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Die Gartenlaube (1896)/Heft 51

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[857]

Nr. 51.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (13. Fortsetzung.)

16.

Die letzten, schräg fallenden Strahlen der Sonne lassen die goldenen Inschriften der Denkmäler, die den Friedhof schmücken, hell aufleuchten und erhöhen die Farbenpracht der zahllosen Blüten, welche diesen Thränenacker in einen Blumengarten verwandeln.

Ein köstlicher Augustabend ist’s – kein Lüftchen rührt sich, Reseda und Levkojen erfüllen die Luft mit schier berauschendem Duft und das Summen der Insekten ist fast der einzige Ton, der in diesen Frieden dringt.

An einem Grabe, das, eingeschlossen von einem grünumrankten Gitter, etwas abseits von den breiten Wegen liegt, ist Lisbeth eben beschäftigt, die abgeblühten Pflanzen herauszunehmen und durch frische zu ersetzen, die neue Blumen versprechen. Sie arbeitet schon längere Zeit dort, hat das Unkraut ausgejätet, die Erde gelockert; nun sputet sie sich, denn die Sonne sinkt und mahnt zur Heimkehr. Von ihrer Beschäftigung ganz in Anspruch genommen, achtet sie auf die Vorübergehenden nicht und bemerkt auch den Herrn nicht, der langsam den Weg bis zu diesem Platze zurückgelegt hat und sich nun, den Hut von dem vollen, blonden Haare nehmend, ans Gitter lehnt. Sein Schatten fällt über den sonnenbeschienenen Platz und läßt Lisbeth aufsehen, und ihr schon von der Arbeit erhitztes Antlitz errötet noch tiefer bei seinem Anblick.

„Welche Ueberraschung!“ sagt sie, indem sie sich von den Knieen erhebt, „seien Sie gegrüßt, Arnold! Wie kommen Sie hierher? Sie wurden noch lange nicht erwartet.“ Und damit öffnet sie die Thür des Gitters und reicht ihm die nun von der feuchten Erde gesäuberte Hand mit herzlichem Lächeln hin.

Er tritt ein, beugt sich, indem er mit der Rechten den Rasen berührt, einen Augenblick über den Hügel und nimmt dann auf dem Bänkchen Platz.

„Mein Urlaub,“ begann er, „sollte erst Mitte nächsten Monats anfangen, aber ich hatte Gelegenheit, durch einen Tausch mit einem Kollegen diesem noch einen Gefallen zu thun, also reiste ich natürlich sobald als möglich ab und vor einer Stunde bin ich hier angekommen. Acht Monate sind es her, daß ich fortging, eine lange Zeit!“

Sie nickte.

„Und was sagte denn das Liesel?“ fragte sie mit erwartungsvollem Stolz in den Mienen.

Er lächelte.

„Sie kreischte entsetzlich,“ antwortete er, „als ich sie von ihrem Stühlchen aufhob und küßte, und schrie immerfort: Tata Lisi, Tata Lisi! – und Mutter sagt, das sei ihr Hilferuf in allen Nöten.“

Lisbeth hatte die letzten Blumenstauden noch eilig in die Erde gedrückt, nun rieb sie die Hände ab, zog die Handschuhe an und ergriff das Körbchen.

„Ich sehe Sie heute noch,“ sagte sie freundlich, „denn ich möchte doch auch hören, was Sie uns von Ihrem Leben in Berlin zu erzählen haben. Aber jetzt will ich gehen, es ist selbstverständlich, daß Sie hier allein sein möchten.“

„Aber, Lisbeth,“ rief er lebhaft, indem er sich erhob, „wie können Sie das sagen! Wann sind wir einander je zuviel gewesen? – und hier doch ganz gewiß nicht! In meinen Gedanken und nach dem Herzen derer, die hier ruht, gehören wir drei immer zusammen. Lassen Sie uns noch ein wenig niedersetzen und dann gehen wir gemeinsam fort.“ –

Sie setzten sich nieder auf die schmale Bank nebeneinander und er blickte gedankenvoll vor sich hin.

„Wie oft haben wir früher uns als Kinder unter diesen alten Bäumen herumgetrieben! – Es ist eigentümlich,“ fuhr er nach kurzem Stillschweigen

Die Bacchusecke im „Rosenkranz“ des Hamburger Ratskellers.
Nach einer Originalzeichnung von H. Haase.

[858] fort, „seit meine kleine Frau nicht mehr bei mir ist, verschwindet die kurze Zeit unserer Ehe immer mehr aus meinem Gedächtnisse, und in meiner Erinnerung lebt Gertrud als das, was sie mir ja auch die längste Zeit ihres Lebens war, als meine liebevolle, treue, aufopfernde Schwester.“

„Die brüderliche Liebe eines ganzen Lebens hätte sie nicht so beglückt wie die kurzen Jahre, in denen aus dem Bruder der Geliebte und dann der Gatte wurde,“ erwiderte Lisbeth mit dem Ton vollster Ueberzeugung.

„Ja,“ sagte er ernst, „dem war so, sie hat mich unendlich lieb gehabt und ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mir vergönnt war, ihr kurzes Leben so reich zu gestalten. Es ist sonderbar mit den Lebenswegen! Wir müssen den aufgeben, den wir am liebsten gehen möchten, um dann auf einem anderen doch auch wieder Glück zu finden, nur ein anderes, als wir zuerst hofften!“

Lisbeth sah ihn verwundert an; er brach ab und fügte erst nach einer Weile hinzu:

„Sie haben diese Erfahrung auch an Ihrem Bruder gemacht. Den Weg zum Glück, den er gegangen ist, hätte er auch freiwillig nie gewählt. Und ich hörte schon mit dem herzlichsten Interesse von meinen Eltern, welche reiche Quelle der Freude sein Ergehen jetzt Ihnen geworden ist.“

Mit ganz verklärtem Gesichtsausdruck schaute Lisbeth bei diesem Lobe ihres Bruders ihn an.

„Ich bin vor einigen Wochen erst von dem Besuch bei unserem jungen Ehepaare zurückgekehrt,“ sagte sie, „und ich kann behaupten, der kurze Aufenthalt dort ist fast die schönste Erinnerung meines Lebens.“

„Erzählen Sie doch!“

„Ach, das läßt sich ja kaum beschreiben, wie diese beiden Menschen zusammen leben, und wer es nicht selbst gesehen hat, was unsere kleine Annie aus ihrem Leo gemacht hat, der kennt ihn in meinen Berichten auch gar nicht wieder. Er ist eben ein ganz anderer Mensch geworden!“

„Die Hochzeit folgte so schnell der Verlobung; sie verstanden es wirklich, zu überraschen.“

„Ja, das war alles Annies Bestimmung. Sie war durchaus der Ansicht, daß Leo sie in der ersten Zeit an dem fremden Ort am nötigsten brauche, fand es ganz lächerlich, wenn man daran dachte, daß für sie doch auch gewisse Zurüstungen erst gemacht werden müßten, und hat denn auch alles in diesem Sinne durchgeführt. Nun hat sie sich auch wirklich eigenhändig ihr Heim dort geschaffen.“

„Es ist ein ganz kleines Städtchen, das ihnen Ersatz für so vieles bieten muß, was sie vorher in Fülle besessen!“

„Sie kennen die Stadt? Nun, dann wissen Sie, daß man eigentlich an einen jämmerlicheren Ort und in kleinere Verhältnisse gar nicht kommen kann.“

„Hat er Dienstwohnung?“

„Ja. Ein Häuschen, wie es hier kaum ein Handwerker bewohnen würde! Annie hat freilich innen ein Puppenhäuschen an Zierlichkeit daraus gemacht, aber es ist auch ein Puppenhäuschen an Kleinheit, man wundert sich ordentlich, daß so viel Liebe und so viel Glück darin Platz haben. Es sollte übrigens ausgebaut werden, das war ihm bei der Wahl versprochen worden; aber Leo findet, daß die Stadt so viel dringendere Ausgaben hat, und verzichtet. Ueberhaupt, wie die beiden Menschen mit Hintansetzung der eigenen Annehmlichkeiten für das Gemeinwohl sorgen, das ist geradezu erquickend zu beobachten! Wie hat sich Leos Herz erweitert! Wie hat sich sein Charakter geklärt und gekräftigt, seit ihn damals das Unglück traf! Er wird in Wahrheit einmal der Vater jener Stadt, wenn er so weiter wirkt. Und die kleine Frau immer neben ihm, immer ihm zur Seite, und wer ihr Gespräch belauscht, wenn sie zusammenhocken wie die Turteltauben, der hört die höchst ernsthafte Erwägung der Frage, ob’ die Verbesserung des Armenhauses oder der Umbau der Gemeindeschule oder sonst etwas derart am notwendigsten sei.“

„Wer hätte das wohl Leo in früheren Tagen zugetraut! Wahrlich, er hat sich zu bescheiden gelernt! Aber man sieht es wieder, wie eine für uns passende Stellung auch Fähigkeiten in uns entwickelt, von deren Dasein niemand, ja wir selber nicht, eine Ahnung hatte.“

„Nun, diese Umwandlung seiner Lebensausichten und Ziele verdankt er wohl vor allem seiner Annie und deren trefflichen Eltern. In einer Zeit, in der die ganze Welt ihn niederdrückte und er sich völlig verloren gab, haben jene ihn aufgerichtet und ihm nicht nur neue Lebensziele, sondern auch die Mittel und Wege dazu gezeigt. Dafür ist er ihnen aber auch in unbegrenzter Liebe ergeben.“

Sie waren unter diesen Gesprächen über den Friedhof gegangen und schritten nun einen Pfad entlang, der durch grüne Wiesen führte.

Man hatte den zweiten Schnitt gemäht, das frische Heu lag in Häufchen zusammengeharkt und ein leiser, feiner, würziger Duft stieg davon auf in die klare Abendluft.

„Wie freue ich mich um Ihretwillen, Lisbeth, dieser guten Nachrichten!“ fuhr Arnold weiter fort, indem er herzlich zu ihr aufblickte. „Ihr treues Schwesterherz hat wahrhaftig das alles wohl verdient!“

„Ja wirklich, der bloße Gedanke an Leo und Annie ist mir eine wahre Herzenserquickung,“ antwortete sie, „es ist ein Gegengewicht gegen anderes, denn, Arnold, wir sind drei Geschwister und –“

„Da giebt’s immer Grund zur Sorge, wollen Sie sagen. Freilich, Frau Elfe – “

„Hörten Sie etwas von meiner Schwester in Berlin?“ unterbrach Lisbeth ihn hastig.

„Nicht gerade viel, aber dann und wann hörte ich doch einmal, daß Ihre Elfe nicht glücklich sei.“

Lisbeths Augen waren gespannt auf ihn gerichtet.

„O, beruhigen Sie sich, man sagt Ihrer Schwester nichts Schlimmes nach. Man bedauert sie, aber Walden auch, denn offenbar passen sie zu einander gar nicht. Im Frühling hieß es sogar, daß sie sich trennen wollten, aber – – –“

„Nein,“ sagte Lisbeth schnell, „das ist – gottlob – ein überwundener Standpunkt. Elfe wollte es, aber meine Eltern blieben fest dagegen und Walden verweigerte es ebenfalls.“ Sie seufzte tief. „Glück haben wir für sie wohl nicht mehr zu erwarten, aber vielleicht doch Frieden, wenn sie älter und ruhiger sein wird. Freilich, die Hauptsache wird ihnen immer fehlen – die echte, rechte Liebe!“

„Ja,“ erwiderte er, „Sie haben nur zu sehr recht. Das habe ich selbst in vielen schweren Stunden schmerzlich genug empfunden. Die echte, rechte Liebe allein sollte einen Ehebund zusammenhalten, freilich dürfte auch sie allein ihn nur schließen! Ich habe so viel über diese Dinge nachgedacht, weil ich mich doch auch von dem Fehler, aus einem anderen Grunde ein Menschenschicksal an das meine gebunden zu haben, nicht freisprechen konnte.“

Lisbeth sah ihn erschreckt an und sagte dann, in dem sichtlichen Verlangen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben:

„Man soll nicht zu viel über Vergangenes grübeln. Sie haben Gertrud unendlich beglückt und waren es selbst doch auch – vor ihrer Krankheit! Also ist Ihre Ehe eine von den rechten und echten gewesen.“

„Nein,“ sagte er, „so war es doch wohl nicht, und ich bin mir dessen die ganze Zeit bewußt geblieben. Ich habe für Gertrud nicht anders empfunden, als ein Bruder für eine liebe Schwester empfindet, und ich habe sie auch nicht einmal deshalb geheiratet, weil ihr Empfinden für mich meine Eitelkeit oder mein Mitleid weckte, sondern wohl deshalb nur, weil ich da, wo ich wahrhaft liebte, mich zurückgestoßen und tief verletzt fühlte. Eine thörichte Rache, wie ich nur zu bald einsah! Daß ich später meine Pflicht erfüllte, daß ich alles that, um meine Frau glücklich zu machen, konnte mich über das Gefühl nicht hinwegbringen, daß ich ein Unrecht gegen Gertrud wie gegen mich selbst und am schwersten gegen eine Dritte begangen.“

Lisbeth hatte den Kopf abgewandt, damit er ihr nicht ins Gesicht sehen könnte, und ab und zu bückte sie sich nieder und pflückte am Wegrain eine Blüte oder ein Blättchen. Er sah nach ihr hin, als erwartete er eine Entgegnung; nun sie kein Wort erwiderte, nahm er nach einer Weile das Wort wieder auf:

„Daß man in der Jugend sich so gar nicht in die Seele anderer versetzen kann, daß man durchaus verlangt, verstanden zu werden, während man eben diese anderen doch gar nicht versteht! Wie weich, wie biegsam, wie liebevoll war Ihr Gemüt, und Sie [859] wollte ich energisch, entschlossen, gefestigt gegen äußeren Einfluß sehen! Wollte, Sie sollten zu mir stehen gegen alle, die mich empfindlichen Burschen vielleicht ganz ahnungslos verletzten und demütigten, und verurteilte Sie, wenn Sie dem natürlichen Zuge Ihres Herzens folgten und Ihren Eltern gehorsam waren, als lieblos und hochmütig!“

Nun sah sie doch auf und ihm ernst in die Augen.

„Lieblos und hochmütig, – nein, das war ich wohl nicht, aber viel zu unselbständig in meinem Urteil und Handeln, ein schwacher Charakter, schwankend und leicht zu beeinflussen. Ihr Römers – wie oft habe ich das schon dankbar empfunden – habt mich durch euer Beispiel ja eigentlich erst erzogen!“

„Lisbeth,“ sagte er warm und griff nach ihrer Hand, „die edelste, reinste, großmütigste bist Du doch immer gewesen, und jetzt erscheint dem Manne die Weichheit und Biegsamkeit Deines Wesens ebenso entzückend wie sie dem Jüngling verletzend war!“

„Jetzt, nachdem sie verschwunden ist,“ hauchte sie, leise erbebend.

„O, das ist sie nicht! Im Grunde Deiner Seele liegt noch immer das Bedürfnis, sich anzulehnen, sich dem unterzuordnen, dem Du völlig vertraust! Nur gefestigter bist Du, nur entschlossener, auch dafür einzutreten, was Du empfindest. Lisbeth, wirst Du nun den Mut haben, Deinen Eltern und aller Welt unsere Liebe, die trotz allem doch immer die gleiche blieb, einzugestehen?“

„Arnold!?“

Sie zuckte zusammen und sah ihn erschreckt an.

„Erinnerst Du Dich der Stunde, wo Du, damals noch ein Schulmädchen, dem Primaner in die Hand versprachst, was das Leben auch bringen möge, nie Dein Herz von ihm zu wenden und einst sein zu werden, wenn auch Jahre und Jahre darüber vergehen müßten? Erinnerst Du Dich noch dessen? Sieh, es war gerade wie heute solch’ ein rosiger Abendhimmel über uns, und die Sterne, die dort am Firmament blinken, sind auch dieselben, die unsere so heiß empfundenen Schwüre hörten. Damals mußten wir uns sagen lassen, daß diese Liebe schnell vergehen würde, und nun lebt sie heute unverändert, so stark und fest als je in unseren Herzen. Willst Du mir Dein Wort einlösen? – willst Du die Meine werden, Lisbeth?“

Sie stand vor ihm mit gesenkten Augen und wogender Brust. Er legte leise den Arm um ihre Schulter und zog sie sanft an sich. Da wandte sie die Augen zu ihm empor.

„Ja, ich will, Arnold, und Gott helfe mir, daß ich Dich glücklich mache! Du fragst mich nicht, ob ich Dich liebe, weil Du es weißt. Und ich wußte es auch längst, daß diese Stunde einst schlagen werde; Gertrud hatte es mir gesagt. – – Ihr Geist, Arnold, ist jetzt mit seinem Segen bei uns!“

Er zog seine Brieftasche hervor, entnahm derselben ein Papier und reichte es ihr.

„Ein Brief von Gertrud an uns beide. Er ist in den letzten Tagen ihres Lebens geschrieben, ich fand ihn nach ihrem Tode in ihrer Schreibmappe.“

Und wie er Lisbeth denselben hastig entfalten sieht, schlingt er den Arm um sie und drückt, während ihr im Lesen heiße Thränen auf das Blatt fallen, ihren Kopf innig an seine Brust.

„Wir wollen das Andenken an unsere Gertrud immer pflegen und hochhalten, Geliebte,“ sagte er leise, „aber wir dürfen auch dem folgen, was sie hier selbst für uns wünscht!“

Lisbeth trocknete die. Thränen und richtete sich in die Höhe, ein seliges Lächeln lag jetzt über ihren Zügen.

„O, wie bin ich reich,“ rief sie und breitete die Arme gen Himmel. „Du gehörst nun mir, Du mein Einziggeliebter, Du – und Dein Liesel!“

„Und nun komm’ zu den Eltern,“ sagte er, „und zu unserm Kind!“

*               *
*

Als Lisbeth nach Hause kam, fand sie ihren Vater nicht vor, und wenn sie ihn auch unendlich gern bei der Aussprache, die sie nicht aufgeschoben haben wollte, an ihrer Seite gesehen hätte, so mußte sie der Mutter doch gleich Mitteilung von dem Geschehenen machen, anders ließ es ihr Herz gar nicht zu.

Die Geheimrätin saß in einem Sessel bei der Lampe und las so eifrig die Abendzeitung, daß sie Lisbeths Eintritt nicht bemerkte. Mit leichten Schritten ging diese auf sie zu, kniete auf das Fußkissen vor ihr hin, schlang zärtlich ihre Arme um sie und blickte innig zu ihr auf.

„Du mußt die Zeitung fortlegen, Mama, ich habe Dir so viel zu sagen!“

Die Geheimrätin sah sie verwundert an, schob das Blatt fort und erwiderte die Liebkosung, indem sie Lisbeths Schulter streichelnd umfaßte.

„Nun, mein Kind, was giebt’s? Du siehst ja so strahlend aus!“

„Ich habe mich mit Arnold Römer verlobt. Freue Dich über mein großes Glück und gieb uns Deine Einwilligung!“

„Um Gotteswillcn,“ unterbrach die Geheimrätin sie und lehnte sich erschreckt gleich in den Sessel zurück, „wie kannst Du so etwas sagen? – und so laut es aussprechen! – Ich denke, er ist in Berlin! – Er schrieb Dir also?“

„Nein, seit heute ist er hier – und, Mamachen, es kann Dich doch eigentlich gar nicht so sehr überraschen – Du weißt es doch – ein Mutterauge sieht ja scharf – daß ich ihn seit meiner frühesten Jugend im Herzen trage! Sage ‚Ja‘, Mamachen, und laß uns zusammen glücklich werden!“

„Aber, Lisbeth,“ rief die Geheimrätin mit vor Aufregung zitternder Stimme, „das ist ganz unmöglich, solch’ einen Schritt überlegt man doch nach allen Seiten! Wie kann ich meine Einwilligung geben, ehe ich weiß, wie Papa darüber denkt! Uns ist dieser – Herr Römer doch auch ein ganz fremder Mensch! Wir kennen ihn nicht, wissen nichts von ihm. Lebt er denn in solchen Verhältnissen, daß er Dich heiraten kann? Was ist er jetzt eigentlich? Und was hat er für einen Titel?“

„Was er für einen Titel hat?“ wiederholte Lisbeth, auf deren glückselige, himmelhoch jauchzende Stimmung diese Betrachtungen der Mutter gleich einem kalten Wasserstrahl wirkten, „was er für einen Titel hat?“ wiederholte sie noch einmal und erhob sich von dem Kissen, „ja, – darüber kann ich Dir wirklich keine genaue Auskunft geben. – Ich denke – aber sicher weiß ich es nicht –“

„Das weißt Du nicht einmal?“ unterbrach die Geheimrätin sie voll Erstaunen und mit aufsteigender Entrüstung, „und da erschreckst Du mich durch die Mitteilung, Du wollest ihn heiraten und Du habest immer Interesse für ihn gehabt! Dir kann doch unmöglich gleichgültig sein, was der Mann Deiner Wahl ist und was er in der Welt vorstellt! Und dann, Kind – bedenkst Du es denn gar nicht! – seine Frau ist noch nicht einmal ein Jahr tot und da hat er sie schon vergessen! Was würden die Leute zu dieser Pietätlosigkeit sagen!“

„Gertrud ist freilich erst vor acht Monaten gestorben, Mama, aber das ändert nichts. Wir werden sie nie vergessen, nie – darum war es für unsere Aussprache gleichgültig, ob das erste Jahr vorüber ist oder nicht. Aber Hochzeit wollen wir allerdings erst nach Ablauf des Trauerjahres halten. Nicht der Leute, sondern der kleinen Liesel wegen – ihr Kind könnte das vielleicht einmal nicht verstehen.“

„So, an Hochzeit habt ihr auch schon gedacht?“ sagte mit spöttischem Lachen die Frau Geheimrat. „Was ihr für moderne Leute seid! Das Urteil der Menschen ist gleichgültig, die Eltern empfangen erst die Mitteilung von der vollendeten Thatsache, und man muß sich für die zarte Rücksicht noch bedanken, daß es wenigstens nur die Thatsache der Verlobung, nicht die der vollzogenen Heirat ist!“

„Liebe Mama,“ sagte Lisbeth ruhig, „laß uns das Gespräch abbrechen und erlaube, daß ich mich in mein Zimmer zurückziehe. Arnold wird morgen Papa aufsuchen und mit euch Rücksprache nehmen, vielleicht führt er unsere Sache besser als ich es verstanden habe,“ und die Hand der Mutter zum Abschied küssend, ging sie schnell zur Thüre hinaus.

(Schluß folgt.)


[860]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Im Ratskeller zu Hamburg.

Von Gustav Kopal.
Mit Illustrationen von H. Haase.

Der alte Bachus vom Einbeckschen Hause.

Das soll ja die jüngste großartige Sehenswürdigkeit eurer Stadt sein, der Weinkeller im neuen Rathause,“ meinte der von „drüben“ heimgekehrte Freund, den ich mit dem Hamburg der Gegenwart bekannt machte. „Aber mit den beiden älteren Freien und Hansestädten auf diesem Gebiet in den Wettbewerb zu treten, werdet ihr doch wohl kaum vermögen!“

„Alle Hochachtung vor den Ratskellern der Schwesterstädte!“ gab ich zu. „Bremens unschätzbare ,Rose‘ nebst den ,Aposteln‘ steht jedenfalls einzig in ihrer Art da, ebenso Lübecks Keller, wo tief gebräunt die Eichentafel steht aus unsres letzten Kriegsschiffs Planken, umschwebt von den Schatten hansischer Seehelden, die hier ihre Stammplätze wieder aufsuchen – wie dies Geibel so schön ausgeführt hat. Ach, auch wir in Hamburg hatten unseren geschichtlichen Ratsweinkeller! Im Eimbeckschen Hause befand er sich bis zum Jahre des Unheils 1842, und manches Mutterfaß goldigen Rheinweins lag dort unter Eines Ehrbaren Rates Obhut. Da zerstörte in vier schrecklichen Tagen der große Brand den Kern der Altstadt, und fast nichts wurde gerettet von jenen Schätzen. Eine Ausnahme macht der wackere Bacchus, den ich Dir hiermit vorstelle.“

Wir waren durch den Eingang zum Keller an der Großen Johannisstraße getreten, dessen Eisengitter unser Bild S. 862 noch geschlossen aufweist. In den Vormittagsstunden wird es geöffnet und gestattet dann auch den Vorübergehenden den Blick auf den biedern Weingott, der hier selig lächelnd den Römer in seiner Rechten betrachtet. Ihn schuf der schwedische Bildhauer Manstadt um die Mitte des 18. Jahrhunderts.

„Wohl darf er sich freuen, der alte Herr,“ bemerkte ich, „daß er endlich aus der halbhundertjährigen Abgeschiedenheit des Museums wieder einziehen durfte in ein Reich voll Glanz und Herrlichkeit. Denn das bot ihm das neue Rathaus, an dem die wohlhabende Stadt wahrlich nichts gespart hat. Auf 4 600 000 Mark lautete der Kostenanschlag der Baupläne, aber seit der Grundsteinlegung am 6. Mai 1886 sind nun schon 10 Millionen glücklich hineingesteckt, und viel ist noch zur weiteren Ausschmückung des Prachtbaues erforderlich. Wie äußerst sparsam auch in mancher anderen Beziehung die Väter unserer Stadt sein mögen, die Rathausbaukommission hat das unmöglich Scheinende möglich gemacht, einen Wettstreit zwischen Senat und Bürgerschaft entfacht, wer zuerst und am meisten bewilligen konnte. Das war unerhört in Hamburg!“

Wir gingen die gewundene Steintreppe hinab und überblickten von der „Rosenkranzgalerie“ aus die erste große Halle, deren in Hamburg bereits gebräuchlich gewordene Bezeichnung „die bunte Kuh“ den Fremden seltsam anmutet. So hieß ein stolzes Orlogschiff, auf dem Simon von Utrecht befahl, als im grimmen Gefecht Hamburgs Flotte diejenige des Seeräuberhäuptlings Claus Störtebeker besiegte. Begeistert pries damals das Volkslied in ganz Niederdeutschland „die bunte Kuh von Flandern“ mit den starken Hörnern, die den Schrecken der Meere zu fassen wußten, und dem tapfern Simon von Utrecht ward eine einzig dastehende Auszeichnung zu teil, die Ernennung zum Ehrenbürgermeister von Hamburg. Eine Nachbildung seines Admiralschiffes hängt hier von der Decke herab. Es blickt oft genug auf zahlreiche Gruppen froher kluger Zecher, wie sie unser Bild auf Seite 861 zeigt, denn hier läßt sich’s wohl sein in den Räumen, für deren herrliche Ausstattung die Kunst alles gethan hat, was in ihren Kräften stand! Baumeister, Bildhauer und Maler wetteiferten miteinander. Zu den von der Tiroler Glasmalerei in Innsbruck ausgeführten prächtigen Fenstern der Halle der „bunten Kuh“ hat unser Landsmann Allers die Vorwürfe geschaffen. Drei Hamburgische Seehelden alter Zeit sind die Hauptgestalten, neben Simon von Utrecht noch Ditmar Koel, Bürgermeister und Admiral, sowie der tapfere und bis zum Tode auf brennendem Schiffe treu ausharrende Kapitän Karpfanger. Ereignisse aus ihrem Leben, Spruchbänder und Wappen, Städteansichten aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert schließen sich an; launige Scenen aus Hamburgs Wasser- und Straßenleben, ebenfalls von Allers gemalt, zieren die Getäfel der Fensterzellen.

Die Remterlaube.

Doch wie kalt bleibt die Beschreibung hinter dem lebendigen Eindruck zurück, der den Beschauer sowohl hier wie namentlich beim Weiterschreiten znm üppig ausgestatteten „Remter“ gefangen nimmt! Dessen gewahr wurde auch bald mein überseeischer Freund. Er pries begeistert die reizvollen Durchblicke, die Galerien, die Treppen und Treppchen, wo in jeder Ecke, aus jedem Wandfelde neuer Schmuck auftaucht.

Der Remter – das altdeutsche Wort ist aus refectorium, Speisesaal, entstanden – verdankt seinen Schmuck dem Bremer Maler Arthur Fitger, der auch im Bremer Ratskeller das große „Bacchusfest“ schuf. Hier in Hamburg vereinte er zu einem Hauptbilde, dem „Trinker-Parnaß“, gar manche wohlbekannte Gestalten: dem das große Wort führenden Sir John Falstaff lauschen der flotte Studiosus Hieronimus Jobs mit dem Renommierhund, ferner König Wenzel von Böhmen, der Krone und Reich vertrank, der Pirat Störtebeker (Stürzebecher, so genannt, weil er auch als Zecher fast ohnegleichen war), Sokrates (der nicht Niederzutrinkende), Lucullus mit der Auster in

[861]

„Die bunte Kuh von Flandern“ im Hamburger Ratskeller.
Nach dem Leben gezeichnet von H. Haase.

[862] der Hand, der Prälat Fugger mit der Orvietoflasche (bei Orvieto gedeiht im „Est Est Est“ der köstliche Wein, dem jener Zecher erlag) und der Bruder Karthäuser; zur Seite zwei Met zechende Germanen, zu Falstaffs Füßen Perkeo, der Zwerg; auf der anderen Seite Noah, ihm zu Füßen als Andeutung des Wunsches, daß jeder Trunk hier gut bekommen möge, ein jämmerlich ertrunkenes Kätzlein.

Der Eingang zum Keller.

Von den vielen Nebenbildern im Remter, sämtlich Fitgersche Schöpfungen, seien hier nur die Dichtergestalten nebst den unsterblichen Versen aus ihren Gesängen zum Preise des Weines und der Liebe hervorgehoben:

König David:

„Der Wem erfreut des Menschen Herz.“

Hafis:

„Laß, wenn die Rosen blühen, das Glas nicht aus der Hand.“

Anakreon mit Bathyllos:

„Wenn ich den Wein getrunken, verschwinden mir die Sorgen.“

Horaz mit Lalage:

„Genieße das Heute, wer weiß, was das Morgen dir bringt.“

Mathias Claudius:

„Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsre Reben.“

Das Selbstbildnis des Malers, das ihn als altdeutschen Würdenträger mit Pelzschaube und Ehrenkette, beim Glase eingeschlafen darstellt, führt die Umschrift:

„Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braber Mauu.“

Sieben Stufen führen zu der Remterlaube, einem Quergemache mit vier größeren Wandbildern Fitgers, deren eines unser Bild S. 860 skizziert: auf ihm wird ein Centaur, der eine Frau raubt, von Bauern und Hunden verfolgt; der köstliche Humor des Malers hat hier mit kühnem Anachronismus auch den pickelhaubengeschmückten Kopf eines Schutzmannes der Jetztzeit unter den Verfolgern auftauchen lassen.

„Von diesem Remter aus,“ so erklärte ich meinem Freunde, „führt eine Treppe nach dem Bürgerschaftsvorsaale. Es ist die dort mit dem Bronzestandbild einer rheinischen Hebe, einem Werke des Hamburger Bildhauers Carl Garbers, auf dem Treppenabsatz. Die löbliche Bürgerschaft ist unser Parlament, aus 160 Abgeordneten bestehend. Sie teilt mit dem Senat die höchste Herrschergewalt in Hamburg, das Kyrion, um das im Mittelalter so lange und oft blutige Kämpfe zwischen Geschlechtern und Volk geführt wurden, die erst mit dem Hauptreceß 1712 endeten. Der Bürgerschaft steht hinsichtlich des Ratskellers ein Vorrecht zu. Wenn sie dereinst in die Räume über uns, also im rechten Flügel des Rathauses, eingezogen sein wird und nach dem anstrengenden Redeturnei des Mittwochabends die Volksvertreter zur Stärkung den Keller aufsuchen, sollen sie den Remter zu ausschließlicher Verfügung haben. In gleicher Weise gedenkt auch der Senat bei besonderen Veranlassungen, wie Senatorenwahl etc., dem schönen Beispiel der Altvordern zu folgen. Dann begeben sich die Magnificenzen, nämlich die Bürgermeister, die Hochwohlweisheiten, das sind die rechtsgelehrten Ratsherren, und die Wohlweisheiten, das sind die kaufmännischen Senatsmitglieder, in den ‚Rosenkranz‘, das Schmuckkästlein dieser Räume, das dem Hohen Senat stets zu eigenem Gebrauch zur Verfügung steht. Doch in dies Allerheiligste wollen wir später treten: zunächst wollen wir uns in den größten der Räume, die Grundsteinhalle, begeben, die 487 Plätze enthält. Dabei sei gleich bemerkt, daß der Remter 78, die ,bunte Kuh‘ und der Schenkeraum 300, der ,Rosenkranz‘ 55 Plätze aufweisen, macht insgesamt 920!“

„Bewirtschaftet die Stadt den Keller selbst?“

„Nein, er ist verpachtet. Die guten alten Zeiten sind vorüber, zu denen die Stadtobrigkeiten eigene Keller anlegten, um das Bürgertum gegen den unlauteren Wettbewerb der bösen Weinschmierer zu schützen. Wohl aber hat die verpachtende Finanzdeputation durch strenge Vorschrift dafür gesorgt, daß hier stets ein guter echter Tropfen gegen billiges Entgelt zu haben sein wird. Für seine feinsten Sorten mag der Pächter fordern, was ihm beliebt, und er ist auch so frei, für eine Flasche 1886er Rüdesheimer Hinterhaus, Trockenbeerenauslese, bestes Faß der königlichen Domäne, 45, sage fünfundvierzig Mark deutscher Reichswährnng zu verlangen. Die stehende Redensart älterer Romane, daß im Wirtshause eine Flasche vom Besten bestellt wird, wäre hier nur mit Vorsicht anwendbar. Uebrigens enthält die Weinkarte 220 Flaschennnmmern, also Auswahl ist genügend da.“

In der Grundsteinhalle.

Mittlerweile wanderten wir treppauf treppab, je nach der verschiedenen Höhenlage der Kellerräume, zum Grundsteinkeller, der am tiefsten gelegen ist. Trotzdem, oder richtiger eben deshalb, ist dort die Luft am besten. Der geneigte Leser möge unter geeigneten Umständen den wohlmeinenden Rat befolgen, sich daselbst niederzulassen, denn in den meisten anderen Hallen ist die Lüftung noch entschieden der Verbesserung bedürftig. Wenn’s nicht hieran fehlte, so würde die Wahl des Platzes schwer, denn behaglich sitzt es sich überall, so in den vielen Eckchen und Abteilungen, wo jede Gesellschaft ihr gemütliches Reich für sich hat, wie unter den Bogenwölbungen der hohen Haupthallen, wo das Auge sich an dem Gesamtbilde der kraftvollen und reichen baulichen Gestaltung und an dem überall verschwenderisch ausgebreiteten malerischen und bildhauerischen Schmuck erfreut. Heutzutage aber, wie erwähnt, mundet der edle Rebensaft aus den mit dem Hamburger Wappen geschmückten feinen Gläsern wohl am besten in dem großen Grundsteinkeller.

Der Grundstein zum Rathause am Fuße des großen Mittelturms ist hier in umgitterter Zelle sichtbar. Er trägt den Weihespruch, mit dem vor zehn Jahren weiland Bürgermeister Dr. Petersen die ersten drei Hammerschläge begleitete:

„Mit Gottes Gunst durch Menschenhände
Kommt auch ein schwierig’ Werk zu Ende.“

Auf dem Stein ruhen Hammer und Kelle. – Das Mittelschiff endet mit einem mächtigen Steinkamin. Hier in diese entlegenste Ecke hat sich ein junges Paar zurückgezogen, das von der Hochzeitsreise auf den am Eingang zum Keller gekauften Postkarten mit Lichtdruckbildern den Lieben daheim Kunde giebt von seiner [863] beschaulichen Seligkeit „tief unter der Erd’“. – Eine eigenartige Ausschmückung hat der Grundsteinkeller erst kürzlich durch eine Anzahl Modelle hanseatischer Kriegs- und Handelsschiffe verschiedener Zeiten erhalten, die von den Schlußsteinen der Gewölbe herabhängen.

Zurück geht es, zunächst in den Schenkeraum, dessen überaus reichen Bilderschmuck an Pfeilern und Gewölben der Maler Jordan in Hannover geschaffen hat. Die Gewölbemalerei schildert die Entstehung des Weines: im Sonnenschein und Nebel, durch das stille Wirken der Naturkräfte – Feuer, Wasser, Luft und Erde wachsen und reifen die Trauben, von emsigen Händen werden sie gesammelt, gekeltert und kredenzt. Die beglückende Wirkung des Sonnenscheins preist ein Spruch im mittleren Bogenfelde:

„Sonne, du hast der Erde das Leben,
Dem Wein die feurige Glut gegeben,
Drum wird dem rechten Zecher beim Wein
So wohlig, als tränke er Sonnenschein.“

Geräte und Erzeugnisse der Gemüse- und Blumenzucht, des Weins und des Obstbaues, der Jagd und des Fischfanges verzieren in bunten Gehängen nebst allegorischen Gestalten die Gewölbepfeiler, nach Art der Wandbeläge in den alten hamburgischen Kaufmannshäusern. Der Freund des Kunstgewerbes erfreut sich hier an der von Wesselys Werkstatt in Hamburg wiedererweckten Technik der Kachelmalerei, durch die Jordans Entwürfe zur Ausführung gelangten. Daß hier wie in den anderen Hallen eine blendende Fülle des elektrischen Lichtes alle die Herrlichkeiten zu voller Geltung kommen läßt, braucht füglich kaum erwähnt zu werden. Stundenlang kann man mit Genuß beschauen und bewundern, und wohl darf den Hamburger das Gefühl stolzer Freude überkommen, daß diese Räume nicht nur dem leiblichen Genusse dienen, dem engherzig zu frönen seine gute Stadt mit Unrecht verschrieen wird, sondern daß sie auch den Beschauer zauberisch entrücken aus dem alltäglichen Getriebe in die heiteren Gefilde der Kunst.

Der Remter.  

„Nun aber,“ mahnte ich den Beschauer, der sich von dem farbenprächtigen Anblick des Schenkeraums gar nicht trennen zu wollen schien, „gelangen wir zu einem Paradiese der Jugend und wonnigen Schönheit, wie es ein dichterisch veranlagtes Menschenkind genannt hat, zu dem schon erwähnten ,Rosenkranz‘.“

Entzückend ist der Anblick, den dies Gelaß bietet. Kreisrund ist die Halle, deren von Stichkappen durchschnittene und durch einen steinernen Rosenkranz wagerecht geteilte Kuppel einen eigenartigen buntschimmernden Schmuck erhalten hat: Frühlingsblumen und Blüten breiten einen reichgemusterten Teppich über Gewölbe und Kappen, und auf dem glänzenden Hintergrund schwingt sich im Tanze ein Kreis anmutiger Mädchengestalten in der Gewandung des Mittelalters. Der Hamburger Maler Düyffcke hat sich um dies Kleinod des Kellers verdient gemacht.

„Das zierliche Erzstandbild des Bacchus dort in der Nische des Holzgetäfels,“ so berichtete ich, „entstammt dem alten hamburgischen Ratsweinkeller. Da gemäß der Ueberlieferung ein besonders lieblich geschmückter Raum als ‚Rosenkranz‘ bezeichnet und dadurch dem schönen Geschlecht zur Trinkstube gewidmet wurde, durfte auch dieses Bacchusbild nicht fehlen, das ein Freund des Rathauses an sich gebracht und nun seiner ursprünglichen Bedeutung zurückgegeben hat. Denn eine artige Sage von der Zauberkraft dieses Standbildes knüpft sich an das feine Figürchen. Zu Nutz und Frommen junger Mädchen im heiratsfähigen Alter erzählt es der Spruch dort an der Wand zu Häupten des Gottes.“

Mein Freund las:

„Seht der Mädchen Ringelreih’n mit den Rosenkränzen,
Seht der Jugend Wiedersehein im Pokale glänzen,
Seht, wie Bacchus fröhlich lacht, denkend alter Tage;
Denn von seiner Zaubermacht kündet uns die Sage:
Wenn die Maid den Bacchus küßt, heimlich und verschwiegen,
Wird beglückt in Jahresfrist sie ein Herz besiegen.“

Ob’s sich bewährt? Noch kann es niemand sagen. Erst seit dem 25. April 1896 stehen die Pforten des Kellers geöffnet, also die Jahresfrist ist noch nicht um. Daß der schüchterne Versuch gemacht sein dürfte, die Wahrheit des Spruches zu ergründen, wird der Menschenkenner kaum bezweifeln, denn – der Versuch kann ja nicht schaden .. und es thut just nicht weh – auch sieht es gerade niemand …

„Also hier,“ so unterbrach der Freund meinen Gedankengang, „tafeln die Herren des Rates bei besonderen Veranlassungen unter sich, kraft ihres Vorrechtes?“

„Das steht ihnen zu. Ich erinnere mich nicht, in den hamburgischen Mären der Vorzeit Aehnliches vom Keller des Eimbeckschen Hauses gelesen zu haben. Wohl aber entsinne ich mich eines anderen Sonderrechtes, das sich zu grauer Vorzeit an die hiesige Ratstrinkstube knüpfte. In allen anderen Schenken der Stadt mußte der Fron, wenn er eintrat, vorerst bescheiden die anwesenden ehrlichen Leute, also nach heutiger Redeweise die ehrbaren Bürger, befragen, ob gegen seine Anwesenheit Einspruch gethan werde. Geschah das – wenn auch nur von einer einzigen Stimme – so zog er traurig und durstig fürbaß. Dagegen stand dem verrufenen Manne der Zutritt zum Ratskeller jederzeit frei; war er doch ein Diener [864] des Rates, in dessen eigenem Hause er ohne weiteres und ohne Anfrage Platz nehmen und sein Schöpplein trinken durfte wie jedes andere Menschenkind auch. Und im Hamburger Ratskeller gab es jederzeit einen vertrauenswürdigen Stoff.“

„Nach einem solchen steht nunmehr auch mein Verlangen,“ bemerkte darauf lächelnd der Freund. Bald perlte ein köstliches Naß in unsern Gläsern, und wir ließen sie klingen auf das Blühen und Gedeihen der alten Freien und Hansestadt.


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Ueber operative Heilung der Kurzsichtigkeit.

Von Prof. Dr. Hermann Cohn in Breslau.

Die populäre Medizin soll sich nur auf Hygieine, auf Diätetik und auf Vorbeugung von Krankheiten beschränken; die Belehrung über Heilmethoden jedoch soll den ärztlichen Zeitschriften überlassen bleiben.“

Diesen gewiß richtigen Grundsatz habe ich bei meinen im Laufe von mehr als 30 Jahren veröffentlichten gemeinverständlichen Aufsätzen und Vorträgen stets befolgt.

Wenn ich heute zum erstenmal davon abweiche und einem großen Leserkreise Mitteilungen über „Heilungen“ mache und noch obendrein über „operative Heilung“ eines so außerordentlich verbreiteten Leidens, wie es die Kurzsichtigkeit ist, so hat dies einen ganz besonderen Grund.

Wenn die operative Heilkunst einen wirklich ungeheuren Fortschritt gemacht hat, so darf man meiner Ansicht nach nicht zögern, auch das große Publikum davon in Kenntnis zu setzen, weil man dadurch bald viele Leidende einer glücklicheren Zukunft entgegenführen kann. Und die Frage muß alle Eltern und Erzieher ebenso wie die Aerzte interessieren, da es ja fast keine Familie mehr ohne kurzsichtige Mitglieder giebt.

Ein solcher Fortschritt ist nun in der Augenheilkunde sichergestellt; was noch bis vor wenigen Jahren unmöglich schien, ist gelungen; man kann die hochgradig kurzsichtigen Menschen normalsichtig machen.

Fig. 1.

Freilich sind die Vorgänge, um welche es sich dabei handelt, keinesfalls ganz leicht ohne Modelle und Apparate populär darzustellen; ich muß daher die Leser bitten, wenn sie das Wesen der neuen Heilung der Kurzsichtigkeit verstehen wollen, mir erst aufmerksam durch eine Reihe anatomischer und physiologischer Vorbemerkungen zu folgen.

Heutzutage, wo fast in jeder Familie ein kleiner photographischer Apparat existiert, kann man leicht folgende Versuche machen.

Die beiden wesentlichsten Teile einer photograpischen Camera sind bekanntlich erstens das Objektiv oder die Sammellinse (Figur 1), ein auf beiden Seiten erhaben gekrümmtes, linsenförmiges Glas, ein Brennglas, welches die Lichtstrahlen bricht und zu einem Bilde vereinigt, und zweitens eine matte Scheibe S, auf welcher das Bild aufgefangen wird.

Stellt man die matte Scheibe S in die richtige Entfernung von der Linse, in die sogenannte Brennweite, so entsteht von einem sehr fernen Lichtpunkte A auf der matten Scheibe ein scharfes Bild dieses Lichtpunktes B. Schiebt man aber die matte Scheibe weiter nach hinten hinaus, nach S1, verlängert man also die Camera, so entsteht statt des scharfen Bildes, statt des Punktes B, ein Lichtkreis, ein sogenannter Zerstreuungskreis m n, der immer größer und matter und verschwommener wird, je weiter die matte Scheibe hinausgeschoben wird. Derselbe würde bei der Stellung S2 den Durchmesser o p haben.

Fig. 2.

Auf der matten Scbeibe würden also auch von zwei fernen untereinander stehenden Lichtpunkten zwei scharfe Bildpunkte H1 H2 (Figur 2) entstehen, wenn die Linse in richtiger Entfernung von der matten Scheibe (Figur 1 S) sich befindet; zieht man aber die matte Scheibe ein wenig weiter hinaus nach S1, so werden statt dieser scharfen, getrennten Bildpunkte zwei kleine, matte Zerstreuungskreise H3 H4 entstehen, so daß allerdings noch immer zwei getrennte Punkte erscheinen, die freilich unscharf sind, die sich aber noch nicht decken. Wird die Scheibe aber noch weiter hinausgezogen nach S2, so werden die Zerstreuungskreise noch größer und unschärfer und decken sich zum Teil, sodaß man nicht mehr zwei getrennte, sondern einen großen verschwommenen Punkt sieht, H5 H6.

Fig. 3.

Eine Linie kann man sich bekanntlich zusammengesetzt denken aus unendlich vielen, aneinander gereihten Punkten. Wenn jeder derselben als Zerstreuungskreis erscheint, so decken sich alle diese Kreise zum Teil, und es entsteht dann (Figur 2) statt einer scharfen Linie R eine Reihe von Zerstreuungskreisen R1, also ein breites undeutliches Band R2.

Das Auge ist nun bekanntlich ganz ähnlich der photographischen Camera gebaut. Die wesentlichsten lichtbrechenden Teile sind aber nicht allein eine Linse (siehe Durchschnitt des Auges, Figur 3), sondern auch eine den Augapfel vorn abschließende, uhrglasförmige, durchsichtige Haut, die Hornhaut. Diese und die Linse erzeugen gemeinsam ein Bild auf der lichtempfindenden Haut, der Netzhaut, die im Auge die Stelle der matten Scheibe vertritt. Sie befindet sich ganz hinten im Auge, ist gewissermaßen eine Ausbreitung der Sehnerven und ist sehr kompliziert gebaut.

Ist die Achse des Auges von vorn nach hinten (Figur 3) 23 mm lang, so nennt man das Auge normal gebaut (emmetropisch); denn dann werden von fernen Gegenständen deutliche Bilder auf der Netzhaut entworfen; ein ferner Punkt A (Figur 3) erscheint als deutlicher Punkt B, wird also deutlich wahrgenommen. Ist die Achse des Auges aber länger, z. B. 27 mm, so entsteht von einem fernen Punkte kein deutlicher Punkt, sondern ein Zerstreuungskreis auf der Netzhaut (m n in Figur 4), und ist die Achse noch länger, z. B. 33 mm, so wird dieser Kreis immer verschwommener und undeutlicher (o p in Figur 4). Genug, je länger die Augenachse wird, um so unschärfer muß in die Ferne gesehen werden. Solche zu lang gebaute Augen heißen kurzsichtige.

Fig. 4.

Die Kurzsichtigen sehen also in die Ferne in Zerstreuungskreisen, undeutlich, und natürlich werden die Zerstreuungskreise um so mehr das Sehen stören, je größer sie sind. Je kleiner die Zerstreuungskreise sind, desto weniger werden sie stören, desto leichter können sie entwirrt werden, desto besser wird gesehen. –

[864 a]

Copyright 1895 by Franz Hanfstaengl in München.

EXTRAPOST
Nach dem Gemälde von W. H. Gore

Die Gartenlaube 1896. 0 Kunstbeilage 15

[865]

Die Fütterung der Havelschwäne im Winter.
Nach dem Leben gezeichnet von F. Müller-Münster.

[866] Die Größe der Zerstreuungskreise hängt aber nicht allein von der Entfernung des Lichtes vom zu lang gebauten Auge ab, sondern auch von der Größe der Pupille. Die Pupille oder das Sehloch ist bekanntlich eine Oeffnung in der Mitte der Regenbogenhaut oder Iris (PP1 in Figur 3 ist der Durchschnitt der Pupille). Diese dunkel erscheinende Oeffnung kann sich im Hellen zusammenziehen, verengern, im Dunkeln erweitern. (D und E in Figur 5 sind die weite und enge Pupille, von vorn gesehen.)

Wenn das Sehloch weit ist, wie in Figur 6 bei a a, so ist auch der Zerstreuungskreis a1 a1 groß. Wenn aber die Pupille klein ist, sich zusammengezogen hat, so daß der Durchschnitt nur b b ist, so ist auch der Zerstreuungskreis klein b1 b1.

Im Alter wird in der Regel die Pupille enger; daher sehen auch Kurzsichtige im hohen Alter etwas besser in die Ferne, da eben dann auch hier die Zerstreuungskreise kleiner werden.

Jeder Kurzsichtige kann diese Beobachtung an sich selbst machen, wenn er dicht an sein Auge eine Kerze hält; dadurch wird die Pupille verengert, und er sieht dann Buchstaben auf größere Distanz als vorher. Oder er sticht mit einer Stecknadel ein kleines Loch in eine Visitenkarte und blickt durch dieses hindurch; durch dieses enge Loch kommen natürlich auch weniger Strahlen auf die Netzhaut als durch die normale Pupille; daher sieht er in die Ferne deutlicher.

Ja, die Kurzsichtigen wußten schon vor Jahrtausenden, daß sie durch Blinzeln schärfer sehen konnten; indem sie die unschöne Grimasse des Zusammenkneifens der Augenlider machten, verkleinerten sie gewissermaßen auch ihre Pupille von oben nach unten, so daß die Zerstreuungskreise kleiner wurden. Daher rührt ja auch der Name, den die alten Griechen schon der Krankheit gegeben haben: Myopie von μύω, ich blinzle.

Fig. 5.

Heute weiß man durch Messungen ganz genau, daß das Wesen der Kurzsichtigkeit in der Zunahme der Achse von vorn nach hinten besteht.

Die alten Aerzte hatten aber keine Ahnung davon. Die Krankheit galt bis zum Ende des Mittelalters als ein Naturfehler, den nur Gott heilen könne.

Selbst die Erfindung der Konkavbrillen in der Mitte des 16. Jahrhunderts führte nicht zur Erkenntnis der Ursache. (Siehe meinen Aufsatz in der „Gartenlaube“ 1895, S. 367.) Erst der große Kepler wies theoretisch nach, daß die Lichtstrahlen bei den Kurzsichtigen sich nicht auf der Netzhaut, sondern vor ihr vereinigen müssen; der ausgezeichnete holländische Arzt Boerhave sprach 1708 zuerst den Satz aus, daß die Lichtstrahlen sich nur vor der Netzhaut vereinigen können, wenn das Auge allzu lang gebaut sei, und der berühmte italienische Anatom Morgagni wies 1761 diese Verlängerung der Augenachse zwischen Linse und Netzhaut wirklich nach. –

Viel bekannter als das Wesen der Myopie sind aber längst die Beschwerden derselben gewesen. Man muß verschiedene Grade der Kurzsichtigkeit unterscheiden: leichte, bei denen noch bis 1/3 m, also bis 33 cm scharf gesehen wird, mittlere, bei denen noch bis 1/6 m, also bis 16 cm, hohe, bei denen nur 1/61/10 m, also bis 10 cm, und höchste, bei denen nicht einmal bis 10 cm scharf gesehen wird.

Selbst die schwachen Grade sind ein Gebrechen; sie führen zu einer gewissen Unbeholfenheit bei denen, welche keine Brillen oder Lorgnons tragen; Vorgesetzte werden nicht gegrüßt, Untergebene werden auf der Straße für Vorgesetzte gehalten, die Orientierung in Gesellschaften ist erschwert. Nur Cardanus, der berühmte Physiker, welcher den Ring erfunden, in welchem der Kompaß stets ruhig hängt, lobte diese Kurzsichtigkeit; er meinte, die Kurzsichtigen seien sehr verliebt, da sie alle Mädchen für Engel hielten.

Aber auch die schwache Kurzsichtigkeit bis 1/3 m stört schon mitunter die Wahl des Berufs; es giebt Berufe, in denen keine Brille, auch nicht die schwächste, getragen werden kann, z. B. die Schiffahrt. Darum wird ja auch mit Recht kein Soldat zur Marine genommen, der eine Brille braucht.

Die mittleren Grade von Kurzsichtigkeit sind schon darum viel unangenehmer, weil eine ganze Reihe von Berufen von vornherein ausgeschlossen ist; es liegt nämlich bei allen Berufen, die mit Nahearbeit verknüpft sind, die Gefahr vor, daß diese mittleren Grade dabei in hohe Grade übergehen. Es genügt, hier kurz an die Thatsache zu erinnern, die ich schon vor 30 Jahren an 10000 Schulkindern nachwies und die seitdem bei mehr als 200000 Schülern bestätigt wurde, daß von Klasse zu Klasse die Zahl der Myopen und der Grad der Myopie zunimmt.

Mit der Zunahme der Kurzsichtigkeit geht aber leider auch sehr häufig Abnahme der Sehschärfe Hand in Hand, d. h. selbst mit den passendsten Brillen gelingt es nicht mehr, in die Ferne scharf zu sehen, und so muß oft spät noch ein Beruf aufgegeben werden, dessen Vorbereitung sehr kostspielige und langjährige Studien erforderte; Juristen, Aerzte, Lehrer werden ebenso schwer alsdann getroffen wie Techniker und Beamte, die den ganzen Tag zu schreiben haben.

Ein Kurzsichtiger, der nicht mehr auf ein 1/6 m liest, wird mit Recht gar nicht zum Militär genommen, da eben dann meist die Sehschärfe trotz der besten Brille ungenügend zum Schießen ist.

Fig. 6.

Die hohen und höchsten Grade der Kurzsichtigkeit sind aber keineswegs mehr ein Gebrechen, sondern wahre Krankheiten des Auges. Wir haben ja oben gesehen, daß die Kurzsichtigkeit in der Verlängerung der Augenachse besteht; je mehr diese fortschreitet, um so kurzsichtiger wird ja das Auge. Die Dehnung der Augenhäute führt schließlich zur Zerreißung der feinen Netzhaut, welche sich von ihrer Unterlage, der Aderhaut (Figur 3), ablöst, und dann zu der mit Recht höchst gefürchteten, wohl fast stets in Kürze Erblindung verursachenden Netzhautablösung. Häufig genug gehen diesem traurigen Ende der Kurzsichtigkeit als Vorläufer Trübungen in dem durchsichtigen Glaskörper voran, welche vor dem kranken Auge beständig hin und her tanzen und bei der Arbeit außerordentlich stören.

Oder aber es treten Blutungen, Berstungen von Adern in der Netzhaut und Aderhaut gerade am Ende der Sehachse (Fig. 3 B), an der Stelle im Innern des Auges auf, mit welcher wir am feinsten sehen, am sogenannten gelben Fleck der Netzhaut. Dann wird eben die Netzhaut dort in der Mitte zerstört, und infolgedessen sehen die Kranken gerade in der Mitte, wo sie deutlich wahrnehmen sollen, einen größeren oder kleineren schwarzen Fleck, oder die Zeilen werden krumm und verbogen, so daß das Lesen unmöglich wird.

Leider sind gerade diese hohen und höchsten Grade in einer Reihe von Fällen angeboren, oder es ist schon wenigstens in früher Kindheit eine Disposition vor^ Handen, namentlich wenn die Eltern und Großeltern kurzsichtig waren; denn die Kurzsichtigkeit ist ja sehr häufig erblich. Solche Kinder haben überhaupt keinen rechten Naturgenuß, keine rechte Vorstellung von ihrer Umgebung, keinen Genuß von Gemälden. Der Gesunde kann sich eine Idee machen von dem jammervollen Sehen aller hochgradig Kurzsichtigen, die nicht mehr bis 10 cm lesen können, wenn er sich eine Lupe vors Auge nimmt und in die Ferne blickt. Gerade jene hochgradigen Fälle aber sind es meist, die mit Krankheiten der Aderhaut und Netzhaut sich verbinden und erfahrungsgemäß über kurz oder lang einem schlimmen Ausgange entgegengehen. –

Die nächste Frage ist naturgemäß die: Ja, wodurch wird denn bei den Fällen von Kurzsichtigkeit, die nicht angeboren sind, das Auge von vorn nach hinten verlängert, wodurch wird es denn in den fatalen Langbau hineingetrieben?

Die feineren Ursachen kennen wir leider immer noch nicht mit Bestimmtheit; aber das wissen wir sicher, daß, wenn die Augenhäute gedehnt werden sollen, wenn sie aus ihrer kugelrunden Gestalt in eine eiförmige Gestalt übergeführt werden sollen, daß dann im Innern des Augapfels der Druck vermehrt sein muß, und dieser Druck im Innern des Augapfels wird, wie durch Experimente festgestellt ist, durch zwei Vorgänge vergrößert, die vom [867] Sehen in die Nähe untrennbar sind; das ist die Accommodation und die Convergenz der Augen.

Die Accommodation ist die wunderbare Eigenschaft, die den Augen ermöglicht, nicht bloß ferne Gegenstände zu sehen, sondern sich auch für die Nähe einrichten zu können, sich den verschiedenen Entfernungen anzupassen, zu accommodieren. An unseren Operngläsern können wir das nur erreichen, indem wir eine Schraube bewegen; nur dann können wir statt der Personen auf der Bühne die Personen in unserer Nähe deutlich erkennen.

Fig. 7.

Eine der Schraube ähnliche Einrichtung hat die Natur am Auge nicht angebracht; sie hat vielmehr einen merkwürdigen, einzig dastehenden Weg eingeschlagen, den keine Kunst bisher nachahmen konnte. Sie hat uns eine Krystalllinse gegeben, die wachsweich ist und daher durch einen Muskelzug im Innern des Auges ihre Gestalt aus einer dünnen Linse in eine dicke verwandeln kann. Beim Fernsehen hat die Linse die geringe Dicke a b (Fig. 7), beim Nahesehen die größere Dicke a1 b1, wie sie mit punktierten Linien in Figur 7 schematisch angedeutet ist.

Der Muskel, der die Linse stärker krümmt, ist in einer sehr komplizierten Weise im Auge mit der Linse verbunden; er heißt der Accommodationsmuskel und ist in der Figur 8 gezeichnet. Ohne Modell läßt sich seine Wirkung sehr schwer schildern. In dem Modell, welches ich konstruiert habe[1], lassen sich mit Leichtigkeit durch die Senkung eines Hebelarmes alle die zusammengesetzten Veränderungen, die bei der Accommodation im Auge vor sich gehen, deutlich machen.

Fig. 8.

Für uns genügt es hier, zu betonen, daß nur durch Zusammenziehung eines von der Hornhaut nach der Aderhaut gehenden, die Aderhaut spannenden Muskels die Krystalllinse aus ihrer flachen Form in die dickere übergeführt werden kann. Und dies geschieht jeden Augenblick beim Sehen in die Nähe, und dabei wird der Druck im Auge erhöht.

Ferner werden die Augen gedrückt, indem sie beim Nahesehen convergieren. Wenn wir in die Ferne sehen, so stehen die Augen parallel; wenn wir aber jemand einen Finger fest ansehen lassen und diesen seinem Auge immer näher bringen, so merken wir, daß beide Augen sich nach der Nase drehen, convergieren.

Es giebt nun an jedem Augapfel an dessen innerer Seite einen Muskel, der aus der Tiefe der Augenhöhle kommt und sich vorn in der Nähe der Hornhaut ansetzt (Fig. 9). Wenn er sich zusammenzieht, dreht er das Auge nach der Nase. Er heißt der innere gerade Augenmuskel. Ihm entgegengesetzt wirkt auf der äußeren Seite des Auges ein anderer Muskel, der das Auge nach der Schläfe dreht, der äußere gerade Augenmuskel. Die beiden inneren geraden Augenmuskeln müssen nun den ganzen Tag sich zusammenziehen, wenn in der Nähe gearbeitet wird, damit die Convergenz der Augen erreicht wird.

Fig. 9.

Indem sie sich zusammenziehen, werden ihre Gegner, die äußeren Muskeln, um so stärker und ausdauernder ausgedehnt und belasten die äußere Seite des Augapfels mit größerem Drucke. Es tritt also eine Abplattung des ursprünglich kugelrunden Augapfels ein, und der Druck wird im Innern erhöht. So entsteht also ebenfalls Wachstum in die Länge. –

Ferner verursacht auch Senkung des Kopfes, wie sie beim Auflegen auf die Arbeit so häufig vorkommt, Stauung des Blutes in den Blutadern des Auges und bewirkt also gleichfalls Zunahme des Druckes und daher Zunahme der Myopie.

Alle unsere bisherigen Bestrebungen waren nun darauf gerichtet, die erhöhte Accommodation und Convergenz der Augen und die Senkung des Kopfes auszuschalten, um das Auge nicht in den Langbau hineintreiben zu lassen, sondern seine Achse normal zu halten, also keine Myopie entstehen, vornehmlich aber schon vorhandene Kurzsichtigkeit sich nicht vergrößern zu lassen.

Man suchte also zunächst die Nahearbeit zu verringern, um Accommodation und Convergenz weniger anzustrengen. Alle unsere jahrzehntelangen Bemühungen, unsere Schulen und Arbeitsplätze besser zu beleuchten, sind auf dieser Basis gegründet. Je heller nämlich ein Gegenstand beleuchtet ist, desto weniger brauchen wir uns auf ihn zu legen, um ihn genau zu erkennen. Durch vernünftig konstruierte Schultische suchten wir seit 30 Jahren den Kindern Gelegenheit zu geben, längere Zeit gerade sitzen zu können, damit sie nicht wie früher durch die falsche und sinnlose Konstruktion der alten Schultische gezwungen würden, sich vorn überzubeugen. Darum suchen wir die Steilschrift in den Schulen einzuführen, weil bei dieser erfahrungsgemäß das Kind länger gerade sitzen kann als bei der Schrägschrift. Darum bemühen wir uns, den Druck der Schulbücher zu verbessern und die Kinder nicht durch die wahnsinnig kleine Schrift zur Accommodation und Convergenz zu zwingen.

Ich will gar nicht von der verfehlten Idee sprechen, die vor 50 Jahren verteidigt wurde, daß die Kurzsichtigkeit nur eine Angewohnheit sei, die man durch immer größeres Entfernen naher Gegenstände vom Auge bessern und abgewöhnen könne. Für solche Zwecke hatte Berthold das Myopodiorthoticon konstruiert, einen orthopädischen Apparat, der täglich den Kopf auf eine größere Distanz vom Buche brachte, welcher aber wie alle Geradehalter und Marterinstrumente die Kinder peinigte, ohne auch nur eine Spur der bereits vorhandenen Kurzsichtigkeit bessern zu können.

Man versuchte auch die geraden Muskeln der Augen, die das Auge nach innen ziehen, zu durchschneiden; aber das war ganz erfolglos.

Fig. 10.

Eine andere Idee war die, daß die Hornhaut bei den Kurzsichtigen zu stark gewölbt sei, so daß die Strahlen vor die Netzhaut fallen müßten. Darum band der berühmte Physiologe Purkinje in Breslau, der selbst kurzsichtig war, sich in der Nacht Säckchen, die mit Eisenfeilspänen gefüllt waren, auf sein Auge und glaubte dadurch seine Hornhaut abflachen zu können; natürlich war das auch ohne Erfolg. –

Eine der wichtigsten Behandlungs- und Vorbeugungsweisen waren natürlich die Brillen. Gewiß, sie leisteten und leisten Großes.

Man unterscheidet bekanntlich konvexe, wie die Objektive bei der photographischen Camera oder bei den Operngläsern gewölbt gestaltete, sogenannte Brenngläser, und konkave, hohle Gläser.

Die konkaven Gläser (Fig. 10) zerstreuen das Licht, welches aus der Ferne kommt so, daß es aus der Nähe zu kommen scheint. Strahlen, welche aus großer Ferne (A) kommen, treten hinter dem Glase so auseinander, werden so zerstreut, daß sie aus einem Punkte vor dem Glase, a, zu kommen scheinen.

Fig. 11.

Ein kurzsichtiges Auge kann bekanntlich in der Nähe gut sehen; durch ein Konkavglas werden nun Strahlen, welche aus großer Ferne kommen, so vor seinem Auge auseinander gebrochen, als kämen sie aus der Nähe. Die Lichtstrahlen, die aus großer Ferne A auf sein Auge fallen (Fig. 11), werden durch die Konkavlinse so auseinander gebrochen, daß sie nach c d und e f gehen. Wenn man diese Strahlen rückwärts verlängert, so schneiden sie sich in a; sie scheinen also dem Auge aus a zu kommen, werden daher auf der Netzhaut in b vereinigt.

[868] Die Konkavgläser, Hohlgläser, werden von 1 bis 20 numeriert; Konkavglas 1 ist das schwächste, 20 das stärkste, hohlste.

Sieht jemand ohne Glas nur bis 1 m, so wird er mit einem Hohlglas Nummer 1 in große Ferne sehen; sieht er ohne Glas nur bis 1/2 m, so wird er mit Nummer 2 in die Ferne gut sehen; sieht er ohne Glas nur bis 1/6 m, so wird ihm Konkavglas 6 (man schreibt dies auch „minus“, –6) die Fernsicht geben. Sieht er aber nur bis 1/10 m, also bis 10 cm, so müßte er mit einem Glase Nummer 10 in die Ferne scharf sehen.

Das ist aber nicht der Fall. Alle die Gläser, die stärker sind als 6, haben die sehr unangenehme Eigenschaft, daß sie die Gegenstände verkleinern und verzerren und daher von den Kranken mit Recht nicht gebraucht werden. Es giebt Aerzte, die aus theoretischen Gründen die Kranken zu so starken Gläsern zwingen wollen; allein wohl alle Kranken erklären, daß sie „sie nicht vertragen“, sie bekommen Kopfschmerzen, Unsicherheit, und sie sind klüger als ihre Aerzte, sie werfen diese starken Gläser fort.

Fig. 12.

Diese stärken Gläser, nach der neuen Rechnung Nummer 9 bis 20, verzerren nämlich die Bilder, da sie am Rande sehr dick sind und also wie Prismen daselbst wirken. Sie verkleinern aber auch alles und bringen die Kranken dazu, die Entfernung der Gegenstände für größer zu halten, also falsch zu projizieren. Das kann jeder gesunde Mensch nachfühlen, wenn er sich ein starkes Konkavglas, z. B. Nummer 16 oder 20, aufsetzt.

Somit waren wir bisher in der größten Verlegenheit, was wir Kurzsichtigen etwa raten sollten, welche nur bis 10 cm sehen. Man kann nicht jedem sagen: „Werden Sie Gastwirt, Gärtner, Seiler, Bierbrauer, Bäcker oder Landwirt.“ Besonders schlimm waren wir daran, wenn jemand in den besten Mannesjahren bei zunehmender Kurzsichtigkeit einen solchen Grad derselben erreichte, daß man ihm keine Brille mehr geben konnte.

Gerade diese Fälle können nunmehr geheilt werden, und zwar ist das der große Fortschritt der letzten Jahre, daß man auf operativem Wege solche Kranke normalsichtig machen kann. Und zwar wodurch? Dadurch, daß man ihnen die Krystalllinse aus dem Auge herausnimmt. –

Jetzt muß man natürlich fragen: Können denn die Lichtstrahlen noch in dem Auge vereinigt werden, wenn die Krystalllinse herausgenommen ist?

Wir haben im Anfange dieses Aufsatzes gesagt, daß die Lichtstrahlen im gesunden Auge nicht allein durch die Linse, sondern auch durch die Hornhaut (h Figur 12) gebrochen werden. Hat man die Linse herausgenommen, so geschieht die Brechung natürlich nur noch durch die Hornhaut allein. Diese Strahlenbrechung ist aber lange nicht mehr so stark, als daß die Strahlen auf der Netzhaut in einem Punkte sich vereinigen könnten, sondern da eben die Linse, die sie dahin zusammengebracht hat, fehlt, vereinigen sich die Lichtstrahlen, die von A kommen (Figur 12), erst hinter der Netzhaut in b und bilden auf der Netzhaut einen Zerstreuungskreis, c d. Ein gesundes Auge, dem die Linse herausgenommen ist, wird also in der Ferne nur ganz undeutlich, verschwommen sehen.

Es wird aber sogleich statt eines Zerstreuungskreises wieder ein scharfes Bild auf der Netzhaut entstehen, wenn man anstatt der herausgenommenen Linse vor die Hornhaut eine ähnliche Linse wie die herausgenommene, eine gewölbte, konvexe Glaslinse setzt (L in Figur 13). Diese bricht die Strahlen eben wieder richtig zusammen.

Fig. 13.

Natürlich muß ein normales Ange, dem die Linse herausgenommen ist, auch mehrere Brillen bekommen, eine schwächere für die Ferne und eine stärkere für die Nähe, da es ja nun wegen Mangels der Linse nicht mehr für verschiedene Entfernungen accommodieren kann. – –

Es ist jetzt wohl in allen Schichten der Bevölkerung bekannt, daß häufig im Alter sich die Krystalllinse trübt, grau wird, so daß die Pupille nicht mehr schwarz, sondern grau erscheint; diese Linsentrübung nennt man seit Jahrhunderten grauen Star. Die Kranken sehen von Tag zu Tag weniger und zählen schließlich nicht mehr die vorgehaltenen Finger, behalten aber guten Lichtschein. Man heilt den grauen Star bekanntlich, indem man die trübe Linse aus dem Auge herausnimmt. Natürlich müssen also solche Kranke, wenn sie operiert sind, zum scharfen Sehen für die Ferne und für die Nähe verschiedene Konvexbrillen erhalten. Man nennt diese Brillen auch Starbrillen.

Nun hat schon Boerhave vor 200 Jahren die Beobachtung gemacht, daß Kurzsichtige, denen wegen Star die Linse entfernt wurde, keine Konvexgläser für die Ferne brauchen, ohne Brillen in die Ferne scharf sehen, und er hat schon den ganz richtigen Grund angegeben.

Fig. 14.

Wenn das Auge kurzsichtig ist, zu lang gebaut ist, so werden (siehe Figur 14) Lichtstrahlen, die von A aus der Ferne kommen, vor der Netzhaut in B vereinigt, solange die Linse im Auge ist; auf der Netzhaut entsteht also beim Sehen in die Ferne ein Zerstreuungsbild, ein Zersteuungskreis e f; wird aus einem solchen Auge die Linse entfernt (Figur 15), so werden die Lichtstrahlen nur noch durch die Hornhaut (h) gebrochen, und es kann nun von dem Punkte A bei dem langen Bau des Auges auf der weit entfernten Netzhaut ohne Brille ein scharfes Bild B entstehen.

Der erste, der die Idee aussprach, man könnte ja durch Entfernung der durchsichtigen Linse, also ohne daß sie durch Star getrübt ist, die Kurzsichtigkeit heilen, war August Gottlieb Richter, Professor in Göttingen. Dieser sagte es schon 1790. Aber erst 1817 warf der berühmte Augenarzt Georg Josef Beer in Wien wiederum die Frage auf, da auch er sah, wie ausgezeichnet Kurzsichtige, die er an Star operiert hatte, ohne Stargläser in die Ferne sahen. Aber ebensowenig wie Richter wagte er eine solche Operation. Höchst interessant ist es heute, die eigenen Worte Beers zu lesen: „Wer steht,“ sagte er, „für den Erfolg dieser Operation überhaupt? Zumal bei der Ausziehung einer durchsichtigen Linse? Wird der Kurzsichtige nicht vielmehr selbst, indem er die Annäherung eines jeden Instrumentes deutlich sieht, automatisch dem Operateur die größten Hindernisse in den Weg legen? Wie schwer ist schon die Ausziehung des Stares bei einer noch nicht vollkommen verdunkelten Linse! Wer dieses nicht versucht hat, kann es, auch unmöglich beurteilen. Indessen lohnte es sich doch immer der Mühe, wenn sich ein solcher Höchstkurzsichtiger einmal wenigstens zu einem solchen Heilmittel verstände.“

Fig. 15.

Es ist nämlich in der That ein großer Unterschied, ob man eine trübe oder eine durchsichtige Linse aus dem Auge nimmt; je trüber sie ist, desto fester hängen ihre Teile miteinander zusammen, desto leichter ist die Entfernung.

Daher haben ja die Alten schon gesagt, der Star ist reif, d. h. die Linse ist so getrübt, daß sie zur Operation reif ist. Eine durchsichtige Linse aber ist wachsweich und kann nur in einzelnen Teilen entfernt werden, wobei noch viel zurückbleiben und Entzündung hervorrufen kann.

[869]

Im Bade.
Nach dem Gemälde von E. Defonte.

[870] Die Furcht vor Entzündung und Vereiterung des Auges bei einer solchen Operation hielt daher bis zum Jahre 1858 alle Operateure von derselben fern. Da erst berichtete Adolf Weber aus Darmstadt auf der Heidelberger augenärztlichen Versammlung, daß er hochgradig Kurzsichtigen wiederholt die Linse, und zwar die durchsichtige Linse, herausgenommen und ihnen die Arbeitsfähigkeit wiedergegeben hätte, ohne daß nachteilige Folgen entstanden seien. Auch Professor Mooren in Düsseldorf hatte zur selben Zeit schon einige Fälle operiert und die Methode empfohlen. Aber die damaligen ersten Meister des Fachs erklärten sich gegen die Operation.

Der große Graefe meinte, das weitere Fortschreiten der Kurzsichtigkeit könne doch nicht dadurch aufgehalten werden und innere Entzündung sei bei der Operation zu erwarten; auch der ausgezeichnete Operateur Arlt war dagegen.

Donders, der hervorragende Physiologe in Utrecht, nannte die Operation sogar „eine strafbare Vermessenheit“, weil man den Kurzsichtigen nicht seiner Accomodation berauben dürfte, und weil ja doch dem Auge kein wesentlicher Vorteil erwachsen würde. Er erzählte sogar, daß ihn ein Patient zu der Operation „zu verleiten“ gesucht habe. Er stützte sich auf lauter theoretische Bedenken, hatte aber keinerlei praktische Erfahrungen.

Jetzt nach 40 Jahren erfahren wir aus der inhaltsreichen soeben erschienenen Schrift von Professor Mooren „über die medizinische und operative Behandlung kurzsichtiger Störungen“, daß Albrecht von Graefe bei seiner letzten Begegnung mit Mooren über Donders gesagt: „Ja, ja, dieser große Mann mußte bei der Physiologie bleiben. Auf diesem Felde lag seine Bedeutung. Das Augenoperieren konnte er uns kleinen Leuten überlassen, wir verstehen das eben besser.“

Gerade der Einfluß von Donders hat 30 Jahre lang die Augenärzte von der Operation zurückgehalten. Nur der vor kurzem in Wien verstorbene Professor Mauthner sagte im Gegensatz zu der großen Autorität von Donders schon vor 20 Jahren sehr richtig:

„Wüßte ich eine Staroperation, die ungefährlich wäre, so würde ich sie unbedingt allen höchstgradig Kurzsichtigen empfehlen, da sie dann sowohl in die Ferne wie in die Nähe weit besser daran wären.“

Da aber damals die Operationen noch immer gefahrvoll und schmerzhaft waren, so wagte sich eben kein Arzt an sie.

Nun war im Jahre 1884 das Kokain von Koller entdeckt worden, jenes unschätzbare Mittel, von dem einige Tropfen genügen, um das Auge für die größte Operation unempfindlich zu machen. (Vergl. meinen Aufsatz über das Kokain in der „Gartenlaube“ 1885, S. 67.) Das gefährliche und vielfach die Operationen störende Chloroform brauchen wir seitdem nicht mehr.

Zudem war eine Umwälzung in der ganzen Chirurgie durch die Antiseptica, Karbol und Sublimat, entstanden; die peinlichste Auskochung der Instrumente, die Reinigung der Hände des Operateurs und der Augen des Kranken vor der Operation schützen fast völlig vor Eiterung des Auges. Während vor 40 Jahren noch 25% der Staroperationen durch Vereiterung zu Grunde gingen, war die Zahl allerdings vor 20 Jahren schon auf 5% gesunken; jetzt beträgt sie kaum 1 aufs Hundert. Es ist eigentlich wunderbar, daß unter diesen Verhältnissen niemand mehr an jene wichtige Operation dachte.

Da nahm ein junger, bis dahin unbekannter Augenarzt in Pilsen, Dr. Fukala, jetzt in Wien, trotz aller Warnungen der alten Meister die Frage praktisch im Jahre 1888 auf und teilte seine ersten ausgezeichneten Resultate im Jahre 1890 mit.

Er sagte ganz richtig „Probieren geht über Studieren“ und kämpfte mit großer Energie für seine Operationsmethode auf den augenärztlichen Kongressen in Heidelberg und Edinburg, unbekümmert um die Zweifel, welche von vielen Seiten anfangs gegen die optischen Erfolge geäußert wurden. Heute erkennen wohl alle erfahrenen deutschen Operateure an, daß er sich ein ungeheures Verdienst erworben hat; mit Recht verdient er den größten Dank und die größte Anerkennung, da seine Operation ganz sicher und gefahrlos ist.

Ich bekenne offen, daß ich, obgleich ich seit über 30 Jahren eine außerordentlich große Menge hochgradig Kurzsichtiger zu behandeln habe, mich erst sehr spät entschloß, Fukalas Methode zu versuchen.

Auch ich stand zu sehr unter dem Einfluß meiner großen Lehrer Graefe, Donders und Arlt. Erst als ich einige Fälle gesehen, welche Mooren in Düsseldorf glänzend operiert hatte, wurde ich von meinem Vorurteil befreit, und ich bin glücklich, daß ich die Methode Fukalas angenommen habe; denn die Resultate sind die allerschönsten.

Worin besteht nun der Fortschritt, den wir Fukala verdanken? Er versuchte nicht, die durchsichtige Linse herauszunehmen, sondern er machte sie künstlich undurchsichtig, trübe; er verwandelte sie künstlich in einen grauen Star.

Man weiß seit langen Zeiten, daß, wenn jemand sich mit einer Nadel in die Linse sticht, die durchsichtige Linse sich trübt, grauen Star bekommt, und man benutzt daher schon seit Jahrhunderten eine Nadel, um gewisse langsam fortschreitende Starformen, d. h. unvollkommen getrübte Linsen, durch einen Einstich in die Linse schneller zur Reife zu bringen. Allein die gesunde, durchsichtige Linse hat man vor Fukala nicht getrübt. Er aber trübte sie durch einen Nadelstich, das ist die Voroperation, reifte künstlich dadurch die Linse, und dann nach einigen Wochen nahm er die getrübte Linse aus dem Auge mit Leichtigkeit heraus. –

Wir müssen nun zunächst fragen: Wie sieht denn ein Kurzsichtiger, dem die Linse herausgenommen ist, in die Ferne? Wir haben es schon oben in Figur 15 gezeichnet. Er braucht nunmehr für die Ferne kein Glas mehr. Die Strahlen vereinigen sich jetzt auf der Netzhaut, wenn die Kurzsichtigkeit ungefähr der Nummer 12 bis 14 entsprach. War die Kurzsichtigkeit noch höher, so daß Gläser Nummer 15 bis 20 etwa gebraucht werden mußten, so wird er noch ein Konkavglas für die Ferne haben müssen, aber ein ganz schwaches, das er ohne Verkleinerung benutzen kann; oder aber die Kurzsichtigkeit war geringer als 12 bis 14; hatte er z. B. nur vorher konkav 10. gebraucht, so braucht er nun für die Ferne ein Konvexglas, aber auch nur ein schwaches, welches er ohne Beschwerden tragen kann.

Anders liegt die weitere Frage: Wie sieht er nun in die Nähe? Er hat ja die Accomodation vollkommen verloren, die Linse fehlt ihm doch. Rein theoretisch betrachtet, müßte er jetzt für jede Entfernung, in die er blickt, eine andere konvexe Brille haben. Aber so liegen die Dinge glücklicherweise nicht.

Wie die Blinden bekanntlich einen äußerst feinen Tastsinn haben, so haben die hochgradig Kurzsichtigen eine unglaubliche Uebung, ihre Zerstreuungskreise zu entziffern, sie, wie man sagt, zu verarbeiten. Nach der Operation sind nun aber die Zerstreuungskreise sehr klein.

Es tritt auf diese Weise ein Ersatz für die Accomodation, die ihnen fehlt, ein, der gegen früher noch besser für sie ist. Denn wenn jemand vorher so kurzsichtig war, daß er nur noch bis 5 cm in die Ferne sah, so konnte er wohl auch durch die Accomodation noch bis 4 cm sehen; aber was hatte er von diesem Centimeter für Nutzen in solcher Nähe? Jetzt, nachdem seine Linse herausgenommen, sieht er in einer viel größeren Strecke scharf. Es sind Fälle beobachtet, wo solche Geheilte ohne Glas auf 35 bis 60 cm lasen; braucht er aber eine Brille, so sucht man sie für eine Entfernung von 30 cm aus, und mit dieser sieht er nicht bloß auf 30 cm, sondern in sehr geringen Zerstreuungskreisen noch ein bedeutendes Stück vor und hinter dieser Entfernung mit Leichtigkeit. Er hat trotzdem keine Accommodation mehr, erhöht also beim Nahesehen nicht den Druck in seinem Auge.

Dazu kommt, daß er nun seine Convergenz auch nicht anzustrengen braucht. Da er nicht mehr in so großer Nähe lesen kann, muß er eben das Buch weiter forthalten; er braucht die inneren geraden Augenmuskeln also gar nicht zusammenzuziehen; er braucht nicht stark zu konvergieren. Es wird also im Innern des Auges kein großer Druck entstehen und die Ausdehnung der Augenhäute nicht weiter fortschreiten.

Ebensowenig wird eine Stauung in den Blutadern eintreten, da er ja den Kopf nicht mehr auf die Schrift aufzulegen braucht. Er kaun also jetzt ganz ohne oder nur mit schwachen Konvexgläsern ohne Accommodation, ohne Convergenz und ohne Kopfsenkung lesen. –

Zu allen diesen Vorteilen kam einer, auf den man gar nicht [871] vorher hatte rechnen können, der sich aber in fast allen Fällen glänzend gezeigt hat.

Es wird nämlich die Sehschärfe der Kranken nach der Operation ungemein gebessert. Die Sehschärfe nennen wir das Vermögen, Buchstaben von bestimmter Größe in bestimmter Entfernung erkennen zu können. Diese Sehschärfe ist bei den hochgradig Kurzsichtigen darum stets so gesunken, weil die nötigen Konkavgläser zu kleine Bilder liefern. Liest jemand die Leseprobe „Nosu“ in der untenstehend abgedruckten Schriftgröße

Nosu

(Snellen 6) mit oder ohne Glas bis 6 m, so ist seine Sehschärfe 6/6 = 1; liest er es trotz aller Gläser nur bis 3 m, so ist seine Sehschärfe 3/6 = 1/2; liest er es nur bis 1 m, so ist seine Sehschärfe = 1/6.

Nun sind schon viele Kurzsichtige operiert worden, die selbst mit den besten Gläsern nur 1/6 Sehschärfe vorher erzielen konnten und die dann nach der Operation ohne Glas oder mit ganz schwachen Gläsern 3/6 und mehr Sehschärfe hatten.

Anfangs hielt man die Angaben von Fukala für übertrieben. Allein ich habe selbst gleich beim ersten Male, wo ich die Operation machte, bei einem siebzehnjährigen jungen Mann, der vor der Operation mit dem schärfsten Konkavglase Nummer 20 höchstens 1/5 Sehschärfe hatte, nach der Operation ohne Glas 3/5 Sehschärfe bekommen; seine Sehschärfe war also verdreifacht worden. Das Schöne ist dabei, daß die Sehschärfe von Monat zu Monat besser wird. Fukala und andere Operateure haben sie im Laufe eines Jahres noch um 1/10 bis 6/10 sich bessern sehen. Vermutlich tritt eine langsame Besserung der Thätigkeit der Netzhaut ein durch Uebung im Fernsehen, welches ja vor der Operation von den Kranken gar nicht geübt werden konnte.

Die Operierten fühlen sich nach alledem jetzt so glücklich wie niemals vorher.

Eine wichtige Frage ist die: In welchem Alter soll man operieren?

Da bei jungen Leuten die Quellung der Linse und die Aufsaugung ihrer Reste eine leichtere ist als im Alter, so empfahl Fukala anfangs, die Operation noch vor dem 24. Jahre auszuführen; allein andere Operateure hatten ebenso günstige Erfahrungen bei Leuten von 35 bis 40 Jahren. Professor Pflüger in Bern operierte einen 48jährigen Arzt mit bestem Erfolge. Man fürchtete sich, ältere Personen zu operieren, da im Alter die Quellung der Linse viel langsamer vor sich geht, wenn schon ein fester Kern in der Linse sich gebildet hat; man glaubte, daß dann leichter Entzündung und Reizerscheinungen auftreten könnten. Nun haben aber Sattler und von Hippel nachgewiesen, daß glücklicherweise die Linse gerade der Kurzsichtigen im hohen Alter zu keiner Kernbildung neigt, und daß daher auch Personen, die über 60 Jahre alt sind, mit Glück operiert werden können.

Natürlich wird man nicht beide Augen zusammen operieren, wohl aber eines nach dem andern.

Man hatte früher geglaubt, daß man ja ein Ange, das operierte, nun für die Ferne und das andere, nicht operierte, wie bisher für die Nähe benützen lassen könne. Was hat aber der Kranke dann für einen Gewinn, wenn er sich beim Schreiben mit dem kurzsichtig gebliebenen Auge doch wieder so stark auflegen müßte? Wenn aber beide Augen nacheinander operiert werden, dann kann es sogar zum räumlichen stereoskopischeu Sehen mit beiden Augen zusammen kommen.

Von großer Wichtigkeit ist natürlich die Frage: Hindert die Herausuahme der Linse das weitere Fortschreiten der Kurzsichtigkeit?

Wir können nur antworten: Wahrscheinlich. Die Linse ist heraus, es giebt keine Accommodation, sie kann also nicht den Druck vermehren.

Eine Convergenz für die Nähe ist nicht mehr nötig, die geraden Augenmuskeln brauchen also nicht mehr den Augapfel zu drücken, die Kranken brauchen sich nicht mehr aufzulegen, der Kopf wird nicht gesenkt, es entsteht also durch Blutstauung im Auge kein Druck mehr. Eine Reihe Bedingungen für das weitere Längenwachstum des Auges ist also durch die Operation genommen. Fukala konnte auch bei solchen Kurzsichtigen, bei denen er nur ein Auge operiert hatte, feststellen, daß teilweiser oder gänzlicher Stillstand der Kurzsichtigkeit eintrat. Darin liegt einer der bedeutungsvollsten Gewinne der operativen Behandlung. Die Schädlichkeiten des Lesens und Schreibens, der Nahearbeit sind behoben.

Natürlich können nur jahrelange Beobachtungen darüber entscheiden, ob für alle Zeiten die Gefahr der Blutung oder Zerstörung am gelben Fleck der Netzhaut oder das traurige Los der Netzhautablösung abgewendet ist.

Wenn schon schwere Zerstörungen in der Tiefe des Auges vorhanden sind, bei notorisch kranken Augen, da wird die Operation nichts nützen. Wenn aber die Kurzsichtigkeit durch übermäßige Nahearbeit, durch Ueberbürduug der Accommodation und Convergenz veranlaßt worden ist, dann ist wohl Stillstand zu erwarten.

Professor von Hippel konnte bei keinem Operierten im Laufe von 2 Jahren eine Zunahme der Kurzsichtigkeit finden. Es sind nun wohl Fälle dagewesen, wo später Ablösung der Netzhaut auf dem nicht operierten Auge eintrat, während das operierte gesund blieb; freilich sind auch einige solche Fälle gesehen worden, wo trotz der Operation Netzhautablösung eintrat.

Wenn aber das Damoklesschwert der Ablösung selbst über den Operierten weiter schwebt, so haben sie ja doch wenigstens bis zu dieser vielleicht erst nach langen Jahren eintretenden Katastrophe besser gesehen als ohne die Operation.

Der Wert der Operation ist also gewiß ein ganz großartiger. Ich stimme nach meinen Erfahrungen vollkommen denjenigen Kollegen bei, welche die Fukalasche Methode zu den hervorragendsten Leistungen der Augenheilkunde rechnen; von Hippel sagt sehr treffend: „Dem durch grauen Star Erblindeten geben wir durch unsere Kunst ein Gut wieder, dessen er nur vorübergehend beraubt war; dem hochgradig Kurzsichtigen erschließen wir eine neue Welt und verhelfen ihm damit zu Lebensgenüssen, von denen er bis dahin keine Ahnung hatte.“

Professor Vossius stellt die Operation noch höher als die von Graefe entdeckte, hochgeschätzte Heilung des „grünen Stares“; denn dieser ist nur eine im ganzen seltene Krankheit des höheren Alters, die Kurzsichtigkeit aber macht ihren traurigen Einfluß schon in der Jugend geltend.

Es wird also durch Fukalas Operation die Existenz vieler Personen gebessert.

Der Kranke wird berufstüchtig und erwerbsfähig, und die Sehschärfe wird gebessert; mehr kann man von einer Operation nicht verlangen.

Bei der heutigen antiseptischen Methode ist die Operation übrigens vollkommen gefahrlos; eine Vereiterung des Auges, die man früher so sehr fürchtete, ist dabei ganz ausgeschlossen. Allerdings muß der Kranke lange Zeit unter der Aufsicht des Arztes bleiben; denn nach der Anreifung der Linse kann man jeden Augenblick gewärtig sein, daß man quellende Linsenmassen aus dem Auge lassen muß; und das kann auch zwei- bis dreimal notwendig werden. Da darf nicht einen Tag gezögert werden. Aber diese Operationen sind bei Kokainanwendung ganz schmerzlos; ja, was das Vertrauen der Kranken am meisten weckt, ist, daß dieselben in der Mehrzahl der Fälle außerhalb einer Anstalt behandelt werden können, oder nur 2 bis 3 Tage in der Klinik zu bleiben brauchen. Es ist freilich schade, daß nur die hohen Grade von Kurzsichtigkeit, die konkav 10 bis 20 brauchen würden, operierbar sind.

Das Wichtigste ist und bleibt das Urteil der Kranken, und diese sind alle zufrieden und dankbar und können meist kaum die Operatiou des zweiten Auges erwarten. Genug, zu den großen Wohlthätern der Augen der Menschheit, zu Helmholtz, welcher den Augenspiegel erfand, zu Albrecht von Graefe, welcher die Heilung des „grünen Stares“ erfand, zu Koller, welcher das Kokain erfand, zu Lister, welcher die Antisepsis erfand, gesellt sich ebenbürtig Vincenz Fukala.


[872]

Das letzte Blatt.

Was nicht der Herbst im Sturm genommen,
Vom Baume jäh hinweggerafft,
Das ist im Winter umgekommen.
Starr ruht das letzte Tröpflein Saft.

Im Gipfel – wo auf weichem Pfühle
Zur Sommerzeit der Vogel singt –
Gelb, wie ein Glöcklein im Gestühle,
Das letzte Blatt im Winde schwingt.

Auch das wird bald zur Erde gleiten,
Doch laß getrost es untergeh’n,
Denn es gehört vergang’nen Zeiten,
Und neues Grün will aufersteh’n.
 Max Hartung.



Turandots Polterabend.

Erzählung von Hans Arnold. Mit Illustrationen von A. Mandlick.

      (Fortsetzung.)

Die Nacht war vergangen und ein herrlicher, taufunkelnder, sonniger Morgen brach an – das Wetter schien sich an den allgemeinen Huldigungen des Städtchens für die schöne Käthe beteiligen zu wollen.

Die Heldin des Tages war, ihrer Gewohnheit entsprechend, mit der Sonne aufgestanden und in den Garten gegangen, wo sie die Ranken der Himbeersträucher anband und mit der Baumschere sachverständig dazwischen herum hantierte. Ihr anmutiges Gesicht sah ruhig und heiter aus; die Vernunftheirat, die sie heute mit sich selbst zu schließen im Begriff stand, mußte wohl das Richtige sein; sie sang leise vor sich hin in der Morgensonne und hatte so recht das befriedigende Gefühl des „von neuem Anfangens“, wie es uns mit dem Frühjahr so gern beschleicht.

Mit solchem Eifer war sie bei ihrer zierlichen Arbeit, daß sie es gar nicht bemerkt hatte, wie ein Fremder geräuschlos an die Hecke getreten war und ihr mit einem Blick gerührten Entzückens wohl schon fünf Minuten lang zugesehen hatte, bis er sich endlich entschloß und durch ein leises Räuspern die Aufmerksamkeit der einsamen Gärtnerin auf sich zu ziehen suchte.

Sie blickte empor -– sah in ein dunkelgebräuntes, offen blickendes Gesicht, sah zwei Hände, die sich ihr über die Hecke entgegen streckten, und stand stumm und sprachlos. Nicht einen Augenblick zweifelte sie, wer es sei, der ihr da so plötzlich gegenüber stand; das Blut schoß ihr sinnverwirrend in den Kopf und dann zum Herzen zurück; sie hielt wie geblendet die Hand vor die Augen und lehnte sich blaß und still an das Gitterwerk der Himbeersträuche zurück.

Da hatte aber auch schon Peter Hansen mit einem Satze, der vor zwölf Jahren nicht hätte kühner sein können, die Hecke übersprungen und stand neben ihr, den Hut in der Hand.

„Käthe – liebe Käthe!“ rief er mit feuchten Augen, „habe ich Dich – habe ich Sie erschreckt? Wollen Sie mir nicht Guten Tag sagen und die Hand geben, nach so langer Zeit?“

Das vertraute „Du“ der alten schönen Tage hatte sich ihm unwillkürlich in „Sie“ umgewandelt, als sie sich so rasch, so unheimlich rasch gefaßt hatte und nun mit einer hoheitsvollen Freundlichkeit vor ihm stand, die ihm mit einem Schlage klar machte und klar zu machen hatte, daß zwölf Jahre eine lange Zeit sind und daß sein Konto von diesen zwölf Jahren her noch unbeglichen war.

„So sind Sie wieder einmal in der Heimat, Herr Hansen?“ sagte sie mit kühler Ruhe und gab ihm die feine schmale Hand, die er auf so vielen seiner Bilder aus der Erinnerung angebracht hatte, „man hat Sie lange nicht hier gesehen, und Sie sind ja wohl auch mit niemand in Verbindung geblieben! Sie werden manches hier verändert finden – die Stadt ist größer und wir Menschen älter geworden! – Ihnen ist es gut ergangen?“

Er sah sie, während sie so sprach, mit einer Art von dumpfer Verwunderung an. War das wirklich seine Jugendliebe? War diese ernsthafte, stolze, junge Dame mit dem schlicht zurückgestrichenen schweren Scheitel, der den feinen Kopf so vornehm einfaßte – war sie denn wirklich identisch mit dem schönen lustigen Kinde von damals, dem die dunklen Haare nur so um die Stirn flogen, und das sie so wild zurückzuschütteln verstand?

Und hatten diese großen ernsthaften Augen ihn immer so ruhig angeblickt – oder hatte er sie zuletzt in angstvollen Thränen schwimmend auf sich gerichtet gesehen und die Bitte gehört: „Peter, geh’ nicht fort – geh’ wenigstens nicht im Zorn fort, Peter!“

Hatte er damals geträumt, oder träumte er jetzt? So tief war er in diese Gedanken verloren, daß er sie ihre Frage wiederholen ließ: „Es ist Ihnen gut ergangen?“ ehe er mit Ungestüm darauf antwortete: „Nein – es ist mir nicht gut ergangen, Käthe – wenn ich es mir auch nie so klar gemacht habe wie in diesem [873] Augenblick – wir müssen uns nur erst darüber einigen, was wir beide unter ,gut‘ verstehen! Wenn Sie damit meinen, daß meine Kunst mir einen angesehenen Namen, ein sicheres Brot und ein reiches Leben gebracht hat – dann muß ich wohl mit Ja! auf Ihre Frage antworten; aber wenn es sich darum handelt, ob meinem Leben nichts fehlt, ob ich gar keinen unerfüllten Wunsch mit mir herumtrage und herumgetragen habe, dann läßt sich freilich sehr darüber streiten, ob es mir gut gegangen ist!“

„So hoch versteige ich mich gar nicht!“ sagte sie, und mit derselben kühlen Liebenswürdigkeit, die aber zugleich einen leisen Spott durchschimmern ließ, fügte sie hinzu: „Ein Geschick, dem nichts fehlt – das ist doch ein gar zu kühner Wunsch, selbst für einen Künstler, der freilich immer meint, daß für ihn eben das Beste gut genug ist, und daß er zum Leben nur zu sagen braucht: ‚Bäumchen, rüttl’ dich, schüttl’ dich!‘, damit es ihm alles zuwirft. Ich bin eine zu prosaische Natur für solche Märchengedanken!“

Die leise Bitterkeit, die in ihren Worten klang, gab ihm zum erstenmal Hoffnung, daß ihre Ruhe nicht ganz natürlich sein möchte. Er empfand mit einer Art von Empörung, wie schnell, wie sicher und diesmal – wie unheilbar ihn seine schöne Jugendfreundin wieder in ihren Bann verstrickt habe, und seiner kecken Natur gemäß, die immer in Sprüngen auf ihr Ziel loszugehen gewohnt war, wollte er einen Gewaltstreich versuchen. Sein Glück bei Menschen, mit dem man ihn oft geneckt hatte, hier konnte es ja einmal die Probe bestehen – eigentlich zum erstenmal, daß ihm wirklich etwas daran gelegen war!

Er trat rasch auf sie zu.

„Käthe, wir wollen uns doch nicht mit Wortgefechten und Komödien aufhalten,“ sagte er. „Ich bin wiedergekommen – ich sage es Ihnen ehrlich, ohne selbst genau zu wissen, warum – nur in dem dunklen Gefühl, daß mir bei allen Erfolgen der beste Erfolg noch vorenthalten sei! Ich habe Sie wiedergesehen – und seitdem ist alles in mir klar, sonnenklar geworden! Was mich zurückführte, war derselbe starke, unwiderstehliche Trieb, der es dem Mandervogel im Süden sagt, wenn es daheim Frühling wird und da bin ich wieder, Käthe! Nicht mehr der ungestüme, wilde Junge steht vor Ihnen, der damals sein Glück, wie ein blinder Narr, von sich warf, sondern ein fertiger Mann, der es sich holen kommt – ein Glück, das viel größer ist, als es ihm in seinen kühnsten Träumen vorschwebte, und das daheim auf ihn gewartet hat. Zu Ihren Füßen, Käthe, will ich –“

Sie hob mit einer leichten, bestimmten Bewegung die Hand in die Höhe und hielt ihn zurück. Eine lebhafte Glut des Unwillens hatte während seiner letzten Worte ihr Gesicht bis unter die dichten Haarwellen überflutet, die feinen dunklen Augenbrauen zogen sich fast drohend zusammen.

„Halt!“ sagte sie, „wir verstehen uns, glaube ich, nicht recht, Herr Hansen! Was meinen Sie damit, daß das Glück, welches Ihnen vorschwebte, größer ist, als Sie es geträumt haben? Meinen Sie, daß dies armselige Gesicht mit seinem bißchen roter und weißer Farbe bei dem alternden Mädchen sich noch besser ausnimmt, als Sie es sich versprochen haben? Denn nur das können Sie doch mit dem ,Glück‘ meinen! Was sonst aus mir geworden ist, das wissen Sie ja gar nicht und können es nicht beurteilen! Wenn Sie mein Leben während der letzten zwölf Jahre gelebt hätten, dann würden Sie wissen, daß Sie sich keinen schlechteren Anwalt hätten wählen können als das, was die Leute meine Schönheit zu nennen belieben und was mir wahrhaftig nur ein paar sehr kurze Jahre hindurch Freude gemacht hat. Und das Glück hätte ,auf Sie gewartet‘, sagten Sie? Das ist doch ein bißchen viel Künstlerstolz, und den muß ich Ihnen dämpfen, wenn ich Ihnen sage: nein – ich habe nicht auf Sie gewartet – es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen!“

Er sah finster zu Boden, aber er antwortete nicht – er hatte einen Zweig von der Hecke gerissen und zerpflückte ihn, während sie sprach, in lauter kleine Stücke und Stückchen, ohne aufzublicken.

„Was wäre denn wohl aus mir geworden, wenn ich die ganzen langen Jahre auf Sie gewartet hätte?“ frug sie hart und fast ein wenig verächtlich weiter. „Ein verkümmertes Pflänzchen, das aus Mangel an Sonnenlicht sich in die Ecke zurückzieht und keinem zu Nutz und Freude blüht. Nein – als ich – ich will Ihnen nicht abstreiten, daß es lange gedauert hat! – aber als ich einsehen lernte, daß Sie es übers Herz brachten, nicht nur fortzulaufen, sondern auch fortzubleiben – daß kein einziges Mal Ihnen der Gedanke kam, mich mit einem Wort darüber aufzuklären, was aus Ihnen geworden sei – als ich nur durch die Ankündigungen Ihrer Bilder da und dort erfuhr, daß Sie noch lebten und daß es Ihnen wohl erging, da habe ich zu gärtnern angefangen, Herr Peter Hansen! Nicht bloß hier bei den Weinranken und Himbeersträuchern – nein, mich an mir selbst und an meinem eigenen Herzen. Ich habe mich aufgerichtet und festgebunden an meiner Selbstachtung und meinem Mädchenstolz – und habe die Ranken abgeschnitten, die sich noch an die alte Zeit festklammern wollten. Ich habe mir gesagt, daß es meiner nicht würdig wäre, um Einen zu trauern, der mich so vergessen konnte! Und nun bin ich fertig mit mir! Ich habe die schweren Jahre hinter mir, wo die Jugendfreuden abfallen wie die ersten Blätter im Herbst; ich weiß jetzt ganz genau, was ich am Leben habe – und es würde mir gar nicht in den Sinn kommen, meine Ruhe noch einmal in den Wind zu werfen, damit ein beliebiger Springinsfeld, und sei er zehnmal ein berühmter Maler und heiße er auch Peter Hansen, sie wieder auffangen und damit Fangball spielen kann!“

Sie hatte sich so in heißen Zorn hineingeredet, daß sie ihn zum Schluß gar nicht mehr ansah. Er hatte sich wie zerschmettert auf die Gartenbank fallen lassen, den Stock in die Erde gesteckt, die Hände darauf, und starrte düster vor sich hin, mit eben dem traurigen Blick, den sie vor Jahren so an ihm geliebt hatte. Genau so finstere Augen hatte er damals gemacht – sie wandte den Kopf unruhig ab.

„Und nun seien Sie mir nicht böse!“ sagte sie in unsicherem, weicherem Ton, „sehen Sie, das mußte vom Herzen herunter! Nun können wir das Blatt umwenden und ein neues Kapitel anfangen – gute Freunde werden, wie es sich für ein altes Mädchen ziemt, das sich jeden Heiratsantrag und jede Liebeserklärung ohnedem von heute an kontraktlich zu verbitten gewillt ist!“

Sie sah ihn nicht mehr an, um sich besser gegen ihr eigenes Herz wehren zu können – sie sah an ihm vorbei, in die blaue Luft hinein, einer Lerche nach, die eben leise trillernd in den Himmel stieg.

„Was wollten Sie denn hier anfangen?“ frug sie nach einer Weile in halb trotzigem Ton.

Er griff nach seinem Hut, den er vorhin von sich geschleudert hatte. „Das werde ich ja wohl für mich behalten dürfen!“ sagte er [874] kalt, „was ich jetzt will, das weiß ich dafür um so besser! Es ist ein eigen Ding mit dem Wiederkommen, und es soll mir nicht zum zweitenmal passieren! Leben Sie wohl, Käthe – diesmal fürs ganze Leben! Und wenn Sie in Ihrem Sonnenglück, in Ihrer ruhigen Abgeschlossenheit mal Zeit dazu finden, an einen fahrenden Gesellen zu denken –“

Die Stimme wurde ihm unsicher – die Augen gingen ihm über. Und ehe sie es sich versah, ehe sie’s verhindern konnte, hatte er sie in seine Arme gezogen und ihr liebliches Gesicht ungestüm geküßt. „Seien Sie nicht böse, Käthe, aber es ging nicht anders!“ sagte er dann ganz einfach und treuherzig, winkte ihr mit der Hand zurück und verschwand ebenso, wie er gekommen war, mit einem Satz über die Hecke – gerade wie vor zwölf Jahren – aus ihrem Garten und aus ihrem Leben!

Und Käthe stand noch einen Augenblick – halb betäubt und erschreckt, halb empört, und dann rief sie plötzlich, ohne Ueberlegung, einfach auch „weil es nicht anders ging“, laut und schmerzlich hinter ihm her: „Peter – Peter Hansen – ich hab’ es ja nicht so schlimm gemeint!“ – aber das hörte er nicht mehr!


Inzwischen war der Maler in starkem Laufschritte, wie ihn innerliche Erregung vorschreibt, ein paar Stunden lang im Felde herumgelaufen – ohne selbst zu wissen, was er that und was er vorhatte.

Erst als er sich todmüde und heiß am Stadtthor wiederfand, geriet er auf den verständigen Gedanken, einmal nach der Uhr zu sehen. Da wurde ihm klar, daß er ja mit der Mittagspost hatte weiter reisen wollen, und daß die seit einer Stunde und länger über Berg und Thal gerasselt war und er das Nachsehen hatte – wie es überhaupt heute sein Los zu sein schien! – Sich nach einer anderen Fahrgelegenheit umzuthun oder überhaupt augenblicklich an die Weiterreise zu denken, daran verhinderte ihn eine so bleierne Müdigkeit, wie er sie kaum je vorher gespürt hatte. Kein Wunder, er war so erschöpft von der anstrengenden Reise des vorigen Tages und der durchwachten und durchzeichneten Nacht! Denn er hatte sein Versprechen an den Doktor treulich gehalten, und sein Stift war geflogen wie im Fieber, bis die Sonne am Himmel stand.

Und statt nun die versäumte Ruhe nachzuholen, war er mit den ersten Morgenstunden aufgebrochen und wie ein Aepfeldieb um des Bürgermeisters Garten geschlichen, bis er seine alte Liebe wiedersah – und bis sie ihn so unbarmherzig seiner Wege gehen hieß. Die Erregung dieses Vorgangs und alles, was er seiner Natur in den letzten achtundvierzig Stunden als Extraleistung zugemutet hatte, rächte sich jetzt bitter; er war wie zerschlagen und zerschmettert und fühlte eigentlich nichts weiter als eine unbeschreibliche Sehnsucht nach Schlaf und Ruhe, in der alles andere – Vergangenheit und Zukunft – zu versinken schien.

So schlich er müde, wie nach schwerer Krankheit, ins Wirtshaus zurück, gab Befehl, daß ihn niemand stören solle und wenn er bis zum jüngsten Tage zu schlafen beliebe, und fiel auf seinem Bett sofort in den schweren traumlosen Schlummer, der sich nur dann einzustellen pflegt, wenn Körper und Geist gleichmäßig abgemattet sind. –

Inzwischen war man in der Stadt eifrig und heiter mit den Vorbereitungen zu dem seltsamen Polterabend der schönen Käthe beschäftigt, der gerade seiner Seltsamkeit halber den guten Leuten den meisten Spaß zu verheißen schien.

Ein Ständchen der Stadtkapelle, das an schrillem Mißklang und gutem Willen nichts zu wünschen übrig ließ und sogar den Postillon hätte beschämen können, der Peter Hansen am vorigen Abend so aus der Fassung geblasen – ein solches Ständchen hatte den Anfang der Huldigungen gemacht.

Zum größten Glück war das Programm noch vorher von dem alles anzettelnden und alles arrangierenden Doktor Lenz verändert und das verfängliche Lied „Schier dreißig Jahre bist du alt“ gestrichen worden, obwohl die Turandot es schwerlich übelgenommen hätte, da sie es in neuerer Zeit liebte, mit ihrem Alter zu kokettieren wie andere Mädchen mit ihrer Jugend.

„Sie muß eben immer etwas Apartes haben,“ sagten die älteren Damen des Städtchens auch hierbei wieder, wie bei manchem andern Anlaß im Leben des reizenden Geschöpfes. „Sie muß eben immer etwas Apartes haben,“ hieß es überhaupt in Bezug auf den heutigen Polterabend – aber darin hatten ja die Leute eigentlich recht!

Man redete über Käthe so mancherlei in diesen Stunden, die dem Feste vorausgingen, man flüsterte mit zusammengesteckten Köpfen, daß der Doktor Lenz wohl nicht umsonst so unablässig um die Anordnung bemüht sei: er wolle gewiß die Hoffnung noch nicht aufgeben, daß dem Schein-Polterabend noch mal ein wirklicher folgen werde, bei dem ihm eine minder nebensächliche Rolle zuerteilt werden sollte.

Als man nun gar den wackeren Herrn am späten Nachmittag noch einmal zum Landhaus des Bürgermeisters hinaus pilgern sah, da dachte wohl mancher und manche: „Er will am Ende noch einen letzten Sturm wagen“ und prophezeite sich und seinen Bekannten wohl gar einen andern Ausgang des heutigen Festes, als er geplant war. – Aber seine Mitbürger thaten dem Doktor unrecht; er ging durchaus nicht in selbstsüchtiger Absicht nach dem Landhaus – er war hinaus gerufen worden, und zwar durch ein Billet der Heldin des Tages, das ihm in seltsam aufgeregter Schrift und aufgeregten Worten zu wissen that, daß sie den alten Freund sprechen müsse und das bald.

Als der Doktor die Hausthür mit dem schweren blitzenden Metallgriff ins Schloß fallen ließ und in die große kühle Diele trat, kam Käthe die breite Holztreppe herunter ihm entgegen; sie stützte sich auf das Geländer, als wenn sie müde wäre, und ihr Gesicht hatte nicht viel mehr Farbe als ihr weißes Kleid.

Sie legte aber, als der Doktor fragen und sprechen wollte, sachte den Finger auf den Mund und führte ihren alten Freund in das Gartenzimmer zu ebener Erde, in dem die Spätnachmittagssonne ihr Spiel trieb und auf den weißlackierten steifen Möbeln mit den feinen Goldrändchen flimmerte und glänzte. Dort lud sie ihren Gast mit einer Handbewegung zum Sitzen ein, sie selbst blieb vor ihm stehen, die Augen auf den Boden geheftet und mit einem Ausdruck bekümmerter Unsicherheit, den der Doktor noch nie auf ihrem schönen Gesicht gesehen hatte.

„Nun?“ frug er endlich in freundlichem Ton, da die Pause [875] anfing beängstigend zu werden, „nun? was haben Sie denn, Fräulein Käthe? Soll ich ein Rezept gegen Nervenverstimmungen schreiben, die Sie doch, nach eigener Versicherung, Ihr Leben lang nicht gekannt haben?“

Sie schüttelte mit einem halben unsichern Lächeln den Kopf und schwieg wieder, wie unfähig, die rechten Worte zu finden.

„Oder,“ fuhr der Doktor beobachtend fort, „ist Ihnen die Vernunftehe mit dem lieben Selbst leid geworden? Haben Sie sich mit ihm entzweit und wollen statt des Solo doch lieber ein Duett zu singen versuchen?“

Sie wurde glühend rot und blickte rasch in die Höhe.

„Haben Sie ihn gesehen?“ frug sie hastig und im selben Augenblick tief erschrocken über ihre Unbedachtsamkeit.

Der Doktor sah, dem Anschein nach, sehr verblüfft drein.

„Wen?“ frug er und that erstaunt und ahnungslos, während er sich ein innerliches „Aha!“ nebst stillem Triumph über seine Anlage zur Pfiffigkeit gestattete.

„Ich meine – ich dachte – ich meinte – meinen Vater!“ brachte Käthe in größter Verlegenheit und nicht sehr glaubwürdig hervor.

Der Doktor schüttelte bedächtig den Kopf.

„Hören Sie mich einmal an, Fräulein Käthe,“ begann er dann ernsthaft, „wenn ein Mensch den Doktor holen läßt, dann nimmt man gewöhnlich an, daß ihm etwas fehlt! Und wenn der Doktor ihn dann kurieren soll, so muß er vor allen Dingen wissen, wo es fehlt! Sie haben mich holen lassen – was Sie meines Wissens um Ihretwillen noch nie gethan haben – ich komme im Drange der Geschäfte, in Polterabendsorgen, und nun stehen Sie vor mir wie ein kleines Schulmädchen, das beim Aufgabenabschreiben ertappt worden ist, lassen den Kopf hängen und wollen mir keine Auskunft geben. Ja, was soll ich denn da eigentlich mit Ihnen anfangen?“

Der lustig liebenswürdige Ausdruck seines Gesichts und der gemütliche Ton der kleinen Strafrede hatten Käthe ihre Fassung wieder gebracht. Sie lächelte den guten Freund mühsam an.

„Sie haben vollständig recht!“ sagte sie mit einem gewaltsamen Ansatz zur Selbstbeherrschung, der ihr kümmerlich genug gelang, „lachen Sie mich nur tüchtig aus – das wird mir gut thun! Ja, lieber Herr Doktor, ich habe ein Anliegen, ich weiß nur nicht, wie ich es Ihnen am besten vortragen soll. Mir fehlt nichts – oder mir fehlt doch vielleicht allerlei – jedenfalls aber habe ich etwas zu viel und das ist ein Polterabend! Ich will ihn nicht haben, und ich mag ihn nicht haben, und Sie sollen das undankbare Amt übernehmen, den Gästen allen zu sagen, daß sie heute abend zu Hause bleiben möchten – daß ich krank geworden wäre – Sie sollen’s auch den Eltern sagen! – Mir ist der Gedanke zuwider, und ich mag nicht mehr – ich könnte es gar nicht ertragen, heute abend – glauben Sie mir!“

Der Doktor zog das erregte Mädchen sachte auf einen Sessel neben sich nieder.

„Nun sagen Sie einmal, was ist denn in Sie gefahren?“ fragte er ruhig. „Haben Sie uns allen - mich nicht ausgeschlossen! – nicht schon genug zu raten aufgegeben, daß Sie heute – heute vor allen Tagen im Jahr, noch einmal damit anfangen müssen? Das sieht ja meiner klugen, verständigen guten Freundin gar nicht ähnlich, daß sie so ihren eigenen Gefühlen und Wünschen mir nichts, dir nichts die Zügel auf den Hals wirft und sie durchgehen läßt – ganz unbekümmert darum, ob sie ein paar anderen Menschen den Blumengarten zertreten, an dem sie ein ganzes Weilchen gebaut haben! Denken Sie doch einmal daran, wie die guten Leute hier alle – mich abermals nicht ausgeschlossen! – sich seit Wochen Mühe gegeben haben, ein doch von Ihnen selbst erdachtes Pläsir in Scene zu setzen, wie sie nun nach und nach selbst Vergnügen daran gefunden haben und sich darauf gefreut haben – und nun – um einer Laune willen, wie sie Ihnen wirklich gar nicht zu Gesicht steht, weil man sie so gar nicht an Ihnen gewöhnt ist, soll das alles umsonst gewesen sein?!“

„Nein!“ sagte Käthe jetzt energisch und hob ihre thränenfeuchten Augen ehrlich zu dem Sprecher auf, „nein – Launen habe ich nie gehabt, lieber Freund, und werde wohl jetzt nicht damit anfangen – aber etwas andres habe ich gehabt, was mir wohl keiner zutraut – eine alte Liebe habe ich gehabt – und sie erst heute für immer verloren! Und wenn mir da – an dem Tage nicht gerade nach Spaß und Scherz und Polterabend zu Mute ist, das kann mir doch wahrhaftig keiner verdenken!“

Und sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein leidenschaftliches Weinen aus, das um so schmerzlicher auf den Zuhörer Eindruck machte, weil es mit ihrer sonstigen kühlen und beherrschten Weise in so grellem Widerspruch zu stehen schien.

Der Doktor ließ sie ruhig ausweinen, und dann nahm er ihre Hand und behielt sie in der seinen.

„Nun, Fräulein Käthe, seien Sie verständig,“ sagte er mit Herzlichkeit, „jetzt wollen wir zunächst einmal sehen, ob wir die Sache, die Sie so außer sich selbst gebracht hat, nicht in logischer Folge erfahren. Wir wollen mal ,Frage und Antwort‘ spielen, damit Sie nicht zu erzählen brauchen! Sie sollen nur nicken und schütteln – dann werde ich mir das übrige mit meinem gewohnten Scharfsinn schon zurecht denken. Sie wollen? Das ist recht! Also – die alte Liebe! Ist er Ihnen untreu geworden? Nein! Oder Sie ihm? Auch nicht! Ist er ein Taugenichts? Was – so viel Nein! Ist er ein Maler? Ja? Ist er hier? Nein? – Das stimmt nicht, Fräulein Käthe – er ist hier, und ich habe ihn selber gesehen und bin gestern abend mit ihm im ,Lamm‘ zusammengewesen – er ist hier!“

„Nein!“ stieß Käthe unter erneutem Thränenstrom hervor, „er ist nicht mehr hier – er ist abgereist – er hat mir heute morgen auf immer Lebewohl gesagt – und er kommt nie – nie wieder!“

„Na!“ sagte der Doktor, „das wollen wir erst mal sehen! Geben Sie mir Vollmacht, Fräulein Käthe, und ich gehe und bringe die Sache in Ordnung – seien Sie ganz ruhig – wenn nicht heute, dann morgen. Wenn man von einer so schönen Jugendliebe im Aerger fortgeht, um nienie wiederzukommen, dann pflegt man, meiner langjährigen Erfahrung nach, am nächsten Tage wieder da – oder gar nicht abgereist zu sein; lassen Sie mich mir mal machen! Ich habe schon schwierigere Sachen wieder ins rechte Geleis gebracht,“ setzte der Doktor mit großem Selbstgefühl hinzu.

Käthe sah zweifelhaft zu ihm auf.

„Aber nun versprechen Sie mir vor allen Dingen etwas,“ fuhr der Doktor fort, „Sie lassen heute abend die Polterabendscherze, die Glückwünsche und harmlosen Späße der guten Leute so ruhig, so gefaßt, so liebenswürdig über sich ergehen, wie wir’s alle an Ihnen gewöhnt sind, und haben mal Zutrauen zu Ihrem alten Doktor und Verehrer, dem es doch eine Ehrensache ist, daß seine erste und hoffentlich einzige Kur an Ihnen gelingen soll. Also Geduld und Fassung – und ein paar rötere Backen zu heute abend, Fräulein Käthe! Das ist gar kein Gesicht für eine Braut, die heute Polterabend feiert, und wenn’s auch einer ohne Bräutigam ist.“

Er nickte ihr zu und ging.

Käthe blieb zurück, zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, und mit einem so unruhig schlagenden Herzen, wie sie sich’s garnicht mehr zugetraut hätte.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.


Amerikanische Flugmaschinen. In die Reihe derer, die es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, dem Menschen, der bereits Erde und Wasser unumschränkt beherrscht, auch die Luft zu erschließen, sind in den letzten Jahren mehrmals namhafte amerikanische Konstrukteure eingetreten. Als echte Kinder ihres energievollen Landes packen sie meist auch diese Aufgabe gleich im großen Umfang an: langsam fortschreitende Uebungen, Segelapparate und dergleichen Mittel, mit denen man wohl diesseit des Oceans das Problem zu lösen hofft, gelten ihnen nichts, sondern meistens ist es gleich der Dampf, mit dessen Hilfe sie die Luft im großen Maßstab zu bemeistern suchen. Zwei der neueren Versuche dieser Art haben einige Erfolge gehabt und werden wohl fortgesetzt werden, da es ihren Erfindern nicht an Mitteln fehlt. Der eine der beiden Konstrukteure, Herr Maxim, hat sich bei dem bestehenden Ueberfluß von noch unerprobten „Lösungen“ der Flugfrage nicht lange mit Erfinden aufgehalten, sondern ist frisch daran gegangen, denjenigen Lösungsgedanken, der ihm am meisten Gewähr des Gelingens zu versprechen schien, in die That umzusetzen. Eine Möglichkeit, sich selbst und große Massen in der Luft schwebend zu erhalten, liegt nun, wie kein Physiker bestreitet, in der Anwendung schräg geneigter Flächen, die mit einer gewissen Schnelligkeit horizontal vorwärts bewegt werden. Jeder im Winde stehende Drachen liefert einen Beweis [876] für diese Theorie, und da es ganz gleichgültig ist, ob sich der Wind gegen den Drachen oder der Drachen gegen die Luft bewegt, so ist ohne weiteres klar, daß man selbst schwerere Massen durch die Luft befördern könnte, sobald man hinreichend große drachenartig gestellte Segelflächen mit großer Geschwindigkeit und unter Beherrschung des Gleichgewichtes vorwärts zu treiben vermöchte. Aus solchen Drachen- oder Segelflächen mit ihren verbindenden Konstruktionsteilen ist Maxims Flugapparat zusammengesetzt, und da er für Versuche im größten Maßstabe dienen sollte, so trug gleich das erste Modell nicht weniger als 500 bis 600 qm Segel, welche durch einige starke Propellerschrauben mit großer Geschwindigkeit fortbewegt werden sollten. Eine Dampfmaschine mit ganz besonders sinnreichem und leichtem Kessel, welche angeblich trotz ihres geringen Gewichtes über 300 Pferdestärken entwickeln sollte, setzte das ganze Werk in Bewegung. – Um der Maschine zunächst die zum Auffliegen nötige Schnelligkeit zu erteilen, ließ man, sie auf Geleisen abfahren und gewissermaßen einen Anlauf nehmen, worauf beim ersten Versuch auch wirklich ein gewisser Auftrieb stattfand. Nun hatte aber der Erfinder, der Lenkung des großen Ungetüms noch nicht so ganz gewiß, auch über der Versuchsstrecke eine Schienenführung angebracht, welche die Maschine hindern sollte, beliebig hoch zu steigen. In dieses obere Geleise gerieten die Flügelräder, sie zerbrachen, und die Maschine fiel schwer beschädigt zu Boden. Jedenfalls sind aber die Erfolge für den Unternehmer nicht entmutigend gewesen, da er seine Versuche fortzusetzen beabsichtigt.

Besser gelangen die in diesem Sommer angestellten Versuche mit einer von dem amerikanischen Meteorologen Prof. Langley erfundenen Dampfflugmaschine, welche, zwar vorläufig im kleinen Maßstab erbaut wurde – sie wog noch nicht soviel Pfunde wie die Maximsche Centner – aber überraschende Resultate ergab. Die über einer Bucht des Potomacflusses veranstalteten Proben, denen viele bekannte wissenschaftliche Größen beiwohnten, erregten allgemeine Bewunderung. Die Maschine, an Gestalt und Arbeitsweise einem riesigen Vogel gleichend, erhob sich bei dem ersten Abflug, der von Bord eines Schiffes (und natürlich ohne Bemannung) stattfand, etwa 25 m hoch in großen Kurven und senkte sich dann, als die noch unvollkommene Dampfmaschine ihre Arbeit einstellte, langsam aufs Wasser herab, wo man sie wieder einfing. Ein zweiter Versuch gelang in ähnlicher Weise, der Apparat flog vom Schiffe über ein Vorgebirge des Ufers hinweg und kam auch diesmal unbeschädigt wieder herab. Jeder Flug wurde auf beinahe einen Kilometer geschätzt und dauerte etwa anderthalb Minuten. Natürlich ist auch durch solche, immerhin günstigen Resultate, das Problem der Flugmaschine noch lange nicht gelöst, aber es bedeutet jedenfalls wiederum einen großen Fortschritt, eine Maschine erfunden zu haben, welche ohne die ständige Lenkung des Menschen das Gleichgewicht ihrer Lage behält und größere Flüge auszuführen vermag. Es beschäftigen sich jetzt so viele ausgezeichnete Köpfe mit der Flugfrage, und auf so verschiedenen Wegen ist man bestrebt, sich dem Ziel zu nähern, daß kaum noch ein Zweifel an dem endlichen Gelingen übrig bleibt. Bw.     

Die Fütterung der Havelschwäne im Winter. (Zu dem Bilde auf S. 865.) Wenn die Umgebung der Reichshauptstadt das absprechende Urteil nicht verdient, das man von Unwissenden oft über sie fallen hört, so verdankt sie das in erster Linie dem breiten, waldumstandenen Havelflusse. Von Heiligensee, einem durch seine köstlichen Fische gar berühmten Ausflugsorte, an beginnt die Havel mächtige, wenn auch nicht eben tiefe Seen zu bilden, und bis zu ihrem Eintritt in die Elbe schmückt sie nun die Flachlandschaft mit einer Kette weit ausladender, romantischer Buchten. Bei Potsdam, das durch sie zur Insel geworden ist, zeigt sie ihre Schönheit im höchsten Glanze, und hier ist es auch, wo die bekannten Havelschwäne ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben. Wohin immer man an schönen Sommertagen auf diesen Gewässern kommt, überall tauchen auf dem goldigen Blau der Flut wie weiße Riesenblumen die Leiber der majestätischen Vögel auf, überall erspäht man ihre Nester. Sie verleihen der Landschaft einen ganz besonderen Reiz, und der Umstand, daß sie sich scheinbarer Freiheit erfreuen, erhöht noch das Interesse für sie. Man sieht ja nicht, daß ihnen allen die Schwingen beschnitten sind, man hält sie für die natürlichen Bewohner dieses hübschen Erdenwinkels und weiß nicht, daß sie nur der Freigebigkeit des Königs ihr Hiersein verdanken. Der Havelschwan aber fühlt sich wohl in seiner Abhängigkeit. Die Tage sind vorbei, wo man ihn hier als einen jagdbaren Vogel behandelte, um so etwas mehr Nutzen und Vergnügen von der Fürsorge zu haben, die man ihm angedeihen ließ. Man nahm rechtzeitig Abstand von diesem Sport, als die Schwäne im Laufe der Zeit so zahm geworden waren, daß sie sich ruhig, und ohne einen Versuch zur Flucht zu machen, dem Schusse aussetzten. Seitdem wird nicht mehr ihr Leben, sondem nur noch ihr Federkleid bedroht, dessen man sie der geschätzten Schwanendaunen wegen mitunter teilweise zu berauben pflegt, und sie können als Pensionäre des Königs jeder Jahreszeit – auch dem gefürchteten Winter! – sorglos entgegensehen. Sie kennen ja ihren Futterplatz unfern der Eisenbahnbrücke, wo ihnen von ihrem eigens dazu angestellten Pflegevater zweimal täglich reichliche Nahrung geboten wird. Genau zur bestimmten Zeit kommen sie unter gewaltigem Geschnatter in großen Haufen von nah’ und fern herbei; da ist kein Zug, der sich verspätet, ist keiner, der nicht gierig der erste zu sein trachtet. Mit der Atzung wird nicht gegeizt, das wissen sie wohl, aber dennoch balgen sie sich um jedes Körnlein, und die Schwächeren müssen allemal geduldig warten, bis ihre Vormänner befriedigt abziehen. Oft genug sieht sich der alte Fischersmann sogar genötigt, besonders zudringliche Burschen mit kräftigem Hiebe abzuwehren. Die Fütterung, die Tag für Tag mehrere Centner Getreide verschlingt, dauert bis zu der Zeit, wo Strom und Bäche wieder vom Eise befreit sind und die stolzen Vögel es nicht mehr nötig haben, von der Menschen Gnade zu leben. Dann wandern sie allesamt wieder nach ihren langjährigen Standorten, diese nach Spandau und weiter hinauf, jene über den tückischen Schwielochsee zu den einladenden Brandenburger Seen.

Ein Dankesgruß von J. G. Fischer. Unter unzähligen Kundgebungen der Sympathie und Verehrung hat vor wenigen Wochen der Nestor der deutschen Dichter der Gegenwart, Johann Georg Fischer, seinen achtzigsten Geburtstag in Stuttgart gefeiert. Aus nah’ und fern ertönte in diesen Tagen der Wiederhall seines Ruhms; auch die „Gartenlaube“ begrüßte freudig den Anlaß zu einer eingehenden Würdigung seines reichen dichterischen Schaffens, die in Nr. 43 erschien. In bewunderungswürdiger Rüstigkeit hat J. G. Fischer selbst den Ehrentag am 25. Oktober begangen. Mit der Dankbarkeit für alles Schöne, die auch seine Dichtungen wiederstrahlen, hat er sich an den vielen Beweisen von Liebe und Verehrung erfreut, die ihm in so erhebender Weise aus allen Kreisen der Nation zu teil wurden. Was er darüber empfand, hat dann in einem Gedicht seinen wärmsten Ausdruck gefunden, das er nun der „Gartenlaube“ zur Veröffentlichung übergeben hat, damit sein Dank gleichfalls allenthalben im deutschen Volke Wiederhall finde.

Zum Dank
für meinen achtzigsten Geburtstag.

Es klingt ein Lied in meine Schlummerstätte
Und schwillt heran wie junges Morgenlicht,
Als ob des schönsten Tages Angesicht
Zum schönsten Wunsche sich entschlossen hätte:

Da drängen sich mir zu, wie um die Wette,
Aus Blumen, die man sonst im Frühling bricht,
Die Veilchenkränze und Vergißmeinnicht,
Von edlen Weinen eine Perlenkette.

So strömt der Tag mit überreichen Ehren,
Mit Grüßen, welche Stund’ um Stunde währen,
Und wie ein Unerschöpfter geht er hin.

Es kommt der Abend noch mit vollen Händen,
Der neue Morgen kommt mit neuen Spenden –
Und neuen Zweifeln: Ob ich’s würdig bin.
 J. G. Fischer.

Extrapost. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die auf unserem Bilde dargestellten kleinen Brüderlein haben während ihres fünfwöchigen Daseins noch keine Gelegenheit gehabt, sich über die Vorzüge der einzelnen Verkehrsmittel eine Ansicht zu bilden: vorläufig sind ihnen noch alle Dampf-, Pferde- und elektrischen Bahnen gänzlich „Wurst“. Aber das wissen sie nun bereits aus Erfahrung, daß es ein sehr angenehmes Gefühl ist, so sanft auf dem weichen Handtuch von dem jungen Menschenkind über den Rasen hin gezogen zu werden. Ein kleines Unglück ist dabei zwar auch nicht ausgeschlossen, wie der über einen etwas stärkeren Ruck gänzlich umgepurzeite Passagier beweist, aber die fröhliche Lenkerin der flotten Extrapost bremst sofort, und nach kurzem Aufenthalt kann die Fahrt ihren vergnügten Fortgang nehmen! Man weiß nicht, was einem besser gefällt auf dem liebenswürdigen Bildchen: die vier plump drolligen Gesellen oder das hübsche blonde Köpfchen, das sich so liebevoll nach ihnen zurückwendet! Bn.     


Kleiner Briefkasten.

G. K. in Antwerpen. Genaue Auskunft über die von Ihnen aufgeworfenen Fragen erteilen die im Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig erschienenen Bücher von Buhle „Lehrbuch des Skatspiels“ und „Skatordnung“.


manicula Hierzu die Kunstbeilage XV: „Extrapost“. Von W. H. Gore.

Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (13. Fortsetzung). S. 857. – Im Ratskeller zu Hamburg. Von Gustav Kopal. S. 860. Mit Abbildungen S. 857, 860, 861, 862 und 863. – Ueber operative Heilung der Kurzsichtigkeit. Von Prof. Dr. Hermann Cohn. S. 864. Mit Abbildungen S. 864, 866, 867 und 868. – Die Fütterung der Havelschwäne im Winter. Bild. S. 865. – Im Bade. Bild. S. 869. – Das letzte Blatt. Gedicht von Max Hartung. Mit Randzeichnung. S. 872. – Turandots Polterabend. Erzählung von Hans Arnold (Fortsetzung). S. 872. Mit Abbildungen S. 872, 873 und 874. – Blätter und Blüten: Amerikanische Flugmaschinen. S. 875. – Die Fütterung der Havelschwäne im Winter. S. 876. (Zu dem Bilde S. 865.) – Ein Dankesgruß von J. G. Fischer. S. 876. – Extrapost. S. 876. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 876.


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das vierte Quartal der „Gartenlaube“ 1896; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 51. 1896.


Der Weihnachtsbüchertisch der Jugend. II. Auf dem heurigen Weihnachtstisch sind neue Werke für die heranwachsende weibliche Jngend reichlich vertreten. Es sind dies zumeist anmutige und durchaus sinnige Erzählungen, von denen wir folgende empfehlend nennen: „Glück auf!“ von Marie Beeg (Stuttgart, Süddeutsches Verlagsinstitut), „Das Waldfräulein“ und „Mädchengeschichten“ von Elisabeth Halden (Glogau, Karl Flemming), „Trostblümchen“ von Martha Giese (ebenda), „Amtmanns Thilde“ von Nanny Necker (Stuttgart, W. Effenberger) und „Erkämpftes Glück“ von A. von der Elbe (Berlin, H. J. Meidinger). Für jung und alt ist dagegen die von warmer Vaterlandsliebe getragene Erzählung „Aus schwerer Zeit“ von Auguste Schmidt (Leipzig, Ferd. Riehm) geeignet, die uns die harte Not der Napoleonischen Herrschaft vergegenwärtigt. In dieselbe Epoche der Erniedrigung und Erhebung Deutschlands versetzen die reifere Jugend zwei Geschichtswerke aus dem Verlage von Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig: „Unter der Geißel des Korsen“ von M. Hübner, mit Illustrationen von A. v. Rößler, und „Luise, Königin von Preußen“ von Brigitte Augusti. Eine anschauliche Schilderung der Stätten biblischer Geschichte bietet der bekannte Missionar und Forschungsreisende Dr. Bernhard Schwarz in dem hübsch illustrierten Büchlein „Palästina für die Hand der Jugend“ (ebenda). Für kleinere, weniger prunkvolle, aber doch gediegene und die Leselust zweckmäßig befriedigende Gaben sind die Bändchen der „Universal-Bibliothek für die Jugend“ (Stuttgart, Union) ganz besonders geeignet. In demselben Sinne kann „A. Köhlers (Dresden) Jugend- und Volksbibliothek“ empfohlen werden. Beide Bibliotheken sind durch neue Bändchen bereichert worden. Zu den Jahrbüchern für die Jugend, die wir bereits früher besprochen haben, gehört auch die „Jugend-Gartenlaube“ (Nürnberg, Verlag der „Jugend-Gartenlaube“). Von dieser reich illustrierten Zeitschrift ist der neunte Band erschienen. „Eine glückliche Familie“ lautet der Titel einer hübschen Geschichte von Tony Schumacher, der Verfasserin von „Mütterchens Hilfstruppen“ (Stuttgart, Levy & Müller). Es wird in derselben Anleitung gegeben, wie Knaben und Mädchen im Haushalte helfen und zum Glück der Ihrigen beitragen können. Ein interessantes Prachtwerk für die reifere Jugend ist das Buch „Unsre Vogel in Sage, Geschichte und Leben“ von A. Carsted, mit Bildern von Fedor Flinzer (Leipzig, Ferd. Hirt & Sohn), während das durch Reime erläuterte originelle Bilderbuch „Ferien der Tiere“ von L. W. Wittich mit Bildern von Karl Wagner (Dresden, C. C. Meinhold & Söhne) für Kinder bestimmt ist. „Kolumbus-Eier“ (Stuttgart, Union) heißt ein Buch, das, von der Redaktion des „Guten Kameraden“ herausgegeben, mit 140 Illustrationen versehen, eine Sammlung hochinteressanter und belehrender Spielereien bietet. Oswald Hancke, Direktor des Großherzoglichen Hoftheaters in Karlsruhe, hat „Die Perlen der Bühne“ in Erzählungen für die Jugend bearbeitet (Stuttgart, Süddeutsches Verlagsinstitut). Wir finden in knappen Erzählungen den Inhalt der beliebtesten Dramen und Opern wiedergegeben. Das originelle Werk ist mit reizenden Farbendruckbildern nach Aquarellen von W. Zweigle geschmückt. Zum Schluß erwähnen wir noch ein Märchenspiel für Kinder „Knecht Ruprecht und der Weihnachtsengel“ von Elisab. Ebeling, illustriert von M. Hohneck (Dresden, C. C. Meinhold & Söhne).

Die Fahrradtaxameterdroschke.
Nach einer Aufnahme von Zander & Labisch in Berlin.

Bilderwerke vom Weihnachtsbüchertisch. Von den Prachtwerken, die sich dieses Jahr neu als Festgeschenk darbieten, haben mehrere die Schilderung schöner Landschaft und des Lebens darin zum Gegenstand. Die hervorragendste Erscheinung dieser Gruppe, die „Hochzeitsreise nach Italien“ von Allers, wurde bereits besprochen. Dem Gesamtgebiete der Alpen ist das gediegene, stattliche Werk „Aus den Alpen“ (Prag, F. Tempsky) gewidmet, dessen ansprechender Text von R. v. Lendenfeld geschrieben ist, während die zahlreichen, künstlerisch reizvollen Illustrationen von E. T. Compton und P. Hey stammen. Von den zwei Bänden umfaßt der erste die „Westalpen“, der zweite die „Ostalpen“. In engeren Grenzen bewegt sich Karl Kollbachs ansprechender Band „Die deutschen Alpen“ (Köln, Neubner); die gutgewählten Abbildungen desselben sind photographischen Ursprungs. Als ein kühner Bergsteiger, der in der Welt der Ferner und Hochgipfel den photographischen Apparat mit künstlerischem Geschmack handhabt, hat sich Theodor Wundt mit seinen „Wanderungen in den Ampezzaner Dolomiten“, die in 2. Auflage vorliegen, einen Ruf geschaffen, der durch seine neue Gabe „Das Matterhorn und seine Geschichte“ (Berlin, R. Mitscher) volle Bestätigung findet. Die herrlichen Ansichten, welche der Band „Das Achilles-Schloß auf Corfu“ von C. Christomanos (Wien, C. Gerolds Sohn) enthält, geben uns einen Vollbegriff von der Schönheit der Insel und des Tuskulums, das sich die Kaiserin von Oesterreich auf ihr errichten ließ. Mit Abbildungen duftiger Aquarelle ist das schmucke Werkchen „Thüringen in Bild und Poesie“ von Lisa Vielitz (Eisenach, Brunner) geziert; die Landschafts- und Architekturbilder sind von Gedichten bekannter Poeten begleitet, welche den berühmten Oertlichkeiten gewidmet sind. – „Den Deutschen Oesterreichs!“ betitelt sich ein Prachtwerk, das ebensosehr seines schönen Inhalts als seiner Bestimmung wegen die wärmste Empfehlung verdient. Es vereinigt hundert wertvolle Studienblätter deutscher Künstler und wurde unter der künstlerischen Leitung Defreggers zu Gunsten des deutschen Studentenheims und des deutschen Vereinshauses in Cilli herausgegeben (München, J. F. Lehmann). Die Einleitung von Heinr. Wastian schildert in warmen Worten den Kampf des Deutschtums in Steiermark. Max Haushofer hat es mit bewundernswertem Geschick verstanden, um die so verschiedenartigen Bilder das poetische Rankenwerk eines erläuternden Textes von innerem Zusammenhang zu flechten. – Der Jubiläumsstimmung, welche der Rückblick auf die Zeit der großen Siege, die zur Gründung des Reiches führten, allüberall, wo Deutsche wohnen, erregte, hat das große Lieferungswerk „Illustrierte Geschichte des Krieges 1870/71“ (Stuttgart, Union) in würdigster Weise Rechnung getragen. In charakteristisch ansprechend ausgestattetem Einband liegt es nun fertig vor. – Ein künstlerisches Unternehmen hohen Ranges, das sich an den gebildeten Kunstsinn wendet, ist das Bilderwerk „Handzeichnungen alter Meister aus der Albertina und anderen Sammlungen“, dessen erster Band, von J. Schönbrunner und J. Meder herausgegeben, bei Gerlach & Schenk in Wien erschienen ist. Die mit feinem Geschmack ausgewählten Handzeichnungen sind in Lichtdruck so ausgezeichnet wiedergegeben, daß sie wie Faksimiles wirken. – „Berühmte Gemälde der Welt“ nennt sich ein stattlicher Sammelband von gut ausgeführten Nachbildungen moderner Gemälde aller Nationen (Leipzig, O. Maier). Die Auswahl des reichen Bilderschatzes ist so getroffen, daß sich ein wahrhaft anmutiger Gesamteindruck ergiebt und der Beschauer zugleich charakteristische Proben der hervorragendsten Maler der Gegenwart kennen lernt. – Mit 30 Dichterbildnissen von Erdm. Wagner geschmückt, empfiehlt sich die Anthologie „Aus tiefster Seele“ von Adolf Bartels (Lahr, Schauenburg) als eine künstlerisch ausgestattete und mit Geschmack ausgewählte Blütenlese deutscher Lyrik. – Nachträglich verzeichnen wir noch den eben erschienenen neuen Roman von Georg Ebers, „Barbara Blomberg“ (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt), der zur Zeit Karls V. in Regensburg spielt und die bekannten Vorzüge der Ebersschen Darstellungsweise in hohem Grade besitzt. Durch Frische der Empfindung und wahrhaft poetischen Gehalt zeichnen sich die Gedichte „Erlebtes und Erträumtes“ von Franz Bechert (Königsberg, Beyer) aus, dessen kräftiges Talent den Lesern der „Gartenlaube“ durch die Beiträge „Not“ und „Jungwinter“ bestens bekannt ist; auf einen kraftvollen, mannhaften Ton sind auch die „Neuen Lieder“ von August Sturm (Hamburg, Verlagsanstalt, vorm. J. F. Richter) gestimmt, mit denen der Sohn des kürzlich verstorbenen Dichters Julius Sturm dem ererbten Namen alle Ehre macht.

Die Fahrradtaxameterdroschke. Es zweifelt wohl niemand mehr daran, daß dem Fahrrad eine große Zukunft als Verkehrsmittel, und zwar durchaus nicht bloß zu Sportzwecken, offen steht. In den großen Städten sieht man ja schon längst Diener mit Paketen, Ordonnanzen, Postboten, Dienstmänner etc. auf dem schnellen Rade dahinsausen. Das Allerneueste auf diesem Gebiete aber ist wohl die von Direktor Hofmann in Berlin erfundene Fahrradtaxameterdroschke, die man jetzt in dem Straßenverkehr der Reichshauptstadt auftauchen sieht. Der als Sitz für den Fahrgast dienende Ledersessel ruht auf den Federn der Hinterachse des Dreirades. Dem Führer, der diese eigenartige Droschke in Bewegung setzt, kehrt der Fahrgast den Rücken zu; bei schlechtem Wetter kann über seinem Sessel ein Verdeck ausgespannt werden, Füße und Beine schützt dann außerdem ein Schutzleder. Ist beides überflüssig, so liegen Verdeck und Schutzleder zusammengeklappt hinter der Rückenlehne. Die Fahrgeschwindigkeit dieser Droschken läßt sich bis zu 250 Metern in der Minute steigern; der Fahrpreis ist mit 10 Pfennig für je 400 Meter bemessen und wird durch einen Taxameterapparat (mechanischer Preisanzeiger) angegeben. P. G.     

[876 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Zu beziehen in größerer und kleinerer Ausführung von Optikus Heidrich in Breslau, Schweidnitzerstraße 27. Das Modell ist auch im Hygieinischen Museum und in der Urania in Berlin ausgestellt.