Die Gartenlaube (1896)/Heft 50
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Nr. 50. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Geschwister.
(12. Fortsetzung.)
Die Geheimrätin befand sich der Nachricht von der Verlobung ihres Sohnes noch immer wie einer Unbegreiflichkeit gegenüber, als im Entree die Glocke anschlug. Man vernahm den Schritt des Hausmädchens, welches die Thür öffnete, hörte eine helle Stimme und –
„Annie,“ rief Leo jubelnd, riß die Thür auf, da lag sie an seiner Brust, und er hob sie in die Höhe und trug sie mit jauchzendem Lachen zu seinen Eltern hin.
„Da seht ihr sie – da habt ihr sie!! – Glaubt ihr nun, daß wir ein Brautpaar sind? – Sind wir glücklich, Annie, sind wir selig, Liebste?“
Die Eltern und Lisbeth umringten die junge Braut, und während diese jene zärtlich umarmte, bat sie:
„Seid nicht böse, daß ich zu so vorschriftswidrig früher Stunde komme. – Mama hat mich aber selbst geschickt. – Ich war so aufgeregt, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen – immer kam es über mich, daß es nicht wahr sei, daß ich es nur träume, dieses unausdenkbar große Glück – – “
Leo zog sie in seine Arme und preßte ihr Köpfchen an seine Brust.
„Meine Annie, meine Geliebte, mein Schutzengel! – Ach, ihr wißt es nicht, was diese kleinen Hände für mich gethan haben! Sie haben mich vom Abgrunde zurückgerissen, sie haben mich vor Verzweiflung gerettet und mir den Weg gewiesen zu einem schöneren, würdigeren Ziele, als ich bis dahin kannte!“
Annie entzog sich sanft der Umarmung und wandte sich zärtlich der neuen Mutter zu.
„Nimm mich gütig auf, Mama, ich will immer nur danach streben, ihn glücklich zu machen!“
Die Frau Geheimrätin legte das junge Mädchen sanft in die Arme ihres Gatten. Sie mußte die Hände frei haben, sie mußte ihren Kopf halten können, der fast zersprang von alledem, was sie heute gehört und gesehen. War es denn möglich, gab es wirklich so etwas auf Erden?! Solche Liebe, die auf alles verzichten kann um des Besitzes des Geliebten willen? Was erwartete Annie an der Seite des Sohnes? In einem jämmerlichen Neste an der polnischen Grenze, gleich fern von jeder Kultur wie aller gebildeten Gesellschaft! – Und der Vater: General in der Residenz, Mitglied der ersten Gesellschaftskreise – und sie läßt all die verlockenden Aussichten ohne Bedauern, jubelt vor Seligkeit und zagt nur, ob sie auch der Ehre und des Glückes würdig sei, für den Geliebten leben zu dürfen!!
„Käthchen,“ mahnte der Geheimrat, „fasse Dich. Gehe in Dein Zimmer und mache Toilette! Es gehört sich, daß wir die ersten sind, die bei Generals vorfahren.“
Sie erhebt sich, macht ein paar Schritte auf die Thür zu – und bleibt wieder stehen, dann wendet sie sich zurück. „Leo!“ ruft sie und breitet ihre Arme nach ihm aus. Und er ist mit zwei Sätzen neben ihr, nimmt sie wie in alter Zeit in seine Arme und flüstert ihr, während er sich tief über sie beugt, leise zu:
„Ich weiß es, Mama, Du hast nie aufgehört, mich lieb zu haben, wenn Du Dich auch um meinetwillen grämen mußtest. Aber nun, nun freust Du Dich wieder über mich! Dein Leo, Dein alter Junge ist ja der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt!“ – – –
Während die Eltern und Lisbeth sich zu dem beabsichtigten Besuch ankleiden, geht das Brautpaar in den Salon, dort ist ja die „heilige“ Stelle, an der sie sich zum erstenmal gesehen haben, die müssen sie doch an ihrem heutigen Ehrentage begrüßen!
„Hier,“ sagte Annie eifrig, „hier standest Du, als ich mich umsah, hier, – nein, nicht dort, hier war es! Du machtest eine Verbeugung nach Mama, so – und dann eine zweite nach Papa, und dann nach mir eine, die tiefste, und
[842] dabei lächeltest Du und drehtest den Schnurrbart, sieh: so – mit der rechten Hand!“
„Und Du saßest auf diesem kleinen Sessel, in dem hellblauen Kleide so zierlich anzusehen wie ein Püppchen, und über das erhitzte Gesicht hing das wilde Löckchen, das da eben wieder hängt und sich nie ordentlich einfangen läßt. – Und dann plaudertest Du so kindlich fröhlich – und dazwischen wieder solche merkwürdig verständige, altkluge Worte, die mich sehr überraschten – aber das war ja immer so – meine Annie hat mich ja immer überrascht mit ihrer Klugheit, die man bei dem kleinen Mädchen gar nicht vermutet – und dann fing ich an, Dir ein wenig tiefer in die blauen Augen zu sehen, trotz Papa und Mama, und Du wurdest rot und röter – –“
„Ich weiß es, Du böser, böser Leo, Du hattest ordentlich Spaß daran, wie ich fast verging vor Verlegenheit über diese Blicke!“
„Und dann, als ihr fortginget – ich begleitete euch bis auf den Flur – da drehtest Du Dich auf der Treppe noch einmal nach mir um, und ich frecher Gesell benutzte es, daß niemand auf uns achtete, und – warf Dir eine Kußhand zu!“
„Still,“ rief sie und sah sich ganz ängstlich um, „ganz still – das darfst Du niemand erzählen! Das war sehr dreist von Dir, ich hätte danach nie mit Dir tanzen dürfen, aber ich zitterte nur, daß jemand es gesehen haben und mich nun daran hindern könnte, mit Dir zusammen zu kommen.“
„Und weißt Du, was ich sagte, als Du fort warst?“
„Nun?“
„Ach, ist das einmal ein süßer kleiner Fratz!“
Sie lachten und sie küßten sich und lachten wieder, und er mußte es ihr wiederholen – zwei – dreimal. Es war doch ein zu schönes Liebeswort!
Dann aber wurde Leo mit einem Male ernsthaft und drückte sie an sein Herz.
„Ich weiß noch viel schönere, Annie: meine geliebte Braut, mein süßes angebetetes Weib!“
Und die Glücklichen hielten sich selig festumschlossen.
In einer Seitenallee des Berliner Tiergartens ging um die Mittagsstunde eines wundervollen Sommertages ein junges Paar eifrig redend auf und nieder: Frau von Walden und Lieutenant Lüdeke.
Elfes Gestalt und ihre Bewegungen zeigten wieder die Elastizität der Gesundheit und ihr Antlitz hatte die zarten Farben, welche die feingeschnittenen Linien desselben so wunderbar ausdrucksvoll belebten. Sie trug ein helles Promenadenkostüm in blaßlila Farbe vom elegantesten Stoff und Schnitt, ein Hütchen aus mattrosa Rosen zusammengestellt und einen Sonnenschirm, der beide Farben vereinigte. Der kostbare und doch unauffällige Schmuck, den sie angelegt, ihre Handschuhe und Stiefelchen alles an ihr verriet die Dame, die, ohne Rücksicht auf den Kostenpunkt, ihre Toilette nur nach ihrem Geschmack besorgt.
Herr Lieutenant Lüdeke war in einen dunkeln Civilanzug gekleidet und hatte den braunen Filzhut etwas tief in die Stirn gedrückt. Auf seinem ernsten, blassen Gesicht lag ein gequälter Ausdruck, und die warmen Blicke und das sonnige Lächeln, mit denen die junge Frau ihre Mitteilungen begleitete, fanden in seinen Augen nur einen schwachen Widerschein. Eben ging ein stutzerhaft gekleideter Herr an den beiden vorüber, klemmte sein Monocle in die Augenhöhle und blickte Elfe, sich in ihren Weg drängend, in dreister und zudringlicher Weise an. Lüdeke zuckte zusammen und warf demselben einen so herausfordernden Blick zu, daß jener sich veranlaßt sah, mit einigen unverständlich gemurmelten Entschuldigungsworten auf die Seite zu treten.
„Ich wollte, Sie hätten zu diesem Spaziergange eine weniger elegante Toilette gewählt,“ sagte er nun, zu Elfe gewendet. „Sie fallen schon ohnehin genug durch Ihre Erscheinung auf, einer Unterstützung bedarf Ihre Schönheit nicht, und es ist Ihnen doch sicher nicht erwünscht, wenn irgend jemand, vielleicht gar einer Ihrer näheren Bekannten, hier auf uns aufmerksam wird.“
„Es ist mir absolut gleichgültig,“ sagte sie schnell, „in der That ganz gleichgültig; meinetwegen können wir auch die ,Linden‘ entlang gehen. Ich habe nicht die Absicht, mich zu verbergen, und habe auch gar keine Ursache dazu. Aber Sie denken anders darüber, der Civilrock gilt doch wohl meiner Gesellschaft?“
„Ja,“ erwiderte er, „ich glaubte, es würde Ihnen so lieber sein. Man weiß doch, wie es in der Welt zugeht. Es heißt von ihr schon, sie ist klein, wenn sich zwei ausweichen wollen, und wollen gar hier in Berlin zwei nicht zusammen gesehen werden, dann laufen sie gewiß an der nächsten Straßenecke dem am wenigsten herbeigewünschten Bekannten in die Arme. Sie sagten mir einmal, Ihr Gatte beeifersüchtele mich, ohne mich zu kennen. Ich glaubte also, dadurch Ihnen wenigstens die Ungelegenheit zu ersparen, daß jemand ihm sagen könnte, er hätte Sie mit einem Artillerieoffizier promenierend gesehen.“
„Sehr vorsichtig – wirklich! Aber, wie gesagt, meinetwegen durchaus nicht nötig. Walden erlaubt es sich gar nicht, mich in Bezug auf meinen Umgang zu beschränken, ich kontrolliere ja auch den seinen nicht, und Anlaß zu öffentlichem Aergernis geben wir doch wohl nicht, wenn wir uns zuweilen hier treffen.“
Er zuckte nervös die Schultern.
„Zuweilen?! Es wäre mir um Ihretwillen doch sehr peinlich, wenn wir von meinen Kameraden hier zusammen gesehen würden. Ich kann für etwaige Bemerkungen darüber nicht einstehen und –“
„Nun, so mögen sie reden,“ rief Frau Elfe ganz erregt, „ich werde ihr Urteil zu ertragen wissen.“
Ihr Antlitz war wie in Purpur getaucht, und nach ein paar Augenblicken des Schweigens stieß sie plötzlich heftig hervor:
„Und wenn Du so vorsorglich bist, warum thust Du nicht das einzige, das alles andere unnötig machen würde, und suchst mich in meinem Hause auf?“
„Ich denke, diese Frage ist durchgesprochen,“ sagte er kurz abwehrend.
„Du gehst zu weit darin,“ rief sie anklagend, „auch auf eine ganz offizielle Einladung zum Diner bekommen wir eine Absage! Das fällt – um mit Deinen Worten zu reden – Walden jedenfalls mehr auf als eine ganze Reihe von Besuchen.“
„Ich kann nicht,“ sagte er und der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht verschärfte sich, „es geht mir gegen die Natur. Ich kann die Gastfreundschaft eines Mannes nicht annehmen, für den ich so empfinde wie für Walden.“
„Wie empfindest Du denn für ihn?“
„Elfe!“ Er sah sie mit großen, traurigen Augen an und schwieg.
„Ich meine,“ sagte sie dann, unsicher gemacht durch seinen Blick, „man könnte sich das Leben erträglicher gestalten, wenn Du nicht gar so skrupulös wärest.“
Er zuckte zusammen, sah sie von der Seite an, und ein düsterer Schatten flog über sein Gesicht.
„Ich kann nicht,“ sagte er noch einmal, „es kann niemand weg über die Schranke, die ihm die Natur gezogen.“
„Und da sagst Du mir, daß Du mich schrankenlos liebst!“
„Das thue ich,“ erwiderte er heftig, aber mit unterdrückter Stimme, „leider – thue ich das. Es ist mein Unglück, und ein noch größeres, daß ich’s Dir sagen mußte! Ich liebe Dich grenzenlos, ewig, ich werde nie mein Herz von Dir lösen können! Ich leide unsagbar und habe in den letzten Jahren unsagbar gelitten, ich würde mit Freuden für Dein Glück sterben, aber mich mir selbst verächtlich machen – das kann ich nicht!“
„Fredi, aber, Fredi – – ich kann nicht leben, ohne Dich zu sehen! Kostet Dir das schon die Selbstachtung, wenn Du zuweilen zu mir kommst und mich durch diese Minuten Kraft gewinnen läßt, dies öde Leben weiter zu ertragen?“
„Und die Lügen, mit denen ich mich bei Deinem Gatten einführen, die Verstellung, die ich in seinem Hause üben müßte? Ja, die würden mich vor mir selbst verächtlich machen!“
Sie preßte die Lippen aufeinander und wandte das erbleichende Antlitz von ihm ab.
„Sieh, Elfe, ich mache Dir keinen Vorwurf, Dich sollten meine Worte nicht treffen! Es ist das Gefühl, das in mir wühlt, die Gedanken und Wünsche, die immerfort, Tag und Nacht, die Frau Deines Mannes umkreisen – das verstehst Du nicht! Was ist eure zahme Empfindung gegen die Leidenschaft des Mannes! Ich kann und will keine persönliche Berührung mit ihm haben!“
Sie hatte den Kopf gesenkt und schwere Thränen liefen über ihre Wangen.
„Aber, Fredi,“ schluchzte sie leise, „ich kann ohne Dich nicht leben!“
„Das hast Du auch damals gesagt, damals, als Du noch frei warst,“ stieß er rauh hervor, „und wenige Monate später wähltest [843] Du freiwillig den so viel älteren Mann! Du wirst auch dieses Mal darüber hinweg kommen!“
„Du denkst zu gering von mir,“ sagte sie, ihr Antlitz trocknend und ihrer Stimme Festigkeit gebend. „Bedenke einmal, wie biegsam ein Kindergemüt ist, wie leicht man es beeinflussen und seinen Wünschen geneigt machen kann! Und ich war noch ein Kind, ob es auch nur zwei Jahre sind, die uns von jener Zeit trennen. Zwei Jahre in solcher Ehe, mit der Erkenntnis meines Elends an der Seite eines ungeliebten Mannes, die ändern viel! Du sagst, Du hättest gelitten – was ist das gegen die Qualen, die ich ertrug!“
„So mache ein Ende, trenne Dich von ihm!“ brach es mit Leidenschaft über die Lippen des jungen Mannes. „Längst hätte ich dies von Dir erwartet! Empfindest Du wie Du sagst, so bist Du Dir das schuldig.“
„Du sagst da, was ich tausendmal gedacht! Der Tod meines Kindes hat mir wohl Thränen gekostet, aber ich sah damit die Fessel fallen, die mich an seinen Vater band. Und als ich dann von der schweren Krankheit genas, da habe ich ihn gebeten, mich frei zu geben, den Fehler, den wir durch unsere Heirat gemacht, auszulöschen, indem wir uns in Frieden trennten. Und was antwortete er mir? ‚Niemals!!‘ Ich sollte in seinem Hause leben wie ich wollte, aber frei gäbe er mich nie; den Skandal einer Ehescheidung ließe er nicht über sich heraufbeschwören, ich könnte sicher sein: in diesem Punkte wäre er unbeugsam.“
„Und Dein ganzes Leben soll verpfuscht und zerstört sein!“ rief er mit Entrüstung. „Ist es möglich, daß ein Mensch so grausam ist! so erbarmungslos die Zukunft derjenigen vernichtet, die er doch zu lieben vorgiebt?!“
„Und dann sagte er noch etwas anderes. Er fragte mich: ,Wenn Du nun frei wärest, was dann?‘ – und, daß ich’s Dir gestehe, damit erschreckte er mich. Meiner Eltern Haus ist mir durch diesen Schritt verschlossen, ebenso wie ihr Herz, darüber bin ich mir klar und auf eigene Füße mich stellen, mir mein Brot verdienen, das kann ich nicht! Ich habe so wenig gelernt, habe auch nicht die körperliche Kraft – was sollte dann aus mir werden?“
„Und an mich, Elfe, an mich dachtest Du gar nicht?“ rief er mit vorwurfsvollem Ton, und eine Scharlachröte überzog sein Gesicht, während seine Augen mit glückstrahlendem Ausdruck sie umfingen, „dachtest nicht daran, daß es einen Menschen giebt, der dem Himmel auf Knieen dafür danken würde, wenn er für Dich leben, für Dich arbeiten dürfte? Ach, Elfe, welche Seligkeit ist es schon, nur zu denken, daß es für uns noch eine gemeinsame Zukunft geben, daß die zehrende Sehnsucht, die mich quält, einmal gestillt werden könnte!“
Er hatte nach ihrer Hand gegriffen und hielt sie mit seinen Händen fest.
„Sagtest Du mir nicht früher einmal, Fredi, daß wir einander nicht heiraten könnten – alle gesetzlichen Bestimmungen seien dem entgegen?“
„Aber doch nur als Offizier!“ rief er lebhaft, „und wer zwingt mich denn, Offizier zu bleiben? Giebt es nicht tausend andere Berufsarten, die man wählen und in deren Ausübung man sein stolzestes Mannesrecht: für sein geliebtes Weib zu arbeiten und zu sorgen, erreichen kann?“
„Fredi,“ sagte sie leise und senkte den Kopf tief herab, damit er die Thränen nicht sähe, die in ihren Augen standen, „Du ahnst nicht, was Du da auf Dich nähmest! Wir haben es mit Leo erfahren, wie schwierig es ist, jemand, den das Schicksal aus seinem erwählten Beruf geschleudert hat, wieder in Bahnen zu lenken, die einigermaßen mit den anerzogenen Ansprüchen in Einklang zu bringen sind. Und er war Jurist und Verwaltungsbeamter, denen doch sonst so viele Stellen offen stehen. Mit einem Offizier ist es noch viel schlimmer! Ich könnte es nicht ertragen, wenn nur meinetwillen Dein ganzes Leben ein anderes würde, wenn Du, der Du mit den größten Hoffnungen in die Zukunft sahst, schließlich Deine Tage als –“
„Pferdebahnschaffner oder Landbriefträger endetest,“ unterbrach er sie lächelnd, noch immer der glücklichen Erregung, die ihn erfaßt hatte, Ausdruck gebend. „Nein, Liebste, so schlimm wird es nicht werden! Sieh, ich besitze ein kleines Kapital, nur ein ganz kleines, aber ich hielt es immer ängstlich zusammen, in der Ahnung, daß es mir noch einmal sehr nützlich und wertvoll werden könnte. Das deckt wohl den Unterhalt eines Jahres für uns, und ist man nicht gezwungen, um des Lebens Notdurft willen die erste beste Stelle anzunehmen, kann man ruhig warten und wählen, so findet sich schließlich auch etwas Passendes! Freilich, Elfe, es werden immer nur sehr bescheidene Verhältnisse sein, die ich Dir bieten kann; hungern wirst Du nicht, Liebste, aber von solchem Luxus“ – er sah an ihrer eleganten Toilette hinunter – „wirst Du Abschied nehmen müssen.“
„Ach, der Plunder,“ sagte sie verächtlich, indem sie seinen Blicken folgte, „was gilt er mir! Und Hunger – ob der Hunger nach Glück, nach Liebe wohl leichter zu ertragen ist als der leibliche? – Ich, Fredi, glaube mir, könnte unter allen Umständen nur gewinnen, aber ich wage es nicht, Dein Leben so zu zerstören!“
„Elfe, kennst Du denn so wenig mein Herz, das nur eine Sehnsucht fühlt: Dich zu besitzen, Dich, nur Dich!“
Er ergriff wieder ihre Hand und hielt sie fest. Schweigend vor sich hinstarrend, schritt sie neben ihm hin, dann sagte sie leise mit zitternder Stimme:
„Ich danke Dir, Fredi, ich danke Dir tausendmal für diese Stunde, aber Dein Weib werde ich nicht – aus Liebe zu Dir! Mein Leben ist vernichtet; aber das Deine wird es nicht sein, wenn Du mit kräftigem Willen die Liebe zu mir niederzwingst. Ich werde Gott bitten, daß Dir dies bald gelingt und daß Du noch einmal – sehr glücklich wirst.“
„Das ist nicht Dein letztes Wort, Elfe! Ich weiß es sicher, daß die Stunde schlagen wird, in der Du alle Bedenken von Dir wirfst und zu mir kommst, um mein Weib zu werden.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es darf nicht sein – um Deinetwillen. Und nun – leb’ wohl, Fredi!“
„Versprich mir, daß Du meine Worte überdenken willst, Elfe! Zu einem heuchlerischen Verhältnis bin ich nicht der Mann. Mag Walden sein, wie er will, das giebt mir nicht das Recht, ihn zu betrügen! Kannst Du Dich aber zu einer befreienden That aufraffen, dann verfüge uneingeschränkt über mich! Mein Leben gehört dann Dir, wie mein Herz Dir immer gehört hat und immer gehören wird! Bis dahin – leb’ wohl, Elfe!“
„Leb’ wohl!“
Sie reichte ihm die Hand hin, dann, um die hervorstürzenden Thränen zu verbergen, wandte sie sich hastig ab und ging den Weg entlang, der noch tiefer in den Park führte.
Einen Augenblick stand er unschlüssig da und sah ihr nach, dann seufzte er tief auf, wendete sich gleichfalls und ging langsamen Schrittes dem Brandenburger Thor zu.
Ohne zurück zu blicken, eilte Elfe vorwärts; aber nur bis zur nächsten Bank trugen sie ihre zitternden Füße, da setzte sie sich nieder, und ohne Rücksicht auf ihre Umgebung und die Vorübergehenden verbarg sie ihr Antlitz in das Taschentuch und ließ den Thränen, die unaufhaltsam aus den Augen strömten, freien Lauf.
Ein paar kleine Mädchen, die in ihrer Nähe auf dem Rasen spielten, wurden durch das Schluchzen aufmerksam.
„Sieh, Lotti, die fremde Dame weint,“ sagte die eine mitleidig, „was mag ihr fehlen?“
„Sie hat sich gewiß ein Loch in ihr schönes Kleid gerissen wie Du gestern, Rosel,“ meinte die andere.
„Nein,“ entschied die erste, „darum weinen keine großen Leute, sie können es sich doch wieder zunähen.“
Und immer ihre Augen voll Kummer auf die bebende Gestalt gerichtet, schlug sie ein Mittel vor, dessen Untrüglichkeit sie daheim schon erprobt: „Lotti, wir wollen ihr ein Küßchen geben.“
Aber Lotti wollte das nicht, schüttelte den Kopf, steckte den Finger in den Mund und sprang dann eilig davon. Und die kleine Mitleidige stand allein, sah unverwandt auf Elfe, und ihr Mäulchen verzog sich schmerzlich, als sie den klagenden Ton aufs neue vernahm. Dann schlich sie leise an jene heran, legte ihr das Sträußchen, das sie eben auf der Wiese gepflückt hatte, in den Schoß und lief der Gefährtin nach, froh, der weinenden Dame etwas Liebes erwiesen zu haben. – – –
Herr Regierungsrat von Walden ging unruhig durch die Zimmer seiner Wohnung. Einmal ergriff er ein Buch und setzte sich aufs Sofa, dann sprang er auf und nahm an seinem Schreibtische Platz, um nach fünf Minuten wieder auf dem Wege zum Salon zu sein.
Von dem Erker aus sah er die ganze Straße herauf und hinab, und immer aufgeregter spähte er hinaus, ob seine Frau noch immer nicht käme. Vor drei Stunden war sie fortgegangen,
[844][845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] hatte vorher alle Anordnungen für das Mittagessen getroffen, aber von der Frage ihrer Jungfer, ob man auf sie mit dem Essen warten solle, keine Notiz genommen, und jetzt war fast eine Stunde über die dafür festgesetzte Zeit verstrichen und sie war nicht zurückgekehrt! Die Köchin hatte wiederholt anfragen lassen, ob ihm nicht die Mahlzeit allein serviert werden sollte, aber er lehnte es ab, er hatte keinen Appetit. Ein eigentümliches Angstgefühl schnürte ihm die Kehle zu: wenn Elfe verunglückt wäre! Mein Gott, es kommen alle Tage solche Fälle vor, oder, wenn sie – fortgegangen wäre, um nicht wieder zu kommen? Sein Herz schlug plötzlich ganz laut. Immer wieder trat vor seinen Geist die Stunde, in der sie mit thränenden Augen und aufgehobenen Händen ihn gebeten hatte: Gieb mich frei! Er war damals fassungslos gewesen, hatte sie angefahren, hatte in ganz brutaler Weise sich solche und ähnliche Worte für immer und ewig verbeten, und hatte dann innerlich triumphiert, als es ihm gelungen war, diese neuen Auswüchse ihrer Launen mit einem Schlage auszurotten. – Aber ein unheimliches Gefühl war ihm seitdem geblieben, oder vielmehr es war gekommen, langsam und allmählich, und jetzt befand er sich eigentlich immer in dem entnervenden Zustande einer peinlichen Erwartung. Wenn er nur darüber Herr würde, wenn er nur einmal wieder freier atmen könnte, dann hätte er ja gar keine Ursache zur Klage gehabt; war doch seitdem, das mußte er sich selbst zugeben, viel mehr Frieden im Hause. Sie hatte sich zwar seit der Geburt des Kindes von ihm getrennt, lehnte jede zärtliche Annäherung aufs entschiedenste ab, aber – mein Himmel, das giebt sich schon – man muß nur warten können – nichts auf die Spitze treiben, allmählich zieht sich alles wieder zurecht – so kennt man doch die Frauen! Jedenfalls war sie jetzt in viel weniger streitbarer Stimmung, fügte sich in seine Anordnungen, erfüllte ihre häuslichen Pflichten und brachte es sogar fertig, in Gegenwart anderer ein heiteres Gesicht zu machen, was er freilich sonst nie mehr sah. Aber eben dieser Ernst, diese Trauer, im Kontrast zu ihrer Jugend, das war es auch, was ihn so bedrückte, was diese schweren Gedanken – fast möchte er es Ahnungen nennen – in ihm erzeugte!
Er war wieder aufgestanden und ging unruhig hin und her – da lag die Tageszeitung, er hatte heute noch keine Ruhe gefunden für die gewohnte Lektüre. So setzte er sich denn abermals und schlug sie auseinander, froh, eine Ablenkung von seinem Sinnen gefunden zu haben. Zuerst kam der Leitartikel an die Reihe, da war natürlich wieder das Gleiche über ein längst bis zum Ueberdruß behandeltes Thema gesagt, wo sollten sie denn auch etwas Neues in dieser Sauern-Gurken-Zeit hernehmen? Dann die Lokalnachrichten, in denen die harmlosesten Alltagsdinge zu sensationellen Neuigkeiten aufgebauscht waren, und schließlich die Familienanzeigen. „Eichberg“ steht da im Trauerrand. Den Namen kennt er ja doch!
„Den nach langem Leiden erfolgten Tod meiner einzigen Tochter Hermine –“
Ah – nun weiß er alles – Hermine Eichberg! – Ein Stück Vergangenheit lebt plötzlich auf. – Das Blatt sinkt ihm aus der Hand, er lehnt sich in den Sessel zurück – Hermine Eichberg – wie lange das her ist! Ein Jahrhundert, dünkt ihn, liegt zwischen damals und jetzt! Und die ist wirklich gestorben, in so jungen Jahren! Tot – – wieder ein Herz weniger auf der Welt, das ihm einst gehörte!! – –
Er springt hastig auf, das Blut ist ihm zu Kopfe gestiegen – ein Herz weniger auf der Welt, das ihm gehörte – das ist’s – ein Herz, das ihm gehörte! – Nun steht sie plötzlich greifbar deutlich vor ihm, die schlanke, zarte Mädchengestalt mit dem feinen, blassen Antlitz und den großen Augen, die so voll Liebe ihm entgegenleuchteten.
Er stöhnt auf und bedeckt sein Gesicht mit der Hand. Wie erst ihr beweglicher, anmutiger Geist ihn angezogen und wie ihr schönes Talent dann rasch dies Interesse verdoppelt hatte! Dann sah er in ihren Augen den Funken der Liebe aufstrahlen – und da packte ihn die alte Eitelkeit – und er that alles, um dieses Gefühl in ihr festzuhalten und zu steigern – that’s, trotzdem damals schon der Vorsatz, um Elfe zu werben, ganz fest in seiner Seele stand.
„Woran wir sündigen, daran werden wir gestraft!“ sagte er leise vor sich hin. Nun wußte er es, wie sie gelitten haben mochte, als sie erkannte, daß sie ihm nur ein Zeitvertreib, ihre Liebe ihm nur der Weihrauch gewesen war, an dessen Duft seine Eigenliebe sich sättigte. Nun wußte er es an den eigenen Schmerzen! Und sie war gestorben? – wohl ihr! Wer auch so fort dürfte, wer sich loslösen könnte von dem Leben, das uns so viele Qualen bringt! Aber ihn hält ja die Erde mit eisernen Klammern, so lange sie die Frau trägt, für die er diese verzehrende Leidenschaft empfindet, die er bis zum Haß liebt – und der er nichts ist als der Stein im Wege, der sie hindert, ihrem eignen Glück nachzugehen!
„Die gnädige Frau läßt den Herrn Regierungsrat sehr bitten, ohne sie zu essen, sie ist –“
„Meine Frau?“ ruft er aufspringend, „ist sie zurückgekehrt? – Wo ist sie?“
„Die gnädige Frau kam vor fünf Minuten und hat sich gleich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Sie bittet den Herrn Regierungsrat –“
Er hört nicht mehr, was das Mädchen sagt, er fühlt nur eine große Erlösung. Angst und Sorgen sind vergessen, die düsteren Gedanken und Reflexionen wie Wolken vom Winde verweht, und hastigen Schrittes eilt er durch die Räume nach ihrem Zimmer. Die Thür ist von innen verschlossen, und auf seinen Ruf antwortet eine leise Stimme:
„Bitte, nimm das Mittagsessen ohne mich! Ich bin durch den Spaziergang sehr angegriffen und habe mich gleich zu Bett gelegt.“
„Soll ich nach dem Arzte schicken? Willst Du nicht die Thür öffnen, damit man etwas für Dich thun kann?“
„Ich brauche nichts als Ruhe – gönne mir diese nur! Zum Abend werde ich jedenfalls aufstehen.“
Er bittet noch einmal, daß sie aufschließen möge, und als keine Antwort erfolgt, geht er auf den Fußspitzen davon, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Zügen. Und nun hat er auch Appetit. Nun merkt er, daß Hunger und Durst ihn gequält, und nach dem reichlich eingenommenen Mahl ist seine ganze Stimmung gefestigter und behaglicher. Er streckt sich auf das bequeme Sofa aus, und was er nun vom Schicksal verlangt, ist nicht Ruhe, Erlösung von der Qual des Lebens, sondern – der sanfte Schlaf des Gerechten.
Und drinnen in ihrem Zimmer liegt, noch angethan mit
ihrer kostbaren Toilette, Elfe auf den Knieen und hat ihren Kopf
in die Polster des Sofas verborgen. „Ich kann nicht von ihm
lassen,“ schluchzt sie und ringt die Hände, „ich kann das Leben
ohne ihn nicht ertragen, und doch, ich muß es – muß es – um
seinetwillen!“ – – (Fortsetzung folgt.)
Victor Blüthgen.
Vöglein, fliegt in das Gras!
Unser Kind bringt euch was,
Wer kann es raten?
Als ob’s ein Sämann wär’.
Nicht gekocht, nicht gebraten,
Nicht geschnitten, nicht gestochen,
Nicht gehackt, nicht gebrochen,
Nicht geklopft, nicht zerschlagen
so klang’s aus dem Nebenzimmer, wo die Kinder sich unterhielten, während ich mit dem Freunde im anderen Zimmer auf dem Sofa saß. Wir horchten beide auf. Da ging’s drin weiter:
„Mieze, bist du wieder da?
Fang’ ’mal an zu spinnen:
Siebzehn Strang zu Glanzkattun,
Fünftehalb zu Linnen!“
Und ein ganz dünnes Stimmlein begann in jauchzenden Tönen:
„Nanndel vorm Ofenloch
Hat nur ein Strümpfchen noch;
Guckt ein Bein ’s andere an;
Ob sich’s nicht grämt,
Wie’s nur so nackt sein kann!“
[847] „Du,“ sagte der Freund, „das klingt ja an die urältesten Volksreime an! Woher haben Deine Kinder diese Kinderreime?“
„Das wollen wir gleich hören,“ sagte ich und stand auf. Komm’ mit hinein!“
Wir traten ein. „He, Gesindel, lustiges,“ rief ich, „wo habt Ihr diese Reime wieder aufgegabelt?“
„O, der Papa weiß nicht!“ lautete die Antwort. „Das ist ja aus den Bilderbüchern, die Großmama gestern mitgebracht hat!“
„Und heute könnt ihr schon drei Reime auswendig?“
„O, noch viel mehr!“ klang’s zusammen. „Willst Du’s hören?“ Und nun kamen sie, die lieben sinnigen und unsinnigen, die herzigen und närrischen Kinderverschen:
„Gebt einmal das Deckbett frei,
Jungfer Miez will strampeln – –
Ich will mein Kälbchen wiegen,
Wer’s kauft, der kann es kriegen!“ – –
„In dem Garten grüne
Eins, zwei, drei,
Fliegt eine kleine Biene,
Eins, zwei, drei,
Hat zwei gelbe Höschen an,
Daß sie auch ’mal laufen kann“ – –
„Hört auf, hört auf, Kinder,“ rief ich und hielt mir die Ohren zu. „Zeigt mir einmal die Bilderbücher!“
Sie wurden eifrig herbeigeschleppt. Ich schlug auf und las: Zeichnungen von O. Pletsch mit Reimen von Victor Blüthgen.
„Du, Papa,“ nahm mein Aeltester das Wort, „weißt Du, das ist der, welcher die Geschichten ,Zum Nachtisch‘ und ‚Harte Steine‘ gemacht hat; ich habe sie neulich von Meyers Karl entlehnt.“
„Entlehnt, Schlingel? Weißt Du nicht, daß man Bücher nie entlehnen soll! Die kauft man!“
„Ja,“ entgegnete er, „aber die Geschichten sind so schön! Gelt, Du kaufst sie mir?“
Ich nickte. Der Freund aber sagte: „Ist das nicht derselbe Blüthgen, dessen achtundvierziger Roman ,Aus gährender Zeit‘ seiner Zeit so viel Aufsehen machte, als er in der ‚Gartenlaube‘ erschien?“
„Wird so sein. Dann ist’s wohl auch der, welcher eine der besten Erzählungen geschrieben hat, die ich je gelesen. Sie betitelt sich ,Der Preuße‘. Aber komm’ mit, das Konversationslexikon wird hierüber Auskunft geben.“
Und es gab Auskunft, wenn auch nur die sehr magere: Blüthgen, Victor, Novellist, Lyriker, Jugendschriftsteller, geboren Zörbig, 4. Januar 1844, und dann die Aufzählung eines Teiles von dem, was er geschrieben hatte.
Suchen wir diese mageren Notizen hier etwas vollständiger zu machen. Victor Blüthgens Name gehört nicht zu denjenigen, welche Mode sind; sein Name wird deshalb auch nicht mit der Mode vergehen. Wer sich einmal in die Kinderherzen eingesungen hat, wer die heranwachsende Jugend durch Geschichten zu begeistern versteht, wer die Erwachsenen durch Romane und Erzählungen, die nicht bloß von heute sind, um morgen in den Winkel gestellt zu werden, zu ergreifen und zu fesseln vermag, wer überdies noch Märchen geschrieben hat wie die „Hesperiden“, welche denjenigen des Dänen Andersen vollkommen ebenbürtig sind, der mag weniger genannt werden als die Modegrößen, der verdient aber sicher, um so mehr gelesen zu werden.
An Lebenserfahrungen ist Blüthgen reich, denn wechselvolle, nicht immer freundliche Schicksale sind über ihn hingegangen. Sein Vater war Postamtsvorsteher in der preußischen Provinz Sachsen; Victor, das älteste lebende Kind, wurde frühe für die Theologie bestimmt, deren Studium er sich in Halle nach vollbrachter Gymnasialzeit widmete. In dieser Zeit wanderte seine Familie nach Galizien aus, später, als der Vater gestorben war, nach Ungarn.
Bei dem Sohn folgten Lehrjahre, an deren Schluß ein schweres Siechtum seine Gesundheit, ja sein Leben bedrohte. Noch in diesem Siechtum befangen, ging er nach Elberfeld zu wissenschaftlich-litterarischer Privatthätigkeit, folgte dann nach einem kurzen Aufenthalt in Marburg einem Ruf an die „Crefelder Zeitung“ (Winter 1876 bis 1877). Aber nach einem halben Jahr schon legte er seine Redaktionsthätigkeit nieder, gründete mit Julius Lohmeyer in Leipzig eine Junggesellenhäuslichkeit und trat nach Ernst Keils Tode in die Redaktion der „Gartenlaube“ ein. Seit dem Jahre 1880 widmete er sich ganz dem freien Schriftstellerberuf.
In jener Zeit ist ihm das Höchste geworden, was einem Mann zu teil werden kann: eine ausgezeichnete Frau, welche die kühnsten Träume und Wünsche seiner Jugend erfüllte. Er hat aber auch den tiefsten Schmerz erfahren, den ein Mann erfahren kann: nach wenigen Jahren des glücklichsten Zusammenlebens wurde ihm seine Gattin durch den Tod entrissen. Trotzdem schafft er in seinem jetzigen Wohnort Freienwalde a. d. Oder, mit Mutter und Schwester zusammenlebend, die ihm eine behagliche Häuslichkeit bereiten und seinen Knaben erziehen helfen, ungebeugt weiter und hat vielleicht sein Bestes noch nicht gegeben, so viel Gutes wir auch seiner Feder, oder sagen wir besser, seinem Gemüte verdanken.
Wie schon aus dem obigen ersichtlich, hat Blüthgen hauptsächlich zwei Gebiete angebaut: er hat Schriften für die Jugend geschrieben, und zwar für das Kindesalter wie für die heranwachsende Jugend, und dann Romane und Novellen. Außerdem haben wir von ihm einen Band „Gedichte“, welche sich durchaus nicht im hergebrachten lyrischen Fahrwasser bewegen und viel allgemeiner bekannt zu sein verdienen.
Doch gute lyrische Gedichte machen heute viele, Kinderreime, wie sie Blüthgen zu Dutzenden aus dem kindheitsfreudigen Herzen fließen, gelingen nur wenigen. Um solche Kinderreime machen zu können, ist es mit ein bißchen Versgewandtheit nicht gethan, auch nicht mit bloßer Beobachtungsgabe: man muß selbst in seinem Herzen sich ein Stück von dem Paradiese der Kindheit bewahrt haben, und was aus Kindermund erklingt, muß im Dichter ganz von selbst mitklingen. Daß Blüthgen eine solche Natur ist, zeigt er auch in den „Hesperiden“, den Märchen für jung und alt. Vielleicht spricht nicht jedes dieser Märchen alt und jung zugleich an, aber jedes derselben entweder die Alten oder die Jungen. Einzelne sind mit einem geradezu entzückenden Feingefühl für das Leben und Weben der Natur, für das Seelenleben der Tiere und für die zartesten Regungen des Kinderherzens erzählt. Mit Recht sagt Blüthgen im Vorwort: „Bei weitem den meisten liegt eine tiefe Realität zu Grunde: eine Stimmung, welche Ausdruck suchte, ein Stück Natur, das geistig oder zum wenigsten physiognomisch ansprach und sich wie von selbst ins Menschliche umsetzte, eine Idee, welche Märchengestalt gewann.“
Und der Märchendichter hat auch Romane und Novellen geschrieben. Bei Romanen und Novellen fragen wir vor allem, ob es dem Verfasser gelungen ist, eigenartige Gestalten zu schaffen, diese Gestalten lebenswahr zu zeichnen und plastisch vor uns hinzustellen. Sodann fragen wir, ob der Verfasser die Zeit- und Ortsfarbe getroffen hat, und endlich, dafern wir an den Romanschreiber noch dichterische Anforderungen machen, wie er die Natur in Beziehung zu den Menschenherzen setzt und ob ihm Naturschilderungen – das Leichteste, wie viele meinen; vielleicht das Schwerste, was es giebt! – gelingen.
In all diesen Stücken hat Blüthgen seine vollgültige Berechtigung gezeigt, unter die ersten deutschen Erzähler gerechnet zu werden. In seinem Roman „Aus gährender Zeit“, der im Revolutionsjahr Achtundvierzig spielt, entwickelt er ein breites Zeitbild, und zwar mit der eigentümlichen Färbung, die dasselbe im Wupperthal erhielt. Dieses Zeitbild dürfte freilich schärfer sein und die Menge von Einzelzügen sollte sich besser zu einem Gesamtbild zusammenfügen; dafür dürften die romanhaften Ranken etwas weniger üppig gedeihen. Aber doch zeigt Blüthgen, daß er die richtige Witterung für die Zeit hatte, die er darstellen wollte, und seine Kunst, Gestalten zu zeichnen und lebenswahr und plastisch vor uns hintreten zu lassen, zeigt er hier schon; noch mehr freilich in seinen später erschienenen Erzählungen und unter diesen vor allem in „Ein Friedensstörer“ und „Der Preuße“. Dieser pommersche Baron in der erstgenannten Erzählung ist eine so eigenartige Figur, wie nur je eine gezeichnet wurde, und es ist eigentlich ein Wunder, daß sie nicht so bekannt ist wie Fritz Reuters Bräsig, zu dem sie im gewissen Sinne ein aus dem Adel genommenes Gegenstück bildet. Und wer Blüthgens Meisterschaft in der Schilderung von Naturereignissen kennenlernen will, der lese die Schilderung des Frühlingssturmes in derselben Erzählung; wir glauben, daß sich ähnliches nicht oft findet in der ganzen deutschen Erzählungslitteratur. Noch mehr Farbe und Stimmung hat die Erzählung „Der Preuße“, welche in den mittleren Karpathen spielt. Aber während über dem „Friedensstörer“ die lachende Sonne des Humors scheint, breitet sich über dieser der Schleier der Schwermut, entsprechend den Verhältnissen des Landes und den Schicksalen der [848] Helden der Erzählung. Es sind echte, starrköpfige, willensstarke, ehrenhafte Preußen, die im Kampfe mit dem verlotterten Polentum und den geistig zurückgebliebenen Ruthenen zuletzt sich selbst wiederfinden.
Wir müssen es uns versagen, von den anderen Werken Victor Blüthgens zu reden. Außer den genannten Büchern sind noch ein großer Roman, „Frau Gräfin“, sowie zwei Sammlungen von stimmungsvollen Novellen und Humoresken erschienen. Seine neuesten Schöpfungen, die ergreifenden Novellen „In letzter Stunde“ und „Kinderfüßchen“ sind den Lesern der „Gartenlaube“ in frischer Erinnerung. Da er in bester Mannes- und Schaffenskraft steht, so hoffen wir, von ihm noch manche schöne Gabe aus dem reichen Schatz seines Gemütes zu empfangen, dem anscheinend mühelos entquillt, was jung und alt ergötzt und entzückt.
Turandots Polterabend.
Das hübsche altfränkische Landhaus, welches man von der Stadt aus am Ende einer langen Allee von Ahornbäumen liegen sieht, war vor einigen Jahren in den Besitz des früheren Bürgermeisters Dorn übergegangen, der es seit seiner Pensionierung mit seiner Frau und einzigen Tochter bewohnte und seine ganze Zeit auf die Instandhaltung des großen Gartens verwendete, der das Haus von drei Seiten umgab. In diesem Garten, der in Obst-, Gemüse- und Blumengarten eingeteilt war, konnte man zu frühster Frühjahrszeit den alten Herrn in einem fleckenlos sauberen Nankingröckchen bei seinen Pflanzungen hantieren sehen, wo er die Hecke stutzte oder wohl auch mit Hacke und Spaten ein Stückchen Land umgrub und Salatsetzlingen ihre Plätze anwies.
Seine Tochter half ihm eifrig bei dieser Beschäftigung, und die Spaziergänger, die ihr Weg an dem Garten vorbei führte, suchten fast ausnahmslos einen Blick über die Hecke und gleichzeiüg unter den großen runden Strohhut des schönen Mädchens zu thun, das da mit so lieblicher Ernsthaftigkeit und so stolzen, anmutigen Bewegungen thätig war, als sei sie eine verkleidete Prinzessin, die Gärtnerdienste thut – aber gern thut.
Daß diese Schönheit ihre erste Blüte hinter sich hatte und den Dreißigern näher stand als den Zwanzigern, hatte vorläufig ihre Anziehungskraft nicht zu vermindern vermocht, – man hatte ihr, der unbeugsamen Hartherzigkeit gegen ihre Freier halber und wegen deren großer Anzahl, schon den Beinamen „Turandot“ gegeben – aber ein Kalaf wollte sich anscheinend in diesem Fall nicht finden, der dies Rätsel zu lösen imstande war.
Es wurde beinahe zur Ehrensache für jeden biederen Junggesellen, der in die Stadt und in die Heiratsjahre kam, sich ein paar Tage oder Wochen – je nach der Naturanlage – heftig in die schöne Käthe zu verlieben und die Probe aufs Exempel zu machen, ob sie denn auch ihm gegenüber unerbittlich bleiben werde – aber das Ergebnis war unweigerlich das gleiche, und die gekränkten Fräulein und Mütter der Stadtgesellschaft hatten sich schon hineingefunden, die zeitweilige Schwärmerei der jungen Männer für die Bürgermeisterstochter wie eine Kinderkrankheit anzusehen, die jeder durchmachen mußte. Daß aber aus fast all diesen abgewiesenen Freiern’ und Anbetern mit der Zeit ebenso treue und begeisterte Freunde für Käthe Dorn wurden, war wohl der beste Beweis, daß ihre Schönheit nicht nur äußerlich war, sondern daß ihr kluger, ruhig heiterer Sinn und ihr warmes Herz dem anmutigen Gesicht entsprachen und es ergänzten.
Und doch hatte dieses schöne Mädchen, das nebenbei das einzige Kind reicher und hochangesehener Eltern war und dem fast jeder Wunsch erfüllt war, noch ehe es ihn ausgesprochen hatte, nicht immer so ruhig, so fertig, so kühl ins Leben geblickt wie an diesem Frühjahrsmorgen. So wird es auch niemand wunder nehmen, daß der Frühlingswind, der heute mit seinem ersten, kühlen, wilden, ahnungsreichen Brausen durch die fast noch laublosen Wipfel strich, bisweilen noch den unvergänglichen, unvergeßlichen Duft alter Tage auf seinen Schwingen daher trug. An einem solchen Frühlingsmorgen war es ja gewesen, wo die schuldlose, glücklose Geschichte dieses reinen Mädchenherzens ihr Endkapitel gefunden hatte, wo der kaum zwanzigjährige Jugendfreund auf Nimmerwiederkehr fortgegangen war und allen denen Recht zu geben schien, die ihn von jeher für einen unverbesserlichen Leichtfuß und Taugenichts erklärt hatten! Die ruhigen gesetzten Menschen konnten es nicht begreifen, wie er den sichern, warmen Platz in des Onkels Comptoir, die Anwartschaft auf ein glänzendes Erbe in den Wind schlagen konnte, weil er sich nun mal in den Kopf gesetzt hatte, Maler zu werden. Ja, die Liebe zur Kunst und zu freiem ungebundenen Schaffen hatte in ihm alles überwuchert, was ihn an die engen Mauern der Vaterstadt festbinden wollte – alles – auch die erwiderte und von den Hauptpersonen begünstigte Kinder- und Jugendliebe zu der schönen Käthe.
An derselben Hecke, die damals noch um einen Fuß niedriger war als heute, hatten sie gestanden, sie an der einen, er an der andern Seite; er hatte den Hut tief in die Stirn gezogen, damit sie nicht sehen sollte, daß ihm Thränen der Wut und des Schmerzes in den hübschen, trotzigen Augen standen. Der Onkel und Pflegevater hatte ihn am Abend vorher beim Skizzieren getroffen, als er eine dringende Arbeit für ihn erledigen sollte, und da diese Vernachlässigung der Pflichten wahrlich nicht zum erstenmal zum Tadel Anlaß gab, hatte der gestrenge Herr Bürgermeister dem Kunstjünger im ersten Aerger sein Skizzenbuch aus der Hand gerissen und in den Ofen gesteckt, in dem zum Glück oder Unglück an diesem Märztage ein helles Feuer flackerte.
Mit den Blättern dieses Skizzenbuches waren aber auch die letzten Bande zu Zunder geworden, die den Jungen an das Haus des alten Herrn fesselten. Käthe verstand ihn sehr gut in seiner ohnmächtigen Verzweiflung und seinem Jammer über den Verlust der stillen Arbeit vieler Jahre; sie war schneebleich und ihr Mund zitterte, als er ihr in fliegenden Worten, von Verwünschungen unterbrochen, davon erzählte, aber sie versuchte doch, dem Brausekopf gut zuzureden. „Er will ja nur Dein Bestes, Peter,“ sagte sie mit halb erstickter Stimme, „versuch’s doch noch einmal – geh’ nicht so im Zorn fort, Peter!“
Da war er heftig aufgefahren: daß sie das sein Bestes nennen könne, wenn er sein Talent vergraben und verschütten sollte, das sei ihm ein Beweis, daß auch sie ihn nicht verstände, daß sie auch schon angesteckt und angekränkelt sei von der Krähwinkelei hier – und sie hatten sich im Zorn getrennt.
Sie sah es noch, wie er den Hut zog und gegen sie schwenkte, und wie er dann mit großen Sätzen auf der Straße fort in den nebeligen Morgen hinein lief und in dem weißlichgrauen Dunst verschwand – um nie wiederzukommen! Zwölf Jahre waren seitdem ins Land gegangen, und Peter Hansen hatte nichts mehr von sich hören lassen.
[849] Daß er nicht „gestorben und verdorben“ sei, davon erfuhren seine ehemaligen Mitbürger durch die Zeitungen. Seit zwei, drei Jahren war er, nach langem Aufenthalt im Auslande, als berühmter Maler nach Deutschland zurückgekehrt, und Geld und Ehren genug flossen ihm zu, um seine ruhmdurstige Seele zu befriedigen.
Seine schöne Jugendliebe hatte ihm zuerst so heftig, so trostverschmähend nachgetrauert, wie man es bei siebzehn Jahren thut, wo man noch nicht erfahren hat, was die Zeit vermag – dann war sie ruhiger geworden, hatte sich bewegen lassen, wieder an Spiel und Tanz teilzunehmen, wie es ihren Jahren zukam, wobei die Empfindung wohl mächtig mithelfen mochte, daß sie keinem nachzutrauern gedachte, der sie so ganz aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. Käthe hatte anscheinend den ungestümen Leichtfuß ganz vergessen, der damals in die blaue Ferne gegangen war.
Daß sie aber nur anscheinend vergessen hatte, das wußte niemand besser als sie selbst!
Wie sie heute stand und sich vom Frühlingswind die dunklen Haare in die Stirn wehen ließ, da ging ihr wieder – zum wievieltenmal wohl! – die alte Zeit durch den Sinn, die sie so ganz verschmerzt zu haben glaubte.
„Wer einmal so war,“ dachte sie still bei sich, „der wird nie wieder ganz, was er war! Man ist eben immer wie ein Mensch, der eine tiefe, fast tödliche Wunde bekommen hat: sie kann sehr gut heilen, so heilen, daß die andern nicht mal mehr die Narbe sehen, und man denkt selber sehr oft: das ist nun ganz vorbei und ganz gut. Dann kommt aber das Frühjahr – oder der Herbst – ein gewisser, kühler Sonnenschein – bestimmte Farben – es kommen Tage, die immer wie eine leise, traurige Melodie an früheres Glück, vergangene Seligkeit mahnen – und dann rührt sich’s in der alten Wunde!“
„Aber ich will nicht mehr!“ sagte sie plötzlich laut vor sich hin, „ich will jetzt wieder vergnügt sein ohne Rückblick, ich will mein Leben noch einmal in beide Hände nehmen und ihm eine vernünftige Gestalt zu geben versuchen – es wird schon gehen!“ Und mit einem raschen Entschluß warf sie ihren Spaten fort und ging zu ihrem Vater hin, der eben beschäftigt war, die neuen Setzlinge zu begießen – vorsichtig und gemächlich, damit keiner zu viel und keiner zu wenig bekäme. Die Unterredung zwischen Vater und Tochter, zu der auch die Mutter, ein feines, stilles, altes Dämchen, ihr Wenn und Aber, ihr Ja und Nein hinzuthat, hatte ein ganz überraschendes Resultat, das wir im Verlauf unserer Geschichte genau und wahrheitsgetreu erfahren werden.
Es mochten nun so drei bis vier Wochen seit jenem Frühlingsmorgen dahin gegangen sein; die Bäume hatten schon einen zarten, grünen Schleier, und der kräftige Duft der sprießenden Kräuter und Bäume erfüllte nach einem Regentage die Luft und verstärkte sich noch, als die Sonne untergegangen war und der klarste Vollmondschein sich weich und schimmernd auf die Zackengiebel der alten Häuser und in die engen Straßen der Stadt hinein legte mit seinem schmeichlerischen Licht, das alles verschönt, versilbert und mit Zauber umkleidet, was bei grellem Sonnenlicht nüchtern und alltäglich dreinschaut. Durch die mondweißen Straßen rasselte schwerfällig und müde die Postkutsche; jetzt kam sie auf den Markt vor das schöne, alte Rathaus, dessen strenger Gotik die klare Beleuchtung so besonders prächtig zu Gesicht stand, und nun setzte der Postillon sein Horn an den Mund und blies die altbekannte Weise
„Ach du mein lieber Gott,
Muß ich schon wieder fort –
Auf die Chaussee – ohne Kaffee!“
in die Frühlingsnacht hinaus und in die kleine Stadt hinein.
Der einzige Insasse des Wagens versuchte es, mitzusummen so gut es gehen wollte. „Ob das wohl in meiner Heimat ein erbliches Leiden ist, daß die Postillone so mörderlich falsch blasen?“ dachte er mit einer Art schmerzlicher Empörung in sich hinein. „Als ich ein kleiner Junge war, thaten sie es auch schon, und in meiner sentimentalsten Zeit hat mich so ein Kerl auus aller Sentimentalität heraus und in die hellste Wut hinein geblasen; derselbe kann es doch unmöglich mehr sein!“
Es lag eigentlich kein vernünftiger Grund dagegen vor, daß es noch derselbe war! Zwölf Jahre waren erst vergangen, seitdem der Reisende – kein anderer als Peter Hansen – mit französischem Abschied davon gerannt war, und warum sollte ein Postillon, der in jenen Tagen vielleicht ein junger Kerl von vierundzwanzig Jahren war, nicht heute als munterer Sechsunddreißiger sein Stücklein auch ebenso fidel und falsch vom Bock herunter blasen wie damals?
Aber Peter Hansen ging es, wie es den meisten Leuten geht; er selbst hatte sich so verändert in der Welt draußen, daß er meinte, alles andere müsse sich mit ihm verändert haben, und nun mit einer Art ungläubigen, freudigen Staunens bemerkte, wie wenig das der Fall sei.
Denn das weltferne Heimatstädtchen war sich merkwürdig ähnlich geblieben; nur viel größer und imposanter hatte es in der Erinnerung des Zurückkehrenden gestanden; die Erinnerung hat bekanntlich ein starkes Vergrößerungsglas.
Da war ja auch das Wirtshaus „Zum Lamm“ noch! Es hatte sich aber inzwischen als Zeichen der [850] fortgeschrittenen Kultur eine große Spiegelscheibe zugelegt, hinter der man die Honoratioren der Stadt, ohne Entree zu zahlen, bei ihren Früh- und Abendschoppen sitzen sehen konnte, während es diesen würdigen Herren ihrerseits unbenommen blieb, genau festzustellen, was auf der Straße und in logischer Folge innerhalb der Häuser vor sich ging, soweit sie das nicht ohnehin wußten, wie es in kleinen Städten Sitte und geheiligter Brauch ist.
Iu dieses Gasthaus kehrte Peter Hansen ein. Er hing den Mantel mit dem großen Kragen an den Nagel, den weichen Künstlerhut drüber und setzte sich dann an ein Tischchen für sich. Heimlich belustigte ihn das diskrete Kopfwenden, mit dem die seltene Anwesenheit eines Fremden hier aufgenommen wurde. In dem Kreise, am Tisch entdeckte er noch manchen alten Bekannten. Da, der dicke Herr mit der ungeheuren Glatze und der vorstehenden Unterlippe war sein Gymnasialdirektor von ehedem – der Tyrann seiner jungen Jahre! Das spindeldürre Männchen mit dem kornblumenblauen Schlips war der Apotheker – ein gefühlvoller Junggeselle, der die Guitarre spielte und Gedichte in das Tageblättchen schrieb. Ob er zwischenein wohl eine von den Damen heimgeführt hatte, die er so schmelzend anzusingen pflegte?
Der nächste im Kreise, der hübsche, stattliche Mann mit dem goldenen Kneifer und dem klugen, humorvollen Gesicht, war ihm aber fremd, er mußte neu hergekommen und allem Anschein nach der Doktor sein – freilich! der alte Sanitätsrat war ja damals schon fast der Schwächste seiner eigenen Patienten gewesen!
Man debattierte und sprach lebhaft am Honoratiorentisch aber mit gedämpfter Stimme, aus Rücksicht auf den Fremden. Es schien eine große Sache im Werke zu sein, die alle Leidenschaften entfesselte: der Apotheker wurde sichtlich mit Vorwürfen überhäuft und zuckte die spitzen Schultern vor Verlegenheit, als sollten sie ihm über dem Kopf zusammenschlagen.
Peter Hansen konnte es nicht unterlassen, sein Skizzenbuch zu ziehen und so verstohlen wie möglich ein paar von den Köpfen hineinzuzeichnen – neue und alte Gesichter. Wie auf unrechten Wegen ertappt, fuhr er zusammen, als der dicke Wirt ihn, bei Gelegenheit eines frischen Glases, in seiner Beschäftigung überraschte und mit wohlgefälligem Schmunzeln schweigend Kritik übte. Unverkennbar setzte er dann die Gesellschaft am Tisch von seiner Entdeckung in Kenntnis, wie das einem guten Wirt geziemt, der seinen Gästen das Neueste womöglich brühwarm auftischen muß.
Die Unterhaltung wurde daraufhin zunächst noch lebhafter, dann aber merklich stiller. Einer nach dem andern aus der Tafelrunde empfahl sich, nur der freundliche Herr, den Peter Hansen bei sich den „Doktor“ benannt hatte, schien noch bleiben zu wollen. Er sprach halblaut und, wie es unserm Maler vorkommen wollte, mit Bezug auf ihn mit seinen Trinkgenossen, die einverstanden nickten und eben das Lokal verließen, mit einem freundlichen Gruße nach Hansen hin, der mehr zu sagen schien als der Gewohnheitsgruß fremder Wirtshausgäste.
Die beiden Uebriggebliebenen saßen eine Minute schweigsam – jeder an seinem Platz. Peter holte seine Skizzen wieder vor und schraffierte noch an dem Doppelkinn des Gymnasialdirektors, der andere blickte ein paarmal unschlüssig zu ihm herüber, dann stand er auf, trat an den Tisch und stellte sich frischweg als Dr. med. Lenz vor.
„Sie werden es mir verzeihen,“ begann er mit Freimut, „daß ich Sie so ohne weiteres anspreche und Ihnen somit gleich den Eindruck des indiskreten Kleinstädters vermittle – aber darf ich mir vorweg eine Frage erlauben – bleiben Sie längere Zeit hier? Und zeichnen Sie?“
„Ich bin Maler!“ erwiderte Peter Hansen ein wenig befremdet und lud seinen neuen Bekannten durch eine Handbewegung zum Sitzen ein. „Wie lange ich hier bleibe, hängt nicht von mir allein, sondern von diesem und jenem ab, über das ich noch selbst keine Gewalt habe. Sie wissen,“ fügte er leicht und ablenkend hinzu, als der andere ihn fragend ansah, „Stimmung – Beleuchtung – das spricht bei meinem Handwerk alles mit! Aber warum fragen Sie mich, Herr Doktor? Muß man hier etwa zum Malen einen Gewerbeschein haben?“
Der Doktor lachte. „Nein – keineswegs! Wir wollen Sie in der Ausübung Ihrer Kunst nicht stören – im Gegenteil! Ich bin von der ganzen Tischgesellschaft mit einem großen Anliegen an Sie abgeschickt. Es schien uns geradezu ein Wink des Himmels, als der Wirt uns sagte, daß Sie hier in aller Stille unsere wenig malerischen Köpfe malerisch verwertet haben – darf ich?“
Hansen hielt ihm die Blätter hin, der andere stieß einen Ruf überraschten Entzückens aus.
„Das sind ja Kunstwerke!“ rief er lebhaft, „und sie machen mich fast verlegen; ich glaube, ich darf nun mit meiner Bitte gar nicht herauskommen. Sie werden Ihren Stift schwerlich in den Dienst einer Dilettantenbande stellen wollen, die in großer Verlegenheit ist. Sehen Sie,“ fuhr der gemütliche Mann fort, als Hansen schwieg und sich auch im Mienenspiel noch gänzlich abwartend verhielt, „wie Sie uns da vorhin zusammen gesehen haben, können wir eigentlich alles! Der eine kann aus dummen Jungen gescheite Leute machen, der andere kann Häuser bauen, der dritte Pillen drehen, ich kann die Leute gesund machen, wenn sie krank sind, oder thue doch so, als ob ich’s könnte – nur eines können wir alle miteinander nicht: ein Paar lustige Bilder zu einem Polterabendscherz zeichnen, wir sind grenzenlos damit verunglückt, und morgen abend soll die Sache vor sich gehen!“
„Wo wird denn der Polterabend gefeiert?“ frug Peter Hansen mit dem Interesse eines Heimatkindes, das bekannte Namen zu hören erwartet – von den damaligen Kindern mußte ja mehr wie eines inzwischen zu heiratsfähigem Alter gekommen sein. „Wo ist denn der Polterabend?“
„Bei unserm früheren Bürgermeister Dorn,“ erwiderte der Doktor harmlos, „die einzige Tochter – aber was haben Sie denn?“ fuhr er überrascht fort, als Hansen seinen Stuhl so heftig zurückschob, daß von der Erschütterung das Bier im Glase überfloß.
„Nichts! – gar nichts!“ sagte der Maler und fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn, „also zu dem Polterabend – und wer ist der Glückliche, der – ich meine, wen heiratet das Fräulein?“
„Ja, das ist eine lange Geschichte,“ sagte der Doktor, „und wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu ermüden – Sie sehen, wie mir scheint, etwas blaß aus!“
„Ich bin den ganzen Tag gereist,“ erwiderte hastig der andere, „aber ich wollte ohnehin noch nicht schlafen gehen – erzählen Sie nur, verehrter Herr Doktor! Wenn ich zu der frohen Gelegenheit zeichnen soll, muß ich ja ohnehin mit den Thatsachen bekannt gemacht werden – nicht wahr? Und so ein Stückchen Roman hört am Ende jeder gern, wenn er auch den beteiligten Personen ganz fremd ist!“
Sein Ton klang nicht so recht ungekünstelt. Der Doktor sah ihm einen Augenblick prüfend in das dunkle, schön geschnittene Gesicht mit dem festen energischen Munde und den Augen eines Träumers – „ein rechtes Künstlergesicht“, dachte er wohlgefällig bei sich.
„Nun, ich will mich kurz fassen,“ begann er dann behaglich, „obwohl das im ganzen, wie Sie merken werden, nicht in meiner Natur liegt!“
„Halt – nur noch eines!“ unterbrach ihn Hansen, „ist der Bräutigam, um den es sich handelt, ein Stadtkind? Und wie heißt er?“
Der Doktor lachte.
„Ja, das ist ja das Sonderbarste an der Geschichte,“ sagte er. „Wie der Bräutigam heißt, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, aus dem einfachen Grunde, weil keiner da ist! Die schöne Käthe hat keinen Bräutigam und will keinen haben!“
[851] „Was?“ rief da Hansen überlaut und sprang auf, „was? Und dabei Polterabend?“ fügte er mit einem unsicheren Lachen hinzu, als sein neuer Freund ihn wieder kopfschüttelnd betrachtete, „das muß ja wirklich eine sonderbare Geschichte sein, wie Sie schon sagten, Herr Doktor! Doch erzählen Sie weiter,“ fuhr er fort, indem er sich auf die Stuhllehne stützte, „es werden ja wohl nicht mehr so viel überraschende Pointen kommen, die einen nervösen Menschen beinahe dazu bringen können, seinen Stuhl umzuwerfen!“
Er lachte wieder kurz auf. Dem Doktor gingen allerhand schlaue Gedanken durch den Sinn, er gab ihnen aber vorderhand noch keine Worte.
„Na,“ sagte er ruhig, „also ich kann weiter erzählen. Das Fräulein ist seit zwölf Jahren, oder noch etwas länger, das Schönheitswunder der ganzen Stadt; daraus sehen Sie, daß sie nicht mehr allzujung sein kann! Aber sie hat sich alles, was die Jugend ziert, Farben, Frische, Lieblichkeit und Anmut, in ganz merkwürdiger Weise erhalten; Sie können sich denken, oder vielmehr nicht denken, wie schön das Mädchen sein muß, wenn sie heute, wo sie ja fast dreißig Jahr alt ist, mich alten, nüchternen Doktor noch in Ekstase zu bringen vermag! Dabei trägt sie ihre Schönheit nicht wie andere Mädchen, nicht wie einen neuen Hut, den jeder bewundern soll – nein, mit einer gewissen Gleichgültigkeit, die manchmal an Ueberdruß streift und die ihr, wie alles, was sie thut, entzückend zu Gesicht steht! Daß diese Perle des menschlichen Geschlechtes von allerhand Freiern umdrängt, umworben, angefleht und angedichtet worden ist, das werden Sie sich denken können! Aber sie sind alle mit langer Nase abgezogen – warum, das wußte keiner so recht! An eine Herzensunempfindlichkeit mochte man nicht glauben, und so hieß es schließlich, die schöne Käthe habe eine Jugendliebe gehabt – einen Schauspieler oder Sänger oder sonstigen Luftikus, und diesem Sausewind zu Ehren wolle sie ihre vielbegehrte Hand keinem andern geben. Na, das sind Redereien. In jedem Fall ist sie unvermählt geblieben und wohnt mit ihren Eltern in einem alten Landhaus vor dem Thor, das sich der Bürgermeister gekauft hat, dicht am Fluß gelegen.“
„Ich weiß, ich weiß!“ nickte der Maler selbstvergessen, „nur weiter!“
Das Licht, das dem Doktor vorhin aufzuglimmen begann, wurde immer heller.
„Was Tausend!“ sagte er vor sich hin.
„Weiter!“ drängte der andere fast mit Heftigkeit.
„Nun denn – jetzt vor einiger Zeit hat das schöne Mädchen gewissermaßen offiziell erklärt, daß man sie von nun an mit allen Heiratsanträgen verschonen möge; sie werde jetzt einen Hausstand gründen, wie es für ihr Alter schicklich und angemessen sei – aber für sich allein! Die Eltern, die ihr alles zu Willen thun, haben ihr den ersten Stock des Hauses überlassen; den hat sie sich mit lauter neuen, hübschen Sachen anmutig und absonderlich, wie es ihre ganze Art ist, eingerichtet, und morgen will sie da hinaufziehen. Sie will dort Gäste bei sich sehen, eigne Küche führen, die alten Eltern bei sich bewirten, alles haben wie eine junge Frau – nur keinen Mann! Vor etwa acht bis zehn Tagen hat sie mich holen lassen – ich bin so ein bißchen der Vertraute da im Hause und hat mir diesen schnurrigen Plan auseinandergesetzt. „Ich feiere Hochzeit mit meiner Selbständigkeit!“ sagte sie und lachte mich an, daß mir wieder ganz sonderbar wurde – „mit der werde ich mich sehr gut vertragen, sie wird mir nie widersprechen und wir werden sehr vergnügt sein! Sie sehen, ich will nicht heiraten, aber ich will Hochzeit halten und besonders will ich einen Polterabend feiern! Das habe ich mir immer so hübsch gedacht und nie eingesehen, warum wir alten Jungfern diesen Spaß nicht auch haben: einen neuen Lebensabschnitt willkürlich zu bestimmen und lustig darin einzutreten! Sie und unsere andern guten Freunde und getreuen Nachbarn können alle kommen und mich ansingen und andichten und necken und schlecht machen, so viel Sie nur mögen – statt einer Hochzeit lade ich Sie dann in meiner neuen Wohnung zu einem großartigen Abendessen ein, und Sie sollen sehen, daß ich die Wirtin zu machen verstehe!“
„Nun können Sie sich denken, was weiter geschah,“ fuhr der redselige Herr fort und that, als merkte er gar nicht, wie das finstere Gesicht seines schweigsamen Gegenübers heller und heller wurde. „Wir alle, die wir mehr oder weniger in den Ketten der schönen Käthe gelegen haben und die außerdem dem wackeren Bürgermeister und seiner prächtigen alten Frau jeder an seinem Teil zu Dank und Ehrfurcht verpflichtet sind, wir ergriffen die Gelegenheit mit tausend Freuden, uns einmal erkenntlich zu zeigen. Die ganze Bürgerschaft schloß sich nach und nach an, seit mehreren Tagen schleppt alles „Hochzeitsgeschenke“ nach dem Hause am Fluß, und morgen abend soll der seltsame Polterabend stattfinden. Als pièce de résistance und Hauptknalleffekt an diesem großen Abend sollte nun eine Reihe von Bildern vorgeführt werden – Bilder aus dem Leben der Hauptperson, selbstverständlich! – und damit sind wir gründlich reingefallen. Der Apotheker, der uns die Sachen zeichnen sollte, hat wahre Ungeheuerlichkeiten an Geschmacklosigkeit hervorgebracht und selbst beschämt zugestanden, daß er mit seiner Aufgabe nicht zustande zu kommen vermöge. Und nun kommen Sie heute abend wie vom Himmel geschickt, mein Herr Maler – verzeihen Sie, wenn ich Sie aus Mangel einer passenderen Bezeichnung so anrede – und hier stehe ich und bitte: helfen Sie uns aus der Not!“
Peter Hansen stand in tiefen Gedanken. Der Doktor blinzelte ihn schlau von der Seite an.
„Sehen Sie, da kommt erst die Kinderzeit – die Schule – der erste Ball –“
„Und dazwischen doch noch die Tanzstunde im Rathaussaal!“ fuhr der unvorsichtige Maler dazwischen.
„Richtig – die Tanzstunde!“ sagte der Doktor kaltblütig, „na – wie wird’s? Sie haben am Ende genug künstlerische Einbildungskraft, um sich die Reihenfolge selbst zurecht zu denken! Spiritus – merkst du was?“ Er legte bei diesen Worten unserem Helden die Hand auf die Schulter und sah, ihm mit einem so gutmütig pfiffigen Ausdruck ins Gesicht, daß Hansen wider Willen lächeln mußte.
„Beichten Sie mal!“ fügte der Doktor hinzu, „Sie haben die schöne Käthe wohl auch gekannt? Mir dürfen Sie’s ruhig sagen; ich will’s auch mit Offenherzigkeit vergelten und Ihnen gestehen, [852] daß ich meinerzeit ein sehr zierliches Körbchen von ihr erhalten habe – mit Achtung und Freundschaft und Sympathie gefüllt und vergoldet – aber ein Korb blieb’s doch! Na? wie ist’s? Haben Sie in Ihrer Künstlerwerkstatt etwa auch so ein Dingelchen stehen? Verstaubt und halb vergessen? aber doch da? –“
„Nein,“ sagte Peter Hansen mit herzlichem Ton, „nein, lieber Herr Doktor, das habe ich nicht! Aber gekannt hab’ ich das Fräulein vielleicht besser als ihr alle – und daß, wer sie gekannt hat, sie auch lieb gehabt hat, das brauche ich Ihnen, wie ich eben höre, nicht zu erzählen. Ja, ich gestehe Ihnen ehrlich, daß die Erinnerung an dieses liebe Mädchen fast das stärkste Band gewesen ist, das mich nach einem wilden Wanderleben hierher zurückgezogen hat, und da braucht es wohl keiner weiteren Worte, um Ihnen zu versichern, daß ich mich gern mit Hand und Herz, mit Pinsel und Farbenkasten in den Dienst der schönen Gefeierten stelle und Ihnen alle Bilder malen will, die Sie nur irgend haben mögen, und sollte ich die Nacht zu Hilfe nehmen. Geben Sie mir Ihre Skizzen und Notizen, und dann lassen Sie mich allein; ich bin jetzt gerade in der richtigen Verfassung und werde schon was Vernünftiges zustande bringen!“
Er nahm die Papierrolle aus den Händen des Doktors entgegen und drängte ihn dann fast zur Thür hinaus.
Der Doktor ging sehr zufrieden seiner Wege, pfiff ein paar Takte und dachte bei sich: „Wenn der um zehn Jahr früher gekommen wäre, da hätten wir am Ende einen Kalaf für unsere Turandot gehabt!“
(Fortsetzung folgt.)
Alle Rechte vorbehalten.
Aus der Autographenwelt.
Wir leben in einer Zeit, in der das Sammeln blüht und jung und alt sich ihm in gleichem Maße ergiebt. Unter den verschiedenartigen Sammlergebieten ragt als das bedeutendste die „Autographik“ hervor, und nicht mit Unrecht hat man das Sammeln von Handschriften berühmter Menschen als den „königlichen Sammelsport“ bezeichnet. In der That dürfte aus der Beschäftigung mit Handschriften der Sammler die reichsten geistigen Anregungen erhalten; muß er sich doch dabei mit dem Leben und Wirken von Männern und Frauen befassen, die Hervorragendes geleistet haben auf den Gebieten der Politik, der Kunst und der Wissenschaft; unwillkürlich wird er durch diesen „Sport“ zum Studium der Geschichte geleitet. Kein Wunder darum, daß die Autographik mit der zunehmenden Verbreitung der allgemeinen Bildung sich auf immer weitere Kreise ausdehnte, daß die Zahl der Sammlungen zunahm und neben einer Speziallitteratur für die Autographik sich auch ein bedeutender Handel mit Autographen ausbildete.
Das Interesse für die Selbstschriften irgendwie bedeutender Menschen dürfte wohl so alt sein wie das Schreiben selbst; in China hat es schon seit etwa 2000 Jahren zum Sammeln geführt, allerdings einseitig und mehr aus einem Kultbedürfnisse: die Wände der Tempel sind mit den Handschriften der Kaiser bedeckt.
Das Antographensammeln im engeren Sinne läßt sich ungefähr 300 Jahre zurückverfolgen, zumeist blühte es früher in den Stammbüchern. Der erste bekannte Autographensammler war Antoine Loménie de Brienne († 1638), dessen großartige Sammlung in der Pariser Bibliothek als „Fonds de Brienne“ in 340 Foliobänden aufgestellt ist. Seit dieser Zeit finden wir, zunächst in Frankreich, immer häufiger Autographensammler. Um 1800 verbreitete sich die Sammelliebe für Handschriften auch nach Deutschland, England und später nach Italien, und gegenwärtig ist die Autographensammlergilde über die ganze gebildete Welt verbreitet und zählt wohl Tausende von Anhängern. Einer der ersten Autographensammler Deutschlands war unser Altmeister der Dichtung, Wolfgang Goethe. Auch Metternich und Napoleon I. sammelten Handschriften. Um aus der jüngeren Zeit und aus der Gegenwart nur einige Namen von Weltklang zu nennen, seien unter anderen erwähnt an Fürsten: die Königin von England, Kaiser Friedrich und Herzog Ernst II. von Coburg, an Künstlern und Dichtern: Alex. Dumas, Johannes Brahms, an Gelehrten: die Professoren Carrière und Weinhold. Das sind doch wohl Namen, die auch dem Laien Respekt einflößen vor der Thätigkeit des Autographensammelns und die es ihm unmöglich machen, fürderhin über die Anhänger desselben zu lächeln und zu witzeln; bekanntlich ist ja die Figur des Autographenjägers, der alle hervorragenderen Zeitgenossen um Handschriftliches anbettelt, die beliebte Zielscheibe vielfacher Spötteleien, und der Laie meint, in völliger Verkennnng der Sache, in dieser Figur die Thätigkeit alles Autographensammelns zu treffen! Jenes Handschriftenerbitten gilt dem richtigen Sammler ganz und gar nicht für ein sachgemäßes Sammeln.
Die Autographik faßt den Begriff der Berühmtheit nicht eng, es handelt sich bei ihr um das Sammeln von Handschriften berühmter oder auch berüchtigter Personen. Die Wertung allerdings, wer eines dieser Prädikate würdig sei, ist zuweilen recht schwer; soll z. B. jeder deutsche Jüngling als handschriftlich unsterblich betrachtet werden, wenn er ein Bändchen Gedichte verbrochen und in die Welt geschickt hat? Gewiß nicht! Im allgemeinen dürfte die Aufnahme eines Namens in ein Konversationslexikon wie Brockhaus, Meyer oder Pierer als Zeichen der Berühmtheit oder Berüchtigtheit gelten. Handschriften von solchen Personen sind des Sammelns würdig und gewinnen demgemäß Wert, je nachdem sie gesucht sind. Denn bei weitem nicht alle Sammler sammeln alle Berühmtheiten; Beruf und Neigung führen die meisten zur Wahl von Spezialgebieten als da sind Fürsten und Herrscher, Staatsmänner, Militärs, Dichter, Künstler, Philosophen, Frauen; und selbst hier werden wieder und wieder Unterabteilungen gebildet, so z. B. bei den Dichtern nach den Nationalitäten und dann nach dem Zeitabschnitt und dann womöglich noch enger; so ist „Weimars Musenhof“ ein sehr beliebtes Spezialgebiet in der Autographik, freilich ist dasselbe, wegen seiner Beliebtheit, nicht gerade so kostenlos anzubauen wie manches andere.
Der rechtmäßige Erwerb von Autographen geht hauptsächlich durch Tausch und Kauf vor sich; die Fälle sind selten, wo jemand durch günstige Verbindungen Autographen geschenkt erhält oder gar – wie es zuweilen vorgekommen ist – in alten Familienbücherkisten oder unter dem Wurstpapier der Fleischer wahre Handschriftenschätze entdeckt. Der Tauschhandel in Autographen bietet für den Laien nichts Interessantes: wohl aber thut dies der eigentliche Autographenhandel mit seinen auch zuweilen der Mode unterworfenen Angeboten und Nachfragen, sei es zu festen Preisen, sei es in dem unsicheren halben Glücksspiel der Auktionen. Die ersten Anfänge eines Autographenhandels haben sich in Paris während der Jahre 1801 und 1803 nachweisen lassen. Welche Entwicklung aber hat dieser Handel bis heute genommen, wo vor kurzem sogar in Paris eine eigene Autographenbörse eingerichtet werden konnte!
In alten Antiquariatskatalogen finden wir die ersten Angebote, als da sind Handschriften von Heinrich IV., Sully, Marie von Medici; Nachricht über die erzielten Preise giebt es leider nicht, sie würde sonst zu charakteristischen Vergleichen führen, da die Preise von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gestiegen sind. Jenen Katalogsnotizen folgte bald der erste Versuch einer Auktion; die Sammlung des Marschalls Richelieu kam 1801 unter den Hammer. Doch wollte der Handel noch nicht so recht in Schwung kommen. Erst nach einer Auktion der Pariser Buchhandlung Pluquet von Villenaves 550 Dublette-Autographen (24. bis 27. Mai 1822), zu der Villenave selbst den ersten Katalog hergestellt hatte, begann der junge Handelszweig sich weiter zu entfalten. Zunächst trugen besonders hierzu bei die Sammler und Händler Charon und Laverdet, später die nach Paris übergesiedelten Mitglieder der Lyoneser Familie Charavay; Jacques Charavay gründete 1843 das erste große Autographengeschäft, das gegenwärtig (seit 1867) von seinem Sohne Etienne Charavay geleitet wird und sich eines Weltrufes erfreut. Etienne Charavay gilt für den gewiegtesten Autographenkenner, was, wie wir später sehen werden, von Bedeutung ist. Seine Publikationen, besonders die Kataloge über die von seinem Handelshause veranstalteten Auktionen, zeugen in ihrer Uebersichtlichkeit von einem ebenso enormen Fleiße wie von einem bewunderungswürdig tiefen, allseitigen historischen Wissen. Etienne Charavays Meisterwerk in dieser Hinsicht ist wohl der umfangreiche und prächtig ausgestattete Katalog über die Autographensammlung
[853][854] Alfred Bovets, dessen Preis 150 Franken beträgt. Inzwischen war auch in anderen, zunächst in den deutschsprechenden Ländern, der Autographenhandel eingeführt. 1838 veranstaltete der Wiener Buchhändler Franz Gräffer die erste deutsche Autographenauktion. Seit dieser Zeit mehren sich die Auktionen; gleichzeitig hat sich der Handel zu festen Preisen aufs prächtigste entwickelt, und so ist gegenwärtig das Autographengeschäft in Angebot und Nachfrage ein allseitig recht reges.
Um welche Summen handelt es sich nun in diesen Geschäften? Welches sind nach oben und nach unten die Grenzen für den Geldwert der von berühmten Personen beschriebenen Papiere?
Die Preise aller Handelsgegenstände richten sich bekanntlich nach der Häufigkeit der Nachfrage und nach der leichteren oder schwereren Befriedigung derselben. Dieses Grundgesetz auf Autographen angewendet, ergiebt folgende Anhaltspunkte zur Wertbestimmung: da es sich um Selbstschriften bekannter Personen handelt, fällt der Grad dieses Bekanntseins zuvörderst schwer ins Gewicht. Luther, Shakespeare, Voltaire, Napoleon I., Kant, Goethe, Beethoven, Schiller sind demnach von höherem Werte als Melanchthon, Ben Jonson, M. Mendelssohn, Friedrich Wilhelm III., Herbart, J. H. Voß, Reichardt, Hölty. Mit dem Bekanntsein hängt die Erreichbarkeit zusammen; je weiter in die Vergangenheit das Leben einer Berühmtheit zurückreicht, um so seltener im allgemeinen wird sich Handschriftliches von ihr finden; ferner wird das Gleiche der Fall sein, je kürzer die Lebensdauer – und mithin je kleiner verhältnismäßig die Menge der Briefe und sonstigen Handschriften – ist. Schließlich beeinflussen Umfang und Inhalt des Autographs die Wertbestimmung oft nicht unwesentlich. Unter Einwirkung dieser Umstände, die durch persönliche Vorliebe oder Mode noch weitere Schwankungen erleiden können, haben sich gewisse Preisgrenzen ergeben, von denen die folgenden Beispiele einen Begriff geben mögen.
Während im Handel für Briefmarkensammler die Preise von 1 bis 10 Pfennig zu den häufigsten gehören, bewegt sich im Autographenhandel die entsprechende niedrigste Preisstufe von 50 Pfennig bis 5 Mark. Zum Preise von 50 bis 100 Pfennig kann man gegenwärtig Autographen von neueren deutschen Dichtern wie Bauernfeld, Dingelstedt, Groth, Gutzkow, Pfizer etc. bekommen. Je höher der Preis, um so bedeutenderen Ursprung und Umfang, um so größere Seltenheit hat natürlich das Autograph. Auch die allerkürzeste Unterschrift oder Namensabkürzung von Luthers, Napoleons I. oder Goethes Hand um diesen Preis, bis zu 5 Mark, zu erhalten, ist heutzutage ein Ding der Unmöglichkeit; noch um die Mitte des Jahrhunderts war das, bezüglich Napoleons und Goethes, möglich. Goethes Unterschrift dürfte gegenwärtig kaum unter 10 bis 20 Mark zu haben sein. Ist aber der Brief oder das Manuskript auch noch von unseres Dichters eigener Hand, so steigt, je nach der Zeit der Niederschrift, dem Inhalt und dem Umfang, der Preis auf 50, 100, ja mehrere hundert Mark. So wurde ein zweiseitiger eigenhändiger Brief Goethes an Schiller vom Oktober 1795 mit interessantem Inhalt um 500 Franken verkauft; andere Briefe erzielten Preise von 250, 175, 130, 80, 50 Mark. Das Steigen der Autographenpreise läßt sich besonders interessant verfolgen an den Preisen, die für Richard Wagners Handschrift gezahlt wurden. Noch während der fünfziger und sechziger Jahre wurden zweiseitige Briefe Wagners für 2 bis 3 Mark verkauft. Mit der wachsenden Berühmtheit wuchsen die Preise, und geradezu enorm gingen sie seit dem Tode des Komponisten (1883) herauf. Kurze Briefchen desselben werden mit 30 und mehr Mark bezahlt, Musikmanuskripte von wenigen Zeilen erzielen ähnliche Preise. Man muß lächeln in Wehmut, wenn man daran denkt, wie Wagner dieses Geld seiner Zeit in Paris hätte brauchen können. Aehnlich ist es mit den Handschriften zahlreicher Dichter und Künstler bestellt, man wiegt sie mit Gold auf, und die Schreiber haben im Leben vielleicht recht oft hungern müssen.
Die höchsten bislang erzielten Autographenpreise bewegen sich um 1000 und mehr Mark herum. Mit solchen Summen wurden z. B. auf einer der großartigsten Autographenauktionen (der Sammlung Bovet in Paris) Handschriften von Napoleon Bonaparte, Pierre Corneille, Molière (2500 Franken), Lesage, Reuchlin, Luther (1000 Franken) und Hutten (1210 Franken) bezahlt. Den bislang überhaupt höchsten Preis erzielte meines Wissens das Original von Voltaires Testament mit 5000 Franken. Die Auktionen sind übrigens vorzüglich geeignet, um vergleichende Betrachtungen über die Autographenpreise zu machen. Von den angebotenen Handschriften gehen mindestens 90% zu Preisen von 50 Pfennig bis 5 Mark fort (in Frankreich 2 bis 10 Franken); 6% bis 8% kommen bis zu 50 Mark, und nur 2% bis 4% erzielen die außergewöhnlichen Preise, von denen Kunde ins große Publikum dringt. Erwähnt werden mag noch, daß in Frankreich die Preise am höchsten sind.
Bei einer derartigen, zu hohen Zahlungen bereiten Nachfrage ist es wohl selbstverständlich, daß „besonders intelligente Köpfe“ darauf verfielen, den Bedarf künstlich zu befriedigen. Die Geschichte dieser Handschriftenfälschungen ist eines der interessantesten Gebiete in der Autographenwelt, zumal, da sich hier einige prächtige Tragikomödien abspielten. Der Autographenhandel entstand in Frankreich; da ist es denn auch nicht mehr als recht und billig, wenn Frankreich auch in Sachen der Fälschungen die glänzendste Rolle spielt. Bereits 1840 wird in Paris die Klage über unechte Autographen lebhaft; Rabelais, Agnes Sorel, Talbot, Molière, Racine, Boileau, Louis XVI. und Marie Antoinette werden gefälscht. Das gleiche Schicksal haben später Byron in England und Schiller in Deutschland. Die etwa 400 Fälschungen von Schillers Handschrift durch den Architekten von Gerstenbergk führten 1856 zu dem Aufsehen erregenden Weimarer Prozeß; Gerstenbergk hatte aus seinen Fälschungen einen Gewinn von etwa 6000 Mark im Laufe von 6 Jahren gezogen; er wurde zu 2 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Fälschungen waren nicht ohne Geschick hergestellt, und jedenfalls hatten sich die Betrogenen nicht durch zu leichtgläubigen Kauf lächerlich gemacht. Nicht erspart aber blieb der Vorwurf, sich durch seine Leichtgläubigkeit unsterblich lächerlich gemacht zu haben, dem berühmten Betrogenen in dem berüchtigten größten Autographenfälschungsprozesse Vrain Lucas zu Paris im Jahre 1870. Dieser Betrogene war der berühmte Michel Chasles, als Mathematiker von wohlverdientem europäischen Rufe. Chasles glaubte nachweisen zu können, daß das Gravitationsgesetz nicht von Newton, sondern von Blaise Pascal entdeckt sei; der Briefwechsel aber, auf den Chasles sich stützte, erwies sich als gefälscht! Und als gefälscht wurden auch fast alle übrigen Autographen (zusammen etwa 27 000 Stück) erkannt, die Chasles im Laufe von mehreren Jahren durch die Vermittlung des Schwindlers Vrain Lucas erworben hatte, erworben für einen Preis von nicht weniger als 140000 Franken! Und dabei waren diese Fälschungen noch von einer kaum glaublichen Deutlichkeit. So schreibt z. B. Kleopatra auf modischem Papiere in einem höchst fehlerhaft verdächtigen Altfranzösisch an Julius Caesar, er möchte ihrem Sohne Caesarius einen Paß verschaffen! Das geht ins schier Unglaubliche hinein, dieser Unsinn vorgeblich echter Autographen! Und Chasles, der „Unsterbliche“ der Akademie, er kaufte und kaufte, bis er unsterblich blamiert war. Die Einzelheiten des berüchtigten Prozesses hier darzulegen, ist unmöglich, das Resultat war natürlich die Verurteilung Vrain Lucas’, des Fälschers. Solche Fälle sind seitdem noch nicht wieder vorgekommen; aber keine Auktion vergeht gegenwärtig wohl, ohne daß einige Autographen, zumal solche von berühmten Dichtern, „als unecht“ beanstandet und ausgeschieden werden. In jüngster Zeit wurde von einem Ehepaar, das sich den Namen „Kyrieeleis“ beigelegt hatte, mit gefälschten Lutherautographen in einigen deutschen Städten ein großer Schwindel getrieben. Solche Vorkommnisse zwingen die Sammler natürlich zur Vorsicht und zur Ausbildung von Mitteln, Fälschungen nachzuweisen.
Zum Schluß noch ein Wort über die hervorragendsten Autographensammlungen. Nach ihren Besitzern gliedern sie sich in öffentliche (staatliche, städtische oder sonst genossenschaftliche) und private. Die bedeutendsten öffentlichen Sammlungen sind wohl diejenigen der Berliner Königlichen Bibliothek, des British Museum zu London und der französischen Bibliothèque nationale zu Paris. Unter den Schätzen der Berliner Sammlung ragen die 13000 Autographen der Sammlung des Generals von Radowitz hervor, die für 15000 Thaler angekauft wurden. Private Sammlungen enthalten oft Tausende von Handschriften; so zählten die bereits etwa 1855 verkauften Sammlungen Falkenstein und v. Hüttner je etwa 10000 Nummern; die gegenwärtig wohl umfangreichste deutsche private Sammlung dürfte sich in Berlin befinden, sie umfaßte schon vor 10 Jahren etwa 50000 Stück.
Diese Zahlen beweisen, daß die Autographik in Deutschland in fortwährendem Aufschwunge begriffen ist und daß diesem „königlichen Sammelsport“ noch eine lange und erfreuliche Zukunft beschieden sein dürfte.
[855]
Blätter und Blüten.
Ein Heldensohn Siebenbürgens. Am 24. November waren hundert Jahre verflossen, da Stephan Ludwig Roth in dem siebenbürgischen Städtchen Mediasch das Licht der Welt erblickt hatte. Einst – in sturmbewegter Zeit, wurde sein Name unter den edelsten genannt, hatte er doch für das deutsche Volkstum im fernen Osten rastlos gewirkt und für das Deutschtum sein Blut vergossen.
Die „Gartenlaube“ hat schon einmal (Jahrg. 1862, S. 407) ein ausführliches Lebens- und Charakterbild Roths ihren Lesern geboten. Doch sollte das Andenken des heldenmütigen Mannes in gleicher Frische auch bei dem jüngeren Geschlechte fortleben.
Im Gegensatz zu dem tragischen Ende flossen die ersten Mannesjahre des warmfühlenden Patrioten ruhig dahin. Roth wählte den friedlichen Beruf eines Lehrers und Seelsorgers; wie so viele seiner Landsleute ging er, um zu studieren, nach Deutschland und widmete sich auf der Universität Tübingen philosophischen und theologischen Studien. In regem Verkehr mit den burschenschaftlichen Kreisen schloß er das Ideal eines einigen und freien Deutschlands in sein Herz und erwarb sich politische Charakterfestigkeit und Ueberzeugungstreue. In Tübingen wurde er auf Pestalozzi aufmerksam, und rasch entschlossen suchte er den großen Pädagogen in Yverdon auf, wo er als eifriger Schüler des großen Meisters anderthalb Jahre verblieb. Nachdem er in Tübingen die Doktorwürde erlangt hatte, kehrte er in sein engeres Vaterland zurück.
Durchdrungen von den neuen Lehren, die er vernommen hatte, stellte er sich die schwierige Aufgabe, das Schulwesen in Siebenbürgen im neuen Zeitgeiste zu reformieren. Er begegnete aber unüberwindlichen Schwierigkeiten; er wurde zwar Rektor des Gymnasiums in seiner Vaterstadt Mediasch, als er aber in demselben Turn- und Gesangsunterricht einführte, zog er sich eine abfällige Kritik zu. Diese beiden Fächer wurden schließlich von der vorgesetzten Behörde „als eine entbehrliche, ja selbst verderbliche Zerstreuung“ verboten. Vergebens mahnte Roth, auch die Volksschule im Sinne Pestalozzis umzugestalten; seine Worte verhallten ungehört, und erst einer späteren Zeit sollte es vorbehalten bleiben, jene Ideale zu verwirklichen.
Im Jahre 1837 wechselte Roth seinen Wirkungskreis; er wurde in Rimesch zum Pfarrer gewählt. Der Geistliche war aber nicht allein Seelsorger; in enger Berührung mit dem Landvolke erkannte Roth nur zu bald, daß es nicht nur in geistiger, sondern auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht gehoben werden müsse. So entwickelte er eine rege gemeinnützige Thätigkeit und suchte die Landwirtschaft zu heben, zu welchem Zwecke er auch eine Bewegung ins Leben rief, schwäbische Landwirte zur Einwanderung nach Siebenbürgen zu veranlassen.
Dieses friedliche Wirken sollte indessen durch politische Stürme unterbrochen werden. Seit dem Jahre 1839 begann der ungarische Reichstag die wohlverbrieften Rechte der Deutschen in Siebenbürgen zu verkümmern, indem er in Amt und Schule die deutsche Sprache durch die magyarische ersetzte. Nun wurde Roth zu dem eifrigsten und mutigsten Verfechter des Deutschtums; durch seine zündende Flugschrift „Der Sprachkampf“ erhob er sich zum Führer der Patrioten, die bei aller Loyalität gegen die Regierung ihre deutsche Eigenart nicht aufgeben wollten. Gegen Roth wandte sich darum in erster Linie der Haß der Gegner, und um so feuriger schlugen für Roth die Herzen der sächsischen Jugend.
Inmitten dieser Kämpfe brachen die Stürme der Revolution ein. Roth wurde im Jahre 1847 zum Pfarrer von Meschen erwählt. Aufmerksam verfolgte er die politische Bewegung und erkannte bald, daß die Revolution in Ungarn sich zu einem Kampfe für die Alleinherrschaft der Magyaren und die Unterdrückung anderer Nationalitäten gestaltete. Er hielt darum zu der österreichischen Regierung und wurde von dieser zum kaiserlichen Kommissar des Kokelburger Komitates ernannt. Es sollten aber nur zu bald die Zeiten schwerster Prüfung für Siebenbürgen anbrechen. Die Ungarn rückten siegreich in Siebenbürgen ein und übten eine furchtbare Vergeltung an ihren politischen Gegnern. Auch Roth wurde verhaftet, er hätte fliehen können, aber er erwiderte seinen Freunden, die ihn retten wollten: „In großer Sache gilt es, groß zu handeln … Ich danke euch, aber die Flucht lehne ich ab. Es soll nicht heißen, aus Furcht sei ich geflohen, denn dem Sachsen fehle es an Mut.“ Am 11. Mai 1849 wurde Roth vom magyarischen Kriegsgericht zum Tode durch Pulver und Blei verurteilt. Er starb mit unverbundenen Augen wie ein Held und erzwang noch im Tode von seinen Feinden die Hochachtung. „Soldaten, lernt von diesem Manne, wie man für sein Volk stirbt!“ rief der kommandierende Hauptmann auf der Richtstätte denjenigen zu, die auf Roth gefeuert hatten.
Fürwahr, die siebenbürger Sachsen können mit Stolz Stephan Ludwig Roth den ihrigen nennen, und tröstlich ist, wie bei allen Martyrien für Recht und Freiheit, die Thatsache, daß Roth nicht umsonst sein Leben geopfert. Die Saat, die er ausgestreut hat, trägt goldene Früchte. Festgefügt steht heute der Stamm der Siebenbürger Sachsen und trotzt den Stürmen, die ihn bedrohen. *
Eine Volksausgabe von Anzengrubers Gesammelten Werken. An die so wohlfeilen und dabei doch in schöner lesbarer Schrift gedruckten Klassikerausgaben der „Bibliothek der Weltlitteratur“ reiht die Cottasche Verlagsbuchhandlung in Stuttgart soeben eine billige Lieferungsausgabe der Dichtungen von Ludwig Anzengruber. Wir begrüßen das Erscheinen derselben aufs freudigste – bietet sie doch die Gewähr, daß das kostbare Nationalgut, das uns der Dichter in seinen Erzählungen und Dramen hinterlassen hat, wirklich auch mehr und mehr zum persönlichen Eigentum des ganzen Volkes werde. So eigenartig, treu und echt er uns die Bewohner und Zustände der besonderen Welt des österreichischen Alpenlandes, aus dem er vom Vater her stammte, geschildert hat, so allgemein interessant, so rein menschlich ergreifend sind anderseits die ernsten und heiteren Schicksale, in deren Gestaltung sich sein machtvoller dichterischer Genius ausgesprochen hat. Als Klassiker des Volksstücks ebenbürtiger Nachfolger Raimunds, hat der Dichter des „Pfarrers von Kirchfeld“ und der „Kreuzelschreiber“ Gestalten zu erfinden und Worte zu finden gewußt, die noch in ferner Zeit ihre erschütternde Macht von der Bühne herab auf die Hörer entfalten werden. Und überall, auch in den größeren Erzählungen wie den kurzen Kalendergeschichten, in denen er gleich Hebel und Auerbach sich als Meister bewährte, beherrscht ein tiefsittlicher Grundton den „launigen Zuspruch“ und die „ernste Red’“. Dem Stoff wie dem Geiste nach sind Anzengrubers Werke daher im schönsten Sinne des Worts volkstümlich, und jeder, dem die Sache der Volksbildung am Herzen liegt, muß in der Veranstaltung dieser „Volksausgabe“ eine wesentliche Förderung seiner Wünsche erkennen. Dieselbe bietet den Inhalt von zehn Bänden in 60 Lieferungen, deren Preis nur 40 Pfennig beträgt.
Die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig zu Rheims, Weihnachten 496. (Zu dem Bilde S. 844 und 845.) König Chlodwig, der 481 mit fünfzehn Jahren den Thron bestieg, der Gründer des Frankenreichs, hatte die letzten Römer, die noch in Gallien sich behaupteten, bei Soissons geschlagen und kämpfte 496 gegen die Alemannen in der blutigen Schlacht von Zülpich, wo sich das Schlachtenglück gegen ihn zu erklären schien. Da gelobte er, den Wunsch seiner jungen Gattin, der Tochter des Burgunderkönigs, zu erfüllen und zum Christentum überzugehen, wenn ihm in diesem Kampfe noch der Sieg zu teil würde. In der That wurden die Alemannen geschlagen und Chlodwig ließ sich von dem Bischof Remigius in Rheims taufen. Auf Zicks wirkungsvollem Bilde sehen wir den Frankenkönig, wie er niederknieend die Taufe empfängt und von dem Bischof mit dem heiligen Oel gesalbt wird, das seitdem als das Salböl der fränkischen und französischen Könige diente. Während die Gruppe der Priester segnend und Gebete lesend ihres Amtes waltet, macht der knieende Fürst einen zugleich zerknirschten und trotzigen Eindruck, als reue ihn das Gelübde, das er halten mußte. In der That bannte die Taufe nicht aus seiner Seele die despotischen Gelüste, die Neigung zu grausamen Gewaltthaten, das bewies sein späteres Leben. Er selbst schlug gefangene Fürsten mit der Streitaxt nieder und ließ andere, darunter auch seine nächsten Verwandten, töten. Auch Chlodwigs Schwester ließ sich taufen – in der Frauengruppe zur Linken sieht man aufrichtige Hingebung und Andacht. Rechts vom Könige lassen sich seine Franken taufen, die meisten drängen sich ebenfalls andächtig zum heiligen Akt – doch auch den Trotz, der mißvergnügt sich abwendet, hat der Maler uns vorgeführt in dem bärtigen Krieger im Vordergrund. Vorn in der Mitte verbrennen zwei Geistliche die alten Fahnen und Feldzeichen der Franken, den Eber auf der Lanzenspitze, nach dem alten Ausspruch des Heiligen: Verbrenne, was du verehrt hast! Für den Raum, in welchem das folgenreiche Ereignis stattfand, bietet die Ueberlieferung keinen direkten Anhalt. Der Dom von Rheims ist ein gotischer Bau aus dem 14. Jahrhundert und die romanische Kirche St. Remy, wo lange Zeit die französischen Könige gekrönt wurden und wo die Gebeine des heiligen Remigius ruhen, stammt erst aus dem 10. Jahrhundert. Es war also der Phantasie des Malers überlassen, den architektonischen Hintergrund für die Gruppen seines ausdrucksvollen Bildes zu gestalten, und er entsprach den geschichtlichen Ueberlieferungen, wenn er die römische Basilika mit den Anfängen des byzantinischen Stils wählte; denn die Christen werden die damals herrschende Kirchenform auch in Gallien eingeführt haben. Nur hat der Maler sich die Licenz erlaubt, den Taufstein vor der Nische aufzustellen, in welcher der Altar steht, während er sonst meistens in den Seitenkapellen oder gesondert im Baptisterium zu stehen pflegt. Dadurch gewinnt aber der Hintergrund an Bedeutung für die Handlung selbst. †
Zur Gründung eines Grimm-Museums in Hanau ist bei Gelegenheit der schönen Feier zur Einweihung des Denkmals, das die Nation den Brüdern Grimm in ihrer Geburtsstadt gewidmet hat, der Plan gefaßt worden. Inzwischen ist daselbst ein Ausschuß zusammengetreten, welcher die Ausführung des Planes ins Werk setzen soll, und derselbe erläßt jetzt einen Aufruf, von dessen Inhalt auch wir gern unseren Lesern Mitteilung machen. Das geplante Grimm-Museum soll zur Aufgabe haben, die in den Händen Vieler weit verstreuten Erinnerungszeichen, welche für das Leben und Wirken der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm irgendwie Bedeutung haben, in einer Sammlung zu vereinigen. Briefe und Abbildungen von ihnen oder ihren Angehörigen, andere ihrer Handschriften, wie die Tagebücher und die Manuskripte ihrer Werke, sollen in geeigneten Räumen geordnete Aufstellung finden. Das Hanauer Grimm-Museum soll der pietätvollen Erinnerung an die genialen Begründer einer neuen Wissenschaft von unserer deutschen Vorzeit sowie der Forschung, die sich mit ihnen und ihrem Wirken beschäftigt, die gleichen Dienste leisten, welche das Goethe-Schiller-Archiv in Weimar in Bezug auf diese beiden großen Dichter unserer klassischen Zeit gewährt. Schon hat der Sohn Wilhelm Grimms, Professor Hermann Grimm in Berlin, eine Kapitalstiftung und eine Anzahl von Grimm-Erinnerungen dem Unternehmen zugesagt. Gewiß wird es in Hauau selbst nicht an dem nötigen Gemeinsinn und Idealismus fehlen, um die geeigneten Räume für das Museum zu schaffen. Die Verehrer des Brüderpaares im ganzen deutschen Volke werden anderseits zweifellos gern der Bitte des Ausschusses folgen: „Alles, was an Erinnerungszeichen jeder Art, die auf die Brüder Bezug haben oder von ihnen herrühren, sich in Privatbesitz befindet, dem zu bildenden Grimm-Museum zur Verfügung zu stellen.“ Die entsprechenden Sendungen sind an den Vorsitzenden des Ausschusses, Herrn Oberbürgermeister Dr. Gebeschus in Hanau, zu richten.
Zigeunerin auf der Wanderung. (Zu dem Bilde S. 853.) Arm wie eine Bettlerin und stolz wie eine Königin schreitet das braune Weib in der Mittagssonne ihren steinigen Wanderpfad. Auf dem Kopfe trägt sie ihr gesamtes Besitztum in dem flachen Weidenkorb; das schwarzlockige
[856] Kindlein hat sie mit festen Tüchern sich um die Hüften gebunden und nun zieht sie mit rüstigen Schritten der vorangefahrenen Horde nach, achtlos gegen die Mittagsonne, die auf der heißen Felsenwand brennt, den Wanderstecken in der Hand, ihren Hund zur Seite, eine echte Tochter des fahrenden Volkes, das die Freiheit allen andern Gütern vorzieht und sie gern mit Armut und Erniedrigung erkauft, aber dafür auch mit dem romantischen Schimmer umgeben ist, der von jeher Dichter und Maler unwiderstehlich anzieht. Bn.
Riesen- und Zwergpferde. (Mit Abbildung.) Unter die „Wunder der Tierwelt“, die so oft zur Schau gestellt werden, gehören auch Riesen- und Zwergtiere. Im Jahrgang 1889, Seite 46, hat Heinrich Leutemann eine Sammlung solcher abnorm gewachsener Tiere den Lesern der „Gartenlaube“ vorgeführt. Heute bringen wir wiederum die Abbildung eines Riesen- und eines Zwergpferdes. Beide Tiere, die 4½ Jahre alt sind, werden gegenwärtig in Berlin an der Fischerbrücke zur Schau gestellt. Der Zwergpony, eine schottische Fuchsstute, mißt nur 88 cm, während das Riesenpferd, ein stichelhaariger Rotfuchswallach schweren amerikanischen Schlages, im Widerrist 2 m 2 cm hoch ist. Ein Pferd mittleren Schlages wiegt im Durchschnitt etwa 7 Centner, dagegen ist unser Zwergpony nur 1½ Centner schwer, während das Gewicht des Riesenpferdes nahezu 21 Centner beträgt. Besonders auffallend sind die Größenmaße des Riesenpferdes. Die Länge des Leibes von den Ohren bis zur Schwanzwurzel mißt 2 m 50 cm, der Umfang des Bauches 2 m 70 cm, das Vorderbein zeigt oben einen Umfang von 65 cm, ist also stärker als ein kräftiger Männerschenkel, die Länge des Kopfes mißt von den Ohren bis zum oberen Lippenrand 90 cm, so daß das Tier, wenn es den Kopf in die Höhe richtet, über 3 m hoch ist. Die täglichen Futtermengen des Riesenpferdes betragen 30 Pfund Korn und 20 Pfund Heu.
Welche Ursachen bringen wohl unter den Tieren so abnorme Wachstumserscheinungen hervor? Von Natur neigt das Pferd, in kleinerem Mittelschlag zu bleiben. Wilde Pferdearten sind klein und verwilderte Pferde fallen gleichfalls in kleinere Rassen zurück. Die Pflege und Zucht des Menschen hat dagegen zahlreiche Riesenschläge hervorgebracht. In dieser Hinsicht sind besonders englische und flandrische Rassen berühmt: die Londoner Brauereipferde der Carthouserasse erreichen eine Höhe von 1 m 90 cm bis 1 m 94 cm; auch englische Vollblutpferde werden zuweilen bis 1 m 80 cm hoch. In den deutschen Alpen ist die Pinzgauer Rasse durch ihre Höhe auffällig, diese Pferde weisen 1 m 65 cm bis 1 m 70 cm Höhe auf. Sorgfältige Zuchtwahl, reichliche Ernährung und gute Pflege fördern überall das Wachstum und rufen Riesenschläge hervor. Das Temperament wird dadurch abgekühlt, denn feurige Rassen bleiben kleiner, so erreichen z. B. arabische Pferde nur eine Höhe von 1 m 48 cm bis 1 m 60 cm.
Was nun die Entstehung von Zwergpferden anbelangt, so dürfte dieselbe durch Verkümmerung oder Krankheit verursacht sein. Es giebt aber eine Einwirkung, unter welcher Tiere bei völlig harmonischer Entwicklung klein werden: diese Einwirkung besteht in dem Leben auf Inseln. In der That beherbergen viele Inseln ungemein kleine Pferde. Eduard Hahn giebt in seinem interessanten Werke „Die Haustiere. Eine geographische Studie“ (Leipzig, Duncker und Humblot) eine gedrängte Uebersicht des Vorkommens von Zwergpferden. Die Pferde von Irland und Island sind klein, noch viel kleiner aber die von der Insel Man, den Hebriden, Orkneys und den Shetlandsinseln. Zwergpferde findet man ferner auf Korsika und Sardinien, sie sind dort durchschnittlich bis 1 m hoch, „wie ein großer Hund“, wie der Reisende Maltzahn sich ausdrückt. Auch auf griechischen Inseln giebt es viele kleine Pferde von 1 m 18 cm bis 1 m 20 cm Höhe. Die Inseln anderer Weltteile zeigen vielfach dieselbe Erscheinung.
Die Einflüsse der Kultur und die Umgebung können auch in anderer Hinsicht verändernd auf die Entwicklung des Pferdes wirken. So bekommen z. B. Bergwerkspferde oft eine Behaarung, die an das Maulwurfsfell erinnert. Zahlreiche andere abnorme Erscheinungen, die man bei Pferden beobachtet hat, wie nackte Pferde, denen selbst Schwanz- und Mähnenhaare gänzlich fehlen, Pferde mit mehreren Zehen oder gar mit hornartigen Gewächsen auf dem Kopfe sind dagegen Mißbildungen, die durch Krankheiten hervorgerufen werden. *
Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (12. Fortsetzung). S. 841. – Victor Blüthgen. Bildnis. S. 841. – Die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig zu Rheims am Weihnachtstage des Jahres 496. Bild. S. 844 und 845. – Victor Blüthgen. Von Richard Weitbrecht. S. 846. Mit dem Bildnis S. 841. – Turandots Polterabend. Erzählung von Hans Arnold. S. 848. Mit Abbildungen S. 848, 849, 850 und 851. – Aus der Autographenwelt. Von Hans H. Busse. S. 852. – Zigeunerin auf der Wanderung. Bild. S. 853. – Blätter und Blüten: Ein Heldensohn Siebenbürgens (S. L. Roth). S. 855. – Eine Volksausgabe von Anzengrubers Gesammelten Werken. S. 855. – Die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig zu Rheims, Weihnachten 496. S. 855. (Zu dem Bilde S. 844 und 845.) – Zur Gründung eines Grimm-Museums in Hanau. S. 855. – Zigeunerin auf der Wanderung. S. 855. (Zu dem Bilde S. 853.) – Riesen- und Zwergpferde. Mit Abbildung. S. 856.
In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Band-Ausgabe der neuen Romanserie von W. Heimburg erscheint vollständig in 5 reich illustrierten Bänden zum Preise von je 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden und wird folgende Romane und Erzählungen enthalten:
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Beilage zu No 50. 1896.
Das Kaiserin Augusta-Denkmal in Koblenz. Am 15. Januar 1890, kurz nach dem Hinscheiden der Kaiserin Augusta, hatten die Vertreter der Stadt Koblenz, die der Monarchin so viel zu danken hat und in der sie so oft weilte, beschlossen, der „Samariterin auf dem Throne“ ein würdiges Denkmal zu errichten. Es wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem der Architekt Bruno Schmitz-Berlin und der Bildhauer Professor Moest-Karlsruhe als Sieger hervorgingen. Ihr gemeinsames Werk erhebt sich seit dem 18. Oktober d. J. am Pappelrondell in der Mitte der reizenden Koblenzer Rheinanlagen, deren Schöpfung das Werk der Hingeschiedenen war und die jetzt auch ihren Namen tragen. Das im Barockstil gehaltene Denkmal zeigt in der Mitte einen von Säulen getragenen Rundbau, den zwei Seitenwände flankieren. Der Mittelbau trägt eine zeltartige, mit Laubgewinden und Löwenköpfen sowie mit zwei gekrönten Adlern geschmückte Spitze, die nach oben die Kaiserkrone abschließt. Die Vorderseite dieses Mittelbaues stellt eine tiefe Nische dar, zu der Stufen emporführen und in der die aus weißem Marmor gemeißelte Gestalt der Kaiserin Augusta auf einem antiken Sessel sitzt. Ihr Haupt schmückt ein Diadem, von dem ein Schleier über Brust und Schultern niederwallt. Das etwas zur Seite geneigte Antlitz ist überaus lebensähnlich, sein Ausdruck mild und gütig.
In die unteren Flächen der beiden Seitenwände sind zwei Marmorreliefs eingefügt, die sich auf die Thätigkeit der Kaiserin im Dienste der leidenden Menschheit beziehen. Die übrigen Teile des Denkmals sind in hellem Sandstein ausgeführt. An den auswärtigen Pfeilerflächen beider Seitenwände speien Löwenköpfe Wasser in zwei übereinander liegende Becken. Auch die Rückseite des Mittelbaues stellt einen Laufbrunnen mit zwei großen Granitschalen und wasserspeienden Tierköpfen dar.
Vom Weihnachtsbüchertisch. Aus dem Nachlaß zweier Poeten, von denen gar manches Gedicht längst in den Liederschatz des deutschen Volkes übergegangen ist und deren Dichten sich bei aller Vorliebe für die klassische Formenwelt einer außerordentlichen Volkstümlichkeit erfreut, bietet der Cotta’sche Verlag in Stuttgart Gedichtsammlungen dar, die sich hervorragend zu Christgeschenken eignen. „Gedichte von Emnuuel Geibel. Aus dem Nachlaß“ lautet der Titel des einen Bandes. Zahlreiche Jugendgedichte, in denen der Duft von Geibels Liebesfrühliug webt, finden sich hier mit schwungvollen Oden und Hymnen, geistvollen Epigrammen und markigen Zeitgedichten voll begeisterter Vaterlandsliebe vereinigt. Den anderen Band „Von Tag zu Tage. Dichtungen von Otto Roquette“ hat Ludwig Fulda aus dem Nachlaß des Dichters von „Waldmeisters Brautfahrt“ herausgegeben. Unter dem Titel „Von Tag zu Tage“ führte Roquette ein poetisches Tagebuch in kurzen Sprüchen. Diese von Geist und Humor erfüllte Geheimchronik seines inneren Lebens wird in dem Bande ergänzt durch empfindungsfrische Lieder in allerlei Tönen und aus allen Lebensphasen des Dichters. Vier Erzählungen in Versen und das poesievolle Drama „Lanzelot“ bilden den Schluß. Die neue Lieferungsausgabe von Friedrich Rückerts Werken, welche der gleiche Verlag erscheinen ließ, ist rechtzeitig zum Abschluß gelangt, um den diesjährigen Weihnachtsmarkt als gewiß Tausenden hochwillkommenes Geschenk zu bereichern. Diese wohlfeile, von dem leider so früh verstorbenen Ludwig Laistner mit ebensoviel Sorgfalt wie Geschmack besorgte Rückertausgabe, die alles zusammenfaßt, worauf sich Rückerts unsterblicher Dichterruhm gründet, birgt in ihren sechs Bänden einen unerschöpflichen Schatz von erfrischender Poesie und erhebender Weisheit. Ein zeitgenössischer Dichter, dessen Name auch im Reiche der Lyrik gar guten Klang hat, Ernst Eckstein, legt in dem originell ausgestatteten Band „Ebbe und Flut“ (Dresden, Reißner) eine Auswahl des Besten vor, was er in rein lyrischer Form geschaffen. Alte gute Bekannte mit Neuem vereinigt auch Edwin Bormanns „Humoristischer Hausschatz“ (Leipzig, Selbstverlag), dessen Inhalt ganz dem besonderen humoristischen Element angehört, durch dessen Pflege Bormanns Muse ihre große Beliebtheit errang. Auf einen ernsteren Ton ist die Leier Adolf Briegers gestimmt, dessen „Ausgewählte Gedichte“ (Großenhain, Baumert und Ronge) so viel des Schönempfundenen und Schöngestalteten enthalten, daß sie die wärmste Empfehlung verdienen; das Gleiche gilt von den „Ausgewählten Gedichten“ R. Zoozmanns (Leipzig, Friesenhahn) und der Sammlung „Im Morgenlicht“ von Wilhelm Langewiesche, dem hübschen Liederbüchlein „Unkraut“ von Hermann Freise mit seinem klangreichen Inhalt (Metz, G. Scriba). Im 5. Band seiner nun in 6 Bänden abgeschlossen vorliegenden „Sämtlichen Werke“ reicht H. Allmers, der gefeierte Autor des „Marschenbuchs“ und der „Römischen Schlendertage“, einen vollen Strauß seiner in Nord und Süd erblühten Lyrik dar (Oldenburg, Schulze). Aus Allmers’ Heimat kommt uns auch das „Album oldenburgischer Dichter“, herausgegeben von Franz Poppe (ebenda) zu; es faßt gleich dem neuen Jahrbuch des Scheffelbundes „Nicht rasten und nicht rosten“, dessen Leitung jetzt Oskar Pach übernommen hat (Stuttgart, Bonz), die Beiträge Vieler zusammen. Schon mehr literarhistorischen Charakters ist die fleißige und originelle Arbeit A. Holders: „Geschichte der schwäbischen Dialektdichtung“ (Heilbronn, Max Kielmann), da sie neben den Charakteristiken und Bildnissen der zahlreichen schwäbischen Dichter, die sich des Dialekts ihrer Heimat bedienten, auch vielerlei Proben ihrer Dichtung enthält. Als eine Ergänzung zu jeder deutschen Litteraturgeschichte ist der Könneckesche „Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationallitteraturgeschichte“ längst geschätzt, dessen zweite vermehrte Auflage eben erschien (Marburg, Elwert). In der gediegenen Ausstattung der L. Lewesschen Bände „Goethes Frauengestalten“ und „Shakespeares Frauengestalten“ bietet der Krabbesche Verlag in Stuttgart ein ähnliches Werk über Schillern „Schillers Frauengestalten“ von Julius Burggraf dar, eine ansprechende Darstellung von Schillers Leben und Schaffen unter dem hier gegebenen Gesichtspunkt. Den ersten Band einer Sammlung illustrierter Litteraturgeschichten bildet R. Wülckers „Geschichte der englischen Litteratur“ (Leipzig, Bibliogr. Jnstitut), deren Bilderschmuck ebenso instruktiv wie ansprechend ist, während der Text wissenschaftlichen Wert mit anschaulicher Darstellung verbindet. Die Aufgabe, der deutschen Lesewelt das Beste der Romanlitteratur des In- und Auslands, besonders der englischen und französischen, in sorgfältiger Auswahl zu vermitteln, wird von Engelhorns „Allgemeiner Romanbibliothek“ in wahrhaft beifallswürdiger Weise gelöst. Wir haben schon früher auf die Vorzüge dieses Unternehmens hingewiesen. Auch die letzten Jahrgänge, deren 13. noch im Erscheinen begriffen ist, enthalten eine große Zahl durchweg interessanter Romane, von denen verschiedene in der zu Geschenken besonders geeigneten „Salonausgabe“ vorliegen.
Konrad T in Oldenburg. Die in der Reichsdruckerei hergestellte Heliogravüre des Bildes „Niemand zu Liebe, niemand zu Leide“ von Kaiser Wilhelm II. (vgl. die Beilage zu Nr. 43 der „Gartenlaube“) ist durch die Hofkunsthandlung von Amsler & Ruthardt in Berlin W zu beziehen, welcher der Vertrieb dieses Kunstblattes übertragen worden ist.
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