Die Gartenlaube (1897)/Heft 22

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

Nr. 22.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(2. Fortsetzung.)
4.

Doktor Gustav Ambrosius wohnte am Marktplatz. Er hatte im zweiten Geschoß des Schreiners und Zunftmeisters Karl Wedekind etliche Stuben gemietet und sie teilweise mit seinem eigenen Mobiliar ausgestattet. Eine Wirtschafterin hielt er nicht. Die Wedekinds lieferten ihm das erste Frühstück und, wenn er nicht draußen blieb, ein schmackhaftes Abendbrot. Zu Mittag speiste er drüben im „Goldnen Schwan“.

Es war in der ersten Woche des Juni, acht Tage vielleicht nach dem Erlebnis Hildegards mit dem Tuchkramer. Die Stadtpfeifer und Zinkenisten hatten vor mehr als anderthalb Stunden schon ihren Abendchoral von der Steinbrüstung des alten Marienturms in die Gemarkung geblasen. Elma Wedekind, des Schreiners und Zunftobermeisters fünfzehnjähriges Töchterlein, stand in der Mittelstube des Doktor Ambrosius und deckte mit Eifer und Umsicht den viereckigen Eichenholztisch. Sie hatte ein schneeweißes, blaugerändertes Linnen darüber gebreitet und setzte nun Glaustädter Milchsemmeln, Lynndorfer Landbrot, Rauchfleisch, Salz und sonstiges Zubehör in zierlicher Anordnung auf die Tafel. Auch ein Spitzbecher aus meergrünem Muranglas prangte bei Messer und Gabel, und ein blitzblanker Zinnkrug, der im benachbarten Rathauskeller jetzt eben mit leichtem Glaustädter Wein gefüllt worden war.

Nachdem sie das alles mit Sorgfalt zurecht gerückt, stieg Elma Wedekind eilig ins Erdgeschoß, wo sie ein schwarzblaues Thongefäß mit köstlichen Frührosen von dem Gesims neben der Küche nahm. Dies Thongefäß trug sie hinauf in die Mittelstube, setzte es neben den funkelnden Zinnkrug und freute sich, wie die hochroten Kelche und das frischgrüne Blattwerk dem sauber gedeckten Tisch etwas geradezu Festliches gaben.

„Er braucht’s und verdient’s!“ sagte sie bei sich selbst. „Traurig genug, daß er nun hier so allein Imbiß hält! Von morgens bis abends opfert er sich für die andern, und wenn er dann heimkehrt, hat er nicht einmal wen, der ihm in Freundschaft zuspricht! Gar nun heute, bei diesem herrlichen Wetter! Da fühlt man sich doppelt einsam.“

Plötzlich kam es ihr dumpfig und schwül vor in dem niederen Gemach, obgleich das eine der beiden Fenster weit aufstand. Sie trat hinzu und öffnete auch das zweite. Wie schön da jenseit des Marktbrunnens die Dächer und Giebel glänzten im Glührot des Abends! Die Dachtraufen, die Wolfs- und Lindwurmköpfe der Wasserspeier, die Wetterfahnen und Erkerverzierungen, alles schien wie verwandelt. Die mächtige Sonnenuhr am Gasthof zum „Goldnen Schwan“ lag schon im Dunkeln. Nun mußte er gleich um die Ecke biegen, da rechts von der Haingasse her. Heute

Pfingstproviant.
Nach einer Originalzeichnung von J. B. Engl.

[358] den ganzen Spätnachmittag hatte er im Gusecker Viertel und am Nordgraben zu thun.

Inzwischen kam Doktor Ambrosius von links, über den Klottheimer Weg. Elma, die sich erwartungsvoll aus dem Fenster bog und ihren Blick auf die Ecke der Haingasse richtete, nahm ihn nicht wahr.

Der junge Arzt, ab und zu einen Gruß tauschend, wandelte eilfertig über das holprige Pflaster und machte erst unmittelbar an der Hausthüre Halt. Hier sah er nämlich, hinter den kleinen Blankscheiben der Wohnstube das kernhafte Gesicht Karl Wedekinds, der wie in tiefe Gedanken versunken hinausschaute in das bunte Gewimmel des Marktplatzes. Auf dem wohlgescheuerten Fensterbrett lag die Bibel. Dem Schreinersmann gegenüber saß Brigitta, sein treues Weib. Selber des Lesens unkundig, hatte sich Frau Brigitta von ihrem Ehewirt nach genossener Abendsuppe ein Stück aus dem Gotteswort vorlesen lassen. Jetzt schien sie in stiller, freudiger Andacht über den Text, den sie gehört hatte, nachzusinnen. Doktor Ambrosius kannte die allabendlich wiederkehrende fromme Gepflogenheit des redlichen Paares und hatte auch sonst nicht ohne Rührung beobachtet, wie diese tiefgläubige Frau ihren sonst leicht etwas überschäumenden Eheherrn freundlich in Schranken hielt. Karl Wedekind, obgleich seiner Ehehälfte an Wissen und scharfer Einsicht weit überlegen, hegte vor ihrem sanftgütigen Wesen eine Art ehrfürchtiger Scheu und liebte sie zärtlich; denn Brigitta eiferte nicht, sondern lenkte ihn ganz unmerklich wie an geheimen Fäden, war auch nicht kopfhängerisch, sondern allezeit frisch und vergnügt und zu jeder erlaubten Kurzweil gern aufgelegt. Doktor Ambrosius nickte den beiden vertraulich zu. Die Hausfrau bemerkte es nicht. Meister Wedekind aber erwiderte die Begrüßung mit franker Herzlichkeit.

Nun schritt Doktor Ambrosius über die Thorschwelle und durcheilte den halbhellen Treppenflur. Je drei Stufen zugleich nehmend, sprang er die steile Holzstiege hinan. Er öffnete das Mittelgemach und warf sein dunkles Barett auf die Ofenbank. In der gleichen Sekunde fuhr die ausschauhaltende Elma purpurglühend herum.

„Verzeiht!“ sprach sie verwirrt und zupfte an ihrem hellroten Schürzchen. „Ich hatte Euch gar nicht gehört. Ich hatte … Hier steht Euer Abendbrot.“

So wollte sie fort. Er aber faßte sie gutkameradschaftlich bei der Hand.

„Bleib’ doch ein wenig!“ sagte er zuthulich. „Gönn’ mir deine liebe Gesellschaft! Nein, schau, wie hübsch du das wieder da aufgebaut hast! Blühende Rosen! Weiß Gott, du verwöhnst mich, Elma!“

Sie lachte. „Die paar Blumen sind auch der Rede wert! Ob die da drunten im Hausgärtchen verwelken oder hier droben – das bleibt sich gleich.“

„Ach, du mußt nicht so dein Geschenk entwerten. Die Rosen sind wundervoll!“

„Nun ja. Weil Ihr doch gestern sagtet, daß Ihr sie gern hättet … Es macht mir halt Spaß … Aber ich will Euch nun weiter nicht stören. Ihr werdet wohl hungrig sein. Und Ihr müßt ja auch gleich wieder fort.“

„Freilich, Kind. Gegen halb Neun. Und ein wichtiger Gang zu einem Todsiechen. Doch so arg brennt’s noch nicht auf dem Nagel. Die Londoner Uhr da zeigt ja noch lange nicht Acht. Erzähl’ mir etwas, während ich hier zu Nacht speise! Oder iß hübsch mit! Dann schmeckt’s noch einmal so gut.“

„Ich dank’ Euch, Herr Doktor Ambrosius. Gegessen hab’ ich, und drunten giebt’s noch manches für mich zu thun.“

„So spät noch?“

„Ja. Und dann möcht’ ich auch noch auf ein Stündchen zu meiner Spielfreundin drüben im Bäckerhaus. Der hab’ ich’s versprochen.“

„Dann freilich … Also noch einmal; Dank für die Rosen! Kleine Elma, du hast eine Art …! Ganz allerliebst! Du wirst einmal eine prächtige Hausfrau.“

Wiederum stieg ihr das helle Blut bis in die Haarwurzeln.

„Ich? Nie!“

„Und warum nicht?“

„Weil ich im Leben nicht heirate!“

„Wie alt bist, du jetzt?“

„Fünfzehn war ich zu Ostern …“

„Da hör’ mir einer das weltmüde Persönchen! Will nicht heiraten oder verzweifelt daran. Eins ist ja genau so drollig wie’s andre! Nicht wahr, die Männer taugen heutzutag’ alle nichts? Nein, so was Urkomisches!“

„Ihr lacht mich aus, aber ich bleibe dabei. Nie, nie! Und das ist garstig von Euch, daß Ihr so Euer Gespött mit mir treibt. Gott befohlen!“

Halb weinend rannte sie weg.

„Elma! Kind! Du verstehst mich ja falsch! Bleib’ doch! Ich meinte ja nur …“

Elma hörte nicht mehr.

„Nun,“ dachte er achselzuckend, „ich kann’s nicht ändern. Vielleicht hab’ ich ihr Selbstgefühl unterschätzt. Fünfzehn Jahre! Da glaubt heutzutage ein Jungfräulein bereits mitreden zu können. Und ich behandle sie immer wie dreizehn. Ja, so sieht sie auch aus. Klein, zierlich, kaum flügge … Aber ein gutes Geschöpf! Nicht sonderlich hübsch, auch im Verkehr ab und zu etwas launisch, und dennoch von Herzen gut. So treue große leuchtende Augen …“ Diese Augen waren das schönste an ihr. Sie erinnerten fast an die Augen Hildegard Leutholds.

Doktor Ambrosius machte sich nun etwas zerstreut über sein Mahl her. Stirnrunzelnd füllte er das meergrüne Spitzglas trank es auf einen Zug leer und goß sich von neuem ein. Der Becher schien heute das einzige, was ihm mundete. Obgleich er Hunger verspürte, brachte er doch nur mühsam etliche Bissen Fleisch über die Lippen. Das Brot rührte er überhaupt nicht an. Es lag offenbar ein bänglicher Druck auf seinem Gemüt. Was er für heute abend vorhatte, das schien so gar nicht zu der goldrosigen Hoffnung zu passen, die seit einiger Zeit der Hauptinhalt seines glückseligen Daseins war. Er liebte die wonnige Hildegard Leuthold mit aller Glut seines unverdorbenen jungfrischen Mannesherzens und hatte Grund zu der Annahme, daß auch sie ihm nicht gram sei. Die Sehnsucht drängte ihn ungestüm zur Erklärung, zur Werbung. Und nun gab es da noch was anderes, Aelteres, Tod-Ernstes, was ihn eben so nachhaltig in Anspruch nahm; was von der Minne und ihren Lenzträumen weit ablag und trotzdem nicht versäumt werden durfte; denn sein Wort und seine Mannesehre waren hier unwiderruflich verpfändet; ein feierlich geleisteter Schwur band ihn und das heiligste Pflichtgefühl. Was er zu Elma von dem schwerkranken Patienten gesagt hatte, der noch spät seinen Besuch heische, war nur Ausrede gewesen. Ja, es handelte sich um einen Schwerkranken; aber dieser Patient lag nicht auf den Pfühlen des Siechbettes. Der Schwerkranke war das Gemeinwesen von Glaustädt, die leidende, im innersten Mark verwundete Heimat.

Nicht als ob Doktor Ambrosius seine Verpflichtung bereut hätte. Es fiel ihm nur schwer auf die Seele, daß sein beginnender Liebesfrühling gerade mit der Gefahr jener Anforderungen zusammentraf. Keine Sekunde lang war er im Zweifel darüber, daß er die gute Sache unter keiner Bedingung im Stich lassen würde. Nach kurzer Frist schob er den Teller zurück, leerte noch einmal den Glasbecher und trat, schwer atmend, zu dem geöffneten Fenster.

Das war ein belebtes, farbenprächtiges Bild da drunten. Spielende Kinder erfüllten die laue Luft mit ihrem schallenden Jauchzen. Bälle flogen und fröhliche Ringelreihen wurden getanzt. Auf den Steinbänken vor den Thüren saßen die Ehepaare. Jungfrauen und Jünglinge wanderten plaudernd über das Pflaster oder umstanden den alten Granitbrunnen, wo auf gedrungenem Sockel der heilige Georg den schweifringelnden Drachen erschlug. In der Richtung des Klottheimer Thores strömten noch immer zahlreiche Menschen nach auswärts, um den Glaustädter Bürgergarten oder die Wiesen des Gusecker Thals zu erreichen. Es war bis gegen Abend außerordentlich schwül gewesen. Jetzt erst wehte ein leichter Ostwind.

Beim Anblick der heiteren, buntbewegten Gruppen da unten stieg in der Seele des jungen Arztes eine plötzliche Bitternis auf. Er empfand es wie eine Schmach, daß der Mensch mit der Zeit so schlaff wird und so jämmerlich abgestumpft. Da wandelten sie leicht und arglos umher, als ob nicht stündlich die Faust des Henkers über jedem von diesen Häuptern schwebte! Es waren zumeist Handwerker und wohlhabende Kleinbürger, die jetzt mit ihren Familien den breiten Marktplatz füllten. In diesen Gesellschaftskreisen kürte sich Balthasar Noß, der Blutrichter, [359] erfahrungsgemäß am häufigsten seine Opfer. Und doch schien keiner jetzt an das Stockhaus und seine verzweifelten Insassen, keiner an den Böhlauer Trieb und die lodernden Scheiterhaufen zu denken. Es war wie im vierzehnten Jahrhundert beim Wüten des Schwarzen Todes, von dem die Chroniken so Schauderhaftes und kaum Begreifliches überliefert haben. Ganze Dörfer und Städte waren damals entvölkert worden; aber je länger die Pest währte, um so gleichgültiger sah ihr die Menschheit ins Angesicht.

Nun, vielleicht that man auch diesem und jenem Unrecht, Wenn man ihn für mattherzig und abgestumpft hielt. Es bedurfte nur eines machtvollen Anreizes, um ihn zum thatkräftigen Zorn und zum Widerstand zu entflammen. Der Aberglaube war leicht besiegt, wenn die Angst um das eigne Leben die Aufklärerin spielte. Es mußte den Leuten nur recht zum Bewußtsein kommen, daß keine Untadligkeit des Lebenswandels, kein Ansehen und keine christliche Tugend vor dem Blutrichter schützte; daß der Wahnwitz der Malefikantenverfolgung ebenso wahllos traf wie der Schwarze Tod, unbekümmert um den himmelschreiendsten Mangel an Ueberführungsmomenten.

Doktor Ambrosius strich sich mit der Hand über die Stirn. Der furchtbare Widersinn des ganzen Verfahrens packte ihn wie mit Geierkrallen. Sein Kopf schmerzte.

Da ging plötzlich ein sonderbares Wogen und Wallen durch die abendfeiernden Menschen da drunten. Die Leute auf den Steinbänken erhoben sich und reckten die Hälse. Die Paare am Brunnenrand unterbrachen ihr Zwiegespräch. Viele von denen, die schwatzend umhergeschlendert, machten erschrocken Halt oder strömten halb neugierig, halb teilnahmsvoll dem Hause zu, aus dessen Obergeschoß Doktor Ambrosius eben jetzt herab auf den Markt sah. Die Wahrnehmung berührte ihn peinlich. Er beugte sich vor, um die Ursache der seltsamen Bewegung ausfindig zu machen. Nicht lange blieb er im unklaren. „Die Rutenknechte!“ scholl es von Mund zu Munde. „Die Häscher des Malefikantengerichts!“ Ab und zu geriet ein zaghaftes Stocken in die heranströmende Menge. Dann aber drängte man wieder vor, bis die Schar, die sich da vor der Thüre des Zunftobermeisters versammelt hatte, nach etlichen Hunderten zählte.

Die Rutenknechte! Die Söldlinge des Balthasar Noß! Was führte diese Vermaledeiten hierher in das friedliche Heim des Schreiners, zur frommen Brigitta, zur stillen, harmlosen Elma? Oder galt ihr Besuch gar ihm, dem Bewohner des Obergeschosses? Unter dem Blutregiment des Noß war alles denkbar, wenngleich ja die Wahrscheinlichkeit nicht dafür sprach, daß man so ohne jeglichen Anhaltspunkt den beliebtesten und deshalb auch einflußreichsten Arzt des Gemeinwesens behelligen wurde.

Doktor Ambrosius ergriff sein Barett und stieg eilends die Treppe hinab. Da tönte ein lautes, herzzerreißendes Angstgeschrei an sein Ohr. Die da so jammerte, war die Ehewirtin des Zunftobermeisters. Zwei von den Stockhausknechten hielten sie straff bei den Händen gepackt. Zwei andere Häscher zeigten dem Hausherrn die Spitzen der Hellebarden. Sie schienen zu fürchten, der Mann möchte in seiner Verzweiflung Gewalt brauchen. Aber Karl Wedekind, der sonst wahrlich keiner der Feigsten war, stand beim Anblick dieses furchtbaren Ereignisses wie gelähmt. Nur sein Kinn schlotterte unaufhörlich und die Fäuste zuckten ihm krampfhaft an den schlapp herniederhängenden Armen. Die kleine Elma lag ohnmächtig auf den Steinfliesen.

„Glaubt’s nicht, glaubt’s nicht!“ wimmerte Frau Brigitta, während die Knechte sie ungestüm nach der offenstehenden Hausthür zerrten. „Gott der Allmächtige weiß, daß ich nur ihm in herzlicher Treue gedient habe, seit ich am Leben bin. Ich eine Hexe! Ich eine Buhlin des Teufels! O du meine geliebte Mutter unter der Erden, hilf mir und rette mich! O du mein teurer Heiland, Herr Jesus Christus, deck’ mich in Gnaden mit deinem Mantel!“

„Schweigt und widersetzt Euch nicht länger!“ brüllte der Obmann der Häscher. „Wenn Ihr unschuldig seid, so wird sich’s ja ausweisen.“

In diesem Augenblick kam Doktor Ambrosius herzu. Obschon er sich der Gefahr seiner Handlungsweise vollauf bewußt war, drängte ihn doch sein ehrliches Herz, ein gutes Wort für die Beschuldigte einzulegen und sie wenigstens hier vor Tätlichkeiten zu schützen. „Verzeiht!“ wandte er sich mit heimlich zitternder Stimme zum Obmann. „Irrt Ihr Euch nicht am Ende in der Person? Diese ehrsame Frau ist die Gattin des Zunftobermeisters Karl Wedekind und in ganz Glaustädt bekannt als eine fromme, gerechte und gottwohlgefällige Christin.“

Der Obmann, ein schwarzhaariger Kerl mit blöder, zurückfliegender Stirne, grinste dem jungen Arzt höhnisch ins Angesicht.

„Ihr meint’s wohl gut,“ sagte er achselzuckend, „aber Ihr täuscht Euch. Wartet nur den Prozeß ab, dann werdet Ihr Augen machen. Freilich ist sie das Weib des Schreiners, aber der gute Thor’ ahnt nicht, wie’s die Verruchte getrieben hat. Der Kleinweiler, wißt Ihr, der Lynndorfer, der jetzt verurteilt ist, hat auf der Folter bekannt, daß auch die Wedekindin letzte Walpurgisnacht auf dem Herforder Steinhügel war.“

„Unmöglich!“ fuhr Doktor Ambrosius heraus.

„Unmöglich? Es steht ja im Protokoll.“

„Dieser Lynndorfer Bauer hat rein den Verstand verloren! Frau Wedekind steht ja fast im Geruche der Heiligkeit! Jeden Sonntag, den Gott werden läßt, geht sie zum Abendmahl.“

„Ja, das sind so die alten Kniffe,“ lachte der Obmann. „Je verderbter die Hexe, um so frömmer nach außen hin. Der Böse selbst rät seinen Schützlingen solche Verstellung und freut sich diebisch, wenn dann die guten Christen getäuscht werden. Uns aber prellt man nicht wie das leichtgläubige Volk. Herr Balthasar Noß versteht sich darauf, das muß ihm der Neid lassen!“

„Würdet Ihr nicht die Frau gegen Bürgschaft frei geben? Ich bin fest überzeugt, daß hier gleichwohl ein Irrtum vorliegt. Laßt mich für die Beschuldigte gut sagen! Der Rat dieser Stadt kennt mich. Doktor Gustav Ambrosius zählt nicht zu denen, die etwa geneigt wären, einer Verbrecherin Vorschub zu leisten! Glaubt mir, die Sache wird sich schon aufklären!“

„Thut mir leid! Zu alledem hab’ ich kein Recht. Meinen Befehl muß ich ausführen. Denkt Ihr, daß es was helfen wird, gut, so wendet Euch an Herrn Balthasar Noß. Aber ich fürchte sehr, daß Ihr umsonst lauft.“

Während Ambrosius sprach, hatte Frau Wedekind ihr entsetzliches Wimmern und Wehklagen eingestellt und mattleuchtenden Blickes ihm zugehört. Jetzt, da der junge Arzt traurig zurücktrat, hub sie von neuem an.

„Nein, nein, nein!“ schrie sie verzweifelt. „Bei Gott dem Allwissenden, ich hab’ keinen Teil daran! O, ihr Lästerzungen! Wie sollt’ ich wohl meinen Herrn und Heiland dahingeben für den abscheulichen Satan und meine Himmelskindschaft gegen die ewige Pestilenz! O du meine herzliebe Mutter unter der Erden! Ach, ich vergehe! Erbarm’ dich meiner, du treuer Jesus, der du am Kreuze für uns gestorben bist! Rette mich, allgütiger Heiland, um deines vielteueren Blutes willen!“

Die Rutenknechte schoben die unglückliche Frau nun trotz ihres Wimmerns und Sträubens derb über die Schwelle.

„Faßt Euch!“ rief Doktor Ambrosius der Unglücklichen nach. „Es soll für Euch alles geschehen, was möglich ist! Und betet zu Gott, daß er Euch Standhaftigkeit verleihe! Die Wahrheit soll und wird an den Tag kommen.“

Er glaubte das selbst nicht. Er wußte, wie höchst geringe Aussichten der Malefikantenprozeß überhaupt bot. Vollends nun hier vor den Schranken des unerbittlichen Balthasar Noß! Unter dem Vorsitz dieses berüchtigten Tribunalsherrn war in Glaustädt noch niemals eine Freisprechung erfolgt, geschweige denn eine Entlassung.

Ein großer Volkshaufe schloß sich dem traurigen Zug an, teils müßige Gaffer, die selbst da noch Befriedigung spüren, wo den Mitmenschen das Elend ereilt, teils Leute, denen der Vorfall wirklich nahe ging. Etliche, die von der Schuldlosigkeit der Verhafteten überzeugt waren und sich der Furcht überließen, das gleiche Unheil könne demnächst bei ihnen selbst anpochen, seufzten im stillen und bäumten sich heimlich auf gegen die Obmacht des Blutrichters. Viele aber, zumal die Weiber, stießen die heftigsten Schimpfreden aus, warfen der „Unholdin“ zahllose Missethaten und höllische Tücken vor und gebärdeten sich im Kundgeben ihres plötzlich erwachten Zornes schlimmer als der boshafteste Inquirent.

Brigitta Wedekind hörte unter dem Anprall dieser Feindseligkeiten zu klagen auf. Bis dahin hatte sie, wie sie glaubte, in ihrer Vaterstadt nur Freunde gehabt. Jetzt mit einem Mal

[360]

Tilly in Rothenburg ob der Tauber.
Nach dem Gemälde von F. Birkmeyer.

[361] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [362] umbrandete sie der blindwütige Haß. War sie denn wirklich so über Nacht eine andere geworden? Der Umschwung machte sie starr. Selbst die Abschiedsworte des jungen Arztes, die ihr so labend aufs Herz gefallen, übten jetzt keine Wirkung mehr. In dumpfer, lichtloser Verzweiflung schritt sie dahin, den Kopf gesenkt, die Augen glasig und vorquellend, als ging es schon jetzt hinaus nach dem Böhlauer Trieb, wo Balthasar Noß die Scheiterhaufen errichtete im Namen des Landgrafen …

Inzwischen war Doktor Ambrosius ins Haus zurückgetreten, um sich des Schreiners und dessen Töchterchens Elma anzunehmen. Er fand beide regungslos in der Wohnstube. Ruhloff, der Altgeselle, hatte das Kind vorsichtig auf die Polsterbank ausgestreckt. Da war sie zu sich gekommen und saß nun blaß wie ein Leintuch gegen die Wand gelehnt, während ihr Vater wortlos an der gebeizten Holztruhe stand und von den gutgemeinten Trostreden des Altgesellen ebensowenig berührt wurde wie von der mitleiderweckenden Haltlosigkeit Elmas. Auch Doktor Ambrosius merkte sehr bald, daß jedes Wort hier vergeblich sei. Karl Wedekind wußte so gut wie er selbst, was die Festnahme einer Beschuldigten unter der Schreckensherrschaft des Balthasar Noß bedeutete. Er dankte mit rauher, klangloser Stimme – kurz, abgerissen – und hatte dabei nur eine einzige krampfhafte Gebärde, das Spreizen und Wiederzusammenballen der Finger. Elma schwieg wie das Grab. Ihr Blick hatte sich forschend in das Antlitz des Mannes gebohrt, den sie im stillen so heiß verehrte, von dessen wirkender Kraft sie die höchste Vorstellung hatte. Aber die tiefe Trauer und Hilflosigkeit, die sich jetzt in den sonst so freundlichen, selbstbewußten und thatkräftigen Zügen malte, nahm ihr sofort jeden Zweifel. Sie sah es wohl, auch er konnte nicht helfen, trotz seiner zahlreichen Verbindungen, seiner großen Beliebtheit, seiner echt männlichen Tapferkeit. Diese furchtbare Erkenntnis gab ihrer letzten Hoffnung den Todesstoß. Und der Schmerz um die einzig geliebte Mutter, die nun einem so furchtbaren Schicksal entgegenging, lähmte sie vollständig.

Als sich der junge Arzt, den jetzt andre Verpflichtungen wegriefen, aus der Wohnstube entfernt hatte, zugleich mit dem Altgesellen – denn auch der sah nun ein, daß jede Mühe hier vorläufig umsonst sei – da warf sich Karl Wedekind plötzlich vor der Polsterbank, wo seine Elma saß, auf den Boden und stieß ein wildes Geheul aus. Sein verzerrtes Gesicht hob sich noch einmal zu Elma empor und schlug dann hart wie im gierigen Drange der Selbstvernichtung auf die sandüberstreute Diele. So blieb er stumm und ohne Bewegung ausgestreckt. Nur ab und zu ging ein flüchtiges Zucken durch seine breiten Rückenmuskeln.

Und Elma raufte ihr Haar, daß ihr die dunklen Strähnen wild um die Stirne hingen, und grub sich die Fingernägel tief in den Hals, wie eine, die sich erwürgen will. Das helle Blut floß ihr über die Hand. Die Sanftmut, das Erbteil der Mutter, schien untergegangen in der tobenden Kraft, die sie, trotz ihres zarten, schmächtigen Körpers, vom Vater hatte. Sie wagte es nicht, den wortlosen Schmerz des Verzweifelten, der da vor ihr am Boden lag, durch ihren Zuspruch zu stören. Endlich erhob sie sich. Es war schon vollständig Nacht. „Wollt Ihr nicht schlafen gehn, Vater?“

Der Mann richtete sich langsam auf. „Du noch da, Elma? Geh! Du bist ja doch krank! Wie könnt’ ich vergessen …“

Er fand jetzt in der Sorge um sein geliebtes Kind eine Ablenkung von der eignen unermeßlichen Qual.

„Komm, ich bring’ dich hinüber,“ stammelte er. „Du armes, armes, armes Geschöpf!“

Er stand vor ihr. Ein banger Seufzer hüben und drüben. Dann hielten sich Vater und Tochter laut aufschluchzend umfaßt und weinten zum Herzbrechen.

(Fortsetzung folgt.)0


Herzogin Sopie von Alençon.

Die furchtbare Brandkatastrophe in Paris am 4. Mai, wo sich binnen kurzen dreizehn Minuten ein in höchster Eleganz strahlender, reich dekorierter Wohlthätigkeitsbazar, der Sammelpunkt der ersten Gesellschaft, in eine grausige Flammenhölle voll Verzweiflungsgeschrei und Sterberöcheln verwandelte, dieses beispiellose Unglück hat nicht nur den französischen Adel, sondern auch zwei deutsche Fürstenhäuser in tiefe Trauer versenkt. Denn unter den Opfern, die schwarzverkohlt, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, in schauerlichen Reihen gelagert, der Erkennung durch die Angehörigen harrten, befand sich auch die Herzogin Sophie von Alençon, eine bayerische Prinzessin und Schwester der Kaiserin von Oesterreich, die „Königsbraut“, wie sie noch heute in Bayern genannt wird, von der nun 30 Jahre zurückliegenden Zeit ihres Verlöbnisses mit König Ludwig II. her.

Prinzessin Sophie Charlotte Auguste, geb. den 22. Februar 1847, war das jüngste Kind des Herzogspaares Max und Ludovika in Bayern und wuchs gleich ihren älteren Schwestern in größerer Einfachheit und Freiheit auf als andere junge Prinzessinnen. Wohl war die Mutter, eine Schwester König Ludwigs I., eine stolze und formenstrenge Dame; der Vater aber, ein ungewöhnlich lebenslustiger, reich begabter und geselliger Fürst, verkehrte gern und viel mit Künstlern und Litteraten. Er versammelte wöchentlich um sich eine aus 14 Rittern bestehende „Tafelrunde“, welcher er als König Artus präsidierte, wobei es heiter genug zuging. Franz v. Kobell und der ausgezeichnete Humorist Graf v. Pocci fungierten als „Meistersänger“ und „Kanzler“, die anderen Würden waren an einen heiteren Freundeskreis von Kavalieren und Künstlern verteilt, die sich und den hohen Gastgeber völlig zwanglos in Prosa und Gelegenheitsversen ironisch zausten. Von ihm also hatten die Kinder das frische Lebensblut sowie die Neigung zu Kunst, Musik und Sport aller Art, dem sie in dem herrlich gelegenen Schloß und Park Possenhofen am Starnberger See nach Herzenslust nachgehen durften. Herzog Max, dessen Palais in München jahrzehntelang der Sammelplatz einer lebenslustigen, aus Adel, Beamten und Künstlern gemischten Gesellschaft war, glänzte besonders als berühmter Reiter. In seinem Palasthof stand ein eigener Cirkus, in dem er vor geladenem Publikum schöne Aufführungen der höheren Reitkunst veranstaltete und nicht verschmähte, gelegentlich zwischen den Produktionen der andern selbst auf einem seiner Prachtpferde Hohe Schule zu reiten. So saßen denn seine Töchter ebenfalls früh und fest im Sattel, sie ruderten und schwammen im Starnberger See und hatten bei dem fortwährenden Verkehr mit dem Landvolk den natürlichen Umgangston, der die Herzen sicherer gewinnt als vornehm herablassende Leutseligkeit. Auch ihr Bruder, der ausgezeichnete, von allen Kollegen hochgeschätzte Augenarzt Herzog Karl Theodor, verdankt seine große Popularität diesem vom Vater auf seine Kinder vererbten schlicht menschlichen Zuge. Von der Mutter freilich hatten sie die aristokratische Außenseite: schönere und stolzere Prinzessingestalten mit reicheren Haarkronen wird man selten sehen als die damals im Possenhofener Park wandelnden Schwestern: Elisabeth, die schönste von allen, die nachmalige Kaiserin von Oesterreich, dann die Königin von Neapel, die Gräfin Trani und die Herzogin von Alençon.

Die Gedanken aller Bayern wenden sich jetzt nach dem furchtbaren Ende der Letzteren wieder der Zeit zu, wo sie als Braut Ludwigs II. auf dem Gipfel des irdischen Glückes zu stehen schien. Gemeinsame Schwärmerei für Richard Wagner, den von der übrigen königlichen Familie bitter Gehaßten, soll das erste Band zwischen den beiden jungen Verwandten gewesen sein. Prinzessin Sophie war sehr musikalisch, sie sang die schwärmerischen Weisen Elsas und Sentas und fand bald einen begeisterten Zuhörer, an dem königlichen Vetter, dessen Leidenschaft für Schillersche Dramen sie ebenfalls teilte. So reifte diesem schnell aus der Bewunderung der Entschluß zur Werbung, welche seine Mutter, Königin Marie, in der ersten Morgenfrühe des 29. Januar 1867 ins herzogliche Palais brachte, und die feierliche Verlobung fand statt.

Wer damals das hohe, in Jugend und Schönheit strahlende Brautpaar betrachtete, wenn es sich öffentlich zeigte: den idealen König mit dem schwärmerischen Blick, die liebreizende Prinzessin an seinem Arme, der mußte sie für zwei märchenhaft Glückliche, hoch über den irdischen Unzulänglichkeiten Stehende halten. Aber die Gelegenheiten, sie so zu sehen, wurden immer seltener, und dreiviertel [363] Jahre später, nach stets wieder verschobenem Hochzeitstermin, da war das Unerhörte geschehen, die Verlobung eines Königs gelöst und die Königsbraut wieder zur einfachen Prinzessin geworden, die still in das Possenhofener Schloß zurück verschwand! Alle votierten Städtegeschenke und Adressen, die bereits geprägten Münzen, alle schon im Gange befindlichen Hochzeitsvorbereitungen mußten unterdrückt werden. Die Gründe des Bruches wurden geheim gehalten, so angelegentlich die öffentliche Neugier auch danach forschte; man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man sie in dem damals schon abnormen Gemütszustand des unglücklichen Königs sucht, dessen Menschenscheu und Einsamkeitsbedürfnis bald reißend zunehmen sollte. Die Verlobung war offenbar für ihn zur unerträglichen Fessel geworden, von der er sich, ohne Rücksicht auf Herkommen und Meinung der Welt, befreite.

Herzogin Sophie von Alençon.
Nach einer Aufnahme des Atelier Benque in Paris


Was Prinzessin Sophie dabei empfand, ob Erleichterung oder Schmerz, werden heute nur wenige wissen. Thatsache ist, daß sie schon im Juli 1868 die Bewerbung des Prinzen Ferdinand v. Orléans, Herzogs von Alençon, annahm und sich im September desselben Jahres mit ihm vermählte. Der Prinz war damals 24 Jahre alt, also drei Jahre älter als die Prinzessin. Er ist ein Enkel des „Bürgerkönigs“ Louis Philipp, der im Jahre 1830 nach der Absetzung Karls X. zur Regierung gelangte und diese durch die Februarrevolution des Jahres 1848 verlor. Anfangs wohnte das jungvermählte Paar abwechselnd in München und auf Schloß Mentelberg in Tirol, siedelte aber nach dem Sturze Napoleons III. nach Frankreich über. Nach dem Jahre 70, als die Prinzen der französischen Königsfamilie zum Heeresdienst zugelassen wurden, diente er eine kurze Zeit als Kapitän, dann aber, als die Republik eine Gefahr in ihren fürstlichen Offizieren erblickte, suchte die Herzogin wieder vielfach ihre deutsche Heimat auf, München, die geliebten Berge, und verlebte mit ihrem Gatten glückliche Zeiten in dem obengenannten Schlosse Mentelberg. Sie hatte zwei Kinder, Prinzessin Luise, geb. 1869, und Prinz Emanuel, geb. 1872. Die erstere reichte 1891 dem Prinzen Alfons von Bayern ihre Hand und verstärkte so die Beziehungen der Mutter zur alten Heimat aufs neue. Im Sommer des Jahres 1886 weilte die Herzogin wieder in Possenhofen am Starnberger See, in dem Orte, an den sich die Erinnerungen ihrer Jugend knüpften. Sie war leidend, denn sie hatte kurz vorher ein schweres Scharlachfieber überstanden, das mit einer diphtherieartigen Halsentzündung verknüpft war. Da sollte die Genesende durch ergreifende Trauernächrichten im Tiefinnersten erschüttert werden. Hier vernahm sie die Kunde von der am 10. Juni erfolgten Uebernahme der Regentschaft durch den Prinzen Luitpold, von den betrübenden Vorgängern, die sich auf Schloß Hohenschwangau abspielten, von der Ueberführung des geisteskranken Königs nach Schloß Berg am Starnberger See und endlich von der Katastrophe, die sich am Pfingstsonntag, den 13. Juni, daselbst ereignete. Die Herzogin wurde von diesem tragischen Schicksal ihres ehemaligen Verlobten derart ergriffen, daß sie in eine seelische Verstimmung verfiel. Schon in ihrer Jugend hatte sie an nervösen Zufällen gelitten. Dieselben traten nunmehr von neuem auf. Die Aerzte verordneten der Kranken eine Kur in Reichenhall, jedoch blieb dieselbe erfolglos, und im Frühjahr 1887 schien sich das Leiden eher verschlimmert zu haben. Nun führte der Herzog von Alençon seine Gemahlin nach Meran, wo ihr Bruder, Herzog Dr. Karl Theodor in Bayern, als Augenarzt thätig war. Dieser berief eine Anzahl angesehener Aerzte, um den Seelenzustand der Herzogin zu prüfen. Außer dem berühmten Wiener Arzt Billroth befand sich unter ihnen auch der hervorragende Psychiater [[Richard von Krafft-Ebing|Professor Krafft-Ebing. Das Leiden der Herzogin gab in der That zu den schwersten Besorgnissen Anlaß. Sie zeigte krankhafte Störungen im Denken und Empfinden; sie wurde zeitweilig von traurigen Wahnvorstellungen geplagt und verweigerte sogar die Aufnahme von Nahrung. Es lag somit ein Fall von Melancholie vor, der eine sachgemäße ärztliche Behandlung dringend notwendig machte. Obwohl die Klarheit des Geistes auch in dieser schlimmsten Zeit erhalten geblieben war, drangen die Aerzte doch auf Ueberführung der Herzogin in eine Heilanstalt. In der That wurde sie alsbald in die von Professor Krafft-Ebing bei Graz geleitete Anstalt gebracht. Dort trat unter sorgfältigster Pflege eine Wendung zum Bessern ein, so daß die Herzogin die Anstalt nach längerem Aufenthalt völlig geheilt verließ.

Nun war es ihr wieder vergönnt, eine Reihe glücklicher Jahre an der Seite ihres Gemahls zu verleben. Sie hielt sich vorübergehend in verschiedenen Städten auf. Sehr gern pflegte sie in München oder auf ihrem Besitz in Tirol zu weilen. Erst in den letzten Jahren wohnte das herzogliche Paar, das 1893 im Schlosse Mentelberg die Silberne Hochzeit feierte, wieder mehr in Paris, wo Herzogin Sophie den ihrem Rang wie ihrer Persönlichkeit gebührenden Platz in der höchsten Gesellschaft einnahm und sich viele Freunde gewann durch die einfache Anmut ihres Wesens, welche mit hoher Wohlthätigkeit gepaart war. In Ausübung derselben und in der für sie charakteristischen Sorge für andere sollte sie ihr entsetzliches Ende finden. Eine einzige von den mit der Herzogin im gleichen Verkaufsstand beschäftigten Damen konnte sich retten, und ihrer Erzählung dankt man hie Kenntnis von deren letzten Augenblicken.

Es war erstickend heiß in dem großen, von bunten Draperien, Blumen, Verkaufsbuden und Menschen überfüllten Raume. Die Herzogin beklagte sich darüber und Madame Belin, die Frau eines bekannten Pariser Chirurgen, ging, ein aus den Hof hinausgehendes Fenster zu öffnen, durch welches sie selbst eine halbe Stunde später dem Tode entrinnen sollte. Als das Feuer ausbrach, sahen die Damen nichts von den Flammen, nur ein plötzliches starkes Gedränge, sie glaubten, es komme eine hohe Persönlichkeit an. Im nächsten Augenblick aber begann das furchtbare Geschrei und die kopflose Flucht, Feuerzungen flammten über ihnen auf, alles strebte verzweifelt auseinander. Die Herzogin allein blieb ruhig, widersetzte sich den Versuchen, sie rasch vor allen anderen hinauszuziehen, und forderte die Damen auf, nur vor allem die jungen Mädchen in Sicherheit zu bringen. „Gehen Sie nur schnell voraus und machen Sie sich meinetwegen keine Sorge!“ rief sie ihnen nach. „Ich werde zuletzt gehen!“ Sie traf rasch noch einige Anordnungen, aber ehe sie an die eigene Rettung denken konnte, umwallte sie bereits, jeden Weg abschneidend, das tödliche Feuermeer und erfüllte den ganzen, aus leichtestem Material errichteten Bazar. Man will die Herzogin noch gesehen haben, wie sie dagestanden, die Augen zum Himmel gerichtet, als habe sie eine Vision. Alle Anstrengungen, von außen hineinzudringen und zu retten, waren umsonst. Der Glutberg sank in sich zusammen und deckte seine Opfer.

Erschütternde Tragik des Schicksals, welches den beiden, in ihrer Jugend flüchtig Verbundenen ein so grauenhaft gewaltsames Ende verhängte! … Noch heute, wenn die Dampfer des Starnberger Sees an dem Park von Berg vorbeifahren, stellt sich alles auf, um gespannt nach der kleinen Bucht zu sehen, wo damals am trüben Pfingstabend die Leichen des Königs und seines Arztes im seichten Wasser schwammen, und von Mund zu Mund gehen die Mythen, die sich in unglaublicher Schnelle und Hartnäckigkeit an die Gestalt des unglücklichen kranken Königs geknüpft haben. Er steht, verschieden genug von seinem wahren Wesen, als eine rein ideale Gestalt in der Phantasie des Volkes und der Dichter; nun wird der Feuertod der „Königsbraut“ wohl die Ursache werden, daß ihr Name, mit dem seinigen aufs neue vereint, im Gedächtnis der Menschen weiterlebt. R. A.     


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Pfingstgebräuche im Thüringer Walde.
Von A. Trinius. Mit Illustrationen von H. W. Schmidt und O. Herrfurth.

Tausende und Abertausende wanderlustiger Menschen verlassen zu Pfingsten die Großstädte, und Dampfzüge über Dampfzüge rollen in die weite Ferne, um die Pfingstfahrer der freien Natur, den grünen Bergen, die im frischen Lenzschmuck prangen, zuzuführen. Auch Thüringen wird als dann von einem Strome wanderfroher Ausflügler überflutet, und wenn nur der Himmel einigermaßen ein Frühlingsantlitz zeigt, dann preisen tausend Zungen den unbeschreiblichen Zauber der Pfingsttage im grünen Thüringer Walde. Selbst der eingeborene Thüringer kann sich diesem Zauber nicht entwinden, und wie abhold der Geist der Neuzeit allen alten Volkssitten und Gebräuchen auch sein mag, tief im Walde hält noch der Thüringer an allerlei Veranstaltungen fest, welche den Reiz und die Weihe der Pfingsttage erhöhen, aus welchen blühende Frühlingsfreude uns entgegenlacht.

Wie der Wanderer in diesen Tagen die Heckenrose, den blühenden Zweig am Hut festnestelt, wenn es um ihn singt und duftet und leuchtet in berauschendem Ueberschwang; so sind diese uralten Pfingstgebräuche auch gleichsam durchwoben mit dem Grün, das in unerschöpflicher Fülle und Pracht die hochzeitliche Erde schmückt und dem armseligsten Fleckchen einen stillen Schimmer von Glück verleiht.

Eine der lieblichsten und rührendsten Sitten, denen ich noch im Thüringer Walde, vor allem in den Siedelungen und Städtchen der nordöstlichen Waldsaumstraße, begegnet bin, ist das pfingstliche Ausschmücken der öffentliche Laufbrunnen. Daß das Götzendienst und Heidenbrauch einst war – wer denkt heute noch daran? Welches von den Kindern, die diesen Kultus heute noch alljährlich üben, weiß etwas von den Quellnymphen und segenspendenden Göttern der Erde, denen die alten Germanen einst zur Frühlingsfeier an den Brunnen opferten, damit ihnen das köstliche Naß niemals versiege?!

Schon wochenlang vorher gehen Kinder von Haus zu Haus, um mittels Einschreiblisten kleine Beiträge einzusammeln, die nötigen Kosten des Brunnenschmuckes damit bestreiten zu können. Ausgeblasene Eier werden zierlich bemalt, Ketten von buntem Papier geklebt, Gewinde von Fichtenlaub hergestellt, Kränze gebunden und solche mit Bildern oder einem Bogen Papier ausgeflickt, auf dem ein kurzer Pfingstgruß, wohl auch ein selbstgereimtes Gedicht seinen Platz findet. Bandschleifen, Fähnchen vollenden dann den Schmuck.

Bekränzung der Brunnen.

Am Pfingstheiligabend bilden sich um die öffentliche Brunnen starke Gruppen von Kindern und Erwachsenen. Vier schlanke Lärchenbäume, ihrer unteren Zweige beraubt, werde zu Seiten der Brunnen im Viereck eingerammt. An und zwischen ihnen werden dann die Ketten und Gewinde von Grün, Eiern und Papier angebracht, die schwebenden Kränze befestigt, die Fahnen festgebunden. Und man steht herum, freut sich der vollendeten Arbeit und hält dann eine Wanderung von Brunnen zu Brunnen.

Die Glocke läute das Fest ein, Schwalben wiegen sich zwitschernd in der Abendglut, aus den Gärten quillt der Duft von Flieder und Weißdorn, Wanderer schreiten zum Gebirge, da und dort kehrt noch ein reisigbeladenes Mütterchen aus dem Walde heim – reingefegte Straßen, Kindergesang und Kinderlachen – deutsche Kleinstadtpoesie! – –

In einigen Walddörfern, so in dem prächtige Winterstein, herrscht auch noch die Sitte der „Pfingstbräute“. Am zweiten Pfingstmorgen machen sich die Mädchen der Dorfschule auf und ziehen in kleinen Trupps, fünf bis sechs Kameradinnen gewöhnlich, singend von Haus zu Haus, freundlich verabreichte Gaben einzusammeln. Vor jedem Hause schließen die Mädels dann einen Kreis um die Pfingstbraut und lassen dabei ihre Pfingstbrautlieder ertönen. Letztere stellen ein zuweilen fast sinnloses Gemisch altheimischer Liebeslieder dar, die in ziemlich eintönigen aber doch rhythmischer Weise zum Vortrag kommen. Ungefähr vier Lieder wechseln dabei untereinander. Ehemals trugen die Pfingstbräute – entsprechend dem Feste und seiner Zeit – einen Kranz frischgepflückten Birkengrüns. Leider ist diese poetische und sinnige Zier mehr und mehr verdrängt worden. Nur die Armen halten noch daran fest. Die mehr Bemittelten tragen heute Kronen von Perlen und künstlichen Blumen mit bunten Tüchern und lang herabwallenden Bändern, welche fast die ganze Gestalt bedecken.

[365] Zu den echt thüringer Pfingstgebräuchen zählen ferner die auch sonst vielverbreiteten Maienfeste, welche sicherlich ein Ueberbleibsel der fröhlichen Veranstaltungen altheidnischer Frühlingsfeier darstellen. Vor der Dorfschenke oder auf dem Gemeindeanger wird der gewaltig und schlank wie ein Mastbaum aufragende Maienbaum aufgepflanzt. Er bildet nicht nur ein lockendes Ziel für alle kühnen Kletterer, die droben in der Krone des fast spiegelglatt abgeschälten Baumes hängenden Gewinne zu erringen – Taschentücher, Tabakspfeifen, mit geringem Inhalt gefüllte Geldkatzen –, er ist auch der Mittelpunkt der Stätte, auf der, periodisch wiederkehrend, die bäurischen Künstler irgend ein Volksstück mit heimatlichem Inhalte zur Aufführung bringen. Irgend ein dörflicher Dichter hat in seinen Mußestunden dieses ‚Drama‘ einmal zurechtgezimmert. Sein Inhalt ist mit Vorliebe der glänzenden Geschichte thüringer Sagen- und Landgrafenzeit entnommen. Ludwig der Springer, Ludwig der Eiserne, wie der Schmied von Ruhla sind Lieblingsgestalten. Auch der „sächsische Prinzenraub“ oder eine Episode aus dem Kriege von 1870 findet immer wieder lebhaften Anklang.

Erklettern des Maibaumes.

Der Vorwurf der „Meiningerei“ bleibt freilich diesen Volksaufführungen erspart. Weder im Kostüm noch in der Sprache legt man sich irgendwie beklemmende Fesseln auf. Aber dafür geht es höchst lustig her. An Jubel und Beifall mangelt es nie. Die Bühne ist der Anger, Coulissen und Hintergrund bilden die zusammengelaufene Schar Schaulustiger, die Dorfhütten und weiter hin die grünen, sonnbeglänzten Waldberge. Auch der Hanswurst der italienischen Komödie fehlt bei diesen Maienfesten nicht, wie schwer seine Zugehörigkeit zu dem Inhalt des Stückes auch zu beweisen bleibt. Diese „lustige Person“ erscheint gewöhnlich auf einer Kuh reitend, rückwärts, den Schwanz als Zügel führend. Natürlich giebt’s auf diesem Pfingstfeste auch Bier, Rostbratwurst, Musik und Tanz, ohne welche ja ein echt thüringer Volksfest undenkbar wäre.

Mit dem Pfingstfeste tauchen auch die sogenannten „Laubmänner“ auf, deren Herkunft und Bedeutung mir allerdings bis heute ein Rätsel geblieben ist. Sie beleben für die nächsten paar Wochen das öffentliche Bild. Es sind zumeist halbwüchsige Burschen, die vom Kopf bis zu den Füßen vollständig in frisches Laub gehüllt erscheinen, so dicht vermummt, daß weder Gesicht noch Hände sichtbar werden. In der Rechten halten sie eine Gerte, mit der sie nach allen Seiten in die lachend auseinanderweichende, jugendliche Menge tapfer Schläge austeilen. Hinter irgend einer Hecke, irgend einer Thür purzeln sie plötzlich hervor, wie aus der Erde gewachsen. Kaum sind sie in die Erscheinung getreten, so beginnt die wilde Jagd. „Laubmann! Laubmann!“ tönt es von allen Seiten. Dann tollt der immer mehr anwachsende Haufen über Markt und Gassen, bis der müde gewordene grüne Unhold irgendwo wieder den Blicken entschwindet.

Althergebracht ist auch ein Spaziergang zu Pfingsten in aller Morgensfrühe. Man will da gleichsam die Natur in ihren ersten Atemzügen des Erwachens belauschen. Oft wenn es noch graut, wandert man in die grünen Berge hinein. Da rauscht es noch einmal so feierlich; die Vöglein beginnen ihre Sinfonien, über das tauige Gras der stillen Bergmatten schreiten Hirsch und Reh, während im Osten höher und höher das lichtbringende Tagesgestirn aufsteigt. Was wäre dem Thüringer wohl mehr ans Herz gewachsen als sein Wald, sein prächtiger, unübersehbarer, immergrüner Wald?!

Wen es aber zu Pfingsten doch etwa daheim hielt: acht Tage später, am Trinitatisfeste, da läßt es keinen echten Thüringer in seinen vier Pfählen, da zieht es ihn magnetisch hinaus in die prangende Natur. Das ist ein Tag im Jahr, wo auf allen Wegen und Stegen helle Kleider blinken, frohe Menschenstimmen schallen, wo es lebt und webt im Walde, drunten auf bequemen Wegen, droben zwischen Gestein und Tannicht, auf Matten und an Berghängen hin.

Gilt’s dem einen Teil auch nur, Waldluft und Freiheitshauch zu genießen, ein anderer Teil, der stillere von beiden, zieht aus, der alten guten Sitte gläubigen Herzens folgend. Denn an diesem Tage gilt es, heilkräftige Wurzeln und Kräuter, Zweige und Pflanzen einzusammeln. An diesem Tage ist die blühende Natur gesegnet mit doppelter Kraft, und was man heute pflückt, hat vermehrte geheime Gabe, Krankheiten und Gebrechen zu heilen. Darum nennt auch der pflanzenkundige Thüringer diesen Tag nicht mit kirchlichem Namen. Ihm ist er seit langer, langer Zeit der „Goldene Sonntag“.

Dieser Glaube hat sich noch bei Vieltausenden erhalten. Gläubig sammelt man daher an diesem Tage, was man für den Hausbedarf, des Leibes Schmerzen und Ungemach für nötig erachtet. Wenn dann der Winter draußen auf den Bergen wohnt, tief verschneit Wege und Stege liegen, der Schneesturm an den Fensterladen rüttelt, dann sitzt es sich gut im kleinen, scharf geheizten Stübchen.

[366]

Der Laubmann.

Die Hausindustrie beschäftigt alle Hände.

Auf der Ofenbank aber sitzt Großmutter und schlürft behaglich ihren Waldkräuterthee. Mag immerhin das junge Volk lachen. Sie weiß es besser, das Mittel hilft doch; denn sie glaubt daran. Und während die Alte den aufsteigenden Würzeduft einatmet, ruft ihr die Erinnerung den vollen Zauber des „Goldenen Sonntags“ vor die Seele.

Sie hört die Wälder rauschen. Vogelsang mischt sich mit Quellengemurmel. Der Himmel blaut, es duftet und grünt und blüht, und über alles schüttet die Sonne Ströme goldigen Lichtes aus. Solch Erinnern belebt.

Pfingszeit – Jugendzeit! Selige Tage des Hoffens und Glaubens!


Tilly in Rothenburg ob der Tauber.

(Mit dem Bilde S. 360 und 361.)

Die Eroberung der alten fränkischen Stadtfeste Rothenburg durch Tserclaes Tilly im Jahre 1631 war kein welterschütterndes Ereignis. Sie bildet keine Etappe in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs und die Besetzung der Freien Reichsstadt durch die Kaiserlichen hatte nur geringe strategische Bedeutung. Für Rothenburg selbst, das einstmals so viel der rühmlichen Tage gesehen, als es in den Zeiten des Städtebundes und des Bauernkriegs sich in führender Stellung befand, bildet der Tag eine Erinnerung schreckensvollster Art. Und dennoch knüpft sich ein Hauptruhm der Stadt gerade an dieses Ereignis, und just dieser Ruhm hat sie neuerdings zum Gegenstand erhöhten Interesses gemacht. Abgelegen vom modernen Verkehr, längst überflügelt von ihrer einstmaligen Rivalin, dem benachbarten Nürnberg, nur von einer kleinen Künstlergemeinde als Denkmal mittelalterlicher Städteherrlichkeit gewürdigt, hatte sie seit langem das Stillleben einer Landstadt geführt. Da trat sie mit der Veranstaltung des eigenartigen Festspiels vom „Meistertrunk“ hervor, welches unter Inanspruchnahme der ganzen Stadt das Heldenstück eines wackeren Rothenburgers feiert, das dieser unter den Schrecken jener Eroberung vollführte und das in ganz eigenartiger Weise von echt deutschem Zecherhumor verklärt ist. Durch einen Riesentrunk rettete Altbürgermeister Nusch seinen Genossen im Rate der Stadt das Leben.

Als am Pfingstmontag 1881 zur Erinnerung an das nun ein Vierteljahrtausend zurückliegende Ereignis zum erstenmal das Festspiel vom Meistertrunk im Saale des prächtigen Rathauses zu Rothenburg in Scene ging, weckte die Kunde von dem künstlerischen Unternehmen, an dem die Bewohner der Stadt zu Hunderten beteiligt waren, allgemeines Interesse. Seitdem ist das Festspiel an jedem zweiten Pfingstfeiertag wiederholt worden und aus immer weiteren Kreisen ergänzt sich die Schar der Zuschauer, die von fern und nah’ in der an sich so sehenswerten altertümlichen Stadt sich einfinden, um Zeuge des wunderbar lebensvollen und farbenechten Schauspiels zu werden. Wie es während desselben, vor- und nachher in Rothenburg zugeht, ist inzwischen mannigfaltig geschildert worden. Die „Gartenlaube“ brachte nach der ersten Wiederholung im Jahrgang 1882 (S. 492) eine lebendige Darstellung aus der Feder von Karl Braun-Wiesbaden. Er knüpfte an eine Schilderung der erinnerungsreichen Stadt, deren starke Wallbefestigung mit ihren Bastionen und Türmen noch heute unversehrt aufragt, ein anschauliches Bild des Festspiels und des diesem folgenden Festzugs, der die Verteidiger und Belagerer der Stadt von Anno 1631 in malerischem Aufzug friedlich vereinigt. Der aus Rothenburg stammende Maler Fritz Birkmeyer hatte durch das stimmungsvolle lebensechte Arrangement dieses Festzugs sich um das Gelingen des Ganzen kein geringeres Verdienst erworben als der wackere Gemeinderat Hörber, von welchem das Festspiel stammt.

Der Künstler hat sich aber daran nicht genügen lassen. Seine Phantasie, nachdem sie heimisch geworden war in jener Geschichtsepoche seiner Vaterstadt, empfand das Bedürfnis, sie mit den Mitteln seiner Kunst, der Malerei, ganz direkt darzustellen. Und so entstand auch das Bild, dessen Wiedergabe unsere heutige Nummer schmückt.

Tilly war üblen Muts, als er in den Septembertagen 1631 sein Heer in Franken zusammenzog. Kurz vorher hatte ihn, den Unbesieglichen, die erste schwere Niederlage getroffen: Gustav Adolf hatte sich ihm bei Leipzig überlegen erwiesen. Als nun das trutzige Rothenburg, das als Kornspeicher des Frankenlands ihn angelockt hatte, sich im Widerstande hartnäckig erwies und die kriegsgeübten Rothenburger von ihrer Mauerwehr herab seinen Scharen schwere Verluste beibrachten, that er zornvoll den Schwur: wenn die Stadt sich nicht bald ergäbe, wolle er ein Beispiel aufstellen, noch furchtbarer als zu Magdeburg. Dreißig Stunden währte schon die Belagerung, da flog gegen Abend des 30. Septembers der Turm, welcher die Pulvervorräte der Stadt barg, von einer Granate entzündet, in die Luft, und den Belagerern war nun eine breite Bresche zum Sturm bereitet. Die Stadt mußte sich auf Gnade oder Ungnade ergeben. Und nun zog Tilly, begleitet von den Generalen Pappenheim, Altringer und Ossa, an der Spitze der beutegierigen Soldateska durch die geöffneten Thore. Alsbald, so heißt es in der auf Chroniken gestützten Darstellung des Rothenburger Historikers A. Merz, begann die entsetzlichste Plünderung, und die erbitterten Kriegsobersten begehrten laut die gänzliche Zerstörung der widerspenstigen Stadt. Auf dem Markte warfen die jammernden Frauen mit ihren Kindern den Rossen der Generale sich in den Weg und flehten um Erbarmen. Kaum würdigte sie Tilly eines Blickes und Wortes. Auf dem Rathause aber ließ er dem Rate, der daselbst sich versammelt hatte, kurz und ernst verkündigen, daß er sich sogleich zum Tode bereit zu machen habe. Der regierende Bürgermeister Johann Bezold mußte selbst gehen, um den Scharfrichter für seine Hinrichtung und die seiner Ratsgenossen zu holen … In der Zwischenzeit vollzog sich aber im Rathaussaal ein Vorgang, der dem drohenden Geschick eine freundlichere Wendung gab. Der große Ratspokal wurde mit dem besten Weine des Kellers gefüllt und dem ermüdeten Feldherrn kredenzt. Der Trunk mundete dem sonst nicht sehr trinkfesten Tilly und noch mehr den deutschen Generalen seines Gefolges. Die Größe des Pokals, der gut zwölf Schoppen hielt, erregte Tillys Staunen, und er sprach den Zweifel aus, daß irgend einer der Ratsherren ihn auf einmal austrinken könnte. Als nun gerade noch einige Frauen mit ihren Kindern durch die Wachen zu ihm herein drangen, um sein Herz zur Milde zu rühren, wie es vorher auf dem Marktplatz vergeblich geschehen war, da kam Tilly der Einfall, die Begnadigung zuzusagen, wenn einer der Ratsherren den gewaltigen Becher auf einmal zu leeren vermöchte. Der Altbürgermeister Nusch erklärte sich dazu bereit und der trinkbare Mann that den Trunk denn auch bis auf die Nagelprobe. „Es schadete ihm aber nicht,“ heißt’s in der Chronik.

Unser Bild vergegenwärtigt uns mit spannender Kraft den ergreifenden Augenblick, da der auf dem Marktplatz angelangte Tilly die um Gnade flehenden Frauen und Kinder mit kaltem Hohn von sich weist. Man fühlt: sie knieen und demütigen sich vergeblich. Ganz vorzüglich ist in den Gesichtern der ringsherum haltenden Generale und Obersten die Befriedigung ausgedrückt, mit der diese das ablehnende Verhalten des Feldherrn begleiten. Besonders die Kroaten links sind ganz dazu angethan, uns aus Haltung und Mienen die sie bewegende Beutegier lesen zu lassen. Nicht weniger echt wie die Kostüme ist der Platz wiedergegeben in seiner prächtigen architektonischen Umrahmung. Das imposante Rathaus, mit dem schön gegliederten Kolonnadenausgang, dem mächtigen breiten Altan, eine der schönsten Profanbauten deutscher Renaissance, ist in lebendigen Bezug gebracht zu der Handlung. Auf dem Altan, dort, wo die große Stadtflagge sich an die Brüstung schmiegt, steht Meister Nusch, noch ohne Ahnung, zu welcher Heldengröße sich in der nächsten Stunde seine alterprobte Trinkerkraft aufzuschwingen bestimmt ist. Und rechts vom Rathaus die hohe Giebelfront mit dem schlanken Türmchen birgt die einstige „Herren-Trinkstube“ des Rats, in welcher dieser damals seine Sitzungen beim „Bechertupf“ fortzusetzen pflegte und dabei zu jener bedachtsam sicheren „Trinkbarkeit“ gelangte, von welcher die Rettungsthat Nuschs das beredteste Zeugnis ist. J. P.     


[367]

Aus Mitleid.

Novelle von Emma Merk.

(Fortsetzung.)

Nach dem Besuch Hedwigs fühlte sich Forstner merkwürdig erregt. Viele, viele Wochen lang war sein Leben so ganz einsam gewesen. Nun klang die fremde, sanfte Mädchenstimme ihm lange im Ohre nach. Hedwigs Anliegen beschäftigte ihn, wie ein Ereignis in seinem einförmige dahinschleichenden Krankendasein. Er schlief schlecht und der Arzt fand ihn erregt und fieberisch.

„Was haben Sie denn, lieber Regierungsrat? Ihr Puls geht ungewöhnlich schnell.“

„So mancherlei Gedanken, die mir nicht aus dem Kopf wollen! – Ich möchte die Wahrheit wissen,“ stieß er dann mit einem raschen Entschlusse hervor. „Wie lange habe ich noch zu leben, Herr Doktor?“

Der Arzt lachte wieder sein gezwungenes Lachen.

„Gehen Sie im Frühjahr in den Wald und horchen Sie auf den Kuckucksruf, lieber Rat. Dann fragen Sie: wie lange habe ich noch zu leben? So oft er antwortet, so viele, Jahre bleiben Ihnen zugemessen. Zehn, zwanzig, dreißig!“

„Ich sprach im Ernst, Herr Doktor,“ sagte Forstner vorwurfsvoll.

„Aber ich weiß es wahrhaftig nicht besser als der Kuckuck. Um kein Haar besser als der Kuckuck. Sie überschätzen mein Wissen, Herr Regierungsrat. Wenn wir Aerzte in der Zukunft lesen könnten, ja dann wären wir gemachte Leute!“

Diese ausweichende Antwort bestätigte dem Kranken nur was er selbst ahnte, nein – wußte. Er hatte seine Krankheit genau studiert. Ein Jahr noch! Vielleicht bis zum nächsten Winter! Natürlich, der Doktor, der mußte ihm ja Mut machen und ihn zu täuschen suchen, so lange es ging. Aber für ihn war es besser, sich keinen nutzlosen Hoffnungen hinzugeben und sich in das Unabänderliche zu fügen.

Er brütete in diesen Tagen nachdenklich vor sich hin. Ein paarmal setzte er sich vor seine Schreibmappe und nahm einen großen Bogen. Dann schüttelte er wieder den Kopf und legte die Feder weg. Endlich begann er doch einen Brief, aber einen ganz kurzen:

           „Sehr geehrtes Fräulein!

Möchten Sie die Freundlichkeit haben, mich in den nächsten Tagen wieder aufzusuchen, damit ich in der Angelegenheit, in der Sie sich von mir einen Rat holen wollten, mit Ihnen Rücksprache nehmen kann. Ich darf leider nicht ausgehen, sonst würde ich mir nicht erlauben, Sie zu mir zu bemühen.“

Die Haushälterin verschluckte nur mühsam eine Bemerkung, als sie die Aufschrift „Fräulein Rautenbach“ las, und meldete am nächsten Tage mit höchst ungnädiger Miene:

„Das Fräulein in Trauer ist wieder da!“

Diesmal schien der Regierungsrat fast noch befangener als Hedwig, die ihn erwartungsvoll, mit einem Ausdruck kindlicher Dankbarkeit anblickte. Die Freude, daß er sich ihrer annahm, das Interesse, zu hören, was er ihr sagen würde, röteten ihre Wangen. Er sah in dem hellen Licht, in dem sie ihm gegenübersaß, mit einer gewissen Verwunderung, wie jung sie noch war; nur der seltsame Anzug, der Frauenhut ließen sie alt erscheinen. Aber auf ihrem schmalen Gesicht war kein Fältchen; sie konnte kaum fünfundzwanzig Jahre alt sein. Diese Beobachtung erweckte ihm wieder Zweifel über sein Vorhaben. Aber er mußte wohl reden, nachdem er sie zu sich beschieden hatte.

„Sie haben den Wunsch geäußert, eine Stelle anzutreten. Sie sprachen davon, daß Sie auch Krankenpflegerin werden würden.“

„Ja, gewiß, Herr Regierungsrat. Das ist der einzige Beruf, in dem ich Vorübung besitze, vielleicht auch ein wenig Geschick.“

Er nickte. „Ich habe mich ja überzeugen können, wie gut Sie für Ihren Vater sorgten.“

„Wissen Sie eine Stelle?“ frug sie lebhaft „O, ich wäre Ihnen so dankbar!“

Er hüstelte ein wenig. Seine Hände spielten nervös mit dem Falzbein, das er vor sich liegen hatte.

„Ich habe mir Ihre Worte überlegt, liebes Fräulein, und – da ich schon früher mit dem Gedanken umgegangen bin, mir eine Pflegerin zu nehmen – ich bin ja immer noch recht schwach und elend und es wird jeden Tag schlimmer – so meine ich, es wäre uns beiden geholfen, wenn Sie während der kurzen Zeit, die ich noch zu leben habe, bei mir blieben.“

Sie war sehr verlegen geworden und machte eine erschrockene Bewegung. Kam ihr sein Vorschlag seltsam vor oder überraschte es sie, daß er so ruhig von seinem baldigen Ende sprach? Er wußte sich ihre Miene nicht zu deuten. Er war selbst bedrückt von dem, was ihm noch zu sagen blieb, und zögerte, fortzufahren.

„Ich fürchte, Sie bieten mir das nur an, weil ich Sie gebeten hatte! Und – Sie werden sich auch bald wieder erholen,“ stammelte sie sehr verwirrt, mit dem hilflosen Blick ihrer großen braunen Augen, der etwas Rührendes für ihn hatte.

„Nein nein! Ich bin mir über meinen hoffnungslosen Zustand ganz klar. Ich brauche eine Pflegerin über kurz oder lang. Schon jetzt –“ er senkte die Stimme. – „Meine Haushälterin ist in der Küche viel besser am Platz als bei einem Kranken. Sie sehen: es ist nur Egoismus, wenn ich Ihnen diese ernsten Pflichten zumute. Aber – aber ich habe dabei auch an Sie gedacht. Ich versprach Ihrem Vater damals, als ich ihn das letzte Mal sah, daß ich mich seiner verwaisten Tochter annehmen wolle. Da meine Tage gezählt sind, kann ich das nur in einer Weise thun: ich hinterlasse Ihnen meine Pension, vielmehr die Pension, die der Staat meiner Witwe ausbezahlt. Damit Sie darauf Anspruch haben, ist freilich eine Formalität nötig: Sie müssen sich mit dem kranken Mann, dessen Pflegerin Sie werden sollen, trauen lassen. In aller Stille, hier in diesem Zimmer, das ich wohl nicht mehr verlassen werde.“

Ihr Gesicht war mit Glut übergossen. Sie hatte immer noch den furchtsamen, erschrockenen Ausdruck. Da sie schwieg, fuhr er fort:

„Es hat mir einige Bedenken gekostet, ob ich dem Staat gegenüber nicht ein Unrecht thue, wenn ich mich in Erwartung des Todes verheirate. Ich fürchte, ich werde nicht mehr viel arbeiten können. Aber ich bin zu der Ansicht gekommen, daß ich durch eine fast zwanzigjährige Dienstzeit auf diese Witwenpension ein Anrecht erworben habe. – Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag, liebes Fräulein. Sie sind ja sehr jung für ein so trauriges Amt. Aber es wird wohl nicht lange dauern, und Ihre Zukunft wäre dann gesichert.“

Sie rieb die Hände aneinander, rückte auf ihrem Stuhl, kämpfend mit ihrer Schüchternheit, verlegen nach Worten suchend.

„Wenn ich Ihnen wirklich etwas nützen kann, so bedarf es für mich keiner weiteren Ueberlegung. Dann nehme ich dankbar an, was Sie mir anbieten,“ sagte sie endlich, stockte aber wieder wie in einer plötzlichen Furcht, er könnte ihre rasche Zustimmung mißdeuten.

„Glauben Sie nicht, daß es mir um meine Zukunft zu thun ist, Herr Regierungsrat, oder, wie Sie meinten, nur – um eine höhere Pension. Nein, nein, gewiß und wahrhaftig nicht! Ich wäre nur so froh, wenn ich wüßte, wo ich hingehöre, wenn ich nicht so ganz verlassen auf der Welt wäre! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie furchtbar es ist, wenn man so gar niemand kennt und so mutterseelenallein ist.“

Er legte seine abgemagerte Hand auf ihre zarten schmalen Hände, die in schlichten schwarzen Wollhandschuhen steckten. Wie erlöst fühlte er sich, daß er ausgesprochen hatte, was er seit vielen Tagen und Nächten im Kopfe herumgewälzt, und daß sie sein Anerbieten so einfach und natürlich aufnahm. Gerade ihre kindliche Unbefangenheit gab ihr ein klareres Verständnis für seinen Vorschlag, als es vielleicht ein erfahreneres und weltklügeres Mädchen gehabt hätte. Daß er sie zu seiner Frau machen wollte, darauf legte sie sichtlich gar kein besonderes Gewicht. Sie würde wohl, nach wie vor, ihre Stellung im Hause als die seiner Krankenwärterin auffassen. Und so mußte es auch sein. Er gestand sich, daß er, wenn er gesund wäre und noch Lebenshoffnungen hätte, nicht daran denken würde, dieses Mädchen zu heiraten, das wie eine Klosterschwester aussah und von der er nur wußte, daß sie sanft und leise sprach und ging und mit weicher Hand Kissen [368] glätten konnte. So aber! In seinem elenden Zustande! Ein armer Schwindsüchtiger! Warum sollte er nicht ein Geschöpf in der Nähe haben, das sich um ihn bekümmerte, an dem er obendrein ein gutes Werk that?

„Sehen Sie, liebe Hedwig,“ sagte er. „Ich kann nur wiederholen: wir helfen uns gegenseitig. Ich bin ja auch allein.“

Sie war nun etwas zutraulicher geworden und schaute mit einem treuherzigen Blick zu ihm auf.

„Nicht wahr, wenn ich anfangs etwas ungeschickt bin und mich nicht gleich in dem neuen Leben zurechtfinde, dann sind Sie mir nicht böse?“ bat sie. „Ich lasse mir ja gern alles sagen. Manchmal packt mich eine namenlose Angst, daß ich so gar nichts von der Welt weiß – und wahrhaftig, ich kann es Ihnen nie, nie vergelten, daß Sie Mitleid mit mir haben und mir so viel Vertrauen schenken.“

Er war von dem vielen Sprechen, von der seltsamen Unterredung doch recht angegriffen und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. – Sie sah sofort, daß er müde war, und erhob sich rasch. Aber es schien sie zu betrüben, daß Wochen vergehen müßten, bis sie ihr Amt antreten konnte, und so fragte sie bittend, ob sie schon jetzt manchmal kommen dürfe,um ihm vorzulesen. Ihrem armen Papa, der so wenig schlafen konnte, habe sie oft halbe Nächte lang vorgelesen.

„Ich hoffe, ich werde niemals ein so großer Egoist werden wie ihr Vater!“ dachte Forstner. Laut sagte er, indem er das Mädchen an die Thür begleitete:

„Kommen Sie nur recht oft, ich bitte Sie herzlich darum, liebe Hedwig.“

Die Haushälterin, die neugierig an ihrer Küchenthür gehorcht hatte, drückte an diesem Tage durch einen erhöhten Spektakel mit ihren Tellern und Schüsseln, durch polternde Schritte ihre höchste Mißbilligung aus! Forstner mußte sich mit einem Seufzer fügen, daß er das Ende dieses Regiments wahrhaftig ersehne. Allerdings, es stimmte ihn, wehmütig, als er nun die erforderlichen Papiere mit seiner Heiratsanmeldung dem Standesamte einschickte. Warum hatte er nicht in früheren Jahren eine Frau genommen? Warum sein Leben vorübergleiten lassen ohne Liebe, ohne Glück? Es war doch recht traurig, den gefürchteten Schritt jetzt erst zu thun, nur um beim Sterben eine Gefährtin zu haben!

An die Redaktionen der Münchener Tagesblätter schrieb er einen höflichen Brief und bat, in dem Lokalanzeiger seine bevorstehende Verheiratung nicht zu erwähnen. Glückwünsche hätten ihm wie Hohn klingen müssen! Nur einigen wenigen Bekannten fiel unter den vom Standesamt veröffentlichten Trauungen sein Name auf und sie schickten möglichst kurze Gratulationskarten. Am Tage der Hochzeit brachte der Amtsdiener einen wunderbaren Blumenstrauß mit einem freundlichen Schreiben des Ministers. Die duftenden Rosen waren das einzige Festliche bei der kurzen Ceremonie, welcher nur der Arzt und ein Kollege Forstners als Zeugen beiwohnten.

Trübseliger, nüchterner war wohl selten ein Hochzeitstag begangen worden. Am Morgen wurden Hedwigs Habseligkeiten gebracht, die sie in dem ihr angewiesenen Zimmer einräumte. Vieles mußte auf den Speicher geschafft werden. Dann kam der Standesbeamte, eine Stunde später der Pfarrer. Man setzte sich nach den erledigten Förmlichkeiten mit den beiden Zeugen zu Tisch. Aber der Arzt mahnte bald zum Aufbruch und empfahl seinem Patienten Ruhe. Er wollte am Abend noch einmal kommen.

Als Forstner nach seinem Mittagsschlafe mit den Blicken seine Frau suchte, fand er sie verweint, mit verstörtem Gesicht.

Auf seine Frage: „Was ist dir geschehen?“ schlug sie die Hände vor das Antlitz.

„Ich weiß nun erst, warum Sie das alles thaten! Um mich vor der Not zu retten! Und daß ich von Ihrer Güte gelebt habe, seit vielen, vielen Monaten!“

„Wer hat dir das gesagt, Hedwig?“ frug er entrüstet.

„O, ich schäme mich so, daß mir die Pension nicht auffiel,“ fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwurf zu antworten. „Daß mein Vater kein hoher Beamter war, das wußte ich ja recht wohl, wenn ich vor ihm auch nicht dergleichen that! Aber daß er wirklich nur Schreiber gewesen sein soll! Wie hart ihm das geworden sein mag! O!“

„Wer hat dir das gesagt?“ frug er wieder, von ihrem Schmerz mitleidig ergriffen, mit wachsender Empörung.

„Ihre Haushälterin versicherte mir, Sie hätten keine neue Pflegerin gebraucht. Sie gäben das nur vor aus Gutmütigkeit, damit ich nicht verhungern müsse! Sie wisse es von dem Amtsdiener.“

Forstner konnte gar nicht sprechen, so packte ihn der Zorn. In seinem Hause, am allerersten Tage, hatte sie die grausame Wahrheit erfahren! Er ging in sein Zimmer, nahm einige Goldstücke aus dem Schreibfisch, klingelte der Dienerin:

„Hier haben Sie Ihren Lohn, Frau Maierhofer, für das nächste Vierteljahr! Und nun packen Sie Ihren Koffer, sofort! Und gehen heute noch!“

„O, Sie werden es bereuen! Sie werden es bereuen! Wenn ich reden wollte! Aber einen treuen Dienstboten schickt man aus dem Haus und eine scheinheilige fremde Person nimmt man herein!“

„Gehen Sie!“ rief Forstner und stieß mit dem Stock auf den Boden, um seiner schwachen Stimme stärkeren Nachdruck zu geben.

„Ja, ja, ich lass’ Sie schon allein mit Ihrer jungen Frau!“ höhnte die Zornglühende, und wie mit Donnerschlägen schmetterten die Thüren ins Schloß.

Nach einer Stunde war es plötzlich ganz still im Hause fast unheimlich still.

Mit einer gewissen Beklemmung fühlten die beiden, die sich nun in der einsamen Stube gegenübersaßen, wie allein sie jetzt waren, nur aufeinander angewiesen. Hedwig hatte die Lampe gebracht und ihre Häkelarbeit in die Hand genommen. Manchmal warf sie, beunruhigt einen Blick auf den Mann, der sich mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl zurücklehnte. Er sah erhitzt aus, sein Atem ging rasch.

Forstner hatte auch in gesunden Tagen jeden Aerger mit einem körperlichen Uebelbefinden bezahlen müssen. Bei seinem leidenden Zustande war nach der Unruhe am Morgen die zornige Erregung, die er empfunden, zu viel für ihn gewesen. Er fürchtete, wieder schwer krank zu werden, und es bedrückte ihn, daß er Hedwig gleich am ersten Tage jede Arbeit zumuten mußte. Mühsam hielt er sich aufrecht, obwohl sie endlich sagte:

„Sollten Sie sich nicht niederlegen, Herr Regierungsrat? Ich will vielleicht in Ihrem Schlafzimmer noch ein wenig heizen?“

„Es thut mir so leid, liebe Hedwig. Morgen werden wir ja ein anderes Dienstmädchen finden. Doch eins: du sollst nicht ‚Herr Regierungsrat’ zu mir sagen! Das geht nicht vor den Leuten, überhaupt –“

Sie stand auf.

„Wünschen Sie vielleicht Ihre Suppe, Herr Forstner?“

Er lächelte, so elend es ihm auch zu Mute war, „Herr Forstner’, paßt auch nicht, Hedwig. Ueberhaupt nicht ,Sie’. Sage du zu mir und nenne mich Franz!“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das getraue ich mir nicht!“

Er nahm ihre kühle Hand in seine fieberheißen.

„Wenn ich dich aber darum bitte, Kind! Das gehört zu den Pflichten, die ich dir zumuten muß! Sag’: macht es dir nichts, daß du dich nun plagen mußt für mich armen Krüppel?“

„Nein, Franz,“ sagte sie gehorsam.

Die holde Vertraulichkeit, das erste Du, es war wohl selten in einer so traurigen Stunde erbeten worden!

Der Arzt kam, schüttelte den Kopf, als er den Puls fühlte.

„Rasch zu Bett, lieber Regierungsrat! Und einen Wickel!“

„Starkes Fieber! Ein böser Rückfall,“ bemerkte er besorgt, als Hedwig ihn hinausbegleitete. „Da treten Sie ja gleich in Ihr Pflegerinnenamt ein, Frau Regierungsrat!“

Sie erschrak ordentlich über den Titel und machte ein so verlegenes Kompliment, daß der Doktor auf der Treppe verwundert vor sich hin murmelte: „Sonderbares Ding, das er sich da ins Haus genommen hat!“

Dem Kranken gegenüber aber hatte Hedwig ihre Scheu verloren. Wie eine gewandte Diakonissin wickelte sie ihn in die Decken, legte ihm ein kühles Tuch auf die Stirne, alles mit so weichen Händen, so zart und gütig, daß er ihr immer wieder einen dankbaren Blick zuwarf. So oft er sich nur regte, stand sie neben ihm, erriet, was er wollte, gab ihm zu trinken, rückte ihm die Kissen; dann huschte sie leise wieder ins Nebenzimmer.

[369]

Pfingstläuten.
Nach einem Gemälde von N. Brispot.

[370] Draußen in der Januarnacht grollte der Sturm und peitschte die Schneeflocken an die Fenster. Manchmal fuhr ein Wagen schellenklingelnd vorüber. Es war Karnevalszeit und die Menschen durchtanzten die Nächte. Der Wind trug ab und zu verirrte Musikklänge bis an das Ohr der einsam Wachenden. So war ihr ganzes Leben lang, immer nur aus weiter Ferne, wie ein verhallender Laut, die Kunde von einem lachenden, sonnigen, genußfrohen Leben, irgendwo da draußen in der Welt, zu ihr gedrungen.

Wie manche Nächte hatte sie so gesessen in stillem Lauschen und Sorgen: Wird es morgen besser sein? Fällt die Temperatur? Schläft er ruhiger?

Sie vergaß fast, daß es nicht ihr Vater war, der da drinnen lag, auf dessen schwere Atemzüge sie horchte. Ihr Schicksal schien immer das Gleiche von ihr zu fordern. Mit einem jähen Schrecken durchrieselte es sie plötzlich, als sie den Ehering an ihrer Hand fühlte.

Das war heute ihr Hochzeitstag gewesen!


Die Verschlimmerung in dem Befinden des Regierungsrates hatte das eine Gute, daß sie den beiden Menschen, die nun Mann und Frau hießen und sich dennoch völlig fremd waren, über die peinliche Befangenheit ihres Zusammenseins hinweghalf, die sie sonst wohl drückender empfunden hätten.

Dem hilfsbedürftigen Kranken gegenüber konnte von der mädchenhaften Zaghaftigkeit, die Hedwig sonst gezeigt, wenn sie ihm nur die Hand gab, unmöglich die Rede sein. Als es ihm nach einigen Tagen wieder besser ging und er wenigstens für Stunden das Bett verlassen konnte, war er schon so an seine Pflegerin gewöhnt, daß er es ganz natürlich fand, sich von ihr führen, einwickeln, bedienen zu lassen. Er konnte sich nur freuen über die gute Wahl, die er getroffen hatte. Hedwig schien wirklich zu den Frauennaturen zu gehören, denen es Bedürfnis ist, sich für einen Menschen mühen und plagen zu müssen, die in der Aufopferung ihr Glück finden. Es lag nun ein ganz zufriedener, heiterer Ausdruck auf ihrem Gesicht und sie blühte ordentlich auf in dem Krankenzimmer.

Freilich, er selbst schickte sie, nachdem ein neues verläßliches Dienstmädchen gefunden worden, täglich ins Freie und drang darauf, daß sie sich zerstreue, ab und zu ein Theater, ein Konzert besuche.

„Du sollst mir dann erzählen. Ich will was Neues hören!“ sagte er, um sie zum Fortgehen zu bewegen.

In der That, es machte ihm Freude, ihre großen, glänzenden Augen zu sehen, wenn sie heimkam. Eine neue Welt öffnete sich im Theater vor ihr, und sie genoß diese mächtigen Eindrücke mit der ganzen Frische einer Kinderseele.

Im März, an einem der ersten Frühlingstage, kam eines Morgens, als Hedwig eben ausgegangen war, Frau Maierhofer, die frühere Haushälterin, in die Wohnung des Regierungsrates und wollte den Herrn sprechen. Das neue Dienstmädchen, das sie nicht kannte, führte sie in sein Zimmer.

Forstner frug ziemlich unwillig nach ihrem Begehr.

„Mein Gott, der Herr Rat hat es ja nicht um mich verdient, aber ich kann’ es halt nicht lassen, daß ich noch so viel Anteil an Ihnen nehm’, Herr Rat. Sie sind mir doch früher ein so guter Herr gewesen. Und deshalb hab’ ich mir die Freiheit genommen, herzukommen. Denn, sehen Sie, das gefällt mir halt gar nicht, daß die gnädige Frau, die Frau Regierungsrätin“ – sie sagte das möglichst höhnisch – „auf der Straße mit einem jungen Herrn herumgeht, während ihr armer Mann zu Haus sitzen muß. Zweimal hab’ ich sie jetzt schon begegnet und gerad’ wichtig hat sie’s gehabt mit dem hübschen jungen Menschen,“

Die rachsüchtige Frau bemerkte mit boshafter Genugthuung, daß ihre Worte auf den Regierungsrat einen peinlichen Eindruck machten. Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, als er nach einer Weile erwiderte:

„Ein Verwandter meiner Frau. Jedenfalls verbitte ich mir Ihre Klatschereien und Verleumdungen. Guten Morgen!“

Frau Maierhofer wußte trotzdem, daß sie nicht umsonst gekommen war, daß der Hieb saß.

Er saß in der That.

Wenn Hedwig nun etwas länger ausblieb, so sagte er sich mit heimlicher Bitterkeit: Sie unterhält sich wohl recht gut? Wenn sie mit frischem, warmgerötetem Gesicht heimkam, dachte er: Man sieht ihr an, daß sie lustig geplaudert hat. Hedwig erlaubte nicht, daß das Dienstmädchen sie vom Theater abhole, weil sie nicht wollte, daß der Kranke ganz allein bliebe. Wenn Franz dann die ersten Wagen nach Theaterschluß fahren hörte, wartete er mit wachsender Ungeduld auf ihr Kommen. Die Viertelstunden, die Minuten dehnten sich so lang in seiner einsamen Stube, gaben so viel Raum für die schlimmsten Gedanken, die peinlichsten Vorstellungen. Eine Frage, eine Anspielung kam nicht über seine Lippen. Er fürchtete sich ordentlich vor einer Bestätigung seines heimlichen Mißtrauens. Was wußte er eigentlich von ihr? Er kannte sie ja kaum. Er kannte überhaupt die Frauen nicht. In Büchern hatte er wohl gelesen, daß sie falsch seien und ihre wahren Empfindungen zu verbergen wissen. Vielleicht war ihre Schüchternheit, ihre kindliche Unerfahrenheit nur eine Maske!

Ein brennendes Gefühl, ein Seelenschmerz quälte ihn nun in der kranken Brust, obwohl er geglaubt hatte, es seien alle heftigen Regungen in ihm abgestorben.

Es ging wochenlang so fort; unausgesprochen, bald dumpfer, bald heftiger peinigte ihn der Verdacht.

Einmal, als Hedwig lange nicht nach Hause kam, trat er an das Fenster; öffnete es und blickte hinaus. Die Sonne schien warm, daß er sich einige Augenblicke lang von ihren Strahlen überglühen ließ. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, wieder einmal frische Luft einzuatmen. Und wie er nun hinabschaute auf die helle leuchtende Straße, die funkelnden Fenster, das Menschentreiben, das so lustig in dem Frühlingsglanz vorbeiwogte, da packte ihn plötzlich ein wilder Neid auf alle, die sich bewegen, die gesund und frisch dahinlaufen konnten, die nun mit gesundem Appetit zu ihrem Mittagsessen eilten – der Neid des Gefangenen, des Ausgestoßenen, des Verurteilten.

Er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht aufzuschluchzen, überwältigt von Jammer über sein Elend.

In diesem Augenblick sah er Hedwig in ihrer altmodischen Trauerkleidung um die Ecke biegen. Wahrhaftig, sie war nicht allein! An ihrer Seite ging ein schlanker junger Mensch in einem hellen Sommeranzug mit ungewöhnlich langem Haar und einer Wagnermütze auf dem Kopf. Sie schienen sich trefflich zu unterhalten; der Begleiter sprach wenigstens sehr lebhaft und Hedwig ging ganz langsam, als wollte sie den Weg zu ihrem Haus möglichst hinauszögern.

Franz zog sich vom Fenster zurück. Er saß wieder in seinem Lehnstuhl, als Hedwig eintrat. Er fühlte, daß er vor Erregung zitterte, und mußte erst eine Weile warten, ehe er mit der Ruhe, die ihm nötig schien, fragen konnte: „Wer war der Herr, mit dem du eben gingst?“

„Ein Musiker, der zuweilen meinen Vater besuchte,“ erwiderte sie rasch. Er meinte zu bemerken, daß sie verlegen geworden war.

Sie sagte nicht mehr und er frug auch nicht weiter. Seine Phantasie half ihm die Lücken ausfüllen; in ein paar Sekunden, stand der kleine Roman fertig in seinem Kopf.

Der junge Musiker, der zuweilen ihren Vater besuchte, war der einzige Mensch, den sie überhaupt zu sehen bekommen hatte. Kein Wunder, daß sie sich für ihn interessierte. Sie war ja so jung. Und ihm gefiel sie wohl mit ihrem Nonnenscheitel, trotz ihrer drolligen Kleider aus den sechziger Jahren. Er hatte vielleicht nicht viel Damenbekanntschaften. Sie liebten sich; aber „er war Musiker und sie hatte auch nichts“. Warten mußten sie auf alle Fälle, und so war sie denn die Frau des Kranken geworden, der ja doch nicht lange mehr leben konnte. Wenn sie dann Witwe sein würde, hatte sie wenigstens eine hübsche Hauseinrichtung. Daß die Pension, die er ihr hatte zuwenden wollen, bei einer Wiederverheiratung verloren gehen würde, hatte sie wohl nicht bedacht.

Sein bitterer Groll war einer tiefen ergebungsvollen Trauer gewichen. Er sah die Stunde herannahen, in der er sie bitten konnte, ihm zu vertrauen, ihm rückhaltlos die Wünsche ihres Herzens zu gestehen. Freilich die Stimmung wechselte. Manchmal konnte er seine Reizbarkeit ihr gegenüber nicht beherrschen [371] und er sagte ihr ein ungeduldiges, bitteres Wort wegen irgend einer Kleinigkeit.

Hedwig war gerade wieder in die Stadt gegangen, um Einkäufe zu machen, als ein Packträger einen Brief an sie brachte. Eine Männerhand hatte die Adresse geschrieben, das war unverkennbar: Der Brief lag nun mehr als eine Stunde lang auf dem Tische, vor Forstners Augen. Er mußte immer wieder die Aufschrift lesen: „Frau Regierungsrat Hedwig Forstner.“

Allmählich wuchs eine neue quälende Empfindung in ihm empor: das Gefühl der Lächerlichkeit vor anderen. Er dachte im allgemeinen so wenig an die Menschen, mit denen er ja nicht mehr in Berührung kam. Aber wie er es nun so schwarz auf weiß vor sich sah, daß er dieser Frau seinen Namen gegeben hatte und daß sie vor aller Welt zu ihm gehörte, da schämte er sich seiner Gutmütigkeit. Er hatte ja doch nur ihr das Opfer dieser Trauung gebracht. Ihm wäre mit einer Pflegerin, die sich nach seinem Tode nach einer anderen Stellung umsehen konnte, ebensogut gedient gewesen. Das sollte sie doch anerkennen und ihn nicht dem Gespött preisgeben! Als sie heimkam, schob er ihr das Schreiben hin und sein lange verhaltener Zorn bebte durch die Worte, die er ihr mit heiserer Stimme zurief:

„Warte doch, bis ich tot bin! Dann kannst du ja thun, was du willst!“

Sie hob erschrocken die Augen und ließ in ihrer Bestürzung das Paketchen mit Zwieback, das sie für ihn gekauft, zu Boden gleiten. Dann bückte sie sich mit einem leisen Schreckensruf und stand mit dem zerbrochenen Backwerk in der Hand so verstört, mit einem solchen Ausdruck des Staunens und der Unschuld vor ihm, daß er sich in seiner Verbitterung sagte, sie sei eine vollendete Schauspielerin.

„Was habe ich gethan? Um Gottes willen! Rede doch nicht so!“

„Der Brief ist doch jedenfalls von dem jungen Menschen, von dem Musiker, mit dem du so häufig spazieren gehst. Wohl die Absage eines Stelldicheins oder eine neue Bestellung?“

Sie blieb ganz wortlos, in starrer Verblüffung. „Ein Stelldichein? Ich?“ stieß sie endlich hervor und sah ihn bekümmert an, als redete er im Fieber.

„Bitte, leugne nicht! Man hat dich zu wiederholten Malen mit dem jungen Herrn gesehen! Wie oft du dich von ihm begleiten läßt, das weiß ich nicht. Ich bin ja nicht in der Lage, dir nachzuspüren. Darauf rechnest du wohl?“

„Das war aber doch kein Stelldichein!“ stammelte sie. „Herr Wilberg –“

„Also Wilberg heißt er?“

„Er kam doch öfter zu meinem Vater.“

„Das sagtest du schon einmal. Aber das ist doch kein Grund, warum du nun mit ihm herumrennen mußt! Warum kommt er nicht hierher?“

„Er wollte nicht, er meinte, es wäre besser, wenn wir es vorläufig noch geheim hielten –“

„Du bist wirklich naiv, Hedwig!“ stieß er höhnisch hervor. Sein heftiger Ton verschüchterte sie vollständig. Zitternd und blaß bis an die Lippen, rückte sie in die fernste Ecke des Zimmers, weit von ihm weg, und dachte nicht einmal daran, den Hut abzunehmen, als möchte sie am liebsten vor seinen finsteren Augen zur Thüre hinaus fliehen.

„Hast du dir nicht klar gemacht, daß du dem Namen, den ich dir gab, Rücksichten schuldig bist? Der junge Mensch kennt doch deine Stellung. Wie kann er es wagen, dir Heimlichkeiten zuzumuten?“

„Aber es handelte sich doch nur um die Oper meines Vaters, die er zur Aufführung bringen will. Er sprach mich an und bat mich, ihm die Komposition zu geben, die er schon kannte. Das that ich denn, weil ich mich so von Herzen freuen würde, wenn mein armer Vater, nach seinem Tode noch, anerkannt würde.“

Da Franz ruhiger geworden war und ihr mit weniger bösen Blicken zuhörte, faßte sie Mut.

„Dreimal habe ich nur mit ihm gesprochen, gewiß nicht öfter. Und das letzte Mal begleitete er mich bis an das Haus und sagte, er müßte einiges umändern. Aber er glaube, daß sich die Oper recht gut aufführen lasse, und er habe einen Freund, der Kapellmeister sei und der sich dafür interessiere.“

„Warum erzähltest du mir das nicht?“ frug er nur halb überzeugt.

„Ich wollte dich überraschen. Ich dachte, es würde dich auch freuen, wenn der Name meines Vaters auf dem Zettel stände.“

Die schlichten Worte machten den Eindruck der Wahrheit. Aber er hatte sich in sein Mißtrauen zu fest eingelebt, um so rasch an eine völlige Harmlosigkeit ihrer Beziehungen zu dem Musiker glauben zu können.

„Bitte, lies doch einmal deinen Brief,“ sagte er und drückte ihr denselben mit einem beobachtenden Blick in die Hand.

Sie zögerte nicht, den Umschlag zu öffnen. Er sah sie an, und kein Zug in ihrem Gesicht entging seinen prüfenden Augen. Langsam röteten sich ihre erst so fahl gewordenen Wangen. Eine tiefe Falte grub sich ihr in die Stirne. Mit einem Ausdruck heftigen Unwillens, leidenschaftlicher Entrüstung rief sie endlich aus:

„Nein! Das ist unverschämt! Das ist gemein!“

In seiner Erregtheit dachte Forstner sofort: er hat ihr wohl einen Liebesbrief geschrieben, und nun spielt sie die Entrüstete, da sie doch fühlt, daß sie den Inhalt nicht geheimhalten kann.

Aber Hedwig reichte ihm ohne weiteres Besinnen das Blatt, noch immer glühend vor Empörung, und er las – und schämte sich seines Mißtrauens. „Sehr geehrte gnädige Frau!“ lautete die Aufschrift. Also kein vertraulicher Ton, der sich nicht geziemt hätte! Der Musiker schrieb ihr in ziemlich umständlichen, verschnörkelten Redewendungen, er habe an der Oper des Vaters so viel ändern, neuschaffen müssen, daß sie es ihm wohl nicht verübeln werde, wenn er seinen Namen als den des Komponisten darunter setze. Sein Freund, der Kapellmeister, wünsche auch gerade von ihm ein Werk zur Aufführung zu bringen. Er sei übrigens gern bereit, den Kritikern, den Kollegen gegenüber zu erwähnen, daß er aus der Arbeit Rautenbachs viele Anregung geschöpft habe.

„Ein netter Herr!“ sagte Forstner ebenfalls entrüstet. Aber nach all den trübseligen und quälenden Gedanken, die ihm dieser Herr Wilberg in den letzten Wochen verursacht hatte, empfand er im Grunde doch eine gewisse Genugthuung darüber, daß derselbe sich in so schlechtem Lichte zeigte.

„Siehst du, Kind, das meinte er mit dem Geheimhalten, das er dir zumutete. Darum wagte er sich nicht hierher in mein Haus, in meine Nähe. Ich hätte dir abgeraten, ihm das Werk so ohne weiteres auszuliefern. Aber er merkte wohl bald, daß du die Menschen nicht kennst, nicht weißt, wie jeder nur seinen Vorteil will und es auf dem Weg zum Erfolg nicht genau nimmt!“

„So schlecht sind die Menschen!“ murmelte sie, und sie sah so verstört, so bestürzt und trostlos aus, daß er wieder an den kleinen Roman, den er sich ausgesonnen, denken mußte.

Sanft und teilnehmend schaute er ihr in das Gesicht.

„Sag’ mir’s offen, Hedwig, erschreckt dich sein Benehmen wirklich nur um des Vaters willen oder – oder hattest du den Menschen lieb, der den Toten um seinen Ruhm bestehlen, will?“

Sie sah ihn mit ihren großen Kinderaugen verwundert an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Nein! Ich hab’ nie jemand lieb gehabt außer meinem armen Vater. Manchmal, wenn ich in den Büchern von Liebe gelesen habe, oder auch im Theater, wo sich das ganze Stück um nichts anderes dreht, da dachte ich mir: Wie kommt es, daß ich mich nie verliebt habe? Aber ich glaube, ich habe immer viel zu viel Sorgen gehabt und zu viel Angst, ob ich mit dem wenigen Geld, das der Papa mir gab, ausreichen würde. Ich hatte gar nicht Zeit, an anderes zu denken.“

„Armes Ding!“, sagte er mitleidig. Sie kam ihm vor wie ein Schattenpflänzchen, das aus Mangel an Sonne nicht zum Blühen kommen kann. Aber unwillkürlich beruhigte es ihn doch, daß sie nie jemand lieb gehabt hatte. Er konnte wieder daran glauben, daß dieses eine Menschenkind weinen würde bei seinem Tode; vielleicht weniger um ihn als um die Heimstätte, um die Pflichterfüllung, um den Lebenszweck, den sie bei ihm gefunden.

(Schluß folgt.)


[372] 0


Blätter und Blüten.

Flüssige Kohlensäure in der Erdrinde. Die Herstellung der flüssigen Kohlensäure im großen, welche in der Technik und Industrie vor kaum einem Menschenalter als große Errungenschaft bezeichnet wurde, ist im Haushalte der Natur bereits vor Millionen Jahren geübt worden. Ja, der unerschöpfliche Gehalt vieler Quellen, besonders im Taunus, an Kohlensäure ist nicht etwa auf gasförmige Vorräte der Erdrinde zurückzuführen, sondern auf flüssige Kohlensäure, die besonders in den Granit- und Gneisschichten, also den ältesten Gesteinen der Erdrinde, enthalten ist. Diese Schichten, welche bis zu einem Drittel ihres Volumens mit Quarzeinschlüssen untermischt sind, enthalten, in letztere eingesprengt, unzählige Tröpfchen flüssiger Kohlensäure, welche zwar, einzeln betrachtet, mikroskopisch klein sind, aber dennoch, in ihrer Gesamtheit und auf den gasförmigen Zustand reduziert, unermeßliche Mengen des Gases darstellen, welches in unserer Atmosphäre nur noch in Spuren vorhanden ist. Wie Prof. Laspeyres mitteilt, enthält nach den bisher untersuchten Proben ein Kubikmeter quarzhaltiger Granit oder Gneis bis zu 15 Liter flüssige oder 7 Kubikmeter gasförmige Kohlensäure. Da aber die Dicke der Gneis- und Granitschichten, welche das ganze Gerüst des Erdkörpers bilden, nach Tausenden von Metern mißt, so würde ihr Einschluß an flüssiger Kohlensäure gewiß hinreichen, um eine Erdatmosphäre aus reiner Kohlensäure zu bilden, welche höher als die jetzige Luftschicht unsres Planeten wäre. Bei der unterirdischen Zersetzung der Gesteine durch Hitze, Druck oder Wasser wird natürlich die Kohlensäure frei und steigt in gewissen aus großer Tiefe kommenden und deshalb heißen Quellen mit zu Tage. Ein Gneiswürfel von 1000 m Breite würde z.B. die Quellen von Pyrmont über 300000 und die von Oeynhausen beinahe 100000 Jahre mit Kohlensäure versorgen können, und selbst die ungewöhnlich starke Quelle im Brohlthal, die in jeder Stunde 90 Kubikmeter Kohlensäure zu Tage bringt, hätte an einem Kubikkilometer Granit für 9000 Jahre genug.

Solche flüssigen Einschlüsse im Gestein sind nichts Seltenes, auch das Erdöl der amerikanischen Petroleumquellen ist meistenteils in Gestalt feiner Tropfen in die dortigen, freilich jüngeren Gesteinsschichtungen versprengt. Es läßt sich leicht vorstellen, daß in der Urzeit der Erde, als die sie umgebende Atmosphäre noch ganz oder größtenteils aus Kohlensäure bestand und eben die Bildung der Gneis- und Granitschichten begann, Kohlensäure in Mengen verflüssigt und in die Poren der Gesteine eingeschlossen worden ist, wie dies später mit den Erdölen und Erdölgasen geschah. Die zu solchen Wirkungen fähigsten Mächte, Zeit, Druck und Wärme, haben ja im Verlaufe der früheren geologischen Epochen stets in unbegrenztem Umfang zu Gebote gestanden. Bw.     

Die Mithrashöhle auf Capri.
Nach einer Photographie von P. Espositos u. Sohn in Neapel.

Die Mithrasgrotte auf Capri. (Mit Abbildung.) Als großes herrliches Lichtbild hebt sich die Insel Capri gegen den dunkelblauen Himmel und das azurne Mittelländische Meer ab. Blitzende Sonne allüberall: auf den Felsenhängen, auf den silbernen Blättern der Oelbäume, auf den über die Insel hinrankenden Reben, in den Augen lebensfroher Mädchen und Knaben! Capri ist die Heimat des siegenden Sonnengottes, des altrömischen Sol invictus, dem noch heute jeder nordische Fremdling so gern sein Opfer bringt in dem goldfunkelnden Weine von Capri.

Dieselbe frohe Sonne leuchtete den römischen Bewohnern der Insel in der Kaiserzeit, auch sie verehrten diesen Sol invictus, aber nicht im Lichte, sondern in der Finsternis der Höhlen, nicht im freudespendenden Wein, sondern im unheimlichen Blute von Tieren und – Menschen. Der naive Sonnenkultus der Väter nahm unter dem Einfluß des aus Persien nach Rom verpflanzten Mithraskultus unheimliche Formen an, der Sol invictus erhielt den Beinamen „Mithras“.

Wir steigen in die Felseneinsamkeit der östlichen Steilküste hinein; wildes Geröll und Trümmergestein, umwuchert von würzigem Kraut- und Strauchwerk, füllt eine steil zum Meere etwa dreihundert Fuß abfallende Schlucht. Im Grunde dieser thut sich die so berühmte und berüchtigte Grotta di Mitromania auf.

Es ist eine der zahlreichen Höhlen, wie sie das Kalkgestein der Insel durchsetzen und in der Blauen Grotte höchste Berühmtheit erlangt haben. Die Gelehrten stritten lange Zeit über die Bedeutung, die dieser Höhle in alten Zeiten zukam. Die einen setzten ihren Namen in Bezug zu dem Mithraskultus, die andern aber erklärten das Wort für verdorben aus ara matris magnae (Altar der Großen Mutter) oder ara matris manium (Altar der Mutter der abgeschiedenen Seelen).

Ein Marmorrelief, das den jugendlichen Gott beim Stieropfer darstellt, heute im Museum Neapels zu sehen, gab endlich Aufschluß über die wahre Bestimmung der Höhle: sie war ein Heiligtum, ein Wallfahrtsort der im Niedergang begriffenen römischen Heidenwelt, die, im Kampf mit dem Christentum bereits unterliegend, noch heimlich in Höhlen, wie einst die ersten Christen in den Katakomben, dieses entarteten Gottesdienstes pflog ...

Ostwärts schauend über die schmale Meerenge hinweg, steigt beim Kap der Minerva die blühende Sorrentohalbinsel aus den Wellen, wo die Sirenen wohnten ... an der Sonne reifen die dunklen schweren Trauben Capris ... die Mädchen singen in den Weingärten, und von dem Kirchlein der Hilfreichen Gottesmutter, droben, dicht neben den Ruinen der Jupitervilla des jenem Mithrasdienste ergebenen Tiberius tönt ein christlich Glöcklein lustig und hell wie siegesfroh in den Sommertag hinein. Woldemar Kaden.     


 Geständnis.
 (Zu unserer Kunstbeilage.)

Ein Frühlingshauch von weicher Milde –
Ein zarter Duft auf Berg und Hain,
Und rings die blühenden Gefilde,
Sie atmen seinen Segen ein.

Und alles in der Näh’ und Ferne
Ist wie von Himmelstau erquickt,
Und viele hundert Blumensterne
Sind in der Matten Samt gestickt.

Doch nirgends eine schön’re Blüte,
Die einen süßern Duft ergießt,
Als was dem innersten Gemüte
Im Strahl der Liebe sich erschließt.

Und mag der Lenz vorübereilen,
Wenn er sein Füllhorn ausgeleert:
Hier ist zu dauerndem Verweilen
Er in die Herzen eingekehrt.  R. v. G.


☛      Hierzu Kunstbeilage XII: „Geständnis“. Von O. Lingner.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 22/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.