Die Gartenlaube (1897)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 26.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(6. Fortsetzung.)
9.

Der Stadtpfarrer Melchers in seinem tiefschwarzen Talar und der großen gestärkten Halskrause stand auf der Kanzel der uralten Marienkirche und hielt die Nachmittagspredigt. Sein kluges, mildfreundliches Antlitz trug heute den Stempel einer besonderen Feierlichkeit und Schwermut. „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“ Das war das Thema, an das die eindringlichen Worte des Priesters anknüpften, um sich mehr und mehr zu einem warmherzigen Loblied auf die christlichen Tugenden des Wohlwollens, der Nachsicht und der Verführlichkeit auszugestalten. Nicht mit Zorn und Gewalt, sondern mit Güte und teilnehmender Liebe soll der Christ seinem verirrten Bruder entgegenkommen. Er soll nicht eifern und ohne Mitleid verdammen, sondern des Heilands und Welterlösers

Der heutige Meßverkehr auf dem Augustusplatz in Leipzig.
Nach einer Photographie der Kunsthandlung von Herm. Vogel in Leipzig.

[430] gedenken, der noch am Kreuze die unvergänglichen Worte sprach: Vater, vergieb ihnen …

Rechts von der Kanzel, in einem der braunrot angedunkelten Kirchenstühle, saß Hildegard Leuthold mit ihrem Vater, dem Herrn Magister. Die Stimme des Geistlichen klang so tief und erbaulich und das Sonnenlicht glänzte nach etlichen trübwolkigen Tagen so wunderherrlich durch die bemalten Scheiben, daß auch ein kälteres Herz als das der frommgläubigen Hildegard zur Andacht gestimmt worden wäre. Seltsam aber und unerhört, zum erstenmal, seit sie den Kinderschuhen entwachsen war, konnte Hildegard Leuthold unter den Wölbungen des Gotteshauses nicht die erwünschte Sammlung finden.

Zweierlei zog’ sie beständig ab, ein lichter Gedankenkreis und ein düsterer.

Der lichte bezog sich auf Doktor Gustav Ambrosius. Bei jener trauten Geburtstagsfeier, die jetzt um anderthalb Wochen zurücklag, war sich Hildegard über den Zustand ihres Gemüts endgültig klar geworden. Sie wußte jetzt, daß ihre lebhafte Sympathie für den jungen Arzt mehr als äußerliches Gefallen, mehr als freundschaftliche Teilnahme war. Ehe er noch damals von dannen ging, fühlte sie, daß ihr Schicksal besiegelt sei, daß sie ihn liebte, liebte mit aller Glut und Kraft ihres jungfräulich reinen Herzens. Und deshalb war eine Zaghaftigkeit über ihr Wesen gekommen, eine bang zweifelnde Scheu, die nur dann sich in Freudigkeit und glückseliges Hoffen löste, wenn der Geliebte ihr nahe war. Zweimal noch hatte sie ihn seit jenem Tage gesehen. Der Ton, in dem er da mit ihr sprach, schien ihr so merkwürdig ernst und bescheiden, beinahe ehrfürchtig, daß es in ihrer Brust jubelte. Auch er hat dich lieb! – Während der Trennung aber geriet dann die fröhliche Zuversicht wieder ins Schwanken. Nach Art aller wirklich liebenden Mädchen war sie voll Demut und hielt ihn, wenn sie einsam darüber nachsann, für bei weitem zu hoch und herrlich, als daß es ihm beifallen könnte, ihr, der Unbedeutenden, je seine dauernde Huld zu schenken. Diese Zaghaftigkeit suchte sie auch jetzt wieder heim und erfüllte ihr Herz mit Bildern und Vorstellungen, die ihr die Andacht störten. Fruchtlos mühte sie sich, den tieftönigen Worten des Priesters zu folgen. Sie hörte nur den Klang, nicht den Sinn. Vor ihrem geistigen Auge stand immer und immer wieder die teure Gestalt des Mannes, der ihre Seele so in Wirrnis gesetzt hatte. Bald sah sie ihn, wie er, das dunkle Barett in der Hand, dem freudig erstaunten Vater ihr Bildnis reichte. Bald, wie er im bunten Gewühl der Haingasse ritterlich grüßend an ihr vorbeischritt. Bald, wie er den Arm auf die Verdachung der Strandmauer stützte und nachdenklich hinabschaute auf das Entgleiten der Grossachwellen. Und seltsam, bei aller Bangigkeit, die sie verspürte, regte sich doch im Grund ihres Herzens ein unendliches Wonnegefühl. Sie kam sich geheiligt vor, wenn sie sich dieser Träumerei überließ; es war ihr zu Mut, als öffnete sich ihr dabei der unendliche Himmel, der so leuchtend und schön durch den geöffneten Oberflügel des Spitzbogenfensters in die freundliche Kirche sah.

Der düstere Gedanke, der ihr zuweilen mitten ins Blau ihrer Verzückung hinein trübselige Schatten warf, bezog sich auf eine ihr gründlich verhaßte Persönlichkeit droben links auf der Empore. Es war ein breitschulteriger vierzigjähriger Mann, gleich dem Verkünder des Gotteswortes in tiefstes Schwarz gekleidet, nur ohne das mildernde Weiß der gestärkten Halskrause. Das runde, blühende Antlitz mit der etwas hervorstehenden Unterlippe, die auf ungewöhnliche Willenskraft hinwies, hatte im Grund etwas Behäbiges, Gutartiges. Nur die Augen mit ihrem stechenden Blick paßten nicht ganz zu diesem Eindruck, immerhin konnte der Blick ebensogut scharfe Beobachtungsgabe und hervorragende Intelligenz wie Mißtrauen und Feindseligkeit bekunden.

Auch für die übrigen Teilnehmer des Gottesdienstes war dies vollblühende Antlitz ein Gegenstand häufigen und aufmerksamen Beschauens – zum Leidwesen des redlichen Stadtpfarrers, der mit Betrübnis wahrnahm, daß seine Gläubigen immer noch nicht gelernt hatten, die Anwesenheit des neuen Gemeindemitglieds wie etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Etliche sahen bewundernd, etliche mit heimlichem Grausen, noch andere wenigstens neugierig zu der Empore hinauf und verfolgten minutenlang die Bewegungen dieser festen fleischigen Hände und das Spiel der kraftvollen, manchmal wie im Kauen begriffenen Kinnmuskeln.

Der Mann da droben in dem geschnitzten Lehnstuhl war kein geringerer als der weithin gefürchtete Balthasar Noß, der bevorzugte Günstling des allergnädigsten Landesherrn, der eigens bestellte Zentgraf und erste Vorsitzer des Glaustädter Malefikantengerichts.

Unwillkürlich mußte auch Hildegard Leuthold ab und zu auf diesen üppigen frischroten Mund starren, der mit breitlächelnder Grausamkeit so viele Hunderte schuldloser Menschen den ausgesuchtesten Martern und dem schmachvollsten Tod überantwortet hatte.

Da sie selber nicht an die Hirngespinste des Hexenwahns glaubte, fiel es ihr schwer, bei einem denkenden, wohlunterrichteten Manne die Möglichkeit eines solchen Glaubens vorauszusetzen, obwohl ja zum Beispiel Adam Xylander selbst bei den Gegnern der Sache als ehrlich und überzeugt galt. Für Hildegard war dieser Balthasar Noß einfach der Wüterich, der aus teuflischer Lust an der Qual seiner Mitgeschöpfe und aus berechnendem Eigennutz den furchtbaren Irrtum des Volks und des Landgrafen ausnutzte.

Balthasar Noß machte jetzt eine Kopfwendung, die ihr die ganze Breite seines rundwangigen, faltenlosen Gesichts voll zukehrte. Hildegard schauderte. Im Studiergemach ihres Vaters hatte sie neulich einmal das Bild eines altrömischen Kaisers gesehen, dessen Hauptwonne es war, die christlichen Märtyrer im volksumringten Amphitheater von Löwen und Tigern zerfleischen zu lassen. War es Nero gewesen oder ein Späterer …? Vielleicht Domicianus? An diesen gräßlichen Imperator, der ja auch einen Zug von Behäbigkeit im Gesicht hatte und durchaus nicht der Vorstellung entsprach, die man sich machte, wenn man die Schilderungen der alten Autoren las, gemahnte sie jetzt dieser gesunde, kernig und kraftvoll ausschauende Balthasar Noß. Um seine stark entwickelte Unterlippe spielte sogar ein leises freundliches Lächeln. Und gestern erst hatte der fluchbeladene Mensch wieder nach längerer Pause ein ganzes Dutzend von Opfern zugleich auf dem Böhlauer Trieb teils mit dem Schwert hinrichten, teils lebendig einäschern lassen! Das Wimmern des Armensünderglöckleins tönte der heimlich bebenden Hildegard noch im Ohr und das gespenstische Murmeln der Schaulustigen, die scharenweise über den sonnenglühenden Markt strömten. Vom Besuch eines erkrankten Schützlings heimkehrend, hatte sie selber auf der schwarzen Basaltplatte das Verzeichnis des ‚fünfzehnten Brandes‘ gelesen, den Balthasar Noß zu Ehren der Glaustädter Justiz da draußen vor dem Gusecker Thor anzünden wollte. Sie erinnerte sich einzelner Namen und Zusätze. Da stand in kraus verschnörkelten Buchstaben: Der Dungersleber, ein Spielmann. Die alte Rumin. Des Herrn Mengersdorfers alte Köchin. Des Johann Steinbachs Voigtin. Der Wagner Wunth. Die Zinckel Babel. Der Fronbauer Kleinweiler aus Lynndorf. Und andere Namen.

Der Kleinweiler hatte also doch dran glauben müssen, trotz der scheinbar günstigen Wendung, die sein Prozeß nahm, als sich der Pfarrer von Lynndorf als entlastender Leumundszeuge beim Blutgericht stellte. Es half nichts. Die arme Lieselott! Und die bejammernswürdige Ehefrau!

Was aber Hildegard noch viel tiefer erschüttert hatte als die Nennung des Namens Kleinweiler, das war die Bezeichnung des letzten Opfers, die also lautete. Ein fremd Mägdlein von sieben Jahren. – Den ganzen Tag hatte sie gestern gebraucht, um den furchtbaren Eindruck dieser wenigen und doch so beredten Worte aus ihrer Seele hinwegzutilgen. Jetzt, wie Balthasar Noß ihr sein strotzendes Imperatorengesicht so mit der vollen Breitseite zukehrte, tauchte das Halbvergessene wieder grell und schauerlich vor ihr auf. Ein fremd Mägdlein von sieben Jahren! Ein hilfloses Kind! Das einzige Glück seiner Mutter vielleicht! Ein zartes, armes, unbekanntes Geschöpf, das noch nichts ahnte von Gut und Böse! Und dennoch niedergezwungen durch die rohe Gewalt des Henkers und elend gemordet als Hexe und Satansgenossin!

Inbrünstig faltete Hildegard Leuthold die Hände. Sie sandte im stillen ein heißes Gebet zu Gott empor, er möge doch [431] alle verblendeten Seelen gnädig erleuchten und insbesondere den Landgrafen Otto zu einer klaren Erkenntnis führen, damit er die neue ägyptische Plage der Malefikantenhetze von dem armen geliebten Glaustädt eh’stens hinwegnehme, dem glorreichen Beispiel gemäß, das drüben in Dernburg der kluge hochherzige Fürst Maximilian gegeben!

Der Gottesdienst ging zu Ende. Leider hatte ihm Doktor Ambrosius nicht beigewohnt. Hildegard fand das im höchsten Grade bedauerlich. Man hätte ja gut ein Stückchen Wegs mit ihm gemeinsam zurücklegen können.

Magister Leuthold hängte sich bei seiner Tochter ein. Das war eine alte Lieblingsgewohnheit von ihm, schon aus der Zeit her, da ihm das Kind noch kaum an die Schulter reichte. So schritten sie über den Marktplatz und am Gasthof zum Goldnen Schwan vorbei in die Weststraße. Ab und zu drückte der Vater seinem holdseligen Töchterlein mit liebkosendem Zeigefinger den Arm. Gesprochen ward von den beiden nur wenig.

Zu Haus angekommen, fand der Magister ein Schreiben des Doktor Ambrosius vor, das er in Hildegards Gegenwart aufbrach. Der Brief lautete:

„Hochzuverehrender Herr Magister!
Wertlieber Freund!

Gestattet mir, Euch in geziemender Achtung einen Vorschlag zu unterbreiten. Dafern Ihr und Euer schätzbares Fräulein Hildegard für diesen Nachmittag nicht etwas plant, was Euch lockender scheint, so möchte ich Euch hiermit gehorsamst bitten, Euch etwa um fünf Uhr in der städtischen Waldschenke am Lynndorfer Gehölz einfinden zu wollen. Dort spielt nämlich – wie Ihr vielleicht schon wißt – heute zum erstenmal die fahrende Komödiantentruppe des rühmlichst bekannten Paphnutius Zähler aus Wien. Anfang halb sechs Uhr. Man sitzt im Freien. Doch sind für den Fall unerwarteten Regens dichte Zelttücher gespannt. Leute, die besagte Schauspielerbande früher gesehen haben – zum Exempel Euer gelehrter Freund, der Notarius Weigel, der sie vor sechs oder acht Jahren zu Worms traf – geben mir die Versicherung, daß es der Mühe wert sei.

Ich würde mich glücklich schätzen, hochzuverehrender Herr Magister, Euch und das liebe Fräulein dort anzutreffen. Ich selbst habe noch in der Nähe – auf dem Gertraudenhofe – zu thun, gehe aber zuvor in die Waldschenke, um dort Plätze für uns zu belegen. Solltet Ihr leider behindert sein, so geb’ ich sie leicht wieder ab. Doch hoffe ich, daß Ihr werdet erscheinen können!

In submissester Ehrerbietung
Euer Hochgelahrten allezeit ergebener Diener
     Dr. Gustav Ambrosius.“

Magister Leuthold hatte den Brief halblaut vorgelesen.

„Nun?“ frug Hildegard lebhaft. „Was sagt Ihr dazu? Wir gehen doch, Vater? Nicht wahr? Das erfordert doch schon die Höflichkeit.“

Er klopfte ihr lächelnd die Wange. „Meinst du? Ja, wenn’s die Höflichkeit von uns erheischt, dann giebt’s ja kein Widerstreben! Welche Uhr ist’s jetzt?“

„Halb Vier.“

„Gut! Wir ruhen uns also ein Weilchen aus und machen uns dann aus angeborener Höflichkeit auf den Weg.“ Die Tochter umarmte ihn.

„Ich dank’ Euch, Vater! Ich bin so über die Maßen neugierig! Theaterspielen hab’ ich noch nie gesehen. Ich weiß ja wohl, Ihr setztet Euch lieber still in den Garten und nähmet ein Buch zur Hand. Aber für mich bringt Ihr gern ein Opfer!“

Magister Leuthold wunderte sich, daß Hildegard seine Einwilligung so pathetisch nahm. Wie sich das anhörte. „Ein Opfer!“ Aber er sagte nichts. Seit einiger Zeit kam sie ihm ja überhaupt merkwürdig verändert vor. Sollte sie wirklich …? Nun, wie der Himmel wollte!

10.

Kurz nach vier Uhr waren die beiden marschfertig. Hildegard hatte sich um des weltlichen Zwecks willen artig herausgeputzt. Das ernste blauschwarze Tuchkleid, das sie zum Kirchgang angelegt, schien ihr für den Besuch der Komödie viel zu düster und feierlich. Sie trug sanftschimmerndes Rosa mit ganz neumodisch aufgeschlitzten Puffärmeln, das Lieblingskleid ihres Vaters, dem sie in solchen Dingen trotz seiner Büchergelehrsamkeit einen sehr guten Geschmack zutraute.

Als man den großen Baumhof der Waldschenke betrat, herrschte hier schon das bunteste und belebteste Treiben. Unmittelbar am Haus war eine ziemlich umfangreiche Schaubühne aufgeschlagen. Der hochrote Vorhang zeigte in goldfarbigen Rundrahmen die neun Musen mit ihrem leierschlagenden Führer Apollo. Oben am Rand las man die halbverblichene Aufschrift: Theatrum Paphnutii Zaehlerii Vindobonensis. Die rohgezimmerten Bänke und Strohstühle unter den Zelttüchern waren mit Nummern versehen und vielfach bereits von ungeduldigen Zuschauern eingenommen. Der größere Teil des Publikums aber saß noch draußen bei Wein und Bier oder lustwandelte plaudernd im Gang der blühenden Linden. Alle Stände, Berufsklassen und Lebensalter mischten sich hier zwanglos untereinander, Künstler und Ratsherren, Kinder und Greise, Bauern und Städter. Besonders zahlreich waren die Frauen und Mädchen. Die Unterhaltung drehte sich beinahe überall um das gleiche Thema, die bevorstehende Aufführung und die bisherigen Kunsterfolge der Truppe. Jeder wußte etwas Besonderes. Der eine rühmte die glänzende Ausstattung, die guten Vernehmen nach mit den trefflichsten Leistungen der königlichen Theater in Frankreich wetteifern konnte, der andere tischte die Mitteilung auf, Fürst Maximilian von Dernburg habe einmal zu Augsburg erklärt, Paphnutius Zähler sei der großartigste Spaßmacher seiner Epoche. Ein dritter pries den ausgezeichneten Osann, ein vierter die anmutige Demoiselle Haricourt, eine junge Französin aus Nancy, die sich trotz ihres mangelhaften deutschen Accents überall die Herzen im Sturm eroberte. Glaustädt würde an diesen Vorstellungen seine Freude erleben …

Von Doktor Ambrosius war einstweilen noch nichts zu sehen. Wohl aber saß da gleich vorn an dem niedrigen Ecktisch der kunstverständige Freund, den Doktor Ambrosius in seinem Briefe erwähnt hatte, Rolf Weigel, der kleine bucklige Notar. Das feine, geistvolle Gesicht des Verwachsenen leuchtete auf, als er seinen verehrten Studiengenossen Leuthold und die liebliche Hildegard auf sich zukommen sah. Der Notar lebte zwar völlig zurückgezogen und hielt sich von jeden Familienverkehr fern. Er hatte Herrn Leuthold erst ein einziges Mal in seinem Glaustädter Heim aufgesucht. Einladungen lehnte er grundsätzlich ab. Er passe mit seiner spitzkantig verschrobenen Gestalt nicht in den Kreis froher Geselligkeit, noch in die schönen rechtwinkligen Feststuben. Aber er fühlte bei all diesem Sonderlingstum doch eine unverjährbare Anhänglichkeit und freute sich stets, wenn ihn der Zufall irgendwo draußen mit Herrn Leuthold zusammenbrachte.

Rolf Weigel und der Magister begrüßten sich. Vor Hildegard machte der kleine Notar ein etwas schwerfälliges Kompliment. Hiernach bat er die Leutholds mit freundlicher Höflichkeit, an seinem dreibeinigen Ecktisch mit Platz zu nehmen.

„Ihr müßt Euch schon meine glanzlose Nähe gefallen lassen, vieledles Fräulein,“ fügte er lächelnd hinzu. „Aber Ihr seht, ringsum ist alles besetzt! Viel zu viel Publikum für den beschränkten Raum!“

Hildegard sagte ihm etwas Verbindliches. Weigel war ihr trotz seiner unvorteilhaften Erscheinung sympathisch.

Man setzte sich.

Während ihr Vater mit dem Notar ein halblautes Gespräch anknüpfte, ließ Hildegard ein wenig die Blicke umherschweifen. Just in der Tischreihe vor ihr saßen drei allbekannte Glaustädter Patrizier mit ihren reich gekleideten Ehewirtinnen, dazwischen auch etliche junge Leute. Weiter links, vorn in der dritten Reihe, gewahrte sie Elsbeth und Dorothea, die beiden rotblonden Töchter des Bürgermeisters. Die Mädchen weilten hier in Gesellschaft ihres mütterlichen Oheims, des landgräflichen Oberförsters. Der Bürgermeister selbst war nicht anwesend. Elsbeth und Dorothea nickten recht artig herüber und kamen nach fünf Minuten auf Hildegard zu, um der liebwerten Freundin die Hand zu schütteln. Dann aber nahmen sie rasch wieder Abschied. Elsbeth hatte bemerkt, daß sich der Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck dem Tisch ihres Oheims näherte. Den Ratsbaumeister jedoch wollte sie unter keiner Bedingung versäumen. Sie schmeichelte

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Datei:Die Gartenlaube (1897) b 432.jpg

Der Ehevertrag.
Nach einem Gemälde von S. Viniegra.

[433] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [434] sich immer noch mit dem schönen Gedanken, Woldemar Eimbeck sei von ihrem leuchtenden Rotblond hingerissen, obwohl er bisher doch ganz offenbar die Tochter des Stadtpfarrers, die lustige, lebensprühende Margret Melchers, bevorzugt hatte. In Wirklichkeit war Woldemar Eimbeck so durchaus von den Zwecken und Zielen seines Geheimbundes in Anspruch genommen, daß alles Uebrige, die reizende Margret nicht ausgenommen, zunächst in den Hintergrund trat. Sogar die Berufsarbeiten litten nicht unerheblich. Wenn er jetzt zu dem angesagten Komödienspiel nach der Waldschenke kam, so geschah dies mehr aus Zweckmäßigkeitsgründen als um der Sache willen. Er glaubte, sich ab und zu bei einer derartigen Lustbarkeit zeigen zu müssen, um in den Augen der großen Menge für harmlos und weltfreudig zu gelten. Aus der gleichen Erwägung heraus folgte er mit Vergnügen der Einladung des landgräflichen Oberförsters und setzte sich breit und behaglich zwischen Elsbeth und Dorothea. Die Nachbarschaft der rotblonden Mädchen, als der Sprößlinge des ehrenfesten Stadtoberhauptes, stempelte ihn, für alle ersichtlich, zu einem unverdächtigen Anhänger der bestehenden Ordnung.

Der Magister und der Notar hatten sich durch das Erscheinen der Bürgermeisterstöchter nur ganz flüchtig in ihrem eifrigen Zwiegespräch stören lassen. Dies Zwiegespräch wandte sich jetzt – mehr andeutungsweise als in greifbaren Wendungen – den Zeitläufen und insbesondere den Verhältnissen Glaustädts zu.

„Wär’ ich an Eurer Stelle,“ sagte Rolf Weigel, „ich kehrte dem alten Nest hier schleunigst den Rücken. Ihr, mein Teuerster, könnt doch leben, wo’s Euch beliebt! Ich bin leider Gottes durch meinen Beruf an die Glaustädter Scholle gebunden.

„Freilich,“ versetzte Leuthold, „mir steht ja die Welt offen. Längst schon hätt’ ich vielleicht mein Bündel wieder geschnürt, wenn nicht das neue Besitztum wäre, das mich doch gewissermaßen hier festhält. Trotzdem – ganz unter uns: ich gehe schon mit dem Gedanken um, wenn sich nicht manches in Glaustädt ändert, mein Anwesen zu verkaufen. Bis künftige Weihnacht will ich noch warten. Dann aber … Es fällt mir zwar überaus schwer. Je älter man wird … Kaum hier eingewöhnt, schon wieder Valet sagen! Und die Sehnsucht nach der geliebten Heimat war doch ein Hauptgrund, weshalb ich den Wittenbergern mein Amt vor die Füße warf … Immerhin. Es giebt Zustände …“

„Vorsicht!“ flüsterte Weigel mit einem Blick auf zwei halbwüchsige Burschen, die plumpneugierig hergelauscht hatten.

„In der That …“ lächelte Leuthold. „Reden wir von was anderm!“

Und der Notar wandte sich mit einem artigen Scherzwort an die träumerisch dasitzende Hildegard.

Endlich kam auch Doktor Ambrosius. Im Gertraudenhof hatte man ihn weit länger aufgehalten, als er vorhergesehen. Er bat um Entschuldigung. Einer der Schenkbuben in Lynndorfer Tracht setzte ihm einen Trunk vor.

Bald danach scholl von der Schaubühne her eine Trompetenfanfare, zum Zeichen, daß die Zuschauer ihre Plätze aufsuchen sollten.

Nach zehn geräuschvollen Minuten war alles glücklich untergebracht. Hildegard saß zwischen Doktor Ambrosius und ihrem Vater. Rechts von dem Vater saß der Notar.

Ein Glockensignal. Der Vorhang ging auf. Man spielte einen zugkräftigen Schwank aus dem Französischen. Paphnutin Zähler war in der That zwerchfellerschütternd, während die lebhaft beklatschte Demoiselle Haricourt durch ihre Anmut und Keckheit besonders die Männerwelt in lautes Entzücken versetzte. Am Ende des zweiten Aktes führte sie einen graziös leidenschaftlichen Tanz auf und weckte damit einen wahren Orkan der Begeisterung.

Als der Applaus sich gelegt hatte, vernahm Hildegard Leuthold unmittelbar hinter sich einen halb unterdrückten Ausruf, der wie ein seltsamer Nachzügler dieses tosenden Sturmes klang, wie ein derber Naturlaut, unwillkürlich hervorgequollen aus der Tiefe einer starkfühlenden, mächtig erregten Brust. Sie drehte sich um.

Da fiel ihr Blick in das nämliche breitblühende Antlitz, das ihr vor wenigen Stunden von der Empore des Gotteshauses herab ein so unsagbares Grausen eingeflößt hatte. Es war der Vorsitzer des Malefikantengerichts, Balthasar Noß, dem dies verspätete Beifallsjauchzen entschlüpft war. Der gefürchtete Blutrihter saß hier mitten unter den harmlosen Zuschauern und schwelgte behäbig im Anblick der reizvollen Frauengestalt dort auf der Schaubühne. Balthasar Noß gehörte eben zu den praktischen Weltweisen, die nach gethaner Arbeit dies flüchtige Leben genießen. Seine Vorliebe für eine glänzend besetzte Tafel war stadtbekannt. Ebensosehr aber schwärmte Herr Noß für weibliche Schönheit, obgleich sein Geschmack in dieser Beziehung etwas befremdlich schien. Edle, vornehme Jungfräulichkeit, wie sie zum Beispiel in Hildegard Leuthold verkörpert war, ließ ihn vollständig kalt. Er schätzte nur zwei Extreme: bäuerlich dralle Urwüchsigkeit oder das leichtfertig Frivole. Aus Rücksicht auf seine Stellung suchte er zwar möglichst den Schein zu wahren. Ab und zu drangen jedoch denkwürdige Einzelheiten aus seinen vielfachen Minnefahrten ans Tageslicht. Jetzt hatte er augenscheinlich in Demoiselle Haricourt einen unerwarteten Gegenstand seiner Teilnahme gefunden. Es spann sich hier etwas an, was je nach Umständen auf sehr verschiedene Art enden konnte. War Demoiselle Haricourt willig und freundlich, dann drohte ihr nur die heimliche Gunst des Furchtbaren. Wenn sie jedoch rebellisch war und ohne Verständnis für diese Auszeichnung, dann konnte kein Mensch voraussagen, wie bald sie die Schaubühne da mit einer Zelle im Stockhaus vertausche würde. Die Patrioten des Freiheitsausschusses waren genau davon unterrichtet, daß Balthasar Noß wenigstens früher derartige Bubenstücke mehrfach geleistet hatte.

Hildegard Leuthold riß durch ihr plötzliches Umsehen den Malefikantenrichter aus seiner schönen Beschaulichkeit. Der Schreck, um nicht zu sagen der Abscheu, malte sich ihr so unverkennbar auf dem verstörten Antlitz, daß ihr der davon peinlich berührte Noß einen recht unwirschen Blick zuwarf. Unerhört. Wer war diese anmaßliche Glaustädterin, die sich erdreistete, ihn, den Gewaltigen über Leben und Tod, anzustarren, als möchte sie ihm ehestens Gift in den Wein träufeln? Zum erstenmal in ihrem Leben hatte die liebreizende Hildegard Leuthold Widerwillen und Zorn erregt.

Während des ganzen weiteren Verlaufs der Posse war es dem jungen Mädchen unfroh und bänglich ums Herz. Sie meinte, die grauen, stechenden Augen des Blutrichters wie zwei bohrende Pfeile im Nacken zu spüren. Als der Vorhang gefallen war, horchte sie auf, ob sich der eigentümliche Beifallston aus der Kehle des Noß wiederhole. Aber sie hörte nur unverständliches Stimmengewirr und das Knarren der Sitze. Doktor Ambrosius richtete eine Frage an sie, auf die sie zerstreut antwortete. Im Drang einer unerklärlichen Regung wandte sie nochmals den Kopf. Der Platz des Malefikantenrichters war leer, obgleich noch ein kurzes Nachspiel in Aussicht stand. Die hübsche Französin hatte hierbei allerdings nicht mitzuwirken.

Nach zwanzig Minuten fiel auch über das lustige Nachspiel der Vorhang. Die Bänke und Stuhlreihen leerten sich. Viele der Zuschauer machten sich schon jetzt auf den Heimweg. Die Leutholds aber mit Doktor Ambrosius und dem Notar suchten sich einen Tisch an der äußersten Hofmauer, wo man den Blick über die weite Glaustädter Flur hatte. Hier gönnte man sich einen ländlichen Imbiß und einen faßkühlen Trunk. Es war der entzückendste Sommerabend. Der Tag schien heute nicht enden zu wollen. Die ganze Westseite des Himmels bis zum Zenit flammte in lichtem Rot.

Nach eine Weile kam auch die Mondscheibe hinter den Hügeln herauf und goß ihren milden Schein auf den schlummernden Waldessaum und die reich prangenden Kornfelder. Man sprach über den drolligen Schwank. Der Magister und der Notar, der gleichfalls ein Kenner der altklassischen Litteratur war, zogen Vergleiche zwischen der welschen Komödie und einem Lustspiel des Plautus. Auch Doktor Ambrosius und Hildegard nahmen teil an diesen Erörterungen, bis sie dann, unabhängig von dem Gespräch der andern, auf ein minder kritisches Thema gerieten. Weder sie, noch Weigel und der Magister merkten, daß sich die Waldschenke rasch leerte.

Erst gegen halb Elf gab der Magister das Zeichen zum Aufbruch. Eine tüchtige Strecke weit hatten die vier den [435] gleichen Weg. Zudem bat Gustav Ambrosius um die Erlaubnis, Herrn Leuthold und seine Tochter bis nach der Grossachstraße begleiten zu dürfen. Bei einer solchen Mondespracht im läßlichen Juni sei diese Wanderung an sich schon ein Hochgenuß.

Magister Leuthold und der Notar gingen voraus. Doktor Ambrosius mit Hildegard folgte. Mehr und mehr blieben die zwei zurück. Hildegard dachte schon längst nicht mehr des gräßlichen Blutrichters, dessen aufkeuchender Atem ihr beinahe die Stirn gestreift hatte. Ihr junges Herz war voll zum Zerspringen. Auch Doktor Ambrosius fühlte sich unaufhaltsam ergriffen. Das Haar Hildegards schimmerte unter dem weißen Licht wie ein Heiligenschein. Ihre Augen waren so groß und tief, ihre Lippen so glückverheißend. Ringsumher wogten und rauschten die unnennbaren Stimmen der Sommernacht, mehr geahnt als gehört, ein süß geheimnisvolles Weben und Flüstern, das die Seele zur Seele zwang.

Hingerissen von diesem Zauber, sprach denn Gustav Ambrosius das entscheidende Wort. Der Liebende warb, und Hildegard Leuthold gab sich dem Mann ihrer Wahl glückstrahlend zu eigen.

„Ja,“ klang es dann nochmals von ihrem bebenden Mund, als Doktor Ambrosius auch von ihr ein volles Bekenntnis heischte, „ja, ich habe Euch lieb. Ich will Euch allzeit eine treue Gefährtin sein, bis an mein Ende.“

„Und Euer Vater? Werd’ ich ihm gut genug dünken für sein herrliches Kleinod?“

„Er kennt Euch und liebt Euch. Er weiß, daß ich in Euren Armen wohl aufgehoben bin, jetzt und immerdar.“

Der junge Arzt schwieg. Ein leichtes Frösteln überrieselte ihn. Er gedachte des gefahrvollen Planes, in den er verwickelt war, dem er sich zugeschworen mit Eid und Manneswort. Eine Sekunde lang fragte er sich, ob er die Werbung vor Gott und seinem Gewissen verantworten könne. Er machte das holdselige Mädchen durch seine Annäherung, ja, mit teilhaftig all jener Schrecknisse, die ihm drohten, wenn die Verschwörung mißlang. Gleichviel! Er hatte nicht anders gekonnt! Lieben und sich geliebt fühlen und dann aus kalter Vernunft sich Schweigen gebieten und so vielleicht das geliebte Wesen verlieren, weil es in Zweifel gerät – nein, das überstieg seine Kraft! Und wenn das Geschick es wirklich wollte, daß alles fehlschlug, dann blieb ihm doch in der letzten Not ein himmlischer Trost: er hatte sie einmal wenigstens an sein pochendes Herz gezogen und das Bewußtsein genossen, daß sie mit Seele und Sinn ihm angehörte!

So scheuchte er denn die finstern Gedanken mannhaft hinweg. Er drückte ihr voll zärtlicher Inbrunst die Hand. Und da jetzt bei einer Biegung des Weges hochragendes Weidengebüsch ihn und Hildegard gegen die beiden Männer da vorn deckte, schloß er das aufglühende Mädchen stürmisch an seine Brust und küßte es lange und heiß auf die Lippen.

„Dein – diesseits und jenseits!“

Sie küßte ihn wieder.

„Dein – im Leben und Sterben!“

Als sie dann weiter schritten, hub er mit klarer, gefesteter Stimme an:

„So weit hat uns der Himmel geführt. Unser Bund ist geschlossen. Aber ich muß dir nun etwas mitteilen, was dich vielleicht überrascht. Nicht heute, nicht morgen werd’ ich vor deinen Vater treten, sondern erst nach Verlauf einiger Monate. Ich habe schwerwiegende Gründe hierfür, die ich dir jetzt noch nicht enthüllen kann. Bis dahin laß uns die Sache geheim halten!“

Hildegard sah voll Hingebung zu ihm auf. „Alles geschehe, wie du’s für gut findest!“ sagte sie mild lächelnd.

„Glaube mir,“ fuhr er bewegt fort, „wenn mich die Angst nicht verzehrt hätte, irgend ein anderer könnte mir doch noch zuvorkommen – ich hätte geschwiegen bis zu dem Zeitpunkte, wo ich auch gleich vor der Welt unser Glück offenbaren konnte. Aber es ging nicht länger. Ich mußte Gewißheit haben um jeden Preis!“

Die Gründe, die bei Doktor Ambrosius obwalteten, waren durchaus verständig und ehrenhaft. Einmal wollte er nicht, daß ihm die Stellung eines erklärten Bräutigams gesellschaftliche Verpflichtungen auferlege, die seine ohnehin stark in Anspruch genommene Zeit zum Nachteil des großen Verschwörungsplanes hätten beeinträchtigen können. Dann aber – und das war der Hauptgrund – trug er sich mit der Sorge, im Fall des Mißlingens möchte die öffentlich anerkannte Braut des Verschwörers und ihr Vater – nach der bekannten Logik des Balthasar Noß – mit ins Verderben gerissen und gleich ihm von der Rache der Blutmänner zermalmt werden.

Hildegard Leuthold hatte natürlich von alledem keine Ahnung. Ihr Vertrauen jedoch zu Doktor Ambrosius war so grenzenlos, daß die geringste neugierige Frage ihr ein Verbrechen gedünkt hätte. Mochte er’s mit seiner Brautwerbung halten, wie es ihm zweckmäßig schien! Sie war fest überzeugt, daß er in seiner untadligen Einsicht das Rechte schon treffen werde.

Am nächsten Kreuzweg verabschiedete sich der Notar Rolf Weigel. Doktor Ambrosius ging mit den Leutholds bis an die Wohnung. Hildegard mühte sich ehrlich, den etwas schweigsamen Vater mit ins Gespräch zu ziehen. Sie kam sogar auf das vorhin erwähnte Lustspiel des Plautus zurück und lobte die scharfsinnige Auffassung des kleinen buckligen Mannes, der in der Welt des klassischen Altertums so vollkommen zu Hause war.

Endlich war man am Ziel. Das schmiedeeiserne Thor knarrte.

„Gute Nacht!“

„Glückliche Ruhe!“ So trennte man sich.

Tief nachdenklich wanderte Doktor Ambrosius zurück nach der Stadt, wo ihn der eisgraue Thorwächter gähnend hereinließ. Wortlos behändigte er dem mißvergnügten Beamten das vorschriftsmäßige Geldstück.

Dann suchte er auf mancherlei Umwegen das Haus an dem alten, brunnenrauschenden Marktplatz auf.

Hildegard stand indessen noch geraume Zeit am geöffneten Fenster ihrer freundlichen Schlafkammer und schaute hinaus in die bläulich schimmernde Sommernacht. Der Mond schwebte jetzt hoch über den beiden gotischen Türmen der alten Marienkirche. Rechts drüben lag das Lynndorfer Gehölz – und weit in der Ferne ein mattglänzender Punkt, das Schieferdach der städtischen Waldschenke – alles schweigsam und friedlich und wie gebadet im strömenden Silber des Nachtgestirns. Hildegard preßte die Hand auf ihr klopfendes Herz.

Sie dachte ihrer verewigten Mutter. Das halbverblaßte Erinnerungsbild aus frühster Vergangenheit stand ihr mit einem Mal wie greifbar und neu belebt vor der Seele. Wenn ihre Mutter das mit erlebt hätte – diese unendliche Seligkeit ihres einzigen Kindes! Nun sah sie wohl aus verklärter Höhe auf die Beglückte herab und spendete auf den Schwingen des Mondlichts ihren himmlisch geheiligten Segen!

Nach einer Weile quoll es in Hildegards Brust auf wie unermeßliche Sehnsucht nach dem geliebten Vater, der ihr die Heimgegangene so treulich ersetzt hatte. Sie klinkte die Thür auf. Der Mond und die Kerze erhellten ein wenig das Dunkel des Treppenhauses. Ohne sich über ihr Vorhaben klar zu sein, schlich Hildegard auf den Zehen bis an des Vaters Schlafgemach, legte das Ohr an das Getäfel und lauschte. Auch er schlief noch nicht. Wie gern wäre sie eingetreten, um noch einmal an diesem unsäglich schönen Tage die Hand zu küssen, die so sanft leitete und so stark schützte. Aber sie durfte ja nicht! Der Vater würde sofort alles durchschaut haben. So preßte sie denn voll Inbrunst ihre glühenden Lippen auf das geschnitzte Holzwerk und hauchte unhörbar:

„Schlummere süß, du mein bester Freund! Du und ich und er – das soll uns ein Dasein werden wie ewiger Sonnenschein!“

In ihre Stube zurückgekehrt, sank sie, noch angekleidet, auf ihre Bettstatt und vergoß reichliche Thränen. Sie wußte selbst nicht, um was sie weinte. Aber es war ihr so weich ums Herz und die Tränen thaten ihr wohl. Lang’ erst nach Mitternacht schlief sie ein.

(Fortsetzung folgt.)


[436]

Das vierhundertjährige Jubiläum der Leipziger Messen.

Von Max Hartung.

Leipzig ist nicht nur von alters her berühmt als Hochsitz der Wissenschaften, sondern auch durch die Bedeutung seines Handels und seiner Messen.

Am 20. Juli dieses Jahres vollenden sich 400 Jahre, seit Kaiser Maximilian I. die drei Leipziger „Jahrmärkte“ (die heutigen Messen) erneuerte, confirmierte und bestätigte. Ueber das Konfirmationsjahr dieser großartigen Handelsinstitution sind wir also unterrichtet, während sich das Geburtsjahr derselben nicht feststellen läßt, denn die Messen sind eben nicht mit einem Male entstanden, sondern haben sich ganz allmählich entwickelt. Nach Hasses „Geschichte der Leipziger Messen“, der wir in nachstehendem hauptsächlich folgen, kann man annehmen, daß mindestens im Jahre 1170 bereits Jahrmärkte in Leipzig stattfanden, denn eine zwischen 1156 und 1170 abgefaßte Urkunde Markgraf Ottos des Reichen ordnet an, daß innerhalb einer Meile Weges um die Stadt kein ihr schädlicher Jahrmarkt abgehalten werden dürfe, eine Bestimmung, die doch nur als Maßregel zum Schutze eines in Leipzig bereits bestehenden Jahrmarktes angesehen werden kann.

Kurfürst August der Starke besucht den Bilderhändler Schenk in Bräunigkens Hof zu Leipzig zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts.

Das ist die erste urkundliche Erwähnung der Leipziger Messen. Die Urkunde gestattete Leipzig gleichzeitig ein sehr summarisches, von dem Magdeburger abweichendes Verfahren gegen säumige Schuldner und schuf dadurch die Grundlage für die Sicherheit des Handels während der Märkte. Eine Urkunde Dietrichs von Landsberg vom 1. März 1268 gewährte selbst allen den Kaufleuten, mit deren Landesfürsten er in Krieg verwickelt war, Schutz. Das beweist wiederum, daß die Leipziger Märkte nicht bloß aus den zunächst liegenden Landesteilen, sondern auch von fernher besucht wurden, also schon zu jener Zeit die Benennung von Messen verdient hätten. Daß die Jahrmärkte gerade in Leipzig zu solcher Blüte gelangten, verdankten sie der geographischen Lage der Stadt, welche die Mitte des deutschen Reichsgebietes und zugleich einen Knotenpunkt bildete, an dem die Hauptstraßen aus allen Richtungen der Windrose sich kreuzten oder zusammenliefen. Aber auch der Gewerbefleiß der Einwohner, ihr rühriger selbstthätiger Anteil am Handel, die glückliche Handelspolitik des Leipziger Rates sowie die Gunst wohlwollender Fürsten wie wir schon oben sahen, förderten wesentlich dieses Aufblühen des Handels. Bis zum Jahre 1363 wurde freilich in Leipzig der Marktzoll nicht von der Stadt oder dem Markgrafen selbst erhoben, sondern er war von letzterem an Private als Lehen vergeben, was den Rat bei seinen Anordnungen im Marktwesen überaus beschränkte. Am 20. August 1363 belehnte nun Markgraf Friedrich die Stadt mit dem Marktzoll. Das war für die Regelung des Marktwesens von großer Wichtigkeit.

Auch von seiten der Kirchenfürsten erfreuten sich die Leipziger Märkte besonderer Rücksichtnahme. Die Kirchenstrafen, besonders der Bann, welcher auch über die verhängt wurde, welche andere, mit diesen Strafen Belegte, bei sich aufnahmen, waren geeignet, den freien Verkehr in der Handelsstadt an der Pleiße zu beeinträchtigen.

Es war deshalb für die Freiheit des Verkehrs in Leipzig nicht unwesentlich, daß Papst Martin V. am 26. Juli 1419 eine besondere Vergünstigung für die Fälle erteilte, in denen mit dem Kirchenbann belegte Personen nach Leipzig kommen und sich dort aufhalten sollen.

Für die bessere Zugänglichkeit der Stadt, die besonders den von Westen herkommenden Fremden durch die vielen Flußläufe und das Ueberschwemmungsgebiet derselben erschwert war, sorgte gleichfalls die Kirche. Da die Stadt die hierfür nötigen Kosten nicht aufzubringen vermochte, wandte sie sich an den Bischof Johann von Merseburg, der ihr auch bereitwillig half, indem er die Bewohner seiner Diöcese zu Beiträgen für Herstellung von Brücken und Wegen in Leipzigs Umgebung aufforderte und den Spendern einen vierzigtägigen Ablaß erteilte.

Als eine Förderung der Messen war es ferner anzusehen, daß am 24. Juni 1423 Kurfürst Friedrich I. der Stadt die Gerichte für 1500 rhein. Gulden verkaufte und dadurch die Selbständigkeit und das Ansehen Leipzigs mehrte.

Bis zum Jahre 1458 bestanden nur die Leipziger Oster- und Michaelismarkt, was aus dem ersten Leipziger Meßprivilegium Kurfürst Friedrichs II. vom 1. November 1458 hervorgeht, das den Neujahrsmarkt erst einsetzt. Im Jahre 1497 reihte sich dann das schon eingangs erwähnte Privileg Kaiser Maximilians I. von 1497 betreffs aller drei Märkte an. Dieses „erneuert, confirmirt und bestätigt die drei Leipziger Jahrmärkte“, nämlich eines jeden Jahres einen auf den Sonntag Jubilate anzufangen und bis auf den Sonntag Cantate nächst danach währende, den andern auf den nächsten Sonntag nach St. Michaelis anzusehen, und acht Tage die nächsten danach währende, und den dritten auf den heiligen Neuen Jahrstag anzuheben und auch die nächsten acht Tage danach folgende zu währen. Es verspricht allen, welche die Leipziger Märkte besuchen, den kaiserlichen Schutz. Von besonderer Wichtgkeit aber ist die Bestimmung, welche allen Städten und Flecken in den Bistümern Magdeburg, Halberstadt, Meißen, Merseburg und Naumburg es untersagte, irgend welche neuen Jahrmärkte einzurichten oder Freiheiten dazu zu erwerben. Diesem Privilegium ist es vor allem anderen zuzuschreiben, daß die Leipziger Märkte einen so gewaltigen Aufschwung nahmen, und mit Recht läßt man darum die 400jährige Wiederkehr des Tages, an dem das Privileg erteilt wurde, nicht vorübergehen, ohne dieses Ereignisses in Dankbarkeit zu gedenken.

Aber noch eines Privilegs vom Jahre müssen wir Erwähnung thun, das von demselben kaiserlichen Herrn herrührt und dem fast die gleiche Wichtigkeit beizumessen ist. Es fügt dem vorigen das Recht hinzu, in Leipzig Niederlage und Stapel mit großer und kleiner Ware zu haben, und ordnet an, daß [437] hinfüro kein Jahrmarkt, Messe oder Niederlage immer fünfzehn Meilen gerings um die obbestimmte Stadt Leipzig soll aufgerichtet und gehalten werden in keinerlei Weise“.

Auf der Leipziger Messe vor 100 Jahren: Tierkreisorakel.

Nach dem Stapelrecht mußten also alle Waren, die innerhalb 15 Meilen rings um die Stadt befördert wurden, nach Leipzig gebracht und mehrere Tage feilgeboten werden. Diese beiden hier zuletzt angeführten kaiserlichen Privilegien von 1497 und 1507 blieben für lange die Grundlage der Rechtsverhältnisse der Leipziger Messen.

Alle diese Verordnungen waren gleichsam die Stufen, welche die wichtige Institution der Leipziger Messen zu ihrer Höhe emporführten. Aber die Geschichte berichtet auch von einer langen Kette ungünstiger Ereignisse, die sich zu recht drückender Fessel gestalteten. Als ein schwer lastendes Glied derselben machte sich die Konkurrenz geltend, und es war den Märkten anderer Städte gegenüber durchaus nicht leicht, die Leipziger Messen zu erhalten und weiter auszubilden. So entsprang das bedeutungsvollste der Privilegien vom Jahre 1497 einer Streitigkeit mit dem benachbarten Halle, bei welcher Leipzig dasselbe durch Vermittlung Albrechts des Beherzten erlangte. Auch das spätere Privileg des Kaisers vom 23. Juni 1507 ist auf Streitigkeiten Leipzigs mit Erfurt zurückzuführen. So hat die alte Meßstadt im Laufe der Zeiten mit nicht weniger denn 45 Orten um die Erhaltung ihrer Messen und des Stapelrechtes im Kampfe gelegen. Dann hinterließ die Fackel des Krieges, die sich immer von neuem entzündete, ihre tiefen Brandmale. Schon die Neujahrs- und Ostermesse 1547 wurde durch den Schmalkaldischen Krieg sehr erschwert. Dann warf der Dreißigjährige Krieg seine düsteren Schatten über die Pleißestadt, die zu öfteren Malen belagert und eingenommen wurde. Eine Denkschrift des Leipziger Rats sagt darüber: „Wie viel mahle haben dergleichen trangselige Zeiten verhindert, daß die Messen nicht haben gebauet werden können … Wie viel Leute haben sich gar von hier gewendet und anderer Orten niedergelassen …“

Zu diesen schweren Schädigungen gesellte sich dann im Gefolge des Kriegs auch noch die Pest, welche im Jahre 1680 die Lindenstadt heimsuchte und die Messen von hier fast zu vertreiben drohte. Aber mit all diesen Fährlichkeiten wußte immer wieder die weise Politik des Rats fertig zu werden, welcher die Abhaltung der Messen, wenn es geboten schien, auf günstigere sicherere Zeiten verschob, den Handelsleuten von den Fürsten neue Vergünstigungen erwirkte und andere Erleichterungen schuf. In den düsteren Gang der Begebenheiten fällt wie ein erfreulicher Lichtblick die Einsetzung des Leipziger Handelsgerichts im Jahre 1683, das zur Hebung des Vertrauens in die Meßgeschäfte sehr viel beigetragen hat. Von demselben wurde eine strenge Handhabung des Wechselrechts durchgeführt, welche sich bei dem regen Meßwechselverkehr als durchaus nötig erwies.

Die Geschichte erzählt noch von anderen schweren Zeiten, welche über die Leipziger Messen gekommen sind. Von diesen müssen wir den Siebenjährigen Krieg noch hervorheben, in dem Leipzig von den Preußen besetzt wurde und viele Millionen Kriegskontribution zu zahlen hatte. Aber auch diese Verluste wurden überwunden. Hatten doch die Leipziger schon Anfang des 18. Jahrhunderts den Vorrang vor allen anderen Reichsmessen erlangt. Auch die Gründung der Breslauer Messen durch Friedrich den Großen, dessen Bestreben es war, den Handel von Leipzig dorthin zu ziehen, scheiterte, und Leipzig verblieb der erste der deutschen Meßplätze. Die Dauer der Messen war nach dem kaiserlichen Privileg vom Jahre 1497 – wie wir sahen – ursprünglich auf je eine Woche festgesetzt. Allmählich aber war die Oster- sowohl wie die Michaelismesse dem Bedürfnis entsprechend auf drei Wochen verlängert worden.

Auf der Leipziger Messe vor 100 Jahren: Griechen und Türken in der Katharinenstraße.

Ein harter Schlag war es für den Leipziger Handel, als Napoleon im Jahre 1806 die Kontinentalsperre anordnete, die jeden Verkehr mit England untersagte. Infolge derselben wurden alle englischen Waren, die sich in Leipzig vorfanden, mit Beschlag belegt. Die Kontinentalsperre hatte jedoch auch ihre guten Folgen. Durch sie wurde die Textilindustrie Sachsens zu hoher Blüte entfaltet und Deutschland von dem Handel mit England in dem so wichtigen Industriezweig unabhängig gemacht.

Durch die uns zur Verfügung stehenden Berichte über die Messen zieht sich wie ein roter Faden die fortgesetzte Klage über die Entwicklung des Zollwesens in Preußen, Oesterreich und Rußland. Die preußische Zollgrenze rückte infolge Zusammenschrumpfung von Sachsens Grenzen im Jahre 1815 bis dicht an Leipzig heran, was naturgemäß den Meßhandel ungemein schädigen mußte. Da gab es eben nur die eine Rettung – den Eintritt Sachsens in den Zollverein. Dieser erfolgte denn auch im Jahre 1833 und mit ihm erweiterte sich der Umfang des Meßgeschäftes so, daß er den aller früheren Blüteperioden überragte.

Aber Gut und Geld waren es nicht allein, bei denen man seine Rechnung zu finden hoffte. Den Messen – so nüchtern sich die hohen Zahlen ihres Umsatzes ausnehmen – fehlte es auch nicht an allerlei Zügen, denen ein poetischer Reiz innewohnte. [438] Schon eine Reise nach Leipzig in jener Zeit, in welcher der schrille Pfiff der Lokomotive noch unbekannt war, entbehrte nicht einer gewissen Romantik. Wer nicht die Mittel besaß, den Postwagen zu benutzen, mußte den oft recht langen und beschwerlichen Weg auf dem Frachtwagen zurücklegen. Da fehlte es denn nicht an großen und kleinen Abenteuern. Jedenfalls mußte man auf alles gefaßt sein. War hier der Wagen auf schlechter Straße mit gebrochenem Rad liegen geblieben und hatte man ihn endlich mit Hilfe eines weit hergeholten Schmiedes und anderer guter Leute wieder flott gemacht, so fiel man dort wohl in die Hände von Wegelagerern oder Raubrittern, die von kurfürstlichen oder kaiserlichen Privilegien und dem darin dem Kaufmann zugesagten Schutz nichts zu wissen schienen. War man aber endlich am Ziele angelangt, so war die Freude groß, und die mächtige Wagenburg, die bereits aufgefahren war, ließ erwarten, daß man auch Geschäftsfreunde am Platze treffen werde.

Auf der Leipziger Messe vor 100 Jahren: Beim Antiquar.

Dann bot das buntbewegte Treiben der fahrenden Leute viel des Interessanten und nahm mit seinem eigenen Zauber selbst den Nüchternsten gefangen. Die Schaustellungen der Seiltänzer, Feuerfresser und Rumpfmenschen, denen jegliche Glieder fehlten, ferner der Zwerge, Kraftmenschen, Akrobaten und Taschenspieler bildeten kräftige Anziehungspunkte der Messen. Andere zeigten mechanische Kunstwerke oder führten wilde Tiere vor. Die Leipziger Stadtbibliothek verwahrt eine ganze Anzahl alter Meßzettel, die derartige Schaustücke in marktschreierischer Weise ankündigen. Ein solcher aus dem Jahre 1746 thut kund, daß ein lebendes Rhinoceros angekommen sei, ein Tier, das bis dahin in Deutschland noch nie gesehen worden war. Es ist dasselbe Rhinoceros, welches den Dichter Gellert veranlaßte, die bekannte Fabel „Der arme Greis“ mit den Worten zu beginnen. „Um das Rhinoceros zu seh’n-“. Ja, diese Sehenswürdigkeiten waren ein wesentlicher Bestandteil der Messen geworden, der sich trotz aller Veränderungen, welche die Zeit mit sich brachte, bis heute erhalten hat. Damals übten sie ihre magnetische Kraft sogar auf gekrönte Häupter aus. Der kurfürstliche Hof und die Fürsten benachbarter Länder besuchten die Messen und schlugen in Leipzig ihre glänzenden Hoflager auf. Die Chronisten wissen gelegentlich der Besuche Augusts des Starken im Anfang des vorigen Jahrhunderts viel von Festen, Aufzügen, Musikaufführungen, Illuminationen, Tierkämpfen usw. zu erzählen. Unser Bild auf S. 436 zeigt, daß der Fürst aber auch für den Handel selbst Interesse hegte, ja zuweilen in eigener Person Einkäufe zu machen liebte. Es stellt Bräunigkes Hof, den Vorläufer des jetzigen Hohmanns Hofs auf der Petersstraße, zu Anfang des vorigen Jahrhunderts dar. Hier hatten der Holländer Schenk und andere seiner Landsleute zur Messe ihre Läden. Der Bilderhändler Schenk erhält eben vom Kurfürsten und dessen Gefolge Besuch. Er ist aus seinem im rechten Seitengebäude befindlichen Laden herausgetreten und geht dem hohen Herrn dienstbeflissen entgegen. Winkt ihm doch doppelter Gewinn, Gold für dieses oder jenes teure Bild, dann aber auch Mehrung seines Geschäftsrufes durch den Besuch des Fürsten, was er beides wohl zu schätzen weiß.

Auf der Leipziger Messe vor 100 Jahren: Beim Schuhmacher.

Wer sich für Völkerkunde interessierte, konnte von jeher auf den Leipziger Messen eingehende Studien machen. Fritz Bergen hat nach dem Werke „Leipziger Meßscenen“, das 1804 bis 1805 bei E. F. Steinacker in Leipzig erschien, eine Reihe interessanter Gruppenbilder gezeichnet, die uns in das Meßtreiben, wie es sich an der Wende des vorigen Jahrhunderts gestaltete, zurückversetzen. Das eine (S. 437) führt uns mitten hinein in eine Kolonie von Orientalen in ihren Nationaltrachten, namentlich Griechen und Türken, die nach vollbrachtem Meßgeschäft, ohne sich um Politik zu kümmern, eine Friedenspfeife miteinander rauchen. Aber auch dem, welcher Vergnügen daran findet, der charakteristischen Eigenart, wie sie sich durch fortgesetzte Ausübung eines Berufes in seinen Mitmenschen ausprägt, nachzugehen, öffnet sich hier ein ergiebiges Beobachtungsfeld. Er findet Typen aller Berufsklassen; die originelle Gestalt des alten Antiquars und seine Kunden, das Ehepaar vom Lande, dessen bessere Hälfte um ein Andachtsbuch feilscht, während er nach dem Arzneibuch greift, das allerlei Mittel gegen Gebresten des Viehs enthält, und endlich den Gelehrten daneben, welcher einen seltenen Druck entdeckt zu haben scheint. Er gelangt zu dem Verkaufsstande des Mannes, der die Welt mit dem Pantoffel versieht und dessen „Kanonen“ wie angegossen sitzen, und der dabei mit übermenschlicher Geduld einem Nörgler Stück für Stück seiner Ware anprobieren hilft, obschon er weiß, daß alle Mühe umsonst ist und es zu keinem Kaufe kommen wird. – Noch treibt der Aberglaube allenthalben sein spukhaftes Wesen. Wahrsagerinnen und Kartenschlägerinnen werden überlaufen, und daneben bietet die Messe allerlei Gelegenheit, das Orakel zu [439] befragen. Besonders das Tierkreisorakel erfreute sich lebhafter Inanspruchnahme. In einem Blechkasten mit Wasser standen zwölf Blechbehälter aufrecht, welche die Namen der betreffenden Sternbilder trugen. Inmitten des Bassins war eine Vorrichtung, durch die man mittels Druckes auf eine Schweinsblase im Wasser eine Nixe von Glas erscheinen lassen konnte. Auf welchen der Blechbehälter das Nixlein zuschwamm, dem wurde die gedruckte Weissagung entnommen und den Fragestellerinnen – denn solche waren es zumeist – ausgehändigt. (Vgl. die Abbildung S. 437.)

Daß anjetzo allhier ankommen ist ein lebendiger RHINOCEROS, der nach vieler Gedancken der Behemoth seyn solle, nach der Beschreibung Hiobs, Cap. 40. V. 10. Es ist Verwunderns würdig vor einem Jedweden, der dasselbe kommt zu sehen: und ist das erste Thier von dieser Sorte, welches hier ist gewesen; ist ohngefehr 8. Jahr alt, etc. etc.
Meßzettel: Ankündigung des ersten Rhinoceros im Jahre 1746.

Neben der inneren Stadt wurde der Platz vor dem Grimmaischen Thore, der jetzige Augustusplatz, vom Meßverkehr schon in frühester Zeit stark in Anspruch genommen. Unser Bild (S. 440.), welches ebenso wie das untenstehende der Wagenburg auf dem Fleischerplatze einem im Besitze des Museums des Vereins für die Geschichte Leipzigs befindlichen Bildertableau entnommen ist, stammt aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Schon ist der Meßhandel, wie wir an den belebten Verkaufsständen sehen, in vollem Gange, aber noch immer wird der Meßstadt durch das Grimmaische Thor in langen Wagenreihen neue Ware zugeführt. Seitdem hat dieser Platz freilich ein anderes Gesicht bekommen. Das Grimmaische Thor ist längst gefallen und der Augustusplatz mit seinen 39 400 Geviertmetern Flächenraum, seinem weiten Kranze stattlicher Monumentalbauten gilt nicht nur als einer der größten, sondern auch schönsten Plätze Europas. Das Meßgetriebe auf ihm ist noch stärker geworden, nachdem man die Verkäufer mit ihren Buden von den Straßen der inneren Stadt hierher verwiesen hat. Früher schon hatte man – um Raum für all die Buden und Stände zu schaffen – die großen Rasenbeete von einst entfernt und nur ein kleinerer Teil des Platzes durfte fürderhin noch mit gärtnerischen Anlagen geschmückt werden. Heute reiht sich Bude an Bude zu langgestreckten Zeilen, zwischen denen die kauflustige Menge sich drängt – ein Treiben, das an manchen Tagen einen mächtigen Eindruck hinterläßt. Unsere Abbildung (S. 429) gewährt uns einen Blick auf den mit Budenreihen bedeckten Platz, im Vordergrunde des Bildes sehen wir den mit einem Obelisken gezierten Mendebrunnen, im Hintergrunde das prachtvolle Neue Theater. Einen nicht minder großartigen Anblick bietet das Leben im Innern der Stadt. Unser Bild S. 441 stellt die Petersstraße in der Gegenwart dar, die zu Meßzeiten mit ihren unzähligen Firmenschildern bis zu den Dächern hinauf ein höchst eigenartiges Aussehen annimmt.

Leipzig hat sich von jeher um die Erhaltung seines Kleinods, der Messen, in berechtigter Sorge befunden und sollte deshalb bis in die neueste Zeit nicht zur Ruhe kommen. Als man nämlich im Jahre 1892 mit Rücksicht auf die auch in Europa um sich greifende Cholera und die Gefahr einer Einschleppung derselben die Herbstmesse ausfallen ließ, suchte die deutsche Reichshauptstadt die Messen an sich zu ziehen. Die durch das Vorgehen Berlins drohende Gefahr veranlaßte nun aber Leipzig, alles aufzubieten, die Messen sich nicht nur zu erhalten, sondern sie in jeder Weise zu fördern und zu vervollkommnen. Die Handelskammer begann im Verein mit dem Rat der Stadt und unterstützt von der Regierung des Landes eine fieberhafte Thätigkeit. Man mußte zugeben, daß die Messen in einigen ihrer Teile zurückgegangen waren, suchte nach den Gründen dafür und fand Mängel, die beseitigt werden mußten. Da machte sich vor allem eine teilweise Früherlegung der Messen nötig, weil ihre Termine zur Deckung des Bedarfs für die Saison zu spät fielen. Die Dauer der Neujahrsmesse ward nunmehr vom 3. bis 16. Januar und die der Ostermesse vom Sonntag Quasimodogeniti bis zum Cantatesonntag, mit dem die mehrtägige Buchhändlermesse beginnt, festgesetzt, während die Michaelismesse fortan schon am letzten Sonntag im August anfängt und 22 Tage währt. Alle möglichen Erleichterungen und Verbilligungen zum Teil durch eine neue Meßordnung, wurden für den Meßverkehr geschaffen.

Was den Rauchwarenhandel, den Buchhandel, der seit dem Niedergang der Frankfurter Messe nach dem Dreißigjährigen Krieg in der Pleißestadt seinen Hauptsitz und seine eigenartige Messe hat, und moderne Zweige anbetrifft, so stehen Leipzigs Messen noch heute auf ihrer vollen Höhe. Aber der Kleinhandel, der früher für die ganze zwischen den Messen liegende Zeit den Bedarf großer Gebiete zu decken hatte, ist zurückgegangen und dient heute fast nur noch den örtlichen Bedürfnissen. Daran war nun freilich nichts zu ändern, denn dieser Rückgang war durch die Erfindung der Eisenbahnen, des Telegraphen, durch die billige Postpaketbeförderung und andere Verkehrserleichterungen hervorgerufen worden. Dagegen erkannte man wohl, welche Bedeutung der Musterlagerverkehr gewonnen hatte, und daß derselbe noch einer großen Ausdehnung fähig sein würde. Diese Einsicht zeitigte die Einrichtung einer Vormesse für die keramischen, Bronce-, Kurz-, Galanterie-, Spiel- und andere Waren verwandter Geschäftszweige, welche vom ersten Montag im März bis zum Sonnabend der darauffolgenden Woche abgehalten wird.

Die Wagenburg auf dem Fleischerplatze während der Messe (1820-40).

An der Stelle, wo das alte Gewandhaus und das Konservatorium standen, welche durch neue Gebäude im Südwesten der Stadt ersetzt sind, also zwischen Neumarkt und Universitätsstraße, wurde mit einem Kostenaufwand von 900 000 Mark ein hohes „Kaufhaus“ errichtet, um geeignete Räume zum Unterbringen der Musterlager zu schaffen. In diesem nun und den umliegenden Häusern kann man zur Zeit der Messe viel herrliche Dinge, teilweise von märchenhafter Pracht, bei einander sehen, und bei einer Wanderung durch all die Räumlichkeiten, von denen jede einen Bazar für sich bildet, wird man des Schauens und Bewunderns nicht müde. Hier finden also die Käufer Fabrikanten oder Vertreter derselben mit ihren Musterlagern in bequem beieinanderliegenden Räumen vor und können so mit größter Zeitersparnis die verschiedenen Erzeugnisse miteinander vergleichen und das ihnen passend [440] Erscheinende bei Aufgabe ihrer Bestellungen auswählen. Die Fabrikanten treten auf diese Weise immer wieder in persönlichen Verkehr mit ihren alten Kunden, gewinnen neue und können ihre Ansichten über die Gestaltung der künftigen Produktion gegeneinander austauschen.

Der Meßverkehr vor dem Grimmaischen Thor in Leipzig (1824–1840).

So hat sich denn der unmittelbare Umsatz der Messen als reiner Warenmessen, wie wir gesehen haben, vermindert, im Musterlagerverkehr aber ist ihnen ein glänzender Ersatz dafür unter Berücksichtigung von Mode und praktischem Bedürfnis erstanden. Und so werden denn die Messen auch fernerhin eine unentbehrliche Einrichtung bleiben, ja in Zukunft mehr denn je den Austausch der Erzeugnisse aller Weltteile vermitteln.


Unsere Krischane.

Von Charlotte Niese.

(Schluß)

Was die Eltern zu der Verlobung unsrer Krischane mit Fite Bierkraut sagten, weiß ich nicht mehr. Sie waren in dieser Zeit durch andere Sachen in Anspruch genommen und an Krischanens Verlobungstage nicht zu Hause. Später aber hatte meine Mutter mit der Haushälterin noch eine Unterredung, in der Krischane bat, noch einen Monat länger bleiben zu dürfen, ein Wunsch, der ihr ohne weiteres gewährt wurde, besonders da sie gelobte, sich ihren Pflichten mit aller Kraft zu widmen. Das that sie wohl auch. Sie war stiller geworden, arbeitete fleißig und sprach nicht mehr so viel von ihren siebentausend Thalern, die ihr überhaupt erst im November ausbezahlt werden konnten. Fite Bierkraut kam hin und wieder, um seinen Bräutigamsbesuch zu machen, und Sonntags ging er mit Krischane aus. Da er aber meistens von seiner Mutter begleitet war und jedesmal verdrießlicher aussah, so schien seine Gegenwart auch nicht erheiternd auf Krischane zu wirken. Jedenfalls wurde sie ein paarmal sehr ausfallend, als wir sie fragten, ob wir zu der Hochzeit eingeladen würden, so daß wir uns davon entwöhnten, uns mit ihr und ihren Angelegenheiten zu beschäftigen. Es war ja auch Sommer, die Früchte wurden allmählich reif, hin und wieder kam Hausbesuch, unsere Gedanken waren vollauf in Anspruch genommen, und wenn Krischane nicht mit uns sprechen wollte, dann sprachen wir auch nicht mit ihr.

Vierzehn Tage mochten vergangen sein, da zog plötzlich an unserm Himmel ein Gewitter auf, das uns ganz unvorbereitet traf. Frau Evers, die glückliche Besitzerin des Hundes Perle, erschien bei unserm Vater und verklagte uns. Sie behauptete, daß wir jeden Tag den Kater Banko auf die Friederikenruhe schleppten und ihn auf ihren Perle hetzten. Letzterer sei schon ganz scheu geworden, versicherte sie. Denn er könne nicht aus seiner eigenen Hausthür sehen, ohne einen Steinwurf von uns oder den unwillkommenen Anblick Bankos zu genießen, der dann in ihr Haus laufe und schon vieles kaput geschlagen habe. Die Sache war natürlich nicht wahr. In diesem Sommer war Banko höchstens einmal auf der Friederikenruhe in Perles Nähe gewesen. Er war überhaupt asthmatisch und mochte sich gar nicht gern bewegen, und wenn wir wirklich einmal einen Stein nach Perle geworfen hatten, so wußten wir es kaum mehr. Aber wir bekamen doch eine ziemliche Standrede, wie denn überhaupt die Unschuld immer am meisten leiden muß, und dann wurde uns auch noch auferlegt, einzeln zu Frau Evers zu gehen und zu sagen, daß wir von nun an Perle in Ruhe lassen wollten. Jürgen und Milo standen um drei Uhr morgens auf, liefen zur Kate, weckten Frau Evers mit ihrem Hunde aus den schönsten Träumen und erklärten der verstörten Dame, daß sie sich sehr entschuldigten und es nicht wieder thun wollten. Auf diese Weise ließen sie mich im Stich und ich konnte sehen, wie ich zu Frau Evers allein hingelangte. Ich war sehr böse und saß weinend im Eßzimmer, als Krischane zu mir hereinkam und mich nach der Ursache meines Kummers fragte. Nachdem sie ihn erfahren hatte, strich sie mit der Hand über meinen Kopf.

„Laß man das Weinen! Kannst weinen, wenn du groß bist, denn is Zeit genug und auch Grund genug! Nu abers sei man wieder lustig, ich will woll mit dich zu Everschen gehen und sie ein büschen vermahnen, daß sie nich klatschen soll, wo es nich nötig is. Hat letzten Weihnachten kein Kleid von dein Mama gekriegt, wie sie es sich gedacht hatt’, nu muß sie ihr Dolligkeit zeigen!“

„Gehst du ganz gewiß mit?“ fragte ich, noch so in meinen Kummer versenkt, daß ich mich gar nicht aus ihm herausreißen konnte, und sie nickte.

„Heut nachmittag Klokken sechs wollen wir los! Ich hatt’ eigentlich mit Fite ein büschen spazieren wollen, weil ich doch heut’ frei hab’, abersten sein Mutter sagt, er hätt’ in die Stadt zu thun und könnt’ nich kommen!“

[441]

Der heutige Meßverkehr in der Petersstraße zu Leipzig.
Nach einer Photographie der Kunsthandlung von Herm. Vogel in Leipzig.

[442] „Frau Bierkraut ist doch jetzt sehr oft hier!“ bemerkte ich.

„Nu ja,“ versetzte sie kurz. „Is ja auch mein Swiegermutter! Na –“ sie schwieg eine Zeit lang, ehe sie weiter sprach. „Wenn ich Fite nu man erst glücklich hab’, denn soll mich die Alte auch nich ümmerlos zwischen reden und Geld aus mich slagen, was nich schön is, wo ich doch mein’ Erbschaft noch nich hab’ und allens nehmen muß, was ich mich for mein Alter auf die Sparkasse gelegt hab’. Abers wenn ich Fite man erst hab’, denn is allens besser. Er is doch ein netten Jung’ und hat auch ein gutes Gemüt; wenn ich mir schon wundern muß, daß er gar nich ein büschen wie ein Bräutigam und auch gar nich ein büschen zärtlich is!“

Sie seufzte tief auf bei diesen Worten und ging dann schnell aus dem Zimmer. Am Nachmittage also gingen wir zu Frau Evers. Eigentlich sollte ich ja allein meine Rede halten, aber Krischane kam doch mit hinein in die Kate und machte einige Bemerkungen, die auf Frau Evers eine beruhigende Wirkung zu üben schienen. Denn nachdem sie einige Worte über das frühe Wecken der Brüder gesagt hatte, wollte sie mir durchaus einen alten Schlüssel schenken, der, wie sie behauptete, von Gold war und den sie einmal auf der Straße gefunden hatte. Auch Perle wedelte mich an und der Friede wurde sehr schnell geschlossen.

„So, nu wollen wir noch ein büschen auf Friederikenruhe sitzen!“ meinte Krischane, als wir Abschied genommen hatten, und dann stiegen wir beide durch ein wenig Unterholz und Gestrüpp auf die nur etwa hundert Schritt entfernte Anhöhe. Wir waren fast schon oben und ich, die ich voranging, wollte gerade aus den Büschen auf den freien Platz mit den Tannen und dem Bänkchen treten, als Krischane mich plötzlich zurückriß und mir ihre Hand fest auf den Mund legte. Ehe ich mich von meinem Erstaunen erholen konnte, sah ich Fite Bierkraut mit einem Mädchen auf der Bank sitzen, in der ich bald unser früheres Hausmädchen Liese erkannte. Beide hatten sich umgefaßt und beide weinten.

„O, mein Fite!“ stöhnte Liese gerade jetzt und Fite rieb sich die Augen.

„Ja, mein’ klein’ süße Deern, helfen thut mich niemand mehr. Heiraten muß ich das alte Gespenst. Die Altsche slägt mir sonst tot. Abers, abers –“ er streckte die Hand aus und ballte sie, „gut soll sie es nich bei mich haben! Da kannst Gift auf nehmen! Ich slag’ ihr, ich hau’ ihr, ich – ich – er stockte, weil er entschieden nicht weiter wußte, während Liese sich fester an ihn schmiegte.

„Das thu’ man, mein Fite!“ sagte sie zärtlich und lehnte schluchzend ihren Kopf an seine Schulter. Es sah wirklich rührend aus und ich hätte den beiden noch gern eine Weile zugehört; aber Krischane, die längst die Hand von meinem Mund genommen hatte, zerrte mich jetzt durch das Gestrüpp wieder den Hügel hinunter.

„Sweig still!“ sagte sie, als ich eine leise Einwendung wagte, und dann sprach sie erst wieder, als wir uns beide auf dem Feldwege befanden, der nach Hause führte.

„Du mein Herrgott!“ sagte sie. „Was ’n Bewahrung! O du mein Heiland, was ’n Glück was ’n großartige Bewahrung! In meinen Tod wär’ ich gegangen – ich – wo Bierkrautsch immer hinter mich her is, daß ich mein Testament machen soll. So? Sie blieb stehen und ihre Stimme, die bis dahin einen unterdrückten Ton gehabt hatte, klang plötzlich schrill und drohend. „So? Hauen will er mir? Der Jung’, der noch nich trocken hinter die Ohrens is und der noch letzten Weihnacht’ Släge von sein’ Mutter gekriegt hat, weil er ein’ Cigarre rauchte und krank wurde – hauen will mir der?“ Sie hatte mich losgelassen und meine Gegenwart gänzlich vergessen. Mit den Armen focht sie in der Luft herum, ihr weißer, mit Kornblumen verzierter Strohhut war ihr in den Nacken geglitten und ihre Wangen glühten wie Fieber.

Ich hatte förmlich Angst vor ihr, als sie aber jetzt schwieg, fragte ich doch. „Krischane, sprachen sie eigentlich von dir?“ Sie sah mich starr an, dann lachte sie kurz auf.

„Ja natürlich, das kannst doch woll hören. Slagen will er mir, hauen, und denn hat Bierkrautsch mich noch gestern abend die Rechnung für den neuen Wagen gebracht. Zweihunnert Mark! Und dat Peerd is all betalt van min Sporkassenbok und den Koopmann, wo dat Sofa stünn – sie war so aufgeregt, daß sie reines Plattdeutsch sprach, was sie sonst niemals that. Auf meine Zwischenfragen achtete sie überhaupt nicht mehr, und plötzlich stürmte sie querfeldein mit so langen Schritten, daß ich ihr nicht folgen konnte. Auf dem Landweg rasselte nämlich ein kleiner Wagen über die holperige Wegeverbesserung, und es konnte schon sein, daß es Mutter Bierkraut war, die in dieser Zeit noch manchmal bei uns erschien. Einen Augenblick hatte ich große Lust, hinter Krischane herzulaufen und zu hören, was sie mit ihrer zukünftigen Schwiegermutter unter den obwaltenden Umständen sprechen würde, aber da kam gerade Herr Nottebohm gegangen, mit dem mich in diesem Jahre eine Art Freundschaft verband. Er hatte mir schon mehrere mal dieselbe Geschichte erzählt und sich auch angeboten, mir bei meinen Ferienarbeiten zu helfen, ein Anerbieten, das mich meine Bücher auf unbestimmte Zeit fortpacken ließ und mich in dem festen Glauben bestärkte, daß am letzten Tage der Ferien ein Wunder passieren und alle Arbeiten auf einmal fertig sein würden.

„Was ist denn mit Krischane los?“ fragte Herr Nottebohm, der jetzt neben mir stand und auch sah, wie Krischane über einen ziemlich hohen Zaun kletterte.

„Ich glaube, Mutter Bierkraut kommt und sie will ihr etwas über Fite sagen,“ berichtete ich eilfertig. „Fite sitzt nämlich mit Liese auf Friederikenruhe und er will Krischane hauen!“

Herr Nottebohm stand regungslos neben mir. Nun nahm er plötzlich seinen hohen Hut ab, den er noch immer trug und der schon ganz braun geworden war.

„Das kommt davon!“ sagte er, während er die wenigen Haare des Cylinders vorsichtig glatt strich. „Das kommt davon!“

„Wovon?“ fragte ich, an seiner Seite nach Hause gehend. Er antwortete aber nicht, sondern ging in seiner gebückten Haltung weiter, bis vom Wege her lautes Schreien und Keifen an unser Ohr schlug und ich stehen blieb. Frau Bierkrauts Stimme war deutlich zu erkennen und auch die Krischanens hörte man in den schrillsten Lauten.

„Herr Nottebohm,“ sagte ich atemlos vor Neugierde, „wollen wir nicht einmal hingehen und zuhören?“

Aber der Kandidat sah plötzlich ganz strenge aus.

„Komm’ du nur mit mir nach Hause! Alle Dinge schicken sich nicht für kleine Mädchen! Vor allem dürfen sie nicht neugierig sein!“ setzte er in einem so strengen Tone hinzu, daß ich ganz zerknirscht neben ihm heimwärts ging. Das war eigentlich dumm von mir und die Brüder schalten mich nachher sehr aus, denn nun hatte kein Mensch die Unterhaltung zwischen Krischane und der alten Bierkraut angehört und niemand wußte, was aus der ganzen Geschichte geworden war. Denn obgleich wir Krischane in den nächsten Tagen mit allerhand Fragen bestürmten, so gab sie uns keine Antwort und war überhaupt so unfreundlich, daß wir ihr soviel wie möglich uns dem Wege gingen. Nur bei unserer Mutter war sie längere Zeit gewesen und hatte sehr geweint, wie Milo berichtete, der sie aus dem Zimmer von Mama hatte kommen sehen. Das Resultat dieser Unterredung erfuhren wir nicht, eines Tages aber war Krischane …verschwunden, eine andere Haushälterin nahm ihre Stelle ein, und das Leben ging seinen ganz gewöhnlichen Lauf weiter. Auch Frau Bierkraut kam wieder auf den Hof gefahren, um frische und geräucherte Fische zu verkaufen. Fite war allerdings nicht mehr in ihrer Begleitung, da sie aber ein neues, ziemlich nettes Pferd und auch einen neuen Wagen hatte, so mußte die Freundschaft mit Krischane doch wohl noch bestehen, obgleich Mutter Bierkraut verdrießlicher als jemals war und uns niemals ansah, geschweige denn ein Wort mit uns sprach.

Wir würden uns aber doch einmal an sie gemacht und sie nach Krischane gefragt haben, wenn uns Herr Nottebohm in diesen Tagen nicht mehr beschäftigt hätte. Er war plötzlich ganz anders wie sonst geworden. Er aß fast gar nichts, was man sonst wahrlich nicht an ihm kannte, er sagte auch kein Wort mehr außerhalb der Stunden und er konnte stundenlang in der Pfeifenblattlaube sitzen und thatenlos vor sich hinstarren. Als einmal Milo ihm den Band von Schröders Topographie nachbrachte, erhielt er eine Ohrfeige, die den harmlosen Jungen mit grenzenloser Entrüstung erfüllte, denn er hatte es doch nur gut gemeint. Da Herr Nottebohm auch in den Stunden eine Strenge hervorkehrte, die ihm früher fremd gewesen war, so beschäftigten sich die Gedanken der Brüder viel mehr mit ihm als sonst, und wenn ich einmal anfangen wollte, von Krischane zu sprechen, dann hieß es, ich solle nur ganz still sein, so lange Herr Nottebohm so scheußlich sei, könne niemand mehr an die alte Person denken. [443] Ich that es aber doch, obgleich auch an meinem Ferienhimmel eine dunkle Wolke aufstieg und mir die letzte Zeit meines Aufenthaltes im Elternhause überschattete. Das waren die Ferienarbeiten, die Herr Nottebohm mir hatte machen wollen und an die ich ihn jetzt nicht zu erinnern wagte. Seufzend begab ich mich also selbst an die Arbeit, was sehr langweilig und auch sehr schwer war, weil ich viel vergessen hatte.

Es war an einem regnerischen Nachmittage, als ich über einem Aufsatz brütete, der das Thema behandelte, wie ich meine Ferien verlebt hätte. Ich wußte es nicht mehr, und nachdem ich eine Stunde lang nur Anfangssätze in die Kladde geschrieben hatte, die immer mit den Worten begannen. „Es war an einem schönen Sommertage, daß ich meine Ferienreise anzutreten beschloß,“ da empfand ich es als eine Erleichterung, daß Herr Nottebohm zu mir eintrat und mir einen etwas sonderbar aussehenden Brief auf das Schreibheft legte.

„Der war in der Posttasche für dich!“ sagte er dabei und lehnte sich gegen den Tisch, an dem ich saß. Ich war überrascht, denn ich bekam nicht oft Briefe.

„Der sieht aber komisch aus!“ meinte ich, das lange, etwas angeschmutzte Couvert und die sonderbare Handschrift betrachtend.

„Soll ich ihn dir auch lieber vorlesen?“ fragte der Kandidat sanft und etwas zögernd. Ich stutzte. Wenn ich Briefe erhielt, dann las ich sie doch meistens selbst, und ich wollte gerade diese Bemerkung machen, als mir denn doch ein anderer Gedanke kam. „Mein Aufsatz ist so furchtbar schwer! wimmerte ich. „Und meine französischen Uebersetzungen! Ich weiß gar nicht, wie ich fertig werden soll!“

„Ich helfe dir!“ sagte Herr Nottebohm hastig. „Gieb mir nur alles, du brauchst es dann nachher nur abzuschreiben. Nicht wahr, den Brief kann ich dir vorlesen?“

„Ist es ganz gewiß wahr, daß Sie mir helfen wollen?“ fragte ich; er nickte aber nur und riß mit zittrigen Händen den Umschlag ab. Er enthielt einen eng beschriebenen aber mit sehr undeutlichen Hieroglyphen bedeckten Bogen und Herr Nottebohm las ihn schweigend durch.

„Sie wollten ihn ja vorlesen!“ rief ich erstaunt, als er noch immer nicht anfing; der alte Kandidat antwortete indessen gar nicht, sondern las mit großer Unbefangenheit weiter. Dann atmete er plötzlich tief auf, fuhr mit der Hand über sein Gesicht und legte das Schreiben vorsichtig vor mich hin.

„Du wirst schon alles allein lesen können, liebes Kind. Die Handschrift ist zwar etwas undeutlich, aber ich denke doch, du wirst dich durcharbeiten – das Herz ist gut!“ setzte er leiser hinzu, und dann war er plötzlich verschwunden, ehe ich ihn an die Ferienarbeiten erinnern konnte. Es war überhaupt häßlich von ihm, so davonzulaufen, denn allein konnte ich wirklich nicht viel mit dem Briefe anfangen und kaum die Unterschrift herausbringen. Erst den vereinten Anstrengungen der Familie gelang es, ihn allmählich zu entziffern. Er war natürlich von Christiane Timmermann und sprach zuerst den Wunsch aus, einmal etwas von uns allen zu erfahren.

„Schreib’ mich man mal, klein’ Deern,“ hieß es dann weiter. „Wo ich doch gern bei Euch war und allens gut war, bis daß Bierkrautsch mit das Betrügen anfing. Abers der liebe Gott hat mir bewahrt, daß ich nich in mein Unglück ging und nu hier in Krempe in das kleine Haus lebe, das Onkel Detlev sein eigen gewesen is. Und das Geld krieg’ ich all in Septembermonat und allens, was ins Haus is, das gehört mich. Ein ganzen Schrank voll feines Herrenzeug, was würklich wunderschön is, bloß daß ich es nich brauchen kann. Wenn Herr Nottebohm hier wär’, denn wollt’ ich ihn schon was abgeben, wo er doch Löchers an die Ellenbogen hat und in mein Garten, wo ein Laube is, könnt er auch gut sitzen und in das gelehrte Buch studieren. Denn ein büschen einsam is es hier, und wenn ich auch mein Herrgott danke, daß ich nich in die Händens von die Sünders und Zöllners gefallen bin, womit ich Bierkrautsch und Fite verstehe, weil daß Bierkrautsch das Geld, was ich ihr geliehen hab’, nich wiedergeben will und der Rechtsanwalt sagt, ich soll man nix dagegen machen, so is es hier doch ein büschen einsam, was woll eine Strafe von den Herrgott is, weil es mich fasten zu gut gehen würde. Denn die Leute kennen mir alle noch nich und ich kenne ihnen nich und ich denke denn an allens, was ich gethan und nich gethan hab’. Und es is mich von Herzen leid, daß ich Herr Nottebohm so oft Nottebohmen genannt hab’, wo er doch ein Herr is und ein Kanderdat. Und wenn ich ihn manchmal was gesagt hab’ über seinen Appetit, was ja bloß ein Zeichen von Gesundheit is, so is mich das jetzt auch sehr swer, und wenn Du Herr Nottebohm bestellen willst, daß mich allens grämt, denn thust mich ein großen Gefallen. Mußt mich auch schreiben, was er gesagt hat, ob er noch an mir denkt, was ich natürlicheweise nicht verlangen kann, weil ich doch immer zu slecht for ihm war. Abersten wenn er mir mal besuchen will, so will ich ihn zeigen, daß mich allens leid is. Und vergiß nich das Schreiben, wonach ich mir grämen und sehnen thue!

Deine treue Christiane Timmermann!“     

Es war wirklich ein hübscher Brief, und als wir ihn alle in uns aufgenommen hatten, lief ich nach oben, um ihn Herrn Nottebohm zu geben, damit er ihn noch einmal lesen sollte. Aber er war nicht zu Hause und auf seinem Tische lag ein an unsern Vater adressierter Zettel, auf dem er kurz mitteilte, daß er plötzlich habe verreisen müssen und um Entschuldigung bäte, wenn er nicht morgen oder übermorgen wiederkäme. Und wirklich – er kam nicht wieder. Die Brüder jubelten über die unerwarteten Ferien, ich aber konnte mich gar nicht in die Schlechtigkeit Herrn Nottebohms finden, der davongegangen war, ohne meine Arbeiten zu machen und damit das mir gemachte Versprechen einzulösen.

Es war wirklich häßlich von ihm; ich hatte indessen wenig Gelegenheit, meinem Groll Worte zu geben, weil mein Vater plötzlich in die Stadt versetzt wurde und die ganze Familie jetzt nur noch vom Umzug und der bevorstehenden Veränderung sprach.

Inzwischen war denn auch meine freie Zeit abgelaufen und über dem Abschiedsschmerz und allen möglichen anderen Sorgen kam ich erst zur Besinnung, als ich wieder auf meiner stillen Insel saß und Betrachtungen über die Vergänglichkeit aller irdischen Freuden anstellen konnte.

Ob ich diese Gelegenheit benutzte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls aber dachte ich immer seltener an Krischane und den schlechten Herrn Nottebohm, und als ich eines Tages unsere ehemalige Haushälterin wiedersah, da waren doch schon etliche Jahre vergangen.

Ich war bereits konfirmiert, fand es sehr angenehm, von jedermann Fräulein und Sie angeredet zu werden und fühlte mich peinlich berührt, als jemand mir die Hand auf die Schulter legte und mich mit den Worten. „Lieber Gott, klein Deern, bist du es denn wirklich?“ begrüßte.

Dies geschah auf dem Bahnhof zu Neumünster der sich bekanntlich durch seine Gemütlichkeit auszeichnet und mein Zug aus Ostholstein hatte sich gerade so verspätet, daß ich den Zug nach Norden, mit dem ich weiter reisen wollte, noch eben abfahren sah. Nun konnte ich vier Stunden warten, bis ein anderer Zug fuhr, und ich bedachte mich gerade, ob es nicht für eine erwachsene junge Dame zu schimpflich sei, in Thränen auszubrechen, als die eben erwähnte Anrede mich zum hastigen Umblicken veranlaßte.

Da stand eine dicke, sehr wohlwollend aussehende Frau vor mir, die mich jetzt bei der Hand faßte und sie so derb schüttelte, daß ich mich noch mehr verwunderte.

„O ja, klein Deern, du bist es ja! Na, da freu’ ich mir aber, daß ich zu spät zu den vertrackten Zug gekommen bin, der gar nich ein büschen warten thut, was doch unrecht is. O was freu’ ich mir, daß ich Ihnen treffen thu, wo ich immer gedacht hab’, Sie würden mich mal schreiben, abers Leonhard sagte schon, das thäten Sie woll nich, weil daß Sie noch ein büschen klein waren!“

„Christiane Timmermann?“ fragte ich jetzt, als die dicke Frau Atem schöpfte, die denn doch allmählich in das Sie gekommen war, was mir wohlthat. Und sie nickte eifrig.

„Nu, natürlicheweise, wenn unser Herrgott es auch anders beslossen hat, daß ich nich mit mein Vatersnamen zu Grabe gehen soll! Und haben Sie denn gar nix von allen was mich passiert is, gehört? Nein? Na, da hört doch allens auf, wo es doch in die ,Intzehoer Nachrichten’ und auch in die Kieler Zeitung gestanden hat und is all lang her. Und Mutter Bierkraut hat mich doch noch ein Brief geschrieben, ich wär ihr tausend Mark schuldig, weil daß ich ihren Sohn böslich verlassen hätt’! Haben Sie das auch nich gehört? Und daß Fite Bierkraut mit Liese nach Amerika gegangen is und daß es sie hellschen slecht da gehen soll – haben Sie davon auch nix gewußt? Nein doch – Sie [444] wissen rein gar nix, Kind, und da kann ich mir denn auch nich wundern, wenn Sie mir noch Christiane Timmermann nennen, was ja ein Namen is, den ich mit Ehren getragen hab’!“

Wir säßen zusammen in dem dumpfigen Damenzimmer des Bahnhofes, Krischane hatte ihren Capotehut, den einige Federn und Blumen schmückten, abgenommen und wischte sich das Gesicht.

„Was freu’ ich mir!“ sagte sie noch einmal und strich über meine Hände. „Abersten ich freu’ mir noch mehr, wenn Sie mal nach Krempe kommen wollen, denn ich hab’ ein Fremdenzimmer und Krempe is wirklich ein’ schöne Stadt. Da is nix von ,mit Verlaubnis’ zu sagen bei das sagen die Leute bloß aus Neid, wenn sie nich in Krempe wohnen, und nirgends anderswo möcht’ ich begraben sein. Leonhard sagt das auch. Wo er doch was von die Welt gesehen hat und zweimal in Hamburg gewesen is und beinahe bei die Dänens!“

„Herr Nottebohm?“ fragte ich zweifelnd, und sie lachte über das ganze Gesicht.

„Nu ja, das is so all lang’ mein Mann. Abersten ich nenn’ ihm Leonhard, weil ihn diesen Namen in die heilige Taufe beigelegt is und ich doch auch sein’ Ehefrau bin. Is ein guten Mann, klein Deern, und wenn ich auch damalen ein büschen doll auf ihm war, weil daß er meinen Brief zu slecht fand, so hatt’ er ihm ja doch nich gelesen, weil er zu viel Briefens auf sein Heiratsgesuch kriegte. Es war kein’ Slechtigkeit von ihn, daß er in die Zeitung eine Frau suchte und ein büschen dabei log. Männers sind anders als wir und dann sehnte er sich nach ’n Ehestand und nach ein’, die ein büschen for ihm sorgte. Liebe Zeit, ich hatt’ ihm ja all lang’ lieb, bloß daß ich ihn das nich merken lassen wollte, und als die Erbschaft kam, hätt’ ich ihm gern gefragt, ob er mir nu wollte. Abers ich konnt’ das doch nich, weil es gegen die christliche Bescheidenheit is, und so nahm ich denn Fite, weil er doch auch ein nüdlichen Jung’ war. Daß er Liese gern leiden mocht’, kümmerte mir nich weiter; im Grund von meinen Herzen mocht’ ich ja auch Nottebohmen lieber als ihm, abersten ich hätte Fite mein Wort gehalten, wohingegen er – sie schöpfte Atem und schüttelte den Kopf. „O, was for alte Geschichtens – abers ich denk’ gern daran! Wie ich in Krempe saß mit all mein Smerz und Aerger und denn ümmerlas an Nottebohmen denken mußt’, und wie mich dann der liebe Gott die Feder in die Hand drückt’, daß ich an Ihnen schreiben muß, und wie Leonhard den Brief in die Posttasche findet und ihm liest. Und wie sein Herz slägt und er zu mich reist und mit einmal vor mich steht und sagt: „Krischane, ich habe Sie immer geliebt! Wollen Sie die Meine werden? O Kind, was ’n schönen Augenblick! Allens war vergessen, alle Smerzen, aller Verdruß, und auch das Geld, was mich Bierkrautsch gekostet hat. Gott – überhaupt, was is mein Leonhard gut! Und so eigen! Wenn er nich so eigen gewesen wär’, denn hätt’ er ja auch damalen ein’ von die Frauenzimmers genommen, die sich auf sein Heiratsgesuch meldeten. Abers er hatte kein’ ein Brief leiden mögen. Und meinen Antrag hatt’ er nich gelesen!“

Frau Nottebohm, geborene Timmermann, hatte ihre Erzählung vollendet, wischte sich die Augen und lehnte sich in dem unbequemen roten Plüschsofa zurück, das sie eigentlich ganz ausfüllte. Ich hatte gespannt zugehört und sagte jetzt einige herzliche Worte, die sie mit Befriedigung erfüllten. Dann vertieften wir uns in gemeinsame Erinnerungen, und die ganze schöne Ferienzeit der zwei Sommer wurde wieder in mir lebendig.

„Ja, es war doch eine schöne Zeit!“ wiederholte Krischane immer aufs neue.

„Also, Fite Bierkraut ist in Amerika?“ fragte ich endlich und Krischane nickte.

„Mit Liese und mit sechs Kinders. Als ich Mutter Bierkraut sagte, daß ich ihm nich wollte, weil daß er treulos gewesen war, is er gleich fortgelaufen und is auch nich wiedergekommen. Ich glaub’, er hat ein Stelle in Kiel gekriegt, da ist denn Liese auch hingekommen und von da sind sie bald nach Amerika gegangen. Abers slecht haben sie es, hellschen slecht und sechs Kinders!“

Sie hielt im Sprechen inne und seufzte. „Ich hab’ kein ein Kind und bei uns is das oft still,“ fuhr sie langsam und zögernd fort. „Leonhard sitzt bei sein Toppographie und bei die Pfeife und bei ’n Glas Punsch, und manchmal geht er auch zu Wirtshaus, abers still is das! Und wenn ich mich bedenke, daß ich gar nich weiß, wer unser Kram erben soll – ich halt allens gut zusammen, und es is ein büschen mehr geworden – und wenn ich bedenk’, daß Fite Bierkraut sechs Kinders hat und vielleicht hungert“ – sie stockte und schob sich ihren Hut wieder grade. „Ja, nu sag’ ich Ihnen das allens und nu kommt der Mann und sagt meinen Zug an. Könnt’ er nu nich ein büschen warten? Abers so is das – allens zur Unzeit! Freuen aber thu ich mir, daß ich Ihnen gesehen hab’, ganz gräsig. und wenn ich nach Haus komm’, denn darf ich Leonhard grüßen, nich? Er kommt nich mehr viel auf der Eisenbahn, weil daß er lieber in Lehnstuhl sitzt und ein büschen liest und ein büschen nachdenkt, abers freuen wird er sich. Ganzen gewiß!“

Ich hatte Frau Nottebohm an den Zug gebracht und sie sprach fortwährend, bis die Lokomotive pfiff und die Wagen sich in Bewegung setzten. Auch wehte sie mir so lange wie möglich mildem Taschentuch zu und rief noch einmal etwas über ihr Fremdenzimmer.

Das habe ich nun doch nicht benutzt, als ich aber nach einigen Jahren in der Zeitung die Anzeige las, daß der Kandidat der Theologie, Herr Leonhard Nottebohm, plötzlich am Schlagfluß gestorben sei und von seiner Witwe Christiane tief betrauert werde, da habe ich ihr meine Teilnahme in einigen herzlichen Worten brieflich ausgedrückt und auch nach mehreren Monaten eine Antwort erhalten, die noch heute in meinem Besitz ist. Sie ist allerdings außerordentlich schlecht geschrieben, bedeutend schlechter als der erste Brief, den ich von Krischane erhielt aber ich habe sie doch ganz allein lesen können, und ein Satz in dem Briefe wird auch denen gefallen, die meine Erzählung bis hierher begleitet haben. Er lautet nämlich:

„Weil ich nu doch, bei allen Smerz dankbar sein muß, daß unser Herrgott mich mein Leonhard so lang gelassen hat so ist es mich auch ein Trost, daß Fite Bierkraut wieder zurück is aus Amerika und nu hier in meine Straße wohnt. Er hat ein klein Hökerei gepachtet und ich hab’ ihn Geld geliehen, weil daß er all die Kinders hat. An Liese is nich viel, das muß ich in Aufrichtigkeit sagen, abersten sie hat ein klein Jung, der is ganzen süß. Der wohnt bei mich und ich laß ihn was lernen und ich hab’ ein Testament gemacht. Die andern kriegen ja natürlich auch was, er aber das meiste. Denn er sieht mein seligen Leonhard ähnlich und neulich wollt er auch patuh Schröder sein Toppographie haben, was mein seligen Mann nie ausgekriegt hat. Nu kann er es ja zu Ende lesen!“


Nervöse Angstzustände.

Von Dr. Otto Dornblüth.

Man hat das menschliche Gehirn als Träger der geistigen Verrichtungen mit einer photographischen Platte verglichen; wie hier die Lichtstrahlen, prägen sich dort die Wahrnehmungen aller Sinnesorgane ein, mehr oder weniger deutliche Spuren hinterlassend.

Aber die Aufnahmeorgane des Gehirns sind kein abgelöster und auswechselbarer Teil, sondern sie bleiben in enger Verbindung miteinander, wie groß auch die Zahl der aufgenommenen Bilder im Laufe des Lebens werden mag, und zugleich werden sie durch zahllose Fäden mit dem ganzen Körper in Beziehung gehalten. Jeder Sinneseindruck und ebenso jeder Gedanke erregt im Körper einen Widerhall. Für zahlreiche Fälle lassen sich diese Rückwirkungen, wie Professor Mossy gelehrt hat, nur durch seine Instrumente nachweisen und messen, sehr viele Wahrnehmungen und Vorstellungen dagegen verraten auch der einfachen Beobachtung ihre Fernwirkung durch Erröten oder Erblassen verstärkte oder beschleunigte Herzthätigkeit, durch Zittern, Blinzeln, mimische oder allgemeine Unruhe und andere Zeichen einer Erregung der Arterien- oder der Muskelnerven. Die mit so deutlicher körperlicher Veränderungen verbundenen Vorgänge in unserem Geiste nennt man Gemütsbewegungen oder

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Die Tiger des Berliner Zoologischen Gartens.
Nach dem Leben gezeichnet von Anna Matschie-Held.
Turan-Tiger.
Bengalen-Tiger.   Sumatra-Tiger.
Amur-Tiger.

[446] Affekte. Jedermann kennt aus Erfahrung den körperlichen Ausdruck der verbreiteten Affectarten Zorn, Furcht, Schreck, Schmerz, Freude, Trauer usw.

Die gesteigerte Empfindlichkeit des Nervensystems, die wir als Nervosität zu bezeichnen pflegen, spricht sich auch in einem erhöhten körperlichen Wiederhall der Sinneseindrücke und Vorstellungen aus. Ein Geräusch, das der Gesunde vielleicht gar nicht bemerkt, läßt den Nervösen zusammenfahren, der Gedanke an ein verabredetes oder mögliches Zusammentreffen, an eine bevorstehende Eisenbahnfahrt, eine ärztliche Untersuchung oder Operation versetzt ihn in eine allgemeine Unruhe, deren körperliche Zeichen dem unbeteiligten Beobachter vielleicht lächerlich vorkommen, für den Beteiligten aber einen qualvollen Erwartungsaffekt bilden. Oft genug kommt es dabei zu einer wirklichen Angst, die alle geistigen und körperlichen Zeichen der begründeten Furcht aufweist. Man versteht eben unter Angst nichts weiter als eine Furcht ohne genügenden Grund. Einen ähnlichen Affekt, der in zu lebhafter Rückwirkung von Vorstellungen auf das allgemeine Empfinden und das körperliche Verhalten wurzelt, finden wir bei vielen Nervösen in der übermäßigen Furcht vor dunklen Räumen oder vor Dieben und Einbrechern, die sich unter dem Bett oder im Kleiderschrank verborgen haben könnten. Festere Naturen pflegen über solche „Einbildungen“ recht hart zu urteilen, aber die Erfahrung zeigt, daß alles Zureden mit Güte, Ernst oder Spott keine Aenderung in dem ängstlichen Verhalten hervorbringt. Ebenso ist auch die Ueberhastung vieler Nervöser bei ihrer täglichen Arbeit, in dem oft kaum bewußten ängstlichen Gefühl, nicht rechtzeitig fertig zu werden, fast nie durch Belehrung und Zuspruch zu überwinden. Auf die Dauer tröstet man sich dann gewöhnlich damit, daß so eine „aufgeregte Natur“ eben nicht zu ändern sei und so, wie sie ist, verbraucht werden müsse.

Immerhin kann auch der Fernerstehende sich mit einigem Nachdenken ebensogut in diese Eigentümlichkeiten nervöser Mitmenschen versetzen, wie er ihre Empfindlichkeit gegen Geräusche und manche andere ihrer Schwächen begreift. Oft wird allerdings der Grund des Fehlers etwas pharisäisch im Charakter, nicht in einem krankhaften Zustande gesucht. So lange eine große Zahl von Aerzten diese Ansicht teilt, kann man dem Laien gewiß keinen Vorwurf daraus machen. Völlig aber pflegt das Verständnis und oft auch das Mitleid zu versagen, wenn der Leidende eine Angst äußert, die er sich selbst nicht deuten kann, die er vielleicht geradezu für unsinnig erklärt, ohne sich doch davon frei machen zu können.

Auch in der Wissenschaft galt es als ein Kuriosum, als im Jahre 1872 der seitdem verstorben große Berliner Irren- und Nervenarzt Professor Westphal als erster die Agoraphobie oder Platzangst beschrieb. Sie besteht in dem von schwerer Angst und körperlichen Mißempfindungen, oft von dem Gefühl augenblicklich drohender Vernichtung begleiteten Unvermögen, einen freien Platz zu überschreiten. Die Unfähigkeit hat mit dem früheren Charakter, mit dem Mut des Betreffenden gar nichts zu thun, sie ist wiederholt bei Menschen beobachtet worden, die vorher unzweifelhafte Proben hohen Mutes abgelegt hatten und sich nach ihrer Genesung oder auch während der Krankheit in anderen Dingen tapfer und entschlossen gezeigt haben. Seit die Nervenheilkunde diese Zustände beachten gelernt hat, weiß jeder Fachmann, wie häufig und wichtig sie sind. In Laienkreisen werden sie allerdings fast immer noch als eine unbegreifliche Einbildung oder als Ausfluß einer gewissen Verschrobenheit aufgefaßt. Dieser Zustand betrifft indessen häufig Personen, die zwar nervös beanlagt sind, aber im übrigen durchaus den Eindruck gesunder Menschen machen und unmittelbar vorher und nachher ohne jede Beschwerde ihren Geschäften und oft schweren Berufspflichten nachgehen. Gewöhnlich entsteht die Platzangst erst in dem Augenblick, da der dazu Beanlagte auf einen freien Platz heraustritt. Ohne daß er vorher gedacht hat, daß sich etwas Besonderes ereignen würde, befällt ihn plötzlich Angst, Herzbeklemmung, die Furcht vor etwas Unbekanntem und Unbestimmtem. Heftiges Herzklopfen, kalter Schweiß, Frost oder Hitze kommen hinzu, die Beine versagen, es wird dem Kranken schwarz vor Augen und er sieht die völlige Unmöglichkeit ein, den freien Raum zu überschreiten. Zuweilen gelingt es dem Unglücklichen, die Schwierigkeit zu überwinden, indem er sich an andere Fußgänger oder an einen vorübergehenden Wagen anschließt. In leichteren Fällen kann der Kranke wohl auch mit einem Spazierstock in der Hand den Platz überschreiten, während es ihm ohne diesen Schutz nicht möglich war. Der französische Nervenarzt Legrand du Saulle hat einen Fall berichtet, wo ein Offizier Platzangst bekam, wenn er in Civil über einen bestimmten Platz gehen wollte, während es ihm in Uniform und mit dem Säbel an der Seite keine Schwierigkeit machte. In schwereren Fällen giebt es jedoch kein Mittel, der Schwäche zu entrinnen. Nicht selten sind dann auch das Kreuzen breiter Straßen, das Ueberschreiten einer Brücke, das Gehen zwischen langen geschlossenen Häuserreihe erschwert oder unmöglich. Einer meiner Patienten konnte nur auf die Weise spazieren gehen, daß er eine Droschke in geringer Entfernung seinen Spuren folgen ließ und „schwierige Strecken“ fahrend überwand. Zahlreiche Kranke mit Platzangst, die sich zur Straßenangst ausgedehnt hat, kommen schließlich dahin, Monate und Jahre hindurch ihre Wohnung nicht zu verlassen. Manchen sind nicht leere, sondern belebte Straßen hinderlich, bei anderen wechselt das Verhalten, z.B. je nachdem sie den schwierigen Punkt in der Richtung von ihrem Hause zu ihrem Geschäftslokal oder auf dem Rückwege zu überwinden haben, und so weiter.

Die Platzangst ist aber nur eine Form der neurasthenischen Angst, und nicht einmal die häufigste. Zahlreiche Nervöse bekommen Angst, wenn sie in geschlossenen Räumen, z.B. in einem kleinen Zimmer oder im Eisenbahncoupé sind. Manchen darunter wird es leichter, wenn sie dann wenigstens nicht allein sind, anderen ist gerade das Zusammensein mit Menschen im engen Räumen peinlich. Wieder andere bekommen die Angst gerade in großen Räumen und können deshalb keine Kirche, kein Theater, keine Versammlung besuchen oder müssen dort wenigstens einen Eckplatz haben, der ihnen für den Fall der Not das Entkommen erleichtert. Längst nicht immer, wie manchmal geglaubt wird, giebt die Befürchtung eines möglichen Unglücksfalles den Grund für dies Verhalten ab, viel öfter ist es die Angst vor dem Nichtwegkönnen. Ich kannte einen Neurasthenischen, der unter Fremden nur mit Beklemmungen zu Tisch ging, in der Befürchtung, während der Mahlzeit einen Angstzustand zu bekommen und dann nicht ohne Aufsehen fortgehen zu können. Anderen ist es nicht möglich, sich rasieren zu lassen oder sich auf den Operationsstuhl eines Zahnarztes zu setzen, rein aus Furcht vor der Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Obwohl sie gar nichts Bestimmtes befürchten, haben sie geradezu eine Angst vor der möglicherweise eintretenden Angst.

Viele Nervöse können nicht auf einen Balkon oder an ein hochgelegenes Fenster treten, ohne heftige Angst zu bekommen – eine Steigerung des noch im Bereich des Gesunden gehörenden Höhenschwindels. Hier läßt sich also wenigstens eine bestimmte Beziehung, eine gewisse Begründung des peinlichen Gefühls nachweisen. Aehnlich liegt es bei solchen, die einen hohen Saal oder eine Brücke deshalb nicht betreten können, weil sich ihnen die Möglichkeit des Einsturzes aufdrängt. Hierher gehören auch die übertrieben Angst vor Gewittern, vor Tieren, besonders vor Hunden, Kuhherden, Schlangen, Spinnen, Mäusen, Bienen und Ungeziefer, ferner vor der Dunkelheit, namentlich vor dem Alleinsein im Dunkeln, vor Explosionen, vor dem Herabstürzen von Kronleuchtern, vor dem Durchgehen von Pferden, vor dem Umstürzen des Wagens oder dem Entgleisen der Eisenbahn usw. Es ist unmöglich, alle die Gelegenheiten aufzuzählen, wo ein von Gesunden im ersten flüchtigen Auftauchen unterdrückter Gedanke für den Nervösen zur Quelle schwerer, überwältigender Angst wird. Bei leichterer Nervosität kommt es nicht zu so ausgesprochen krankhaften Empfindungen, aber man verspürt doch bei den bekannten Gelegenheiten ein gewisses Unbehagen. Ob nur einer oder einzelne von den angedeuteten Anlässen die unangenehme Wirkung haben, oder ob jede derartige Situation die peinlichen Empfindungen hervorruft, hängt teils von dem Grade der Krankheit, teils von besonderen Veranlassungen ab. Es ist ohne weiteres klar, daß jemand, der einmal einen Brückeneinsturz, ein Eisenbahnunglück, eine Feuerpanik miterlebt hat oder etwa durch Angehörige daran beteiligt war, sich besonders leicht die Wiederholung eines solchen Vorganges ausdenken kann. [447] Häufig ist allerdings gar kein Grund für die besondere Angst aufzufinden.

Lange nicht alle Nervösen leiden an solchen Furchtzuständen, und das ist in der That ein Glück, denn es giebt wenige Leiden, die so das Leben verbittern. Gewöhnlich schwankt auch der Grad der Empfindlichkeit sehr erheblich, ebenso wie das Befinden der Nervösen überhaupt. Viele Kranke wissen genau, daß sie die peinigenden Befürchtungen nur bekommen, wenn sie gerade überarbeitet sind oder Aufregungen gehabt haben, oder auch nach einer Unmäßigkeit im Alkoholgenuß. Viele verlieren jede Andeutung davon, sobald sie eine Erholungsreise machen oder ihren Wohnort wechseln, und schon mancher hat daraufhin an die zauberhafte Wirksamkeit einer an fremdem Orte unternommenen Wasserkur u.dgl. geglaubt, aber nach seiner Rückkehr in die gewohnten Verhältnisse auch die Rückkehr des alten Leidens erlebt.

Mit den geschilderten Zuständen ist jedoch das Gebiet der neurasthenischen Angst noch lange nicht erschöpft. Wir haben jene wesentlich deshalb in den Vordergrund gestellt, weil sie auf den ersten Blick faßlich und einigermaßen verständlich erscheinen. Es giebt aber außerdem noch eine inhaltlose, an keine besonderen Vorstellungen gebundene Angst. Der davon Befallene bekommt plötzlich, oft ohne bekannten Anlaß, manchmal nach einer Ueberanstrengung oder Ueberreizung, ein Angstgefühl, für das er keinen Grund angeben kann. Meistens empfindet man so, als säße die Angst in der Magengrube, mit dem Gefühl eines Druckes und einer Beklemmung, die den Atem versetzt, übrigens aber dem Grade nach zwischen starker Unbehaglichkeit oder treibender Unruhe und dem Gefühl augenblicklich drohender Vernichtung wechselt. Andere glauben zu fühlen, wie die Angst ihnen das Herz wie mit eisernen Klammern anpackt und hinundherbewegt, bald unter heftigem, oft sehr beschleunigtem Herzklopfen, bald unter starker Verlangsamung des Pulsschlages. Wieder anderen schnürt die Angst die Kehle zusammen, so daß sie sich räuspern und krampfhaft atmen, um das Hindernis zu beseitigen. Seltener wird das Angstgefühl in den Kopf verlegt, dann verknüpft es sich leicht mit der Befürchtung, daß die Sinne schwänden oder daß man den Verstand verliere. Es kommt auch vor, daß die Angst den ganzen Körper einzunehmen scheint. Immer aber steht in diesen Fällen ein körperliches Angstgefühl im Vordergrunde, für das die Kranken keine nähere Erklärung geben und das sie auch nicht näher beschreiben können. Die Befürchtung des unheilvollen Ausganges, des qualvollen Zustandes ist nur die logische Folge seiner vernichtenden Gewalt. Auch Kranke, welche zahlreiche solche Angstanfälle gehabt haben – die Angst ist selten dauernd, gewöhnlich kommt sie in einzelnen Anfällen und in der Zwischenzeit vollkommen von der Ungefährlichkeit des Zustandes überzeugt sind, unterliegen regelmäßig das nächste Mal wieder seiner überwältigenden Macht.

Mit dem Angstgefühl verbinden sich häufig Schweißausbruch am ganzen Körper oder an der Stirn oder an den Handflächen, ferner Gänsehaut, Schaudern, Zittern, manchmal eine Art Schüttelfrost, Sodbrennen, Uebelkeit, Heißhunger und andere Reizungen der Verdauungsorgane, endlich Schwindel, das Gefühl der Ohnmacht oder des Versagens der Beine usw. Auch eigentümliche Gefühlstäuschungen kommen als Begleiterscheinungen des Angstanfalls vor, z. B. das Gefühl, als ob plötzlich die Finger oder der ganze Körper sehr groß oder sehr klein würden, als ob eine Kugel vom Magen aufwärts steige. Bemerkenswert ist, daß manchmal die als Ausdruck der Angst beschriebenen Empfindungen so überwiegen, daß der Kranke in seinem Bericht die Angst gar nicht erwähnt und nur von einem Anfall von Zittern, Schwäche, Atemnot, Herzklopfen, Heißhunger u. dergl. spricht. Oft sind z. B. die Zufälle von abnorm leichtem Erröten oder Erblassen nichts als ein mäßiger Angstanfall. Jedenfalls sind sie, ebenso wie manche hohen Grade von Verlegenheit und Befangenheit, den nervösen Angstzuständen nahe verwandt.

Im allgemeinen kann man sagen, daß die vorstellungslose Angst auch bei leichteren Graden und bei vorübergehender Neurasthenie vorkommt, während die Platzangst und die ihr verwandten Zustände mehr der chronischen, in der ganzen Anlage des Kranken wurzelnden Neurasthenie eigen sind. Gemeinsam ist allen Arten, ganz im Gegensatz zu den eigenen Empfindungen des Leidenden, ihre völlige Ungefährlichkeit. Weder das Leben noch der Verstand werden wirklich davon bedroht. Gemeinsam ist ihnen auch die Heilbarkeit, man sieht nicht selten Angstanfälle, die jahrzehntelang häufig wiedergekehrt waren, schließlich von selbst sich abstumpfen und verschwinden. Und was noch wertvoller ist: eine vernünftige ärztliche Behandlung kann leichtere und frischere Angstzustände sehr schnell, und sehr oft auch eingewurzelte Angst durch planmäßiges und geduldiges Vorgehen völlig beseitigen. Freilich darf man sich nicht einbilden, durch Zuspruch, Aufrütteln, Verhöhnen oder durch Ablenkung auf Zerstreuungen oder körperliche und geistige Arbeit eine solche Krankheit beseitigen zu können. Ich habe, um von wissenschaftlichen Schriften hier abzusehen, schon in meinem populären Büchlein „Gesunde Nerven“ (Rostock, W. Werthers Verlag, 1. und 2. Auflage 1896) auf das Verkehrte und Schädliche dieser Ansichten hingewiesen, die leider noch in vielen Köpfen spuken. Ruhe und vernünftige Ernährung und Körperpflege, unterstützt durch eine dem Einzelfall angepaßte milde Wasserbehandlung, gegebenen Falls auch durch Elektrotherapie und Massage, dazu die Leitung eines erfahrenen Arztes, der auch die geistigen Hilfen für jede Eigenart herauszufinden und machtvoll zu benutzen weiß, können zahlreiche Angstkranke von ihrem Leiden befreien, für alle schwereren und eingewurzelten Fälle sind außerdem zur gründlichen Heilung gewisse Arzneimittel, in kurmäßiger Darreichung, nicht als planlos angewandte Linderungsmittel, heranzuziehen. Zum Glück ist Deutschland, so schwer auch gemeinhin die Pflege der Nervengesundheit und die Behandlung der nervösen Krankheiten vernachlässigt wird, nicht arm an Sanatorien und an Aerzten für diese entsetzlichen Leiden!


Blätter und Blüten.

Die Tiger des Berliner Zoologischen Gartens. (Zu dem Bilde S. 445.) Es ist seit langer Zeit bekannt, daß die Tigerfelle nicht nur individuell, sondern auch je nach ihrer Heimat sehr verschieden aussehen. Einer wissenschaftlichen Untersuchung dieser einzelnen Abänderungen wird der hohe Wert des Pelzwerkes sehr hinderlich, und selbst in den größten zoologischen Museen ist darum das Vergleichsmaterial nur spärlich vorhanden. Beim Besuch von zoologischen Gärten konnte man bisher nur zwei gut unterschiedene Tigerformen beobachten, den Bengalen-Tiger und den kleineren, stärker gestreiften Insel-Tiger. Eine langhaarige Abart wird in der Litteratur öfter erwähnt und ist auch hier und da in Gefangenschaft gehalten worden. Einen ganz erheblichen Fortschritt in der Lösung dieser ebenso schwierigen als interessanten Frage verdanken wir dem thatkräftigen Eintreten des Herrn Dr. L. Heck, Direktors des Berliner Zoologische Gartens, mit dessen Hilfe schon über eine ganze Reihe sehr wichtiger zoologischer Probleme Licht verbreitet worden ist. Es gelang ihm, allerdings unter Aufwendung erheblicher Kosten, zwei sehr eigentümliche und noch niemals importierte Abarten des Tigers für den Berliner Garten zu sichern. so ist es nun möglich geworden, Tiger aus vier verschiedenen Gebieten Asiens unmittelbar miteinander zu vergleichen. Diese seltene Gelegenheit hat sich die „Gartenlaube“ nicht entgehen lassen, um ein Bild der merkwürdigen Riesenkatzen den Lesern vorzuführen. Das Blatt auf welchem meine Frau die sechs Exemplare des Berliner Zoologischen Gartens vereinigt hat, liefert getreue und lebenswahre Porträts der vier Tigerformen. Der merkwürdigste unter den Berliner Tigern ist jedenfalls derjenige, von welchem Männchen und Weibchen oben auf dem Bilde sich befinden. Die lange Halsmähne, wie der kurze, hochbeinige Körper geben ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Löwen. Ganz auffallend ist die scharf eingeschnittene, fast eingedrückte Nase bei dem Männchen, bei dem Weibchen ist dieses Merkmal nicht so stark ausgeprägt. Dieser Tiger ist in der Färbung der dunkelste von allen vieren und auch am stärksten gestreift. Sein Farbenton ist gelbbraun mit einem Stich ins Rötliche. Die beiden Exemplare (das am Boden liegende Tier ist das Weibchen) haben sich, trotzdem sie zunächst nach ihrer Ankunft von der Reise recht mitgenommen waren, unter verständiger Pflege als sehr zutraulich erwiesen. Sie nehmen es sehr gern an, wenn ihr Wärter, der bekannte Penz, die in Zonen sich ablösenden Winterhaare ihnen aus dem Fell krault. Sie haben einen sehr lebhaften Charakter und sind manchmal gegeneinander so ungemütlich, daß man sie bisweilen hat trennen müssen. Die Heimat dieser Tiere, welche über Tiflis in Transkaukasien importiert worden sind, liegt wahrscheinlich in der Nähe des Südufers des Kaspischen Sees, in den nördlichsten Gebieten von Persien. Ich habe nachgewiesen, daß Tiger, welche [448] die oben erwähnten Merkmale tragen, nur im aralokaspischen Gebiet, also in Turan, dem nördlichsten Persien und in den Kirgisensteppen leben. Im mittleren und südlichen Persien tritt der Löwe an die Stelle des Tigers, und diese Nachbarschaft spricht sich schon in der äußeren Erscheinung des Turan-Tigers aus. Löwe und Tiger sind nach meiner Ansicht geographische Abarten einer und derselben Tierform, wofür ja auch die tatsächlich wiederholt beobachtete fruchtbare Vermischung beider spricht.

Unten auf dem Bilde ist das zweite Paar der frisch importierten Tiger dargestellt, ebenfalls eine sehr interessante Form, die noch niemals im westlichen Europa gezeigt worden ist. Sie sind mit ihren dicken Köpfen und kurzen dicken Beinen die plumpsten und massigsten unter ihren Genossen. Dieser Eindruck wird noch vermehrt durch die ihnen eigentümliche Wamme am Halse und Unterleib und durch den außerordentlich dichten und weichen Pelz, der namentlich den Schwanz sehr dick erscheinen läßt. Die Färbung der sehr phlegmatischen Gesellen ist ockergelb mit einem Stich ins Graue, das Weibchen, welches liegend dargestellt ist, erscheint etwas zierlicher als das Männchen. Die Querstreifen sind bei dieser Form nicht schwarz, sondern braun, und in der Zahl und Breite stehen sie in der Mitte zwischen denen beim Insel- und Königs-Tiger. Wie mir Herr Hagenbeck freundlichst mitteilte, hat er die Tiger von einem russischen Händler erhalten, sie sind über Land von Ostsibirien gekommen. Mit seiner Angabe stimmen die Ergebnisse meiner Untersuchungen sehr gut überein, und ich glaube, daß diese Tiger im Amurgebiet heimisch sind.

Die in der Mitte des Bildes dargestellten Tiger, der Bengale laufend, der Sumatraner liegend, beides Männchen, sind allen Besuchern zoologischer Gärten so wohl bekannt, daß ich mir eine genaue Beschreibung derselben wohl erlassen darf. Beide sind direkte Gegensätze, soweit es die gleiche Art zuläßt; der Bengale, seiner Zeit von Herrn Schönlank geschenkt, ist ein wunderbar schönes Exemplar von ebenso imposanten wie harmonischen Formen und herrlichem Sammetfell, dabei freundlich und harmlos, soweit dieses einem Tiger möglich ist. Der Sumatraner dagegen ist, wie Heck in dem „Hausschatz des Wissens“ ebenso schön wie richtig sagt, ein unversöhnlich böser, aber herrlich charaktervoller Satan. Er hat meiner Frau fast mehr Schwierigkeit als Modell gemacht als alle übrigen zusammengenommen.

Von anderen Formen des Tigers sind mir außer den vier oben erwähnten noch folgende bekannt. In Hamburg und London sah ich Exemplare, welche über Wladiwostok importiert waren. Dieselben sind langhaarig, dickschwänzig und gewaltig groß, haben ungefähr die Gestalt des Bengalen-Tigers, sind sehr blaßgelb und die Streifung ist wenig scharf begrenzt und weit. Ich halte diese Tiger für die Abart, welche für das Hoanghogebiet charakteristisch ist. Der Yantse-Kiang-Tiger, den ich in Paris sah, ist sehr rot, ebenso groß wie der Königs-Tiger, aber viel enger gestreift. Der Java-Tiger ist dem Sumatra-Tiger ähnlich, aber kleiner und unten hellgelb. Sehr eigentümlich war ein kleiner, zierlicher Tiger, der als Diminutivausgabe des Hoangho-Tigers angesehen werden könnte. Ihn sah ich bei Hagenbeck; diese Abart soll von Korea stammen. Ich glaube aber aus zoogeographischen Gründen, daß auf Korea der große Hoangho-Tiger lebt und daß die Zwergform ihr Vaterland in dem abflußlosen Mittelasien zwischen Altai und dem Tarimbecken hat. P. Matschie.     

Am Ausguck.
Nach einer Originalzeichnung von H. Kaulbach.

Der Ehevertrag. (Zu dem Bilde S. 432 und 433.) Der bekannte spanische Maler Viniegra y Lasso führt uns in dem Bilde die Schließung eines Ehevertages in der Sakristei vor. Das Bräutchen ist ein allerliebstes Exemplar jener fächerschlagenden Pepitas oder Lolas, wie man ihnen in den Delicias, den prachtvollen Promenaden von Sevilla, begegnet. Ob dem ehrenwerten Sevillaner aber zu ihrem Besitz zu gratulieren war? Hier macht’s den Eindruck, als sei er etwas verwirrt; – beinahe hätte er seinen Namen an die unrechte Stelle gesetzt, wenn der Herr Pfarrer ihn nicht zurückgehalten und ihm die richtige gewiesen hätte. Pepita hat’s bemerkt – sie ist so leicht nicht aus dem Konzept gebracht. „Der gute Junge – ich werd’ ihn mir erziehen müssen,“ scheint der spöttische Zug um den Mund zu sagen, während sie langsam den Fächer hin und her bewegt. Sie hat dabei nicht vergessen, daß der Saum ihres Brautkleids auf den Kirchenfliesen leiden könnte, und weiß genau, wie sie die Schleppe aufzuheben hat, um ihre kleine Hand aufs vorteilhafteste zu zeigen. In holder Unbefangenheit beobachtet dagegen ihre jüngere Schwester den Vorgang am Tisch – lange wird’s nicht währen, da nimmt sie wohl selbst den Platz der Braut dort ein. In ernstes Erinnern an die Vergangenheit scheint die Mutter versenkt, die Hände im Schoß gefaltet, während der Trauzeuge ihr zur Seite mit gespannter Aufmerksamkeit auf das Wort des Pfarrers wartet, das auch ihn zum Eintragen ins Kirchenbuch rufen wird. Träge auf ihrem Stuhl dahingegossen, die kleinen Füße im Absatzschuh nachlässig vorgestreckt, ruht rechts von der Mutter eine anmutige Frau, die sicher unlängst erst den Bund fürs Leben schloß. Neben dem Prosit der Schwester hebt sich in wirksamem Kontrast der schöne Kopf einer nicht mehr ganz jungen Brünetten in schwarzer Mantille ab. Sie kennt die Welt und lächelt eben über die naive Frage, die eine reich geschmückte junge Anverwandte ihr zuflüstert. Mit schlauer Verständigkeit schaut der Letzte der Gruppe – ein echter Andalusier – über die andern hinweg nach der Hauptperson. Gil aber, der Kirchendiener, ist einer Scene gegenüber, die sich so oft vor ihm erneuert, völlig teilnahmlos und nur bemüht, seine Hände über dem letzten Rest der Kohlen des Braseros zu erwärmen. Große Sorgfalt hat der Maler auf den Raum verwendet, in dem die Scene sich abspielt. Man könnte meinen, er habe seine Studien in der Sakristei des Sevillaner Domes selbst gemacht. Schade nur, daß man durch das Gitter nicht gleich in diese herrlichste aller spanischen Kirchen eintreten kann! C. B.     

Die Fabrikschornsteine und der Wind. Es dürfte den wenigsten Lesern bekannt sein, daß die hohen Schornsteine der Hüttenwerke und Fabriken sich bei starkem Winde genau so verhalten wie ein Baum oder Rohr. Trotz ihrer vorzüglichen Materialien, ihrer sorgfältigen Bauweise und einer Stärke, die mitunter 3 bis 5 m erreicht oder übersteigt, bilden diese bisweilen kirchturmhohen Obelisken der Industrie im Sturm keine starren Körper, sondern elastische, pendelnde Säulen. Die 140 m hohe Halsbrückener Esse bei Freiberg i. S. schwankte, durch einen Theodolithen beobachtet, bei einem Sturm von 16 m Geschwindigkeit in der Sekunde mit der Spitze um 5 bis 10 cm hin und her, wobei die Mündung regelmäßige Ellipsen um ihre Axe beschrieb. Und doch ist diese Windstärke, die auf den Quadratmeter Fläche einen Druck von 31 kg ausübt, keineswegs ungewöhnlich groß. In den Niederlanden sind Winddrucke bis 150, in Paris 173, in Wien 190 kg beobachtet worden. An umgestürzten Schornsteinen hat Hänisch berechnet, daß einzelne Windstöße bis zu 200 kg Druck entwickeln können, und Eisenbahnbeobachtungen haben ähnliche Ziffern geliefert. Solchen Wirkungen vermag natürlich nur ein mit guter Berechnung gebauter Schornstein Trotz zu bieten, und da mit Beginn der neueren Industrieepoche, als man noch keine Ahnung von den wirklich vorkommenden Winddrucken hatte, die Schlote ohne weiteres nach alten Bauregeln aufgeführt wurden, mußte notwendig einmal eine aufklärende Katastrophe erfolgen. So warf denn ein starker Orkan, der am 12. März 1876 über die rheinische Industriegegend hinfuhr, mit einem Schlage 90 große Fabrikschornsteine um. Infolge dessen forderte man laut eine polizeiliche Ueberwachung der Stabilität der Schornsteine, und als 1879 durch den schrecklichen Einsturz der Taybrücke die Gewalt des Sturmes noch einmal auf unwiderlegliche Weise klargemacht wurde, erfolgte im Bau der Schornsteine ein wesentlicher Umschwung. Die Technik ist so weit fortgeschritten, daß heute selbst sehr hohe Schornsteine gegen einen Winddruck von 300 kg gesichert werden können. Bw.     


Kleiner Briefkasten.

Frau E. M. in Berlin.Die Hexe von Glaustädt“ ist derselbe Roman Ernst Ecksteins, den unsere Ankündigung des laufenden Jahrgangs unter dem Titel „Hildegard“ angezeigt hat. Die Titeländerung erschien uns ratsam, weil inzwischen ein anderer Autor einen Roman mit dem Namen „Hildegard“ im Titel erscheinen ließ. – Mit der Veröffentlichung eines weiteren größeren Romans – „Einsam“ von O. Verbeck –, dessen fesselnder Stoff dem Leben der Gegenwart angehört, werden wir bereits in wenigen Wochen beginnen. In diesem Roman wendet sich ein hervorragendes jüngeres Talent von feinfühliger Beobachtungsgabe und ergreifenderr Darstellungskraft zum erstenmal an den Leserkreis der „Gartenlaube“.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 26/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.