflagen und neue Bearbeitungen, und auch neuerdachte Geschichten, reich an spannenden Abenteuern in den Jagdgründen der Rothäute, tauchen auf. Eine treffliche Erzählung dieser Art bietet uns das mit 16 Farbendruckbildern glänzend ausgestattete Buch „Verwehte Spuren“ von Franz Treller (Stuttgart, Union). Friedrich J. Pajeken steuert für den diesjährigen Weihnachtstisch „Der Mestize und drei andere Erzählungen aus Nord- und Südamerika“ bei; in den Pampas spielt die Erzählung „Unter südlicher Sonne“ von Kurt von Albrecht (Stuttgart, Süddeutsches Verlagsinstitut), während Albert Kleinschmidt eine Reihe spannender Erzählungen für jung und alt unter dem Titel „Im Lande der Freiheit und des Dollars“ (Berlin, Herm J. Meidinger) zusammengefaßt hat.

Die schwarze und die weiße Dame. Betrachten wir das obenstehende Bild aus einer Entfernung von 2 bis 3 m, so wird uns die schwarze Dame bedeutend schlanker und kleiner als die weiße erscheinen. Und doch trügt uns unser Auge; denn die beiden Figuren sind genau gleich groß, wie man durch eine Messung leicht nachweisen kann. Solche Täuschungen des Gesichtssinnes nennt man Irradiationserscheinungen. Dieselben beruhen darauf, daß Lichtstrahlen, die von besonders hellen Gegenständen ausgehen, nicht nur auf diejenigen Partien der Netzhaut einen Reiz ausüben, auf denen das Bild entsteht, sondern auch auf die benachbarten Teile der Netzhaut derartig einwirken, als hätten diese einen Lichteindruck erhalten. Die hellen Gegenstände erscheinen darum größer. Diese Thatsache wird längst in der Wahl der Kleidung verwertet. Beleibte Personen erscheinen in schwarzer Kleidung schlanker, große Hände in schwarzen Handschuhen kleiner u. s. w. Wir entnehmen das interessante Bildchen dem neuesten 17. Jahrgang des „Neuen Universum“ (Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart), das wir bereits oben in unserer Bücherschau empfehlend besprochen haben.

[840 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]