Die Gartenlaube (1897)/Heft 27
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Nr. 27. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Die Hexe von Glaustädt.
Abermals war eine Reihe von Tagen ins Land gezogen. Der Tuchkramer Henrich Lotefend hatte sich in seine rasende Leidenschaft bis zur völligen Urteilslosigkeit eingebohrt. Früh und spät sann er über die Mittel nach, um trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse an sein glühend ersehntes Ziel zu gelangen. Je weiter nun das Geburtstagsfest in dem Leutholdschen Rebengange zurücklag, um so hartnäckiger suchte sich Lotefend einzureden, daß er sich doch vielleicht über die Zuneigung Hildegards zu Doktor Ambrosius getäuscht habe. Die Eifersucht – so philosophierte er – war ein schlechter Beobachter. Man wußte, wie zärtlich Hildegard Leuthold an ihrem Vater hing … Die liebenswürdige Aufmerksamkeit, mit der Ambrosius den alten Magister erfreut hatte, wirkte doch ganz natürlich auf das Verhalten der Tochter. Sie wollte dem Urheber dieser reizenden Ueberraschung sich dankbar erweisen. Im übrigen war das alles vielleicht nur harmlose Koketterie und geschmeichelte Eitelkeit … Es kam noch hinzu, daß Hildegard neulich, als Henrich Lotefend sie wieder einmal über die Hecke hinaus mit freundlichem Zuruf begrüßt hatte, zwar heftig errötet war, aber es doch nicht verschmäht hatte, näher zu treten und seine Frage nach ihrem Befinden und nach dem ihres Vaters mit unbefangener Artigkeit zu beantworten. Es lag dabei ein so merkwürdiger Schimmer von Freude und Zuversicht über dem jungen Antlitz und ihre ganze Art schien so frei von Groll und Zurückhaltung, daß Henrich Lotefend beinahe Lust verspürte, auf seine zärtlichen Offenbarungen vom Lynndorfer Walde zurückzukommen. Aber die Sorge, durch ein verfrühtes Wort sie dennoch hinweg zu scheuchen, legte ihm Schweigen auf.
Wie er jetzt – gegen vier Uhr nachmittags – hinter dem rehbraunen Fenstervorhang seines Laboratoriums stand, wo seit Wochen kein Schmelztiegel gebrodelt und keine Retorte gedampft hatte, war Herr Lotefend wirklich schon halb überzeugt, daß seine Aussichten doch nicht so ungünstig seien, wie er sich damals im Leutholdschen Rebengang eingeredet. Durch den Spalt des Gewebes lugte er in das halb geöffnete Fenster des Nachbarhauses, wo Hildegard in Abwesenheit ihres Vaters ein wenig Ordnung in seine Bücher und Briefschaften brachte. Seit Verlauf einer Viertelstunde glitt ihre schlanke
[450] Gestalt mit dem lieblich geröteten Antlitz und den herrlichen Zöpfen wohl zum zwanzigstenmal an seinem starrblickenden Auge vorüber und setzte sein Blut mehr und mehr in stürmische Wallung. Mit jeder Sekunde wuchs ihm der Mut und das Selbstvertrauen. Die Weiber sind unergründlich! Wer konnte denn wissen, ob nicht bei dem Benehmen Hildegards damals im Laubgang sogar eine wohlüberlegte Berechnung mitspielte? Selbst den unerfahrensten Jungfrauen ist die Thatsache geläufig, daß die Bevorzugung eines anderen die Liebe des scheinbar Zurückgesetzten wunderbar schürt und belebt! Vorhin erst hatte sich Lotefend in dem großen französischen Langspiegel seines Prunkzimmers unparteiisch gemustert. Ohne sich rühmen zu wollen, durfte er sich das Zeugnis eines noch immer stattlichen, frischen und nicht ganz alltäglichen Mannes geben. Er war allerdings nicht mehr so unerhört jung wie dieser Ambrosius, aber dafür überragte er den Herrn Doktor beinahe um Handbreite. Er, Henrich, besaß noch volles, braunlockiges Haar, das nur an den Schläfen ganz unmerklich ergraut war, und einen prächtigen, tiefschwarzen Vollbart. Der schlankvornehme Wuchs hatte noch kaum gelitten, wenn auch der Sechsundvierzigjährige selbstverständlicherweise stärker und breiter war als der Knabe von achtundzwanzig. Und wie oft hatte man Beispiele erlebt, daß gerade die zartesten und weiblichsten Frauen eine gereifte Männlichkeit dem blühendsten Jünglingsalter unbedingt vorzogen!
Zudem – so bethörte sich Henrich Lotefend weiter – sein Vermögen wog schließlich doch auch etwas! Glanz und Reichtum galten ja einem Geschöpf wie dieser Hildegard Leuthold gewiß nicht alles, aber bei sonst gleichwertigen Sympathien gab das Gold vielleicht doch am Ende den Ausschlag. Wenn sie ihn heiratete, würde Hildegard Leuthold ein Leben führen wie eine Königin. Er wollte ihr ein Daheim gründen, das von Luxus und Pracht überquölle. Die Schönheiten fremder Länder würden sich ihr erschließen wie ein unerschöpfliches Füllhorn. Sie sollte Paris kennenlernen und die Kaiserstadt an der Donau und die gesegneten Flure Italiens. Am Rhein, in der Provence am Strande von Genua wollte er ihr prächtige Schlösser bauen, ausgestattet mit allen Herrlichkeiten der Erde. Schon vor seinem Geständnis im Lynndorfer Wald hatte sich Lotefend zuweilen bei Hildegard in derartige Schwärmereien ergangen. Er hatte ihr ausgemalt, was er beginnen würde, wenn er sein Leben nach eigenem Geschmack einrichte könnte … Frau Mechthildis freilich sei eine aufsässige stille Natur und aller Bewegung feindlich … Die halte an Glaustädt fest und hindere so die Verwirklichung dieser schönen Phantasmen … Die lockenden Bilder, die er vor Hildegard so verschwenderisch ausgerollt, mußten inzwischen nachgewirkt haben. Ihr träumendes Auge hatte ja damals schon aufgeleuchtet …
Henrich Lotefend nahm jetzt wahr, wie die Leutholdsche Wirtschafterin Gertrud Hegreiner den Garten betrat und ihr gelbrotes Spinnrad an die schattigste Stelle des Laubgangs setzte. Die große Flügelhaube schimmerte unter dem Blattgrün herüber wie ein fremdartiger Schmetterling.
Da packte den liebeglühenden Mann plötzlich der Einfall, das ist der rechte Augenblick! Den Vater Hildegards hatte er vor zwanzig Minuten bereits in die Thorstraße nach der Stadt einbiegen sehen. Gertrud Hegreiner war offenbar mit ihren häuslichen Obliegenheiten zu Ende und saß nun hier fest bis zum Abend. Ehe die Kinder kamen, die Hildegard unterrichtete, verging wohl noch eine Stunde. Das Hausmädchen aber, die gute dumme Theres, würde es nicht sehr auffällig finden, wenn ein Freund der Familie, dazu ein Mann seines Alters, auch in Abwesenheit des Magisters vorsprach. Schlimmstenfalls konnte er dieser Bauerngans mit ein paar Weißpfennigen wohl den Mund stopfen.
Kurz entschlossen machte sich Lotefend auf den Weg. Er war in der letzten Zeit immer mit äußerster Sorgfalt gekleidet, sogar im Haus, daher er denn nur nach dem breitkrempigen Hut griff. Auch nahm er nicht erst von Mechthilds Abschied. Die lag ohnehin drüben in ihrer schattigverhängten Kemenate und schlief. Mochte sie weiter schlafen!
Vorsichtig öffnete er das schmiedeeiserne Thor das bei Tage nur eingeklinkt war. Auch die Hausthür stand offen, so daß Lotefend unbemerkt bis an das Zimmer gelangte, wo die nichts ahnende Hildegard so emsig mit Aufräumen beschäftigt war.
Hier machte der fieberisch erregte Mann für einen Augenblick Halt. Das Herz schlug ihm doch hart und wild an die Rippen. Er holte aus tiefster Brust Atem. Fast wäre er umgekehrt.
Endlich warf er sich in die Brust, schalt sich einen verwünschten Feigling und pochte ganz leise. Dann etwas stärker. Hildegard, das graulinnene Hauskleid ein wenig gerafft, eine Staubschürze vorgebunden, öffnete ihm.
„Gott zum Gruß!“ stammelte Lotefend. „Nehmt’s nicht ungut, liebwerte Freundin, wenn ich hier störe! Ich dachte Euren Herrn Vater zu finden.
„Der ist ausgegangen.“
„Schade!“
„Kann ich an seiner Statt Euch gefällig sein …?“
„Tausend Dank! Ihr müßt nämlich wissen … Gestattet Ihr, daß ich eintrete?“
Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, überschritt er die Schwelle und drückte die wuchtige Eichenholzthür langsam ins Schloß.
Hildegard begann stutzig zu werden.
„Ihr seht,“ sprach sie mit ruhiger Höflichkeit, „ich bin leider jetzt auf Besuche nicht eingerichtet.“
Sie wies auf die Staubschürze und die rings herrschende Unordnung.
„O! Zwischen Nachbarsleuten bedarf’s da keiner Entschuldigung!“
„Also; wie kann ich Euch dienen, Herr Nachbar?“
„Indem Ihr freundlich vergönnt … indem Ihr … mich drei Minuten lang ruhig anhört.“
Das Fräulein sah ihn verblüfft an. Seine Unsicherheit und Verlegenheit ließ keinen Zweifel darüber, daß ihn die nämliche Stimmung beseelte, die ihn damals im Lynndorfer Gehölz übermannt hatte.
„Hildegard,“ fuhr er dann fort, heiser vor Aufregung, „ich ertrag’ es nicht mehr! Lieber das Schlimmste, lieber den Tod als diese fortwährende Qual!“
„Aber um Gott, Herr Lotefend …“
„Laßt mich ausreden! Ich will nun endlich ins klare kommen – Hildegard, habt Ihr Euch mein Bekenntnis zurecht gelegt? Habt Ihr bedacht, was es heißt, wenn ein ernster, gereifter Mann auf der Grenzscheide zwischen Alter und Jugend zum erstenmal eine echte, wahrhaftige Liebe fühlt? Ihr müßt das erwogen haben! Und, Hildegard, es ist ja nicht anders möglich, mein ehrfürchtiges Schweigen all die Zeit über, während ich vor brennender Sehnsucht beinah’ verrückt wurde, kann nicht ohne Eindruck auf Euch geblieben sein! Das wäre doch wider alle Natur! Und deshalb komm’ ich nun mit der flehenden Bitte: gebt mir doch wenigstens einen Funken von Hoffnung! Ich kann ja nicht leben und sterben …“
„Herr Lotefend …. Habt Ihr so ganz vergessen …?“
„Nichts hab’ ich vergessen. Ich weiß, daß ich Euch damals gelobte … Aber das war ein falsches Gelöbnis. Das war mir erpreßt durch die Angst, den Verkehr mit Euch aufgeben zu müssen. Wie kann ich geloben, mir aus dem Herzen zu reißen, was doch den Kern meines Lebens ausmacht! Erbarmt Euch meiner, vielteure Hildegard! Wühlt es Euch denn so gar nicht auf, wenn Ihr gewahrt, wie’s mir den Atem raubt?“
„Ihr habt eine Ehewirtin, Herr Lotefend, die Euch von Herzen liebt und der Ihr Treue geschworen habt bis in den Tod.“
„Hildegard! Weshalb verhöhnt Ihr mich noch? Ich hab’ Euch ja schon erzählt, wie’s kam … Und wenn ich damals geirrt habe, soll ich deshalb nun büßen in alle Ewigkeit? Ist’s denn meine Schuld, daß Ihr nicht früher in mein Leben getreten seid – als ich noch frei war und jugendfroh? Aber ich werde die Freiheit jetzt wiedererlangen und eine neue, schönere Jugend soll bei mir Einzug halten! Nur von Euch hängt das ab … Hildegard, Hildegard, ich beschwöre Euch! Rafft Euch empor und bezwingt Eure grundlosen Gewissenszweifel! Goldne Tage sollt Ihr bei mir verleben! Ich will Euch auf Händen tragen und Euch verehren und anbeten wie eine Heilige!“
[451] Trotz ihres peinvollen Unbehagens empfand Hildegard Leuthold nachgerade etwas wie Rührung. Das Bewußtsein, eine wirkliche Leidenschaft entfesselt zu haben, stimmt jedes weibliche Wesen nachsichtig und verändert ein wenig ihr Urteil. So unmöglich es war, diese Leidenschaft zu erhören, so beschloß Hildegard doch, dem unseligen Manne da vor ihr wenigstens ein gütig tröstendes Wort zu sagen.
„Herr Lotefend,“ sprach sie mit sanfter Freundlichkeit, „das ist ja ein rechtes Unglück! Hier … nehmt meine Hand – zum Zeichen, daß ich nicht länger grolle! Euer Verhalten zu Frau Mechthildis kann ich als junges, unerfahrenes Menschenkind wohl nicht ganz nach Gebühr abschätzen. Wenn Ihr Euch von ihr trennen wollt – sei’s darum! Das ist Eure Sache und ihre. Eins nur wollt’ ich Euch mitteilen, was Euch vielleicht noch den Sinn verändert. Um meinetwillen, Herr Lotefend, dürft Ihr Eure Frau nicht verlassen! Wenn Ihr auch zehnmal frei wäret … Eure Neigung ist ja gewiß eine hohe und kaum verdiente Ehre für mich, nur käme sie jetzt um vieles zu spät. Ich bin versagt, Herr Lotefend, mein Herz und mein heiliges Wort gehören einem andern. Nun Ihr das wisset, werdet Ihr hoffentlich einsehen, daß es nicht Feindseligkeit noch Mißachtung ist …“
„Also doch!“ rief der Tuchkramer erbleichend. „Ich hab’s ja geahnt! Ich hab’s ja gewußt! Die grüne, unreife Jugend hat es Euch angethan mit ihrem höfischen Girren und Schmachten! Ihr gehört einem anderen! Wie das so einfach klingt! Aber da irrt Ihr nun, reizende Hildegard, wenn Ihr Euch einbildet, daß ich so leichten Kaufes Euch losgebe. Ich kenne den Glücklichen, der Euch mir abspenstig gemacht. Er soll sich hüten! Wenn es die Fehde um Euch gilt …“
„O, wie wenig versteht Ihr mich und mein Wesen! Ich sagte Euch das – nicht um Euch zu kränken, sondern damit Ihr einsähet … Und glaubt mir doch, das ist nun ewig besiegelt! Wen mein Herz einmal umfangen hält, den wird kein Mensch auf der Erde Gottes mir jemals hinausdrängen.“
„Wer weiß!“ murmelte Lotefend stirnrunzelnd. „Verlaßt Euch darauf, noch geb’ ich den Kampf nicht verloren! Ich ringe um Euch mit allen Künsten und Mitteln – und wär’s mein Verderben diesseits und jenseits!“
Und plötzlich, wie zur Bekräftigung seiner Worte, riß er die schlanke Gestalt wild an sich.
„Der Starke siegt!“ stöhnte er, fast sinnlos vor Liebesglut. „Ihr werdet noch mein, so wahr ein allmächtiger Gott lebt!“
Sein dürstender Mund suchte den ihrigen. Sie aber stemmte die Hand mit so verzweifelter Kraft wider sein Antlitz, daß sich ihm rechts über dem dunklen Vollbart die Nägel eingruben. Ihr Oberkörper bog sich dabei zurück; Herr Lotefend mühte sich fruchtlos.
Draußen erschollen Schritte. Es war das Hausmädchen Theres’, das langsam die Treppe heraufkam.
„Schämt Euch!“ raunte Hildegard dumpf, da er sie endlich freiließ. „Ich hab’ Euch zu gut behandelt. Ich hätte Euch überhaupt nicht anhören dürfen. So geschieht mir schon recht, daß Ihr Euch dieser Unbill erdreistet.“
Er warf ihr einen heiß verzehrenden Blick zu.
„Sagt, was Ihr wollt! Ich schwör’ es Euch nochmals: mein werdet Ihr doch, und wenn der Erdball darüber in Fetzen geht!
So schritt er hinaus, schäumend vor Wut und Bitternis. Daheim angelangt, warf er sich auf sein türkisches Ruhebett. Er preßte die beiden Fäuste starr vor die Augen. Die Einbildungskraft malte ihm die unerträglichsten Dinge aus. Er sah die wonnige Hildegard Leuthold im Hochzeitsgewand, völlig Blume und Licht, und neben ihr den beneidenswürdigen Doktor Ambrosius, wie er mit tollverliebten Augen sie anstarrte. Und dann sah er sich selbst, wie er zitternd und zähneknirschend dem glücklichen Paar nachschaute, vor Neid vergehend.
Henrich Lotefend ächzte. In heller Verzweiflung packte er einen spanischen Dolch, der über dem kostbaren Ruhebett an der Wand hing, und bohrte die Klinge zwei-, dreimal bis auf’s Heft in das buntfarbige Polster.
Hildegard unterdes, noch vor Aufregung zitternd, hatte den Rest ihrer Obliegenheiten so rasch wie möglich erledigt und war dann hinübergeeilt in ihr trauliches Wohnzimmer. Dort schlug sie, um ihre Gedanken auf andere Dinge zu lenken, ein kürzlich erschienenes Prachtwerk auf, die Reisebeschreibung des Vicomte Jean de la Maillerie, der unter großen Gefahren und Abenteuern das mexikanische Hochland durchstreift hatte. Sie nahm sonst ein starkes Interesse an diesen Forschungsreisen, heute jedoch wußte sie kaum, was sie las. Zwischen den Zeilen des Autors kehrten ihre Gedanken immer wieder zu der abscheulichen Scene mit dem Tuchkramer zurück. Endlich schob sie das Buch weg. Die Hände im Schoß gefaltet, überlegte sie, ob sie dem Vater von der Ungebühr Lotefends Mitteilung machen sollte. Nach reiflicher Prüfung kam sie zu dem Ergebnis, Schweigen sei ratsamer. Auch ihrem heimlichen Bräutigam gegenüber. Wenn sie den schmählichen Ueberfall ausposaunte – wozu konnte das führen? Höchstens zu unangenehmen Erörterungen, wenn nicht gar zu einem stadtkundigen Bruch. Nichts aber war ihr entsetzlicher, als ihren Mitmenschen Stoff zu mißlichen Redereien zu liefern. Nein! Jetzt, nachdem sie nun vollständig klar schaute, konnte sie ja Herrn Lotefend jederzeit ausweichen und, falls man sie wieder einmal zufällig allein ließ, Thüre und Thor verriegeln.
Nach einer Weile kamen die Kinder – Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, Rottmüllers Dorothea und Florian, der pausbäckige Junge des Waldhüters. Der Unterricht und das Geplauder mit ihren Lieblingen übte auf Hildegard eine befreiende Wirkung. Zum Schluß erzählte sie wieder mit ihrer goldhellen Stimme ein lustiges Märchen, und zwar diesmal ein mexikanisches, das sie gestern in dem vortrefflichen Reisewerk des Vicomte Jean de la Maillerie aufgespürt und sich für das Verständnis ihrer kleinen Zuhörerschaft etwas zurecht gestutzt hatte.
Wie sie zu Ende war und die Kinder entlassen wollte, fiel es ihr auf, daß die Augen des kleinen Florian etwas verschleiert blickten. Auch hatte der sonst so eßlüsterne Bub’ sein Anteil Herzkirschen und Weißbrot kaum zur Hälfte verzehrt.
„Fehlt dir etwas?“
„Nein,“ sagte das Kind. „Ich bin nur ein bißchen müde. Und dann, wenn ich schlucke, das drückt mich so.“
„Armer Bursch! Du wirst doch nicht krank werden? Geh’ du hübsch früh zu Bett und laß dich gehörig zudecken! Ja, trotzdem wir jetzt Sommer haben! Das schadet nichts. Und halt – noch was!“
Sie griff in die Gürteltasche und gab dem Buben ein Silberstück.
„Nimm das, Florian! Wenn du beim Apotheker vorbeikommst, hol’ dir gleich ein paar Unzen Pfefferminzkraut und laß dir’s von deiner Mutter mit kochendem Wasser ansetzen! Damit gurgelst du dich. Hörst du? Und gieb mir dann morgen früh Nachricht, ob du dich besser fühlst. Darfst du nicht selber gehn, so schickst du die Kleine.“
Florian bedankte sich.
„Alles soll so geschehn, wie du willst,“ sagte er zärtlich. „Und ich werde schon selbst kommen.“
So schritt er hinaus. Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, und Rottmüllers Dorothea folgten, die übrig gebliebenen Kirschen des Waldhütersohnes in kleinen Papiertüten nachschleppend.
Hildegard sah nicht mehr, daß ihr pausbäckiger Liebling draußen im Treppenhaus beide Hände fest wider den Hals drückte und zu der Schuhflickerstochter die Worte sprach. „Du, jetzt sticht’s wie mit Nadeln!“
„Siehst du,“ sagte die Lore. „Geh’ du nicht mehr so oft am Stockhaus vorüber, wo die Unholde und die heillosen Weiber sitzen!“
„Ja,“ bestätigte Rottmüllers Dorothea, „die Hexen, die können’s den Kindern anthun selbst durch armsdicke Mauern hindurch. Frag’ du nur meinen Großvater und die Muhme Ludmilla!“
Mitte Juli kehrte der Beisitzer Adam Xylander mit seiner treusorgenden Nichte Bertha wieder zurück in das windschiefe Geierhäuschen. Der Aufenthalt in dem freundlichen Pfarrdorf
[452][453] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [454] Königslautern, wo er auf Anraten des Doktor Ambrosius früh und spät unter freiem Himmel gelebt und eine Milch- und Obstkur durchgemacht hatte, schien ihm leidlich bekommen zu sein. Er sah nicht mehr so aschgrau und hohläugig aus, wenn schon der eigentümliche Druck in der Herzgegend immer noch nicht gänzlich verschwunden war. Doktor Ambrosius hatte ihm – nicht nur, um die Sache der unglücklichen Brigitta hinauszuschleppen, sondern ebensosehr aus vollster ärztlicher Ueberzeugung – angeraten, die Kur noch wenigstens bis zu Anfang September fortzusetzen.
Die Furcht jedoch, seine Abwesenheit könne den Gang der Geschäfte beeinträchtigen, quälte den pflichteifrigen Adam Xylander so ungestüm, daß er beschloß, dem ärztlichen Anspruch zuwider schon jetzt Schicht zu machen. Gerecht wie er war, hielt er es auch für eine zwecklose Grausamkeit, diese Brigitta Wedekind länger in trostloser Ungewißheit schmachten zu lassen. Und er konnte und wollte doch gerade diesen Prozeß um keinen Preis aus der Hand geben! Von Balthasar Noß hatte er sich ausdrücklich die Gunst erwirkt, die Voruntersuchung und Anklage selbst zu führen. Das war ihm beinahe zur fixen Idee geworden. Und mehrmals hatte ihn Bertha murmeln hören: „Es geht nicht anders! Die Wedekindin ruft mich bei Tag und bei Nacht!“ Wie er denn überhaupt öfters darüber klagte, daß ihn mitten im ruhigen Gemach Stimmen belästigten, deren Gemurmel und Zanken er auf übernatürliche Einflüsse zurückführte.
Es war am fünfzehnten, gegen halb elf Uhr früh, als der Beisitzer mit seiner Bruderstochter vor dem unfreundlichen Haus in der Kreuzgasse Halt machte. Der Bauernknecht, der die einspännige Karre gelenkt hatte, trug den mißfarbigen Weidenkorb mit den Habseligkeiten der stark durchrüttelten Fahrgäste breitstolpernd die Treppe hinauf, während ein dienstwilliger Bube sein Klickerspiel unterbrach und den Gaul bei den Zügeln nahm. Der Knecht ward abgelohnt, sagte: „Lebt wohl, Herr!“ und rasselte unter dem neugierigen Gaffen sämtlicher Nachbarsleute fröhlich von dannen.
Adam Xylander und Bertha reinigten sich vom Staub ihrer zweistündigen Fahrt und begaben sich dann ins Wohnzimmer. Kurz nach Elf erwarteten sie den Arzt. Bertha brannte vor Ungeduld, sein Urteil zu hören. Sie bangte ein wenig, Doktor Ambrosius werde ihr Vorwürfe machen, daß sie den Aufbruch von Königslautern nicht hintertrieben habe. Der Arzt kannte ja nicht den unbezwingbaren Eigensinn ihres sonst so gutartigen Oheims.
Schweigend saßen die zwei am Fenster. Bertha fand diese niedrige Wohnstube mit dem verbogenen Querbalken inmitten der rauchschwarzen Decke um so erdrückender, je frischer und reiner da draußen die Waldluft gewesen war und der duftige Hauch der Wiesen und Kleefelder. Das einzige, was sie mit diesem plötzlichen Tausch versöhnte, war das Bewußtsein, daß hier in der sommerlich heißen Stadt der klügste, geistvollste, liebenswürdigste Mann lebte, der jemals ein teilnehmendes Wort an sie gerichtet, Herr Doktor Ambrosius. Sie sträubte sich zwar, aber es half nichts: der sieghafte junge Arzt mit dem schön aufwärts gekräuselten Schnurrbart und den feurigen Augen war und blieb nun einmal seit jener ersten Begegnung das unsterbliche Ideal ihrer verspäteten Träume. Sie verehrte ihn selbstlos. Ohne die leiseste Hoffnung, sein Herz zu rühren, jauchzte sie schon im tiefsten Grund ihrer Seele, wenn sie sich die verzehrende Glut seiner Blicke nur vorstellte.
Doktor Ambrosius kam mit dem Glockenschlag Elf. Adam Xylander begrüßte ihn höflich, aber zurückhaltend. Bertha verbeugte sich ehrfurchtsvoll, nahm seine Hand und schob ihm glückstrahlend den Lehnstuhl heran.
Doktor Ambrosius fand den Patienten nicht annähernd so gebessert, wie Bertha gehofft hatte. Er sah jetzt deutlicher als zuvor, daß hier der Anfang einer geistigen Störung vorlag, die zum Teil wohl ererbt, zum Teil aber auch erworben war. Die schweren Erschütterungen, die der gewissensängstliche Mann in seiner Amtsthätigkeit als Blutrichter fortwährend erlitt, hatten sein psychisches Gleichgewicht offenbar unterwühlt. Doktor Ambrosius, ohne zunächst den vorzeitigen Abbruch der Kur zu tadeln, unterhielt sich mit Adam Xylander wohl dreißig Minuten lang. Spuren von Wahnvorstellungen machten sich in verschiedenen Aeußerungen des Kranken deutlich bemerkbar. Doktor Ambrosius urteilte mit vollkommenster Vorsicht, um nicht etwa die stark verbohrte, aber doch sonst geistig normale Anschauung des Fanatikers mit einer wirklichen Erkrankung des Centralorgans zu verwechseln. Bei größter Sorgfalt der Analyse blieb hier immer ein Rest, der Uebles befürchten ließ.
„Herr Stadtrichter,“ sagte Ambrosius zuletzt, „Ihr habt nicht weise gehandelt. Ihr seid noch stark überreizt. Ihr hättet den Aufenthalt in Königslautern getrost fortsetzen sollen bis in den Herbst! Heut’ noch rat’ ich Euch – wenn Ihr denn wirklich hier in der Stadt bleiben wollt – schont Euch so viel als möglich! Vor allem nehmt unter keiner Bedingung teil an den Sitzungen…“
„Aber ich bitt’ Euch!“ rief der Malefikantenrichter beinahe aufgebracht. „Soll ich denn all die Wochen her mich umsonst kasteit haben? Wofür steck’ ich meine Besoldung ein? Und was frommt mir Geist und Gelehrsamkeit, wenn ich beides nicht zum Wohle der Menschheit aufwenden soll?“
„Gewiß! Das ist edel gesprochen!“ sagte Ambrosius. „Aber wenn Euch der Anfall von neulich nun wiederkommt? Wenn Ihr elend und siech werdet auf Lebenszeit?“
„Das wird die Allweisheit der Vorsehung schon verhüten! Die Pflicht ist die Pflicht.“
„Auch die Pflicht gegen uns selbst hat ihre Ansprüche. Vierzehn Tage lang Ruhe scheint mir das mindeste, was ich beantragen muß! Schon der Luftwechsel regt Euch auf. Kommt nun die geistige Anstrengung hinzu …“
„Und die Wedekindin?“ fuhr Xylander ungeduldig heraus. „Habt Ihr die völlig vergessen? Redet mir nichts, ich beschwör’ Euch! Gott selber hat mir befohlen, die Untersuchung wider dies Weib zu fördern und Befehle des lieben Gottes erfüllt ein gläubiger Christ nicht mit Saumseligkeit.
Doktor Ambrosius erschrak heftig beim Anblick dieser jäh funkelnden Augen.
Er widersprach nicht mehr… Wenn er ihn reizte, konnte der Kranke plötzlich in Tobsucht verfallen.
„Dann freilich …“ meinte er achselzuckend. „Ihr müßt ja wissen, Herr Stadtrichter, was Ihr Euch schuldig seid.“
„Das weiß ich auch,“ versetzte der Mann etwas beruhigter. „Und nun wollt’ ich Euch noch gebeten haben, mir doch in Bälde Eure Liquidation zu senden. Ich hoffe zu Gott, Euch vor der Hand nicht mehr lästig zu fallen.“
„Wie Ihr befehlt.“
„Inzwischen dank’ ich für die geleistete Hilfe.“ Ambrosius nahm Abschied. Als er im Treppenhause mit Bertha Xylander allein war, sagte er flüsternd:
„Hegt und pflegt Euren Oheim nach Möglichkeit! Sucht ihm den übergewaltigen Amtseifer auszureden! Es wäre nicht unzweckmäßig, wenn wir beide uns eingehend über die Sache besprächen … Aber ohne daß er es merkt …“
„Vielleicht wenn er zur Sitzung gegangen ist …?“
„Nicht hier im Hause. Er könnte das nachträglich erfahren und so Verdacht schöpfen. Kranke von seiner Art – Nervenleidende – sind außerordentlich mißtrauisch.. Aber vielleicht morgen um Drei, halb Vier am Brunnen im Bürgergarten …?“
„Mit tausend Freuden! Wenn es sich um das Wohl meines Oheims handelt …“
„Also gut! Zwischen Drei und halb Vier! Lebt wohl!“
So ging er von dannen. Bertha Xylander begleitete ihn bis an die Hausthür. Als er hinaus war, schob sie nach alter Gewohnheit den Riegel vor. Dann lief sie zurück ins Wohnzimmer, um sofort den Versuch zu machen, im Sinne des Arztes auf den Patienten einzuwirken. Adam Xylander jedoch saß bereits in der Bettstube, wo es um diese Zeit kühler und dunkler war. Bertha hielt es für gut, ihn vorläufig allein zu lassen. Vielleicht schlief er ein Stündchen.
Kurz danach pochte es wieder drunten am Hausthürklopfer. Das kleine Laufmädchen öffnete. Es war niemand zu sehen. Wohl aber lag da am Boden ein Brief, den der spurlos verschwundene Ueberbringer unter dem Thürflügel hereingeschoben. Die Magd hob ihn erstaunt auf, brachte ihn nach dem Wohnzimmer und erzählte den Vorfall mit großer Weitschweifigkeit.
[455] Bertha las die Adresse.
„Eine seltsame Handschrift,“ meinte sie nachdenklich. „Fast wie gemalt.“
Da ging die Schlafzimmerthür. Adam Xylander mußte das Schwatzen des Laufmädchens gehört haben, obgleich das Kind seine Stimme sorglich gedämpft hatte. Er ließ sich den Brief aushändigen, während die Störerin rasch davoneilte.
Der Mann las. Sein Antlitz verfärbte sich.
„Um Gott, Oheim, was giebt’s?“
Er streckte abwehrend die rechte Hand aus.
„Nichts, nichts! Laß mich! Nein, geh’! Ich muß noch in dieser Minute … Gieb mir den Stock und die Mütze! Und ein besseres Obergewand! Aber so geh’ doch!“
Als sich Bertha entfernt hatte, schlug er sich mit der Hand flach vor die Stirn.
„Wer das geahnt hätte!“ murmelte er wie geistesabwesend. „Ueberall greift die verwerfliche Pest um sich! Straff’ deine Muskeln, heil’ge Gerechtigkeit, oder das Volk ist verloren.“
Er las noch einmal den Brief mit starrer Aufmerksamkeit durch, so daß er in seinem Eifer nicht wahrnahm, wie Bertha ihm jetzt das Verlangte hereintrug und fürsorglich auf den Tisch legte.
Das Schreiben lautete:Dem Verfasser dieser bescheidenen Zeilen ist es zu Ohren gekommen, wie Euer Hochgelehrter während der letzten Wochen von allerlei Weh und Gebrechen heimgesucht worden, Insonderheit von qualvollem Herzdruck, langdauernder Schlaflosigkeit und – wenn so der Schlummer Euch doch einmal überkam – von schreckhaften, widerwärtigen Traumgeschichten. Bei der großen Verderbtheit aller sterblichen Kreatur und der wachsenden Gier, um eitler irdischer Vorteile willen einen Pakt mit dem Bösen zu schließen, ihm gleich einen Gotte zu huldigen und sich die Gunst des Ewigverfluchten dadurch zu sichern, daß man unter den Mitmenschen Uebles und Schändliches auflistet, ist Euch, hochgelahrtester Herr, wohl schon selbst der Gedanke gekommen, es möchte etwa bei diesen obgemeldeten Zuständen teuflische Zaubereien und höllische Tücke im Spiel sein. Wäre ja auch kein Wunder, so sich die Hexen und argen Zauberer mit ihrer Bosheit und ihrem tückischen Haß fürnehmlich auf Eure erlauchte Person stürzten sintemalen Ihr so dem Satanas und seinem Spielgesind ein absonderlich starker Dorn im Auge seid. Auch mögt Ihr schon manchmal geforscht haben, wo denn der Urheber oder die Urheberin solcher abscheulichen Unthat zu finden sei.
Ich, der Briefschreiber – der ich aus achtbaren Gründen ungenannt bleiben will, zumal das hochlöbliche Malefikantengericht ja auch ohnedies die Wahrhaftigkeit meiner Aussage prüfen kann – ich also habe durch allerlei Zufall, dessen Erzählung hier unterbleiben mag, Kunde davon bekommen, wer Euch auf diese boshaftige Art zum Siechthum verholfen hat. Die Verbrecherin ist eine junge Person, die leiblich den begnadeten Engeln des Herrn gleicht, aber vielleicht gerade um deswillen von Beelzebub zum Rüstzeug erwählt worden ist. Lest und staunt! Sie heißt Hildegard Leuthold und ist das einzige Kind des Euch dem Ruf nach sicherlich wohlbekannten Wittenberger Magisters Franz Engelbert Leuthold, der übrigens von der Unseligkeit seiner Tochter nicht das Geringste ahnt. Am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke hab’ ich sie selbst beobachtet, wie sie bei Nacht und Nebel allerlei zauberischen Unfug trieb und dabei unter allerhand gräßlichen Formeln Euren Namen hervorstieß.
Um die Stunde kam ich verspätet von Lynndorf und rastete wegmüd’ hinter dem Nußgebüsch. So vernahm ich jegliche Silbe.
Auch den Sohn eines Waldhüters hat die Leuthold behext und mit schmerzhafter Krankheit geschlagen. Sie erteilte dem Knaben Unterricht und war ihm auch anfangs wohlgesinnt, bis ihr der Satan befahl, zur Probe ihrer Ergebenheit dem Liebling ein Leids zu thun. Ihr werdet das unschwer ans Licht bringen. Der Knabe heißt Florian Püttner und wohnt am Klausweg. Viele Tage hindurch lag der Behexte siech und redete irre, und der Hals brannte ihm wie von höllischem Feuer.
Desgleichen ist mir bekannt geworden, daß Hildegard Leuthold – fragt nur die Hexen und Zauberer, die Ihr im Stockhaus habt – die letzte Walpurgisnacht auf dem Herforder Steinhügel den großen teuflische Sabbath in der bekannten schmachvollen Art festlich begangen, die teuflischen Sakramente empfangen und sich durch einen furchtbaren Eidschwur in Beelzebubs linke Hand siebenfältig verpflichtet hat, in der Glaustädter Gemarkung so viel Unheil zu üben, als sie mit Satans Hilfe irgend imstande sei. Die Leuthold vielleicht vor allen übrigen Hexen trägt Schuld daran, daß neuerdings die Gärten des Grossachufers an so verheerendem Raupenfraß leiden, daß in der Gusecker Flur die Obstblüten fast gar nicht angesetzt haben und daß letzthin so furchtbare Hagelschauer über den Klottheimer Gau zogen.
Ich hielt es für meine Gewissenspflicht, ebensosehr um der geschädigten Menschheit willen wie auch mit Rücksicht auf das bedrohte Seelenheil der Verführten, Euch, hochgelahrtester Herr, diese Thatsachen mitzuteilen. Gewiß kommt ihr nach reiflicher Ueberlegung zu dem Entschluß, die Landverderberin schleunigst in Haft zu nehmen, damit ihre Schuld gesühnt werde, der Fiskus aber, der für uns alle zu sorgen hat, ihr mütterliches Vermögen von Gottes und Rechts wegen einziehen. So wird doch wenigstens ein kleiner Teil des freventlich angerichteten Schadens vergütet.
Darf ich, zum Dank für diese notgedrungene Anzeige, noch eine Bitte äußern, so wär es die folgende: Habt die Geneigtheit, Sorge dafür zu tragen, daß die Festnahme der malefica nicht im Hause ihres hochachtbaren und würdigen Vaters geschehe! Hildegard Leuthold macht in den Vormittagsstunden oft genug Einkäufe bei den Handwerksmeistern und Händlern. Es ginge wohl an, sie bei solcher Gelegenheit unauffällig und ohne Starren des Volkes hinweg zu leiten. Und ferner gönnt Ihr nach der Verhaftung etliche Tage Zeit, bußfertig zu werden und ihre Sünde freiwillig und ohne Tortur einzugestehen. Der dies schreibt, hat ein so mitleidiges Herz, daß er selbst einer schweren Verbrecherin zwecklos keinerlei Qual zufügen möchte.
Eurer Güte vertrauend …“
Und nun kam an Stelle der Unterschrift ein verschnörkelter unkenntlicher Buchstabe, der ebensogut K bedeuten konnte wie B und R.
Der Malefikantenrichter hielt sich nicht lang’ damit auf, das Rätsel des undeutlichen Buchstabens zu lösen. Der richtige Anfangsbuchstabe war es ja unzweifelhaft doch nicht. Und wenn selbst – was lag dem fanatischen Hexenverfolger daran, wer ihm diese Enthüllungen übermittelte? Genug, daß sie ihm hier so bestimmt vorlagen. Sein Antlitz glühte, sein krampfhaft zugekniffener Mund kaute und zuckte. Adam Xylander zweifelte keine Sekunde lang an der Wahrhaftigkeit dieses verlogenen Schriftstücks, das allerdings mit großer Geschicklichkeit die Verhältnisse ausnutzte.
Alles schien nun erklärt, was der unglückliche Mann während der letzten Wochen an widrigen Zuständen durchgemacht hatte; die Angst, die Beklemmungen, das wühlende Herzweh, die unheimlichen Stimmen, die ihm von Zeit zu Zeit wie aus dem Jenseits durch die erschreckte Seele tönten. Nicht die Wedekindin rief ihn beim Namen, sondern die höllische Feindin Hildegard Leuthold, die vor allen übrigen Unholdinnen vom Satan gedungen war, ihn langsam zu Tode zu quälen. Da! War das nicht jetzt wieder ein höhnisches Raunen und Murmeln, als ob die boshafte Hexe ihn schmähe? Unverkennbar klang das wie eine Mädchenstimme, hell und jugendlich, so gedämpft sie auch hörbar wurde.
Zermatt und der Gornergrat.
Nirgends steigen die Berge höher auf als im Wallis, seine Spitzen bilden die silberne Krone Europas. Im Innenraum, den die Zinken und Zacken umschließen, liegt tief eingegraben das Rhonethal. Städtchen mit südlichen Silhouetten, Weinberge, wallende Fruchtfelder, malerische Kastanien- und Feigenbäume, die sich auf die Hütten neigen, selbst die Linien der Landschaft atmen, im unteren und mittleren Teil des Thales wenigstens, eine mehr italienische als schweizerische Stimmung. Plötzlich aber und unvermittelt schaut durch grüne Waldeinschnitte ein fernes, in traumhafter Schönheit aufglänzendes Schneehaupt in die Ueppigkeit herein, bald hier, bald dort eines, und die rauschenden, emsigen Bäche, die nach der Rhone hervorbrechen, reden von stillen Seitenthälern, die unter dem Donner der Lawinen liegen.
Nur eines dieser tief in den Kranz der Schneeberge vordringenden Thäler ist der internationalen Touristenwelt als Reiseziel geläufig, das von Zermatt, das sich bei Visp öffnet. Nicht unverdient, denn es ist einzig und ohnegleichen, es ist der überwältigende Sammelausdruck alles dessen, was das Gebirge an Kraft und Ernst, an Erhabenheit und Schrecken besitzt, eine Zusammenfassung ohne mildernde oder ausfüllende Züge. Das Berneroberland, ja selbst Chamonnix sind Idyllen gegenüber der wilden grotesken Schönheit Zermatts, denn dort giebt es neben dem Großen Hübsches, Anmutiges und Liebliches genug, in Zermatt aber redet alles im Pathos, trägt alles den Charakter einer Uebernatur; es ist der letzte höchste, in wenigen großen Elementen zusammengefaßte Triumph des Hochgebirges. Vom romantischen Flecken Visp führt seit einigen Jahren eine Bergbahn nach Zermatt, und bereits die Fahrt dahin ist ein unvergeßlicher Genuß.
Zuerst wundert man sich, wie es überhaupt möglich sei, daß die Bahn sechsunddreißig Kilometer tief in das Gebirge eindringe, scheint es sich doch gleich hinter dem Ort zu einer ununterbrochenen Mauer zu schließen. Allein sie findet den Weg durch die Engschlucht des Zermatter Thalwassers, der Visp, die in gewaltigen Sprüngen über die Felsen hinuntersetzt und schneekühlen Staub bis an die Wagenfenster emporwirbelt. Die Lokomotive klettert nach dem Dörfchen Stalden empor, das wie ein Schwalbennest über den in blauen Dust getauchten Niederungen der Rhone schwebt. Eine schneeweiße zierliche Kirche und rebenumsponnene, braune, niedrige Häuschen aus Lärchenholz bilden den sonnigen Ort. Ein kühner blendendblanker Brückenbogen über die Visp verleiht ihm eine eigenartige Romantik, als wäre es das Werk eines leichtsinnigen italienischen Malers, der einen italienischen Traum in Farben festhalten wollte.
Allein gleich hinter Stalden ist der Traum des Südens aus. Tief im Hintergrund der Gebirgsspalte leuchten über schwarzen Waldwänden die Firnenkronen des „Doms“ einerseits, des Weißhorns anderseits. Ihnen braust der Zug entgegen, bald durch ebenen Thalgrund, bald an Halden empor, aber immer der treue Nachbar der in Stromschnellen brüllenden, stäubenden Visp. Von der Gewalt des Wassers und dem Charakter des Thals giebt das kamekesche Bild auf S. 457 eine lebendige Vorstellung; es ist vor dem Bau der Bahn entstanden, die jetzt auf der rechten Uferseite des Baches – links im Bild – hinläuft. Von Zeit zu Zeit grüßt der Pfiff der Lokomotive eine weiße Kirche, um die sich ein dunkles Bergdorf schart. Kleiner werden von Dorf zu Dorf die Hütten, niedriger die Fenster, und der Obstbaumwald, der es umgiebt, lichtet sich. In einem Dorf hat die Jugend noch einen Herbst mit Aepfeln und Birnen, im folgenden nur noch einen mit Kirschen, mit kleinen saftigen Kirschen. Sie werden gepflückt, wenn die Winzer draußen im Rhonethal unter Jauchzen die Trauben schneiden. Die nächsten Dörfchen haben keine Kirschbäume mehr, aber in kleinen Aeckern, die zwischen großen Steinen an der Sonne liegen, schmeicheln sie in zwei Sommern der schwarzen Krume die blaßgoldenen Garben ab. Manchmal genügen die zwei Sommer nicht, um das Getreide zur Reife zu bringen, es muß noch halbgrün geschnitten und an Holzgerüsten getrocknet werden.
Endlich sieht man auf beiden Flanken des Thales nur noch lichten, von Lawinenzügen durchfurchten Lärchenwald, Altmännerwald mit meterdicken Stämmen und hängenden Aesten, von denen graue Flechtenbärte niederfluten. Ueber dem Wald stehen die rauhen Felsen, an denen milchweiße Bäche niederflattern, über den Felsen leuchten die Gletscher mit blauschillernden Brüchen, über den Gletschern die weißen Schneefelder und Firnkuppen. Und in kühlen Stößen, die uns am heißesten Tag durchschauern, fährt der Bergwind thalaufwärts.
Aus entlegener Höhe tönt ein einförmiges Klopfen wie das Schlagen der Spechte in die Stille des Thales. Das sind die Werkhämmer der „Wässerwasserfuhren“. Die Bewohner der wallisischen Thäler fassen das Gletscherwasser, das mit fruchtbarem Steinstaub vermischt ist, in hölzerne Kanäle, führen es, um es zu erwärmen, an sonnigen Halden entlang und in vielen Verzweigungen stundenweit auf ihre Felder, damit ein nährendes Tröpfchen zu jedem Halm und Kraut gelangt. Die Kanäle sind aber häufig durch Steinschlag gefährdet. Die Werkhämmer nun,
[457][458] die von kleinen in die Kanäle eingeschalteten Wasserrädern getrieben werden, verraten den Leuten im Thal durch ihr Klopfen, daß die Fuhre in Ordnung ist. Sobald es aufhört, steigen die Männer des Gebirges an den Felswänden hinauf oder in die Schluchten hinab, um den Schaden auszubessern, und nehmen dazu gleich den Priester mit, auf daß er mit den Sacramenten zur Stelle sei, wenn einer von ihnen bei der gefährlichen Arbeit stürzt. Keine Ueberlieferung oder Sage meldet, wer die „Wässerwasserfuhren“, die wegen ihrer geschickten Anlage von den Technikern viel bewundert werden, im Wallis eingeführt hat, genug, daß sie vom Volk in heiligen Ehren gehalten werden.
Höher und höher steigen die Firnberge zur Rechten und Linken hinan, jetzt biegt der Zug um, das Thal erweitert sich zu einem grünen Grund – die Lokomotive schrillt – vor uns liegt Zermatt.
Nein – vor uns steht das Matterhorn.
Nichts sieht man, nichts als es. Mit blitzenden Rändern, scharfkantig wie aus Erz getrieben hebt es sich fast einsam im westlichen Sehkreis vom blauen Sammet des Himmels ab. Was für ein maßlos kühner entzückend graziöser Berg, vor dem selbst die mächtigen Nachbarn scheu zurückweichen. Auge und Sinn werden von ihm emporgezogen, es ist im ersten Augenblick, als fliege es nach oben.
Nur nach und nach lösen sich die Blicke, die Gedanken von ihm, und dann sehen wir, daß auch Bahnhof und Dorf Zermatt vor uns stehen.
Tief wie die Hölle liegt der Ort auf entzückend frischem Wiesenteppich zwischen den Bergen. Lichte Wälder und felsunterbrochene Weiden steigen als Vorwälle des Schneegebirges so hoch auf, daß sie die meisten Gipfel der Umgebung verdecken, nur das Matterhorn steht frei und ohne Vorschranke da, ein dämonisches Weib gleichsam, das uns überall in den Weg tritt, das uns ruft und lockt, um uns zu zerschmettern. Durch die Senken der Vorberge aber kriechen die Gletscher, darunter als die größten der Gorner- und der Findelengletscher, wie riesige Eidechsen die sich sonnen wollen, hervor und langen mit ihren Zungen bis zu den äußersten Hütten des Dorfes.
Zermatt hat einen etwas italienischen Typus. Zwei Kulturen berühren sich, die alte mit einem halben Hundert schwarzgesengter Holzhütten, die von den Zeiten erzählen, da man das Matterthal noch nicht kannte (vgl. Abbildung S. 456), und die neue, die ihren Ausdruck in einem halben Dutzend großer Gailhöfe findet, von denen die meisten der Familie Seiler gehören. Wenn man sich in einem günstigen Winkel zu den schönsten Häusern des Dorfes aufstellt, so macht es fast den Eindruck eines Städtchens. Einige Hütten sind zu reizenden Bazars umgebaut, wo man die Nippsachen der Alpenwelt kaufen kann. Hochgebirgsphotographien, reizende Bilderrähmchen aus getrockneten Alpenblumen, Briefbeschwerer mit Versteinerungen, Kristalle, Erze, Gemälde berühmter und unberühmter Maler, die sich durch die Zermatter Bergwelt treiben; Bergstöcke, Nagelschuhe, Seile, Schleier, das ganze Ausrüstungsinventar für Gletschertouren.
Die einzige Straße, die Zermatt hat, ist noch so holprig wie vor Jahrhunderten, die großen Pflastersteine sind feucht, der Boden zwischen ihnen von den Hufen der vielen Maultiere aufgerissen, die hier durchgetrieben werden. Allein was für ein malerisches und ergötzliches Leben entwickelt sich nicht an diesem Dorfweg, namentlich am Morgen, wenn die Fremden nach den Gletschern und Bergen ausschwärmen, und am Abend, wenn sie wiederkehren und jeder „Eiszapfen“ von Engländerin warm erscheint im Schimmer der Blumen, die sie vor sich auf das Maultier geladen hat!
[459]
Da kommen Fexen des Bergsports, die in einigen Wochen alle Spitzen der Umgegend von Zermatt mit Beil, Seil und Rucksack erklettern. Wie erbarmungswürdig sehen sie aus: geschwollene, mit Blasen bedeckte Gesichter, rotunterlaufene Augen, dicke aufgesprungene Lippen. Einer hat gar ein Antlitz wie Töpferglasur, tiefe Löcher und Narben, so daß man ihn auf den ersten Blick für einen bemalten Cirkusclown halten könnte. So wütet die Hochgebirgssonne in den Gesichtern. Und doch, wer versagt den Gezeichneten des Hochgebirges, die mit versengten Wangen und abgerissenen Kleidern ins Dorf einziehen, während sie neue Pläne für die folgenden Tage aushecken, einen achtungsvollen Gruß?
Am allerwenigsten die Damen, jede schwärmt für die Bergsteiger ihrer Nationalität, die deutsche für die deutschen, die Engländerin für die ihrigen. Und wie reizend entfaltet sich unter der südlichen Sonne, in der prickelnden Luft Zermatts, die auf alle Wangen Rosen zaubert, das Damenleben selbst, wenn ein Reiterinnenzug junger Mädchen mit Bergstöcken, wehenden Schleiern, kirschroten Shawls schäkernd und scherzend herniedersteigt, als kämen sieghafte Amazonen heim von kühnem Zug.
Ebenso merkwürdige Gestalten wie unter den Fremden findet man unter den Bergführern und Trägern von Zermatt. (Vgl. Abbildung S. 456.) Sie lehnen, Edelweiß oder Auerhahnfedern auf den Hüten, an einer niedrigen Gartenmauer und blinzeln gemütlich schlau nach den Touristen, die vorüberwandeln, doch verraten die rotbronzenen schlichten Gesichter mit keinem Zug, was das Herz dabei denkt, im Gegenteil; über dem Bild liegt die Stimmung der Seelenruhe, der Gleichgültigkeit ausgegossen, das Reden und Gebärdenmachen ist nicht die Sache dieses Volksschlages.
Das läßt sich verstehen. Der Erholungsreisende verlebt in Zermatt herrliche, auflachende Tage, denn er hat das tröstliche Bewußtsein, daß er mit dem nächsten besten Zug in die weite Welt hinausfahren kann, wenn ihm Zermatt verleidet ist. Die Eingeborenen aber sind unter der ewigen Drohung der Berge still und ergeben geworden. Gedämpft klingt ihr Lachen, ernst und farblos ihr Wort, es ist, als sei das Leben der Leute auf einer steten Flucht nach innen begriffen, als werde alles zu Religion.
Selten geht ein Zermatter oder eine Zermatterin ohne Aufenthalt an der alten Kirche vorbei, die mit schlankem Turm mitten im Dorfe steht. Ehe der Führer zu Berge steigt, will er ein Ave beten und auf der Heimkehr ist’s nicht anders. Immer liegen vor dem Dorfaltar Andächtige auf den Knieen.
Wo läge aber auch ein Kirchhof, der mit seinen Kränzen und Steinen so schwermütig redete wie der von Zermatt? Da ruhen unter flatternden Rosen und wuchernden Nelken die Opfer des Matterhorns und seiner Nachbarn. Einheimische und Fremde, die mit dem Ruhm des Unglücks in den Jahrbüchern fortleben. Kein Dorf hat eine größere Chronik von Katastrophen als Zermatt. Die Zermatter tragen daran keine Schuld, sie haben vielmehr in einem halben Jahrhundert und in einer Menge von Unglücksfällen den Ruf blank bewahrt, die ersten, treuesten Bergführer der Welt zu sein.
Die Besteigung der Berge von Zermatt ist übrigens unter tüchtiger Führung keineswegs so überaus gefährlich, wie man nach den Unglücksfällen, die den Namen des Thales Jahr um Jahr in die europäische Presse bringen, schließen kann, sondern die meisten jener erschütternden Katastrophen ereignen sich entweder bei führerlosen Unternehmungen oder an jenen tollkühnen Abenteurern, die immer noch neue Wege auf längsterstiegene Gipfel suchen. Und endlich fällt ein nicht kleiner Teil der Opfer von Zermatt auf piemontesische Auswanderer, die ohne Führung den nächsten Weg über die Gletscher nach der Schweiz suchen.
Gewiß ist, daß man in Zermatt, wo getriebene, zum Teil von den Gasthöfen gut unterhaltene Wege bis in die Region ewigen Schnees, bis in Höhen von dreitausend Metern führen, einen ganzen Sommer lang genußvolle Ausflüge unternehmen kann, ohne sich in Gefahr zu begeben.
Der klassische Spaziergang des Dorfes ist der Besuch der Gornerschlucht, der klassische Ausflug eine Fußtour oder ein Ritt auf den Gornergrat.
Die Gornerschlucht liegt ein halbes Stündchen hinter Zermatt bei den Hütten von Aroleid, die
[460]unter den Eisstürzen und Schuttbergen des Gornergletschers liegen. Wild, düster und schwermütig ist die Schlucht. Die grauen Wellen stürzen wild und tobend kopfüber, bäumen sich gegen die Galerien empor, gurgeln und stäuben, und in strömenden Thränen rieselt von den zerspülten Wänden der aufgewirbelte Wasserstaub in den Wildstrom zurück. Treppab, treppauf und reichlich in den Ecken herum schreitet man im Halbdunkel auf schmalen hängenden Stegen (vgl. Abbildung S. 459.), unter denen es stöhnt und dröhnt. Hoch an den Rändern der Schlucht beugen sich Arven und Lärchen mit niedergedrückten Aesten und langen Bärten, die im Luftzug schwanken, über das dämmernde Geheimnis. Ein Seufzen, ein Raunen geht durch die Felsen, als ob verlorene Stimmen uns warnen möchten weiter zu gehen, als ob wir gleich an das dunkle Thor kommen müßten, hinter dem Heulen und Zähneklappern wohnt.
Plötzlich aber jubeln flammende Alpenrosen von der Höhe in den Abgrund, sie gucken in hängenden Büschen so lieb, so leichtsinnig in den Abgrund, daß man ihnen zurufen möchte: „Zurück, Kinderchen!“ Und durch das geöffnete Thor, durch einen Regenbogen, den der Wasserstaub darüber spannt, schaut der sonnenbeleuchtete blauschillernde Gletscher wie ein verzaubertes Stück Welt in die Düsternis.
Auf einer steilen Stiege klimmen wir am rechten Ufer der Visp empor und kehren durch Wald und Wiesen, die in entzückender Blumenpracht strahlen, nach Zermatt zurück.
Nun aber an einem frischen, strahlenden Alpenmorgen auf den Gornergrat, den berühmten Luginsland von Zermatt! Mit seinen 3136 Metern ist er so hoch wie der Urirotstock, der Titlis und manche andere Schneeberge der mittleren Schweiz, allein er ist bis an seine Spitze mit Grün bekleidet und auf sanftem Weg ist seine Besteigung nichts weiter als ein angenehmer Spaziergang (vgl. Abbildung S. 459) Machen wir es uns noch bequemer, reiten wir auf einem der Maultiere, deren oft fünfzig oder hundert, eines die Nüstern am Schweif des andern, sich folgen, den Berg empor! Das ist in einer so lebenslustigen Gesellschaft, wie die, die sich in Zermatt trifft, gar fröhlich und gewährt unterwegs eine Menge drolliger und ergötzlicher Scenen.
Der Lärchenwald schlägt seine Bogen über uns, ein herrlicher alter Wald, der abgelöst wird durch Arvenforste. Man muß sie bewundern, die kraftvollen gedrungenen malerischen Cedern des Hochgebirgs, die ihre Aeste zu wuchtigen Schirmen bauschen, ja eine fast wehmütige Teilnahme widmet man diesen Bäumen. Sie sterben in den Alpen aus, ihre Früchte, die süßen Zirbelnüsse, die sonst ein Leckerbissen für die Jugend der Bergdörfer waren, werden nicht mehr reif und keimen nicht mehr. Zermatt kennt sie nur noch der Sage nach.
An lichten Waldstellen und auf den Matten arbeiten die Zermatter Frauen. Während die Männer mit den Fremden über die Gletscher spazieren, besorgen sie die schwersten Geschäfte. Sie fällen die dicken Lärchen, sie schlitteln das Holz ins Thal, sie zimmern die „Wässerwasserfuhren“, sie mähen das Heu und das Wildheu an den Bergwänden und werfen die Bündel, die sie davon gesammelt haben, über die Felsabsätze ins Thal.
Auf Zickzackwegen reiten wir durch den Wald empor, er lichtet sich, zwischen den Bäumen, deren Kronen der Sturm und der Blitz zersplittert haben, schimmert auf der ersten Terrasse des Berges der Gasthof „Riffelalp“. Grenzenlos tief, doch in scharfer Sonnenbeleuchtung sehen wir unter uns Zermatt in seiner Bergspalte, und in fleckenloser Reinheit ist hinter den Vorbergen der Kranz der Schneegipfel aufgetaucht, ein drängendes Heer, das uns entgegenzukommen scheint, um das kleine Stück grüner Landschaft zu vernichten, das uns geblieben ist.
Der Wald ist unter uns, wir reiten durch einen funkelnden Teppich von Alpenblumen durch einen Farbenjubel zarter Blüten, der Auge und Sinn berauscht, am Gasthof „Riffelberg“ vorbei geht der Ritt, der Blumenfrühling erlischt neben uns, die Winde werden zudringlich und über Felsplatten, wo nur noch die Flechten spinnen, erreichen wir den Grat.
Da stehen wir nun mitten im Kreis der erhabensten Berge des Schweizerlandes. Wie ragen diese Gipfel still und feierlich in den blauen Himmel, wie reden sie von Zeit und Ewigkeit!
Ausgang für jede Betrachtung des weiten Kranzes ist das Matterhorn, das splitternackte Ungeheuer, mit dem man in Zermatt nie fertig wird. Ob sich hundert Schneeberge neben es stellen, es bleibt der Goliath unter den Däumlingen. In der Blöße seines Felsens, der kein grünes Gräschen, aber auch kaum eine klebende Schneeflocke duldet, sagt es trauernd. „Siehst du, wie arm ich bin“ und mit einem dämonischen Lächeln setzt es hinzu. „Und wie schön!“
Zwischen Matterhorn und Breithorn liegt ein breiter, blendend weißer Schneekamm, aus dem nur einige niedrige Berge ragen. Das sind die sagenumwobenen Schneefelder des Theoduls, die sich an der Stelle eines großen Dorfes dahindehnen sollen. Ueber den Theodulpaß zogen in alten Zeiten die Zermatter, um plündernd in die Städte des Piemonts einzufallen und die „Lychenbretter“, helle Felsen, die aus der weiten Schneewüste schimmern, sollen den Ort [461] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
einer großen Schlacht bezeichnen, wo jahrhundertelang die Gebeine der Erschlagenen dorrten.
Das Breithorn, von dem uns nur der schillernde Eisstrom der unter ihm zusammentreffenden Gletscher trennt, ist ein überaus schöner Berg, er erinnert stark an das Bild, das die „Jungfrau“ von der Wengernalp aus gewährt, auch die benachbarten „Zwillinge“ gefallen durch ihre anmutigen Gestalten; geradezu erschreckend aber wirkt der jähe Lyskamm mit seinen riesigen Eisschründen.
Monterosa, der höchste Berg der Schweiz! – Wenn man es nicht wüßte, vom bloßen Sehen hier erriete man es nicht, und wer ihn in der Morgenfrühe aus dem Marmorwald des Domes zu Mailand gesehen, wie er als duftige Burg der Rosenkönigin in überirdischer Große über einem Meer von Wolken und Nebeln schwebt, der ist enttäuscht über das plumpe, nur durch seine Massigkeit hervorragende Bild, das er vom Gornergrat gewährt. Aber großartig ist der Gornergletscher, der in machtvollem Wogenzug, ein versteinerter Strom, dem versteinerte Nebenströme zufließen von seinen Flanken niederwallt und uns hart zu Füßen zwischen Gornergrat und Breithorn, wo auch der Schwärzegletscher mündet, in das grüne Gelände von Zermatt hinunterfließt. Auf seinem Rücken trägt er den Schutt der Berge, der sich in langen Moränenhügeln sammelt, so daß es aussieht, als wäre ein Riesenpflug durch das Eis gegangen und hätte die Furchen und Hügel gezogen.
Eine gewaltige Kette von Bergen zieht sich vom Monterosa östlich gegen das Rhonethal hinaus, Cima di Jazzi, die Stock-, Strahl-, Rimpfisch- und Mischabelhörner ragen darin auf und drüben im Norden, jenseit des in seine Bergspalte versunkenen Zermatts, leuchtet wieder Gipfel an Gipfel, da streben im schönsten Aufbau Weiß-, Schall-, Trift- und Gabelhorn und die Dent blanche aus der irdischen in die himmlische Welt, und an den Nordpol mag man reisen, bis man unter stechender Sonne wieder solche Landschaften voll Schnee und Schweigen findet.
Das ist das Rundpanorama des Gornergrates. Der Blick bleibt ein verlorner Falter, der umsonst eine Blume, ein grünes Plätzchen sucht, um darauf auszuruhen von dem überschwenglichen Glanz und Licht. Eine Lücke in dieser Zackenkrone ist zwar offen, die des Zermattthals, aber an ihrem Horizont leuchten wieder nur Schneeberge, das Berner Hochmassiv mit der Blümlisalp. Nur aus wenigen Farbenelementen besteht also das Bild, aus dem tiefen Blau des südlichen Himmels, aus dem Weiß des ewigen Schnees und dem Schwarz der Felswände, die zu schroff sind, als daß der Schnee daran kleben bliebe, aber es ist feierlich und ergreifend, es ist voll überwältigender Schlummer- und Todespoesie. – Unsere obenstehende Abbildung zeigt uns einen Teil dieser erhabenen Hochgebirgswelt. Links im Vordergrunde sehen wir den Schwärzegletscher, weiter nach rechts erhebt sich das Breithorn, von dem der Breithorngletscher herabfließt. Die Mitte des Bildes nimmt der Theodulpaß ein, von dem links der Untere und rechts der Obere Theodulgletscher herabkommen, noch weiter rechts ragt das Matterhorn empor, während den Abschluß des Bildes die Spitze von Dent blanche bildet.
Die meisten Fremden jubeln auf, wenn sie in dieses Bild schauen, eine Stunde auf dem Gornergrat ist ihnen wie Gottesdienst – der Zermatter aber genießt es still. Gewiß, er liebt seine Berge, aber größer als seine Liebe ist seine scheue Furcht vor ihnen, denn er kennt sie nicht nur im Strahlengeschmeide eines schönen Sommertages, sondern auch im Schrecken ihrer Lawinen.
Die Glocken der Mutterkirche im Thal, die sieben Kapellen auf den Zermatter Alpen hören dann tagelang nicht auf zu wimmern, in Tiefen und Höhen liegt das Volk auf den Knieen und fleht zum Himmel, daß er es nicht untergehen lasse.
Darum kann sich der Zermatter kaum fassen, wenn er in die üppigen mannigfaltigen Thäler der mittleren Schweiz mit ihrer reichen Kultur, mit ihrem frohsinnigen Volksleben gelangt. Auf dem Bürgenstock am Vierwaldstättersee sah ich einen rauhen Zermatter Bergführer weinen. Als man ihn fragte, ob er Bauchgrimmen habe, daß er sich so im Gras wälze, da antwortete er: „Nein, ich heule, weil hier die Welt so schön ist und bei uns so traurig.“
In der That, wer von draußen gekommen ist, der würde es nicht länger als einen Sommer in Zermatt aushalten. Aufschreien müßte er: „Sprengt mir diese Hölle, wälzt mir die Berge von der Brust, gebt mir eine lachende Landschaft, einen weiten Horizont! Aber das ist auch gewiß. wer sich satt gesehen hat an Schweizerbergen, wer sich gewöhnt hat, Rigi und Pilatus als Miniaturwerk zu betrachten, wer die Berge von Grindelwald und Lauterbrunnen nicht mehr hoch genug findet, den ergreift doch noch einmal naives Staunen, ehrfürchtige Bewunderung vor der Erhabenheit des Hochgebirgs, wenn er der unbändigen Wildheit, der gesammelten Kraft der Berge gegenübersteht die wie Raubtiere in Schönheit und Erbarmungslosigkeit das Thal von Zermatt und seine Warte, den Gornergrat, umlauern.
Wir sind hier im Allerheiligsten der Alpen. Auge in Auge mit dem Löwen von Zermatt, mit dem Matterhorn – Größeres kann man in den Schweizerbergen nicht erleben!
[462]Das „Seeschießen“.
Seit alten Zeiten wissen die Anwohner einzelner Küsten von geheimnisvollen, dumpfen, kanonenschußähnlichen Schallerscheinungen zu erzählen, die sich bei gewissen Witterungszuständen vom Meere her vernehmen lassen, ohne daß es möglich wäre, den Ort, wo sie entstehen, aufzufinden. Diese Schallerscheinungen werden an der belgischen und holländischen Küste mit dem Namen „Mistpuffers“ (Nebelpuffer) bezeichnet. Die vlämischen Fischer nennen sie Zeepuff oder Zeedoffers und die Fischer und Küstenfahrer betrachten sie als Anzeichen guten Wetters. Aehnliche Schallphänomene kennt man am Bodensee unter dem Namen des Seeschießens, und zwar hat man dasselbe nicht nur am ganzen Nordufer wahrgenommen, sondern ebenso an der südlichen, schweizerischen Seite, wo die dumpfen Schüsse aus der Richtung von dem gegenüberliegenden Friedrichshafen herzukommen scheinen. Vielleicht gehört hierher auch die von der Ostsee unter dem Namen „Seebär“ bekannte Erscheinung, welche ziemlich selten bei windstiller Luft eintritt, und zwar als Woge oder Anschwellen der See, während gleichzeitig ein dumpfes, donnerartiges Geräusch vernommen wird.
Seit 1867 ist bekannt geworden, daß im Delta des Ganges in der Nähe der Stadt Barisal, aber auch mehr als hundert englische Meilen von dort entfernt, von Zeit zu Zeit dumpfe Detonationen wie von entfernten Geschützen wahrgenommen werden. Man bemerkt dieselben dort oft nach Gewittern, wenn das Wetter ruhig und der Himmel wieder klar geworden ist. Diese Geräusche sind seitdem unter dem Namen der Barisalschüsse berühmt, und es wurde von seiten der Asiatischen Gesellschaft zu Kalkutta eine Kommission ernannt, welche sich mit Erforschung des Ursprungs dieser rätselhaften Erscheinung beschäftigen sollte. Diese Kommission verschickte Fragebogen, auf welche von verschiedenen Seiten Antworten eintrafen, aber über die wahrscheinliche Ursache der Erscheinung konnte aus denselben nichts geschlossen werden. Vermutet wurde, daß die donnernde Brandung an der Küste oder auch der Herabsturz großer Erdmassen an unterspülten Flußufern oder unterirdische vulkanische Kräfte, endlich Gasexplosionen im Meere die Detonationen verursache könnte, aber bei genauer Prüfung hielten diese Vermutungen nicht stand. An gewissen Punkten der englischen Küste nahe der Bai von Morecambe hat Prof. Hughes die dumpfen atmosphärischen Schüsse ebenfalls gehört. Er hielt sie anfangs für den Wiederhall entfernter Kanonenschüsse oder Minenexplosionen, fand aber bei genauer Prüfung, daß hierin die Ursache nicht liege könne, dagegen meinte er, daß unter Umständen der Anprall der Meereswogen gegen die Küste Detonationen verursachen könne, welche den wahrgenommenen sehr ähnlich seien, auch das leichte Nachsinken oder kleine Senkungen der oberen Erdschichten könnte möglicherweise dumpfe Schallerscheinungen verursachen.
Im Jahre 1883 hat man auf der kleinen Insel Cayman-Brac südlich von Cuba und nordwestlich von Jamaika sonderbare Detonationen vernommen. Dieselben waren fernem Donnerrollen ähnlich, doch war der Himmel klar, und nirgendwo am Horizont sah man Rauch oder ein Schiff, welches auf die Möglichkeit einer Kanonade hätte schließen lassen. Die Detonationen dauerten längere Zeit an und schließlich kamen die Bewohner der Insel zu der Meinung, daß die Geräusche unterirdisch seien. Nach und nach hörten die Schüsse auf.
Wie bereits bemerkt, sind die dumpfen Schüsse, von denen hier die Rede ist, am Bodensee und an der niederländischen Küste der Bevölkerung wohl bekannt, aber erst durch Graf Zeppelin und besonders durch den belgischen Naturforscher E. van den Broeck ist die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf diese merkwürdige und rätselhafte Erscheinung gelenkt worden. Van den Broeck lernte diese Detonationen zuerst im Jahre 1880 bei Gelegenheit geologischer Untersuchungen in Belgien kennen. „Sie würden,“ sagte er, „meine Aufmerksamkeit wahrscheinlich nicht erregt haben, wenn ich mich in dem industriellen Teile Belgiens aufgehalten hätte, wo an den Wochentagen das Geräusch der Fabriken und der Eisenbahnzüge niemals aufhört und Sonntags aus allen möglichen Veranlassungen geschossen wird. Glücklicherweise führten mich meine Arbeiten in die ruhigen vorzugsweise Ackerbau treibenden Teile des mittleren und unteren Belgiens, wo inmitten allgemeiner Stille jeder Schall sich bemerkbar macht. Dort vernimmt man in einiger Entfernung von den Dörfern nur die Stimme der Natur, selten unterbrochen vom Pfeifen der Lokomotive und von dem charakteristischen dumpfen Rollen eines schweren Eisenbahnzuges, außerdem ab und zu den langsamen Gang eines beladenen Karrens. Namentlich im Sommer kamen mir dort dumpfe Detonationen zu Gehör, ohne Rollen, dumpf von fernher tönend, die in mir den Eindruck des noch nicht Gehörten hervorriefen. Sie konnten ebensowohl unterirdischer Herkunft sein, als aus der Luft stammen. Anfänglich meinte ich, sie seien das Echo ferner Gewitter, und wenn die Luft nicht gewitterhaft aussah, so hielt ich sie für den Wiederhall entfernten Geschützfeuers. Allein die öftere Wiederkehr des Phänomens und der Umstand, daß diese Detonationen zwar nicht immer, aber doch sehr häufig an heißen, schönen Tagen ertönten und durchaus nicht dem Rollen des Donners ähnlich waren, brachte mich davon ab, in ihnen ein Echo entfernter Gewitter zu sehen. Auch erschien bei der großen Entfernung unseres Aufenthaltsortes von den Artillerieschießplätzen sowohl mir als meinem Begleiter die Annahme, es könnte sich um Kanonenschüsse handeln, bald völlig ausgeschlossen. Außerdem giebt es in der ganzen Gegend weder Bergwerke noch Steinbrüche, sondern nur Ebenen und Sandhügel. Endlich traten die Detonationen nicht vereinzelt, sondern in verschiedenen Gruppen auf, meist in den Stunden von 10½ zwei oder drei, bisweilen auch drei bis fünf Schüsse hintereinander vernommen. Am häufigsten und deutlichsten vernahm van den Broeck die Detonationen auf der Hochfläche zwischen Brüssel und Louvain und in der Gegend von dort bis Tirlemont, aber auch in Limburg, im östlichen Brabant und in der Campine. Um das Geheimnis dieser Detonationen zu enthüllen, hat sich van de Broeck nach verschiedenen Richtungen hin an Personen gewandt, welche die Erscheinung ebenfalls kennen, und auf diesem Wege eine Reihe höchst interessanter Berichte erhalten. Zur Beurteilung des Phänomens mögen einige derselben hier mitgeteilt werden.
Der Meteorologe Dr. Lancaster hat in Ostende während der Jahre 1892 bis 1894 Aufzeichnungen über die Nebelschüsse machen lassen und findet, daß dieselben hauptsächlich in den Monaten Mai bis September gehört werden. Sie ertönen bei bewölktem wie bei heiterem Himmel, meist bei schwachem Winde. Der Barometerstand war im einzelnen sehr verschieden, doch traten die Detonationen etwas häufiger bei hohem Luftdruck auf, wie solcher ja auch im Sommer bei warmem, stillem Wetter zu herrschen pflegt. Stets kamen die Schüsse aus westlicher Richtung, also von der See her, und anscheinend aus weiter Ferne. Nach der Angabe des Konservators am belgischen Naturhistorischen Museum, A. Rutot, kann man sich den Ton der Detonationen vorstellen, wenn man das Wort Bum! sehr tief ausspricht. Derselbe Beobachter bemerkt, daß die Schüsse fast nur an schönen Tagen von ihm vernommen wurden, daß er aber eine bestimmte Richtung, aus der sie kommen, niemals festzustellen vermochte. Nach seiner Meinung stammen sie aus dem Innern der Erde und stehen mit sehr schwachen Erderschütterungen in Verbindung. G. Vincent vernahm die Detonationen einst an einem schönen und warmen Tage westlich von Louvain. Sie schienen ihm aus der Richtung dieser Stadt zu kommen, aus weiter Entfernung, und dauerten bis zum Abend fort. Er meint auch, daß sie aus den Tiefen der Erde stammen. Später hat er die Detonationen in verschiedenen Jahren gehört, stets zur Sommerszeit und an schönen warmen Tagen. Sie kamen anscheinend aus den verschiedensten Richtungen, auch meinte der Beobachter, daß gleichzeitig bisweilen ein leichtes Erzittern der Erde stattfand.
Sehr merkwürdig ist ein Bericht, den Professor E. Lagrange an van den Broeck sandte und in welchem er schreibt: „Seit länger als zehn Jahren bin ich auf diese seltsamen Detonationen aufmerksam geworden, die in sehr unregelmäßigen Zwischenzeiten und an den verschiedenen Tagen stattfinden. [463] Man konnte dabei an den Donner entfernter Geschütze denken, doch ist das Geräusch ein anderes und ich bin überzeugt, daß es mit Geschützdonner nichts zu thun hat. Diese Detonationen schienen stets vom Meere her zu kommen, nie aus dem Innern des Landes. Am 16. September 1894 vernahm ich auf der großen Landstraße von Ostende nach Thourout gegen elf Uhr morgens eine besonders heftige Detonation. Es war ein sehr warmer Tag und rings um im Felde herrschte völlige Ruhe. Der Schall kam unzweifelhaft vom Meere her. Obgleich ich seit meiner Jugend das mittlere und obere Belgien als rüstiger Fußgänger in allen Richtungen durchstreifte, habe ich diese sonderbaren Detonationen doch nur in der Nachbarschaft des Meeres gehört. Eine Erklärung über ihren Ursprung kann ich jedoch nicht geben. Sie treten vorzugsweise bei warmem, ruhigem Wetter auf und scheinen am stärksten zu sein, wenn das Meer still ist. Eine interessante Beobachtung möchte ich besonders erwähnen: Gegen Ende des Monats August saß ich im Dünensande, den Rücken dem Meere zugekehrt, und zeichnete die Landschaft, welche sich vor mir ausbreitete. Schon mehrmals hatte ich wieder die Detonation vernommen, als plötzlich eine sehr heftige erscholl. Ich fühlte dabei bestimmt den Boden unter mir erzittern, während der Bleistift, den ich in der Hand hatte, hin und her fuhr. Diese Thatsache ist, wie ich glaube, wichtig, denn sie beweist, daß der Schall dieser Detonationen gleichzeitig durch den Boden fortgepflanzt wird, sein Ursprung ist also nicht lediglich in der Luft zu suchen. Ein anderer Beobachter berichtet, daß er eines Tages bei heißem Wetter etwa acht Kilometer vom Meeresufer entfernt in seinem Segelboote gelegen habe, mit dem Ohr am Boden. In dieser Lage habe er die ihm wohlbekannten Detonationen sehr deutlich vernommen, und zwar schien es ihm, als wenn sie vom Meeresgrunde heraufkämen. Er sei aufgesprungen und habe die übrigen im Boote befindlichen Personen gefragt, aber diese hatten nichts vernommen. Nach den Angaben eines Ingenieurs aus Antwerpen sind die Schiffe in dem benachbarten Teile der Nordsee nicht selten, doch vermögen die Schiffer, welche sie sehr gut kennen, durchaus keine bestimmte Richtung anzugeben, aus der sie herstammen. Sie scheinen sozusagen aus allen Punkten des Horizontes oder auch aus dem Wasser rings um das Schiff zu kommen, schallen aber dumpf, wie aus weiter Ferne. Aus der Höhe kommen sie niemals, vielmehr scheinen sie gewissermaßen längs der Wasseroberfläche zu laufen. Der Berichterstatter ist für seine Person der Meinung, daß der Ort, von wo diese mysteriöse Detonation ausgehe, auf der See zwischen Flandern und der englischen Küste liege. Damit übereinstimmend ist eine Bemerkung von Leon Gerard, der die Schüsse häufig auf der Fahrt von Ramsgate nach Dünkirchen gehört hat. Auf einer solchen Fahrt hörte man am 8. September 1873 bei ruhiger, nebliger Luft plötzlich einen einzigen dumpfen Knall, so daß ein Matrose des Schiffes sich umsah, woher geschossen werde. Zu der nämlichen Zeit vernahmen Fischer zu Gravelines wiederholt Detonationen vom Meer her. Die Küstenbevölkerung in der Gegend von Ostende behauptet, daß der Ursprung der ihnen wohlbekannten Detonationen entweder am Ufer des Meeres oder im Meere zu suchen sei. Den Fischern gelten sie als Vorzeichen von lange an haltendem guten Wetter, auch versichern sie, daß die Erscheinung niemals bei Nacht eintrete, sondern nur am Tage, der Schall komme stets aus westlicher Richtung. Sehr bezeichnend hebt ein Beobachter hervor, es sei befremdend, daß noch niemand die Detonationen in seiner unmittelbaren Nähe vernommen habe, sondern daß sie immer aus weiter Ferne zu kommen scheinen. Dies sei um so auffallender, als die See an der belgischen und holländischen Küste sehr von Fahrzeugen belebt ist und man vernünftigerweise doch annehmen müsse, daß einmal eines dieser Fahrzeuge sich zufällig nahe dem Ursprungsorte der Detonationen befunden habe.
Im ganzen hat van den Broeck Berichte über diese Detonationen zusammenbringen können, aus denen sich aber durchaus nichts Sicheres über die Natur und den Ursprung derselben schließen läßt. Die von einigen aufgestellte Hypothese, die Ursache sei einfach in den Schießübungen aus Schiffs- oder Küstengeschützen an der englischen Küste zu suchen, ist wohl kaum zulässig.
Die Wahrnehmungen einiger Beobachter, welche sich dahin aussprechen, daß sie während der Detonationen ein leises Erzittern des Bodens fühlten oder zu fühlen glaubten, könnten einen Zusammenhang mit Erderschütterungen vermuten lassen. In der That hat man auch bezüglich der obenerwähnten Barisalschüsse in Indien einen Zusammenhang derselben mit unterirdischen vulkanischen Kräften annehmen zu dürfen geglaubt. Indessen hob schon Blanford hervor, daß jene Schüsse in einem verhältnismäßig nicht sehr ausgedehnten Gebiete wahrgenommen werden, wo zudem Erdbeben sehr selten sind. Endlich haben die Beobachtungen und Untersuchungen, welche de Rossi in Italien mit dem Mikrophon anstellte, ergeben, daß die unterirdischen Geräusche, welche den Erderschütterungen in der Nähe des Vesuv vorausgehen oder sie begleiten, glockenähnlichen Tönen oder einem Brausen oft auch dem Ticken einer Uhr oder dem Tone, welchen das Aneinanderreiben von Metalldrähten erzeugt, vergleichbar sind, niemals aber jenen tiefen dumpfen Schüssen, welche an der belgischen und holländischen Küste vernommen werden. Auch haben letztere eine bestimmte Beziehung zur Tageszeit, sie werden niemals während der Nacht gehört, sondern meist nur um die Mittagszeit, ja in Flandern setzen, wie Delvaux berichtet, die Bauern ihre Uhren auf Mittag, wenn die Schüsse erschallen. Bei Erdbeben findet aber dergleichen in so deutlicher Weise durchaus nicht statt. Man durfte noch am ehesten an einen wirklichen Ursprung der Detonation durch gewisse Vorgänge in der Luft denken, und in der That treten die meisten bei ruhigem Wetter, klarem oder nur etwas bewölktem Himmel, hoher Luftwärme und glatter See ein.
Professor Reiff macht darauf aufmerksam, daß, wenn durch einen kräftigen Windstoß, der dichtere Luft mit sich führt, das Gleichgewicht der Luft auf dem Wasser gestört wird, Verhältnisse eintreten können, die, wie sich mathematisch zeigen läßt, zuletzt dazu führen, daß das Erschütterungsgebiet der Luft zusammengedrängt wird und zuletzt in einen Verdichtungsstoß übergeht, den wir bei genügender Stärke als Schall oder Schuß wahrnehmen. Eine wesentliche Bedingung für das Zustandekommen dieses Vorganges ist die ungehinderte Ausbreitung der Erschütterung, und diese Bedingung ist auf einer großen Wasseroberfläche gegeben.
Diese Erklärung der seltsamen Detonationen ist meines Erachtens allen andern bis jetzt vorgebrachten vorzuziehen, indessen ist das ganze Phänomen noch bei weitem nicht genügend erforscht, um ein endgültiges Urteil abzugeben.
Van den Broeck hat deshalb einen Fragebogen zusammengestellt, welcher alle Punkte enthält, deren Kenntnis für die Deutung der Erscheinung wichtig ist. In diesem Fragebogen heißt es u.a. Wie war der Stand der See, als die Detonation gehört wurde. Hoch oder steigendes Wasser? Niedrig oder fallendes Wasser? Stillwasser? War ein Fallen oder Steigen der Lufttemperatur unmittelbar mit der Erscheinung verbunden? Wie war die Durchsichtigkeit der Luft? Ist eine Wetteränderung, Gewitter oder dergl., unmittelbar gefolgt? An welchem Tage und zu welcher Stunde sind die Detonationen gehört worden? Woher schien der Knall zu kommen, aus der Höhe oder aus der Tiefe, von fern oder aus der Nähe? War der Ton kurz, lang, einfach, in Stärke veränderlich, mit Echo oder Rollen verbunden? Trat der Knall einfach oder reihenweise auf, in letzterem Falle in welchen Zwischenräumen? Schwächt sich der Ton ab, wenn man sich hinter natürlichen Schirmen, Gehölzen, Hügeln, Baulichkeiten, ja selbst hinter dem Regenschirm befindet? Aendert sich der Ton, wenn man ihn am Meeresspiegel oder mit dem Ohr am Boden vernimmt? Hat der Beobachter Ohrensausen oder nervöse Empfindungen, ähnlich wie manchmal bei Gewittern, gefühlt? Welche Meinung hat der Beobachter von der Entstehung des Tones?
Ich habe diese Fragen hier mitgeteilt, weil vielleicht der eine oder andere aus dem großen Leserkreise der „Gartenlaube“ Gelegenheit haben wird, die Detonationen am Meeresufer zu hören und durch aufmerksame Beachtung derselben und Beantwortung der Fragen einen Beitrag zur Lösung des Problems zu geben. Vielleicht sind ähnliche Detonationen auch an andern als den oben bezeichneten Orten vernommen worden, unter Umständen, die eine Zurückführung derselben auf menschliche Thätigkeit ausschließen; Mitteilungen über solche Wahrnehmungen sind im Interesse der Wissenschaft sehr erwünscht und werden von der Redaktion der „Gartenlaube“ zur Weiterbeförderung gern entgegengenommen.
[464]Unter der Linde.
Eine Zeit zum Lachen und zum Weinen war’s, die Zeit ums Jahr 1848, wer sie miterlebt hat und ihrer gedenkt, kann beides nicht voneinander trennen. Ernst und Posse verschwisterten sich, Klugheit und Narrheit, Leute, deren Geist alles Wissen der Menschheit, alle Tiefen des Denkens umspannte, wollten einen großen Neubau errichten, doch sie wußten nicht, daß man ein Fundament dazu brauche. Nach Gutdünken trug jeder das Material, das ihm geeignet schien, herbei, Bruchsteine, Findlingsblöcke, alte und neue Lehmziegel, Holzklötze und Eisenwerk. Damit bauten sie tiefsinnig und begeisterungsvoll auf einem Sandhaufen. Fast jeder wollte nach einem anderen Bauriß bauen und alle wetteiferten in Aufzeichnung der prächtigsten Fassaden; staunend und jubelnd drängte sich die Volksmenge herbei, die künftig drin wohnen sollte. Aber noch ehe das Wunderwerk unter Dach stand, warf’s ein kräftiger Windstoß mit dem schleunigst aufgepflanzten dichtbebänderten Richtbaum über den Haufen. Die Mauern fielen zusammen wie die angeblasenen Wände eines Kartenhauses, und das Traglager polterte mit allen herrlichen Zukunftswohnräumen auf den Schutt; das war zum Lachen. Aber Stein und Holz hatten nicht das luftige Gewicht von Kartenblättern sondern sie schlugen hart nieder, zerschmetterten gar manche Köpfe von drunten Stehenden, die sich nicht rasch genug vor dem Einsturz weggeflüchtet; hier brachte er Tod, dort langjähriges Siechtum mit sich, und das war zum Weinen.
Einer, der bei jenem Zusammenbruch nicht getötet, doch verwundet worden war, schleppte sich an einem Junitage des Jahres 1849 mühsam durch dunkle Bergwälder. Sein rechter Arm hing kraftlos herab, denn er hatte eine Kugel im Fleisch, die ihn bei einem nachmittäglichen Gefecht im Gebirg getroffen und bewußtlos zu Boden geworfen hatte. Als er zu sich kam, lag die Nacht um ihn. Stille und Leere, nur Eulen schrieen im Tannendickicht. Seine Gefährten waren gefallen oder versprengt, die Sieger hatten auch ihn, in seiner Ohnmacht, unbeachtet liegen lassen. Doch er kehrte neu ins Leben zurück, und mit der Wiedererlangung der Besinnung verband sich ihm die klare Erkenntnis, die Sache, für die er sein Leben eingesetzt, sei hoffnungslos, von Uebermacht erdrückt. Dies Gefühl hatte er schon in den letzten Tagen in sich getragen, und lieber hätte er der Kugel sein Herz geboten.
Aber es schlug und er atmete, und jetzt sträubte sich doch seine Jugend gegen den Tod, mehr noch gegen Schlimmeres, das ihm drohen konnte, ein verschmachtendes Weiterleben hinter düsteren Mauern mit eisenvergittertem Fenster. Mechanisch that er Schärpe, Schwertgurt und Hut des Freischärlers von sich ab und hob sich schwankend auf die Füße. Ohnmacht wollte ihn wieder anwandeln, doch seine junge Kraft ward ihrer Herr. So schritt er durchs Dunkel davor wolkenlos lag das Himmelsdach über ihm, und die Sternbilder deuteten ihm die Richtung nach Süden. Dorthin mußte er sich wenden, um auf kürzestem Weg über die deutsche Grenze fort zu gelangen.
Nun war er ein Flüchtling, genötigt, offene Straßen und Ortschaften zu meiden, unbegangene Bergpfade des südlichen Schwarzwaldes zu suchen. Während des Tageslichts mußte er sich mehrmals lange Stunden hindurch verborgen halten. Nur in einsamen Berggehöften kehrte er zur Stärkung des Hungers ein, die Leute drin nahmen ihn willig auf, sorgten für seine Bedürfnisse. Sie wußten wenig von der draußen um ihre Abgeschiedenheit liegenden Welt, hatten zumeist kaum von den Vorgängen des letzten Jahres gehört, was sich dort zutrug, ging ihr Leben nichts an, für sie blieb es gleich, welcherlei Regiment drunten im Lande bestand. Vielleicht mutmaßten da und dort einige, welche Bewandtnis es mit dem vorsichtig bei ihnen Einkehrenden auf sich haben möge, doch sie befragten ihn nicht drum, und es hielt sie nicht ab, ihm Beistand zu leisten. Außerdem kam er nicht als Bettler, sondern bezahlte das, wonach er begehrte. Er besaß keinen Reichtum, doch so viel, um für geraume Zeit nicht in Not zu geraten. Vor einem Jahre hatte er sein Examen als Philologe glänzend bestanden, sein Name war Alban Hartlaub. In seinen Zügen, seinem Gesamtwesen, lag etwas Poetisches, aus den hellen Augen leuchtete Begeisterungsfähigkeit. Die hatte ihn fortgerissen, vielleicht besserer Verstandeseinsicht entgegen, für eine ideale Vorstellung mit zu den Waffen zu greifen. Sie waren nur ein Kinderspielzeug gewesen und gleich solchem zerbrochen; in einem der Gehöfte legte er nun auch seine verdachterregende Freischärlerbluse ab und kaufte sich dagegen einen abgetragenen einfachen Bauernkittel. So machte er aus der Entfernung den Eindruck eines wandernden jungen Fuhrmannes, doch in der Nähe stand sein Aussehen nicht im Einklang mit der ländlichen Tracht.
Allmählich kam trotz der Niederlage der Sache, für die er gestritten, und der Lähmung seines Armes doch ein jugendlicher Frohmut wieder in ihm auf. Der Pfad hatte ihn eine langgestreckte Anhöhe des Gebirges hinangeführt, plötzlich wich das Tannendunkel ihm zu Seiten und eine weite Landschaft öffnete sich seinen Blicken. Vor ihm flachte sich der Vordergrund zur Fläche ab, über der im Süden riesenhaft am Horizont das Alpengebirge, zu weitem Halbbogen gestreckt, mit seinen Pyramiden, Zacken, Gletschern und Schneehörnern aufstieg. Ein wunderbarer Anblick mußte es für jedes Auge sein, doch war’s in noch erhöhtem Maße für das des jungen Flüchtlings. Dort unter den leuchtenden Hochgipfeln lag die Rettung, die Freiheit, schon weit vor ihnen, gleich drüben, jenseit des sonnenspiegelnden Wasserbandes, das im Vordergrund der Rhein durch das grüne, lachende Gefild zog! Alban blickte mach einem kreisenden Bussard empor, liehe der ihm nur für Minuten seine Flügel, so wäre er hinüber. Doch, seine Luftbahn weiter dehnend, zog der Vogel wie zum Spott hochschwebend über die schimmernde Wasserbreite dahin.
Nun galt’s, die Vorsicht zu erhöhen, denn unfraglich ward die Flußgrenze bei Tag wie im Nachtdunkel scharf bewacht, und ein mißlingender Versuch, hinüberzukommen, war das Verderben. Dem aber wollte er jetzt entrinnen. Er ließ nichts, an dem sein Herz hing, hinter sich zurück, keine Eltern, keine Geschwister, nur einige Freunde, deren Schmerz über seinen Verlust die Zeit bald beschwichtigen würde. So lag ihm keine Pflicht ob und er trachtete nicht danach, sich für andere zu retten, aber die weißen Glanzberge blickten ihn so wundersam an, als hielten sie noch etwas geheimnisvoll Schönes für ihn aufbewahrt. Dem klopfte die eilige Blutwelle in ihm entgegen, und sehnsüchtig, um seiner selbst willen, verlangte er noch zu leben.
Jetzt, auf den Straßen des flachen Landes durfte er sich nicht mehr getrauen, seinen Weg bei Tage fortzusetzen, er that’s nur in Nachtstunden. Ein Zufall bestätigte ihm seine Voraussicht – ein irgendwo auf der Straße fortgeworfenes Zeitungsblatt, das der Wind an einen Waldrand hingetragen. ‚Kurze Mitteilung’ stand darauf, man habe abwärts am Rhein zwischen Schaffhausen und Basel eine Anzahl von Freischärlern, die in die Schweiz zu entkommen suchten, ergriffen und dingfest gemacht, eine zweite Nachricht sprach von der standrechtlichen Erschießung anderer in Rastatt. Nur die Thatsachen waren verzeichnet, kein weiteres Wort daran geknüpft. Man fühlte zwischen den Lettern den gewitterschwülen Druck dumpfer Schreckbetäubung, der jetzt über Land und Bevölkerung lastete!
Diese Meldungen ließen Alban von dem Vorhaben abstehen, am Hohen Randen das über den Rhein vorspringende Gebiet des Kantons Schaffhausen zu gewinnen, vermutlich wurde gerade dort an der scheinbar leichter zu überschreitenden Grenze mit besonderer Wachsamkeit auf Flüchtlinge gefahndet. So bog er vorsichtig an dem ihm verführerisch nah winkenden Schweizer Gebiet vorüber nach Nordosten ab, den Kegelbergen des Hegaus zu, dann östlich weiter. Da dehnte der Bodensee seine weite Spiegelfläche aus, gebot ihm Halt.
Er mußte einen Entschluß fassen; seit dem letzten Tage schon hatte er mehrfach die Empfindung gehabt, daß er da und dort Verdacht erregt habe, von spähenden Augen beobachtet worden sei. Hier herrschte nicht mehr die politische Unwissenheit und weltabgeschiedene Treuherzigkeit der Bewohner des hohen Schwarzwalds. Kundschafter, Leute, die durch Angeberei eine ausgesetzte Belohnung zu erzielen trachteten, waren zu fürchten. Das Verborgenbleiben tagsüber ward schwierig, der gefahrlose Einkauf von Nahrungsmitteln kaum mehr möglich. Längeres Zögern
[465]erschien als sicheres Verderben, kühnes Wagnis der einzig übrige Ausweg. Als die Dämmerung eintrat, wandte er sich einer hart an der Grenze gelegenen Stadt zu.
Dunkel war’s geworden, als er in ihr eintraf, über den engen Gassen schaukelnd brannten hängende Laternen. Wildfremd in der Stadt und von Hunger erschöpft, fühlte er die Notwendigkeit, eh’ er in späterer, stiller Nacht den Rettungsweg suche, Nahrung zu sich zu nehmen; nach schwankender Wahl zwischen verschiedenen Wirtschaften trat er in die am unscheinbarsten aussehende ein, setzte sich in eine dunkle Ecke der Gaststube und bestellte bei der herankommenden jungen Kellnerin eine Mahlzeit. Sie ging; nur wenige Gäste befanden sich anwesend, das Mädchen kehrte mit einem Trunk zurück und einer Kerze, die sie vor ihn auf den Tisch setzte. Er sagte kurz, sie möge das Licht wieder fortnehmen, es sei unnötig und blende seine von der Tageshitze schmerzhaften Augen. Doch sie that’s nicht, sondern sah ihn mit unverkennbarem Wohlgefallen an, dazu verwundert auf seinen bäuerischen Kittel, und sagte halb lachend: „Sie sind doch kein Fuhrmann.“ Das ließ ihn unbedacht vorschnell handeln, sich aufrichten und die Kerze ausblasen. Dabei aber ward sein Gesicht hell angestrahlt, die Aufmerksamkeit der Uebrigen in der Stube war auf ihn gelenkt worden, eine Stimme wiederholte: Nein, das ist kein Fuhrmann, und eine andere fügte nach. „Das ist wohl Einer, der über die Grenze will.“ Der Sprecher stand dazu auf, sein Gesichtsausdruck war alles eher als vertrauenerweckend, Gewinngier flimmerte ihm aus den Augen.
Instinktiv sprang Alban vom Sitz, um die Stube zu verlassen, und, der Thür näher, gelang’s ihm, diese vor dem andern zu erreichen. Aber eilige Fußtritte und Rufe schollen ihm auf die Straße nach, er ward verfolgt und lief ziellos durch die unbekannten Gassen. Die Grenze konnte nicht fern sein, doch er wußte die Richtung nicht, und zudem mußte er fürchten, den vom Gelärm hinter ihm fraglos aufmerksam gewordenen Wächtern gerade in die Hände zu laufen.
Er war behend und hatte Vorsprung, indes seine Verfolger mehrten sich, ihr Geschrei flog ihm voraus. „Ein Aufständischer! Ein Freischärler! Haltet ihn! Ein Preis steht auf seinem Kopf!“ So fühlte er, daß kein Entrinnen möglich sei, Stimmen vor ihm ließen erkennen, man bereite sich, ihn aufzufangen. Unter einer fensterlosen Mauer entlang eilend, traf er gegen eine dunkle Gestalt, die offenbar die Rufe gehört hatte und mit der Hand nach seiner griff, ihn festzuhalten. Ob auch hoffnungslos, suchte er sich noch einmal freizumachen, doch gedämpft schlug ihm eine weibliche Stimme aus Ohr. „Seid Ihr ein Freischärler?“ Zugleich unterschied nun sein Blick auch Frauenkleidung, und er versetzte atemlos. „Ja, Mädchen.“ – „Was willst du?“ – „Sie verfolgen mich!“ Ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand, sie stieß leise aus. „Kommt!“ und zog ihn hastig in eine ihnen unmittelbar zur Rechten befindliche schwarze Oeffnung hinein.
Fast mit der Schnelligkeit eines Gedankens ging dies vor sich. Er hörte einen schweren Riegel schieben, dann durch eine dicke Wandung hallendes Getöse. Und ein paar Augenblicke später trafen von beiden Seiten seine Verfolger zusammen, und ihre lauten Rufe tönten durcheinander. „Wo ist er geblieben“? „Er kann doch nicht in die Erde kriechen –“
Es ward gerüttelt. – „Die Thür ist geschlossen.“ – „Natürlich, seit Dunkelwerden.“ – „Er muß über die Mauer sein!“ – „Da ist ein Zacken, d’ran geht’s“.
In einem völlig finstren, ihn kühl anschauernden Raum stehend, [466] vernahm Alban Hartlaub das Geschrei. Im ersten Augenblick war’s ihm gewesen, als käme seitwärts her ein sich schnell im Dunkel verlierender Lichtschimmer vom Boden herauf, aber nur die Erregung seiner Sinne mußte es ihm vorgetäuscht haben. Das Herz hämmerte an seine Brustwandung; was eigentlich geschehen sei, kam ihm noch nicht zum Verständnis. Halb bewußtlos stand er in der schwarzen Lichtlosigkeit, ihm war’s, als sei er noch im Wald und habe geträumt, daß er, verfolgt, von einer Hand gefaßt und fortgezogen werde. Nun war er aufgewacht und befand sich in der nächtigen Waldeinsamkeit allein, ein Schauer überlief ihm den Rücken.
Doch da kam warm die Hand zurück, die aus der seinigen verschwunden war, faßte diese wieder, und eine flüsternde Stimme klang. „Ich habe meine Laterne, mit der ich mir sonst hinaufleuchte, ausgelöscht, damit sie von draußen keinen Schein sehen. Aber ich brauche sie nicht, haltet meine Hand, ich führe Euch, daß Ihr gegen nichts anstoßt.
Einige Dutzende von Schritten ging’s über hallenden Steinboden, dann tönte die Stimme wieder flüsternd, ganz leise: „Hier fängt die Treppe an und muß ich Euch loslassen, weil ich sonst das Bier für den Vater verschütte. Haltet Euch links am Seil und geht langsam, Ihr werdet’s nicht gewohnt sein.“
Eigentümlich war’s, in einem engen Stiegenhaus, dessen Wände zu beiden Seiten die Arme streiften, ging es steinerne, ausgeschürfte, steile und kurze Stufen hinan. Doch Alban dachte kaum über das Absonderliche des Gebäudes, in dem er sich befand, nach. Er folgte seiner vor ihm aufsteigenden Führerin, die er nicht sah, auch ihren leichten Fußtritt vernahm er nur beim Anhalten, doch ein leises Geräusch ihres die Wand berührenden Kleides sagte ihm, sie sei da. Es konnte kein Zweifel sein, sie hatte ihn vor der sicheren Ueberwältigung draußen gerettet, brachte ihn irgendwohin, um ihm weiter behilflich zu sein. Warum, ließ sich nicht begreifen, denn er war ihr wildfremd. Aber sein Herz war von warmem Dank für sie durchdrungen und ein Verlangen ward in ihm wach, sie sehen zu können.
Die Treppe hob sich in enger Windung weiter und weiter, allmählich befremdete ihn doch ihre Höhe. Er mußte schon mehr als hundert Stufen gestiegen sein , ihm zur Rechten that sich einmal eine schmale, scheibenlose Fensteröffnung auf, durch sie sah er blitzende Sterne, und als nochmals eine gleiche kam, lag tief unter ihm das Lichtergeflimmer der Stadt. Immer ging es noch aufwärts; zuletzt stand er im Begriff, eine Frage zu thun, wo er sei. Doch gerade wie er die Lippen öffnen wollte, schlug von oben herab durch die lautlose Finsternis, ihn beinahe betäubend gleich einem wirklichen Schlag, ein machtvoll donnernder Ton auf ihn nieder. Ein paar Augenblicke überkam’s ihn wie Schwindel, dann hörte er durch den lang aussummenden Klang die Stimme seiner Führerin: „So, nun sind wir oben, Ihr werdet müde sein!“
Gleichzeitig blinkte ein Lichtschein auf, in dem er ihren Schattenumriß wahrnahm. Ihn befiel’s plötzlich mit einer widerlichen Empfindung, daß er lieber noch weiter im Dunkel hinter ihr aufgestiegen wäre, die Befürchtung kam ihm auf einmal, wenn er ihr Gesicht sehe, werde es häßlich und alt sein. Sie hatte eine Thür geöffnet, und nun stand er in einem niedrigen Stubenraum, ein großer Mann mit grauem Haar und Vollbart saß drin, bei einer kleinen Lampe in einem Buch mit jahrhundertaltem Einband lesend. Verwundert blickte er den Eintretenden an, dessen voraufgegangene Begleiterin jetzt, einen mit Bier gefüllten Krug auf den Tisch stellend, kurz mitteilte, was sie gethan habe. Der Alte hörte zu, unter seinen buschigen Brauen sammelte sich ein Glanz an, als sie ausgesprochen sagte er. „Das hast du brav gemacht, Mädel, und aufstehend reichte er dem Fremden die Hand entgegen. „Seid mir willkommen, was wir ausrichten können, Euch zu helfen, dessen seid Ihr sicher!“
Die Hand des Alten haltend, stand Alban wie in einem seltsamen Traum. Nun wandte er zum erstenmal die Augen nach seiner Retterin und sah in das auf ihn hin gerichtete liebliche Kindergesicht eines etwa siebzehnjährigen Mädchens, wie er ein so holdseliges noch nicht in seinem Leben gewahrt hatte.
Jetzt erfuhr er, an dem Tisch bei einfacher, doch ihm herrlich mundender Nachtkost sitzend, wo er war: auf dem Glockenturm der Hauptkirche der Stadt. Die Thür drunten war unverschlossen gewesen, weil das Mädchen noch ausgegangen war, um den Abendtrank für den Vater zu holen. Sie hatte ihre kleine Leuchte neben den Windfangverschlag der Kirchenthür auf den Boden gestellt und diese für die wenigen Minuten bis zu ihrer Rückkunft offen gelassen. Um ein paar Augenblicke früher oder später hätte der Verfolgte keine Rettung gefunden.
Der Alte hieß Toralt, er war der Turmwart hier oben, schon seit langen Jahren; sein Töchterchen hatte hier zuerst das Licht begrüßt, und seine um sechs Jahre später gestorbene Frau hatte er auf den Armen die Wendelstiege hinabtragen müssen, sie drunten in der Kirche in den Sarg zu legen. Doch er war vom Grab wieder heraufgestiegen, um droben allein mit der kleinen Gerlind weiter zu hausen. Frühgewöhnt, lief sie schon als winziges Ding mit hurtiger Sicherheit die drittehalb hundert Stufen der engen Treppe auf und ab, ging zur Schule und besorgte Einkäufe für den Lebensbedarf. So lebten die beiden in den zwei Gelassen der Türmerwohnung miteinander wie auf einer einsamen Bergspitze. Verkehr mit Leuten drunten unterhielten sie wenig, der beschwerliche Aufstieg schreckte ab, nur selten einmal begab Toralt sich hinunter. Ihm genügte voll seine Welt hier oben, er war ein für solche Einsamkeit von der Natur veranlagter Mensch, der zwar keine höhere Bildung empfangen, doch mit eigenen Gedanken begabt war, gewissermaßen ein Philosoph in seiner Art. Durch die Hinterlassenschaft eines alten Sonderlings, der vielerlei ihm in die Hände Geratenes angesammelt hatte, war er in den Besitz von allerhand Stücken aus Vorväterzeit gekommen, mit denen er seine Turmstube ausgestattet, Hausrat, Bildern, Behängen, Waffen. Auch alte Bücher befanden sich darunter, vielfach kraus wunderlichen Inhalts, aber sein klarer Sinn wußte der ihm zugefallenen Gabe zur geistigen Nahrung das Vernünftige zu entnehmen. Besonders zog Geschichtliches und Geographisches, das von den Landschaften um die Stadt her handelte, ihn an. Als fast einzige Besucher des Turms stellten zur Sommerzeit manchmal Fremde sich ein, die den Aufstieg nicht scheuten, um den wundervollen weiten Rundblick von den Kegeln des Hegaus über die endlos scheinende Bodenseefläche zu den Bergen des Algäu und vom Säntis bis an die Firnzacken der Berner Alpen zu genießen. Fast immer mit Erstaunen hörten sie, daß der Turmwächter ihnen nicht nur die Fragen nach jedem fernen Gipfel und jeder Ortschaft zu beantworten wußte, sondern daran auch Mitteilungen aus der Vergangenheit knüpfte, die sich in den üblichen Reisehandbüchern nicht fänden.
Doch Toralt lebte in seiner Stille nicht allein im Vergangenen, sondern auch mit der Gegenwart, auf die er gleich einem in hoher Luft schwebenden Vogel niedersah. Täglich brachte Gerlind ihm von ihrem Einkaufsgang das kleine städtische Zeitungsblatt mit, und über das, was darin von den Weltgeschehnissen berichtet ward, machte er sich gleichfalls seine eigenen Gedanken. Mithandeln unter den Menschen konnte er nicht, aber um so lebhafter ergriffen seine Empfindungen und Wünsche Partei in den Streitfragen und Kämpfen der Zeit. Und zwar nach der Richtung, daß Alban Hartlaub nicht leicht einen Zweiten zu finden vermocht hätte, der bereitwilliger gewesen wäre, alles dranzusetzen, ihm in seiner Bedrängnis und Hilflosigkeit Beistand zu leisten. Nach seiner kurzen Art war diese Gesinnung in den Worten zum Ausdruck gekommen. „Das hast du brav gemacht, Mädel“, und daß Gerlind so gehandelt hatte, legte nicht nur von rascher Geistesgegenwart bei ihr Zeugnis ab, sondern gleicherweise davon, daß die Tochter in jugendlicher Hingebung das Mitgefühl des Vaters für den schwerbedrohten Freischärler teilte.
Nach kurzer Zeit empfand sich Alban in dem weltentrückten, eigenartig behaglichen Gemach so wohl und gesichert, als sei er aus aller Gefahr über die Grenze hinübergelangt. Doch der Alte schüttelte den Kopf, ging auf den Umlauf hinaus und sah, sich über die Brüstung beugend, hinab. Rote Feuerzungen glüten drunten an mehreren Stellen um die Kirche, und zurückkommend, sagte er: „Sie haben mit Fackeln gesucht und Wachen um die Kirche gestellt, der Polizeihauptmann muß überzeugt sein, daß Sie auf irgend welche Weise in die verschlossene Kirche hineingekommen sind. Heut’ nacht wird nichts mehr geschehen aber morgen früh werden sie auch hier oben nachsuchen; darauf müssen wir bedacht sein. Legen Sie sich jetzt in mein Bett [467] schlafen. Sie haben Erholung nötig, wenn der Tag anbricht, wecke ich Sie.“
Das Mädchen fragte: „Wo willst du denn schlafen, Vater?“
„Ich lege mich auf die Bank.“
Sie fiel ein. „Nein, das thue ich, die ist für dich zu kurz.“ Kindliche Fürsorge sprach aus ihrem Gesicht, sie setzte hinzu: „Ich kann mich gut drauf strecken und unser Gast soll sich in meiner Stube ausruhen.
Ueber die Augen des Türmers flog ein Schimmer von väterlichem Stolz, doch sein Mund gab nichts davon kund, er äußerte nun gegen Alban gewendet. „Sie hat recht, junge Gliedmaßen legen sich überall gut zum Schlaf. So richt’s zurecht, Linde!“
Die Abkürzung von „Gerlinde“ war’s, mit der er seine Tochter benannte. Sie stand auf und zündete eine Unschlittkerze an. Alban widersetzte sich jetzt, er erklärte bestimmt, daß er die Nacht auf der Bank zubringen werde. Doch Toralt versetzte: „Damit thäten Sie dem Kinde weh, sie ist glückselig über das, was sie an Ihnen hat thun können, und hätte sonst eine traurige Nacht; ich kenne sie. Sie müssen ihr schon zu Willen sein, ich muß es auch.“
Er fuhr fort, auch sein Wunsch und Wille sei’s, so gab Alban nach. Sie traten in das Nebengelaß, mehr eine Kammer als eine Stube war es, zum großen Teil von einer Bettstatt mit schneeweißem Linnentuch eingenommen. Toralt reichte dem Gast mit einem Gute-Nachtwunsch die Hand, dann Gerlind, in deren Zügen sich ein Ausdruck von Beglücktheit und von kindlichem Stolzgefühl paarte. Sie sagte dazu: „Erschrecken Sie nicht über die Glocke, wer nicht dran gewöhnt ist, kann’s leicht.“
Er hielt einen Augenblick ihre Hand und erwiderte. „Warum ‚Sie’ – drunten redetest du mich anders an –“
Sie lachte, ihrem Gesicht stand’s, als fiele Sonnenschein drauf: „Ich hielt Sie im Dunkel für unsereins, wußte nicht, daß Sie ein gelehrter Herr sind.“
„Das heißt, nachdem ich dich bei Licht gesehen, hätte ich dich auch so anreden müssen.“
Aus seinen Worten klang, ihm thu’ es leid, gehe ihm gegen das Gefühl, sie nicht weiter ‚du’ nennen zu dürfen. Das Mädchen schüttelte den Kopf, der Türmer fiel ein. „Bleiben Sie dabei, ich bin gewiß, sie hört’s lieber. Bei uns hier oben klingt’s auch viel natürlicher, dünkt mich, und paßt das andere eigentlich nicht her.“
Alban überkam’s, daß er, nochmals die Hand des Alten fassend, rasch erwiderte „Ja, menschlicher klingt es – habe Dank, habet beide Dank für das, was ihr an mir thut!“
Nun war der Flüchtling allein, kleidete sich halb aus, streckte sich hin und löschte das Licht. Zum erstenmal wieder lag er statt auf dem Waldboden in einem Bett, er empfand es als köstliche Wohlthat. Er rechnete nach, seit wie viel Nächten nicht mehr: fünf oder sechs – genau vermochte er’s nicht festzustellen. Vor dem letzten Gefecht war’s gewesen. Schwere Müdigkeit drückte ihm auf die Lider. Er schlief ein.
Plötzlich fuhr er von einem Donnerschlag auf. Er hatte im Traum unter einer blühenden Linde gelegen, deren Duft ihn umgab, und ein Gewitter zog über ihn hin. –
Halb erwacht, tastete er im Dunkel mit der Hand um sich, fühlte das Deckbett. Dazu wiederholte sich der dröhnende Schlag, und ihm kam zum Bewußtsein, kein Donner, ein Glockenschlag sei’s, und er liege in dem Gemach des Türmers oder vielmehr seiner Tochter und habe geträumt. Von einer Linde – das erklärte sich auch, „Linde“ hatte der Vater das Mädchen genannt und der Traum es nach seiner Weise verändert. Nur seltsam war’s, daß er den Blütenduft noch einzuatmen glaubte, als käme dieser neben seiner Schläfe aus dem weichen Kissen heraus. Langsam hallten die machtvollen Glockentöne noch fort; während der letzte – wohl Mitternacht schlug’s – in langen, allmählich schwächer werdenden Ausschwingungen verstummte, schlief er wieder ein.
Dann wußte er noch einmal nicht, wo er sei. Er wachte wiederum auf, doch nicht von einem Getöse, diesmal von einem Gefühl, als ob der Morgenwind mit leise singender Stimme über ihn hingehe. Die Lider öffnend, sah er Tagesschimmer um sich und gegenüber auf der Schwelle der offenen Kammerthür eine nur halb erkennbare Gestalt. Die sprach mit der Stimme des Windes weiter: „Es ist Zeit, Ihr müßt aufstehen, der Vater ist schon hinauf, den Platz für Euch zu richten.“
Da besann er sich abermals, daß er auf dem Turm sei, und ihm wurde klar, Gerlind Toralt stehe unter der Thür und spreche zu ihm. Ihr Gesicht ließ sich nicht unterscheiden, doch erkannte er sie an ihrer hellen freundlichen Stimme. Nur um dies zu bestätigen, gab er zurück. „Bist du’s, Gerlind? Es ist noch zu dunkel, etwas zu erkennen.“
Gegen ihn hintretend, erwiderte sie: „Ich hätt’ Euch gern noch länger schlafen lassen, doch es geht nicht.“
So eigen war’s, so wie in einem Traum noch, daß sie vor ihm stand, unwillkürlich seine Hand ausstreckend, sagte er: „Guten Morgen, Gerlind.“
Sie wiederholte, die Hand fassend „Guten Morgen“, und sich einen Augenblick leicht auf den Rand des Bettes setzend, fügte sie hinzu. „Habt Ihr gut geschlafen?“
„Ja, vortrefflich. Aber du?“
„Ich, herrlich; ich habe von Euch geträumt. Doch ich schwatze und laß’ Euch nicht aufstehen. Macht schnell, ich richte das Frühstück!“
Wie ein aufgehuschter Vogel war sie wieder davon. Rasch kleidete er sich jetzt vollständig an, trat ins Nebengemach, aß und trank, was Gerlind ihm vorsetzte. Sie drängte ihn zur Eile, hieß ihn noch mit dem letzten Bissen im Mund aufstehen und ihr nachkommen. Es ging von der Wächterbehausung durch eine Wendelstiege noch weiter aufwärts, doch nur noch einige Dutzende von Stufen, dann weitete freier Raum sich aus, in dem vom mächtigen Gebälk die großen Kirchenglocken herabhingen. Hier stand der Türmer, die Ankömmlinge schon mit Ungeduld erwartend, stieg eine steile Leiter hinan und forderte Alban auf, ihm zu folgen. So kamen sie zum Oberrand der Glocken, die über einer nicht absehbaren gähnenden dunklen Leere schwebten, und Toralt trat auf einen der großen Querbalken hinaus. „Sie müssen den Weg hinüber machen,“ sagte er, „sehen Sie nicht hinunter dabei, daß Ihnen kein Schwindel kommt!“
Alban ging hinter dem ruhig Voranschreitenden drein, doch sein Fuß tastete zaudernd vor, stockte ungewiß; ein Gefühl faßte ihn an, als schwankte das Holz unter ihm. Da klang seitwärts her die Stimme Gerlinds, und rechts von sich gewahrte er sie auf einem anderen Querbalken, über den sie mit sorgloser Sicherheit wie auf einer breiten Straße hinging. Sie ermutigte ihn: „Ihr müßt gar nicht dran denken, daß Euer Fuß ausgleiten könnte, sondern wie auf ebner Erde gehen, wie auf einem Gassenstein, bei dem Euch nicht einfällt, er sei zu schmal – so –.
Ihr Mund lachte dazu, doch ein wenig erkünstelt, sichtlich nur, um die eigene Unruhe zu verdecken. Unter Alban aber hörte plötzlich die Täuschung des Schwankens auf, seine Augen hefteten sich fest auf Gerlind, und das nahm ihm die Anwandlung von Schwindel.
Er sah ihren kleinen Fuß unter dem kurzen Kleid, unbeirrt gleichmäßig, nicht in Hast und nicht zögernd vortreten, daraus gewann auch der seinige die Fähigkeit, ruhig, sicher nun das Gleiche zu thun. So kam er über die bedrohliche, wohl ein Dutzend Schritte lange Strecke hinüber auf ein kleines verbreitertes, Halt bietendes Eckplätzchen, das die Turmmauer abschloß. Doch eine von Toralt hierher gebrachte lose Leiter stand senkrecht angerichtet und verlor sich mit den obersten Sprossen in völliger Dunkelheit.
„Dort hinauf müssen Sie,“ sagte der Turmwart, „wenn Sie droben sind, werden Sie so viel unterscheiden, daß Sie sich zurechtfinden.“
Der Alte hielt die Leiter, und Alban klomm zehn Sprossen hinan, zuerst erschien ihm alles noch völlig lichtlos, doch dann gewöhnte sich sein Auge an die Dämmerung, er erkannte ein Quergebälk, auf das er sich niederlassen konnte, und das ihm, Anlehnung an die Wand verstattend, einen einigermaßen ausreichenden Aufenthalt bot.
Von unten klang die Frage Toralts. „Sind Sie in Ordnung?“ und auf die bejahende Antwort die Mahnung: „Machen Sie keinerlei Geräusch, bequem ist’s nicht, aber, wenn es ums Leben geht, hält man’s schon einen Tag aus.“
Gerlindens Stimme tönte nach: „Wenn’s geschehen kann, besuch’ ich Euch einmal, denkt immer an etwas, damit Ihr nicht einschlaft und stürzt!“
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(Zu dem Bilde S. 449.)
Wenn sich dunkle Wolken türmen
Und herabrauscht Regenflut,
Dann das Volk im Moos zu schirmen,
Sind des Volkes Pilze gut.
Hurtig stellt man sich darunter
Wenn man einen größern fand,
Kleinre bricht man ab mitunter,
Trägt alsdann sie in der Hand.
Manchen Wandrer schon erfreute
Solch ein Schirm klein oder groß,
Wie er passend ist für Leute,
Die zu Hause sind im Moos.
J. Trojan.
Alle Neun! (Zu dem Bilde S. 452 und 453.) Eine Woche lang „eingeregnet“ sein und festgehalten werden im dem Hochgebirgsdorf, das man nur ausgesucht hat, um täglich von ihm aus weite Ausflüge in die herrliche Umgebung zu machen – das war schon für viele ein trübselig Reisekapitel. Aber gar mancher weiß auch von solcher Reiseregen-Woche zu berichten, in der keine Langeweile und kein Trübsinn aufkommen mochte. Von Tag zu Tag führte der Humor siegreicher das Scepter über die vom „Wetterpech“ vereinten Leidensgenossen, und nach der Sonne Wiederkehr trennte man sich von ihnen mit Trauer, wie von alten guten Freunden. Dies Wunder hatte die Kegelbahn vollbracht, in der man bald die bessere Hälfte des Wirtshauses entdeckte. Sie gab den verschiedenen „eingeregneten“ Sommerfrischlern und Touristen für ungezwungenen heiteren Verkehr ein von frischer Luft durchwehtes Stelldichein, sie bot für den Ausfall der geplanten Bergtouren einen Ersatz und in fröhlichem Wettkampf die Körperkräfte zu nutzen. Es liegt ein eigner Zauber über solch ländlicher Kegelbahn im Hochgebirge; alle guten Geister der Gemütlichkeit sind auf ihr heimisch und während die Kugeln lustig gegen die Kegel rollen, die Damen und Herren sich als „Fernhintreffer“ bewähren, stellt sich auch gern der Meister dieser Kunst, Gott Amor, mit Pfeil und Bogen hier ein. Er hatte leichte Arbeit – das läßt unser Bild erkennen. Die allzeit fidele Tochter des freundlichen Rechnungsrats da drüben auf der Bank, welche soeben mit kühnem Wurf „alle neun“ getroffen hat, erweckt bei den sämtlichen Junggesellen von der Partie eine solche Begeisterung, daß es kaum noch übernatürlicher Kräfte bedarf, um auch dem lauernden Gott zu einem gleichen Schuß ins Rollen zu verhelfen. Und vor acht Tagen war das Fräulein noch eine Fremde in der Kunst des Kegelns! Aber freilich: an guten Lehrern hat es ihr inzwischen so wenig gefehlt wie an Eifer. Besonders der hübsche Herr Assessor, der eben die „Neun“ seiner Partei gutschreibt fand in ihr eine eifrige Schülerin. Und während von allen Seiten ein lautes Hurra durch den Raum hallt, als Echo auf den hellen Juchzer des Kegelbub’n, während über das Gesicht des Mädchens die Siegesfreude ein sonniges Leuchten strahlt, fühlt der junge Mann in ihrem Sieg stillbeglückt den eignen und in ganz anderm Sinn jubelt’s in seinem Herzen – „Alle Neun!“ P.
Verschieben von Bauwerken. (Mit Abbildungen.) Das Fortrücken von Häusern von ihrem ursprünglichen Standort auf einen neuen, der dem Besitzer gelegener erscheint, wird immer häufiger ausgeführt. Unsere Abbildungen veranschaulichen zwei solcher Verschiebungen, die in jüngster Zeit vollzogen wurden. Auf der einen sehen wir die Vorbereitungen zum Fortschieben eines aus Eichenholz und Fachwerk erbauten Hauses in dem Städtchen Haiger am Fuße des Westerwaldes. Dasselbe wurde auf mächtigen Unterbalken etwa 25 m weit von seinem ursprünglichen Standorte fortgeschoben. Der Akt vollzog sich vom 20. bis 27. April dieses Jahres und erforderte außer einigen Wagen, Balken und Rollen, 5 Schraubenwinden und 15 Arbeiter zum Bedienen der letzteren. Das zweite Bild führt uns das Verschieben eines 28 m hohen und 100 Tonnen schweren Fabrikschornsteins vor. Dieses besonders schwierige Fortrücken wurde zu Manhanset auf Shelter Island im Staate New York ausgeführt. Man schob den Schornstein 300 m weit und benutzte dazu Pferdekraft. Die Arbeit wurde in neun Tagen vollbracht. *
Montenegrinische Schmuggler. (Zu dem Bilde S. 465.) Die wilde Zunft der Schmuggler hat’s leicht und schwer zugleich in dem wilden Reviere der „Schwarzen Berge“. Leicht, weil die Einsamkeit so groß ist. Unendliche Strecken wilden Gerölls ziehen sich zwischen den düstergrauen Bergen hin. Frühlings schiebt sich der Safran und das zarte Schneeglöckchen zwischen den Steinen hervor, sommers liegt grelle Sonne darüber und die Schafe des kleinen Hirten weiden die vereinzelten Gräser ab; winters läuft die Spur des Wolfes über den Schnee. Da, wo das Geröll endet, schießt der Schwindelpfad, viel zu schmal und steil scheint’s für des Menschen Fuß, zu den Pässen abwärts. Diese schlängeln sich als hellgraues Band an den dunklen Felswänden hin; hier und dort wieder tiefen sich schwarze Höhlen in den Stein, kalt weht die Luft daraus hervor und wo sie enden, weiß nur Gott – und die Schmuggler! Selten jedoch treibt sie die Verfolgung hinein; sie kennen ihr Terrain allzugenau und wer von ihnen etwa bei Nacht und Nebel abstürzt auf Nimmerwiederkehr, den beklagen die wilden Brüder nicht, sondern mit verächtlich gekräuselter Lippe heißen sie ihn einen Dummen. – Da, wo hinter Fotscha der Bergzug des Bukuschabrdo Albanien zuläuft und die Hütten von Zrkovita in der Ferne auftauchen, liegt zwischen dräuendem Gestein die verrufene „Krema“, das Wirtshaus, in dem die Schmuggler rasten. Die schöne, kecke Stanica, die Tochter des Kremars, weiß ganz genau, zwischen welchen Steinen wohlversteckt der kostbare Tabak liegt. Sie ist es auch, die den Waghälsen Feuer in die Adern gießt und nicht nur mit dem schwarzroten Weine! Ehelichen möchte sie keinen, nicht den Dunkelbärtigen, dem das weiße Kopftuch so schön steht mit dem er den türkischen Mollah spielt, noch den jungen Feueräugigen in der rotschwarzen Cappa. Denn, sagt sie: zöge ich mit euch als des einen Weib, wie sich’s gebührt, wer sollte euch kredenzen, wenn ihr heimkehrt? Und verlöre ich den Gatten, so würden meine Augen in Wasser stehen und mein tapferes Land würde sich seiner Tochter schämen müssen. B. S.-S.
Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 27/1897 ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.