Die Gartenlaube (1897)/Heft 50
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Nr. 50. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Da flammt’s von tausend Weihnachtsbäumen!
Ein Leuchten flog ihm schon voraus
In all den sel’gen Kinderträumen.
Wie jauchtzt die Schar, wenn der entzückte Blick
Erfüllten Wünschen überall begegnet!
Heut’ giebt es nur ein segnendes Geschick –
O Weihnacht, Fest der Kindheit, sei gesegnet!
Und dort – ein einsam’ Lichtlein strahlt
Hell in der Armut kahlem Zimmer;
Ein schüchtern dürft’ges Bäumchen prahlt
Mit diesem ungewohnten Schimmer.
Das ist kein Irrlicht, wie’s in nächt’gem Tanz
Auf toter Heide das Gezweig umflirrte;
Hier preist ein jubelnd Kind den Zauberglanz
Der in die kleine Hütte sich verirrte.
Und in die hellen Fenster starrt
Ein Wand’rer von den öden Gassen.
Die Freude hat er längst verscharrt,
Die Liebe hat ihn längst verlassen.
Und sternenlos ist ihm die Nacht des Herrn,
Und wünschelos muß er dem Glück entsagen;
Und schlägt für ihn kein Herz mehr nah und fern,
Wozu soll länger noch das seine schlagen?
Beglückter der verlor’ne Sohn –
Er kehrt zum heimatlichen Herde;
Einst aus dem Vaterhaus entflohn,
Durchzog er ruhelos die Erde.
Ein Friedensfest, ein Fest voll Lust und Schmerz!
Daß Keiner der bereuten Schuld gedenke!
Vergebung unter Thränen – Herz an Herz,
Das ist das schönste aller Christgeschenke.
Wehmütig ruht der Lichter Glanz
Dort auf dem Haupt der beiden Alten,
Auf ihrer Haare Silberkranz,
Auf den verwitterten Gestalten.
Es ist ein Fest nur der Erinnerung,
Sie schauen träumend in das Licht der Kerzen.
Viel schwand dahin, doch blieb die Liebe jung
Und sel’ge Weihnacht tragen sie im Herzen.
Du, Christkind, magst im Siegeslauf
Dich nicht so rasch von uns entfernen;
Noch einen Christbaum baue auf,
Der sich erhellt bis zu den Sternen!
Zur ganzen Menschheit niederstrahlen mag
Der Segen, den du heute uns beschieden;
Die heil’ge Nacht, sie werde heil’ger Tag
Ein ew’ger Weihetag voll Glück und Frieden!
Rudolf von Gottschall.
[822]
Einsam.
(19. Fortsetzung)
Am späten Abend des dritten Tages war es in dem großen Hause ganz still. Alles war vorbei. Ludwig Thomas war fort. Die letzten Spuren der „überaus würdigen und schönen Feier waren vor Einbruch der Dunkelheit schon beseitigt gewesen, und die Familie hatte die Witwe allein gelassen. Auf Hannas ausdrücklichen Wunsch. Sie sehnte sich sehr nach vollkommener Ruhe, nach Schweigen rundumher. Sprechen zu müssen, zuhören zu müssen, wurde ihr je länger, je mehr zur Qual. Zu ihrer großen Erleichterung erfuhr sie noch beim Abschied, daß Eggebrechts – der Herr Bankdirektor und Viktor, der Sohn, waren zur Beerdigung noch erschienen – Berlin übermorgen verlassen und heimkehren würden. Da die Hochzeit der Trauer wegen nun doch noch etwas aufgeschoben werden mußte, hatten die Besorgungen nicht solche Eile mehr, und die angegriffenen Nerven Frau Selmas bedurften der häusliche Ruhe.
Hanna saß am Schreibtisch ihres Mannes im sogenannten Herrenzimmer, dem Gegenstück zu ihrem Boudoir. Es war ein schön eingerichteter Raum, doch ohne bestimmte persönlichen Zug, ohne Gesicht. oftmals flüchtig benutzt, nie intim bewohnt. Wenigstens sah es so aus. Ludwig hatte nicht die Gabe gehabt, einem eignen Gemach individuelle Prägung zu verleihen. Die Möbel in ihrer feinen, stilvollen Pracht standen so leblos da wie in der Koje einer Ausstellung. Es fehlte nur das Namensschild des Lieferanten über der Thür. Auch der kostbar ausgestattete Schreibtisch trug keine Spur der Erinnerung an seinen verschwundenen Besitzer. Kaum daß einige schwache Tintenstreifchen auf dem obersten Löschblatt der großen ledergepunzten Schreibmappe darauf hinwiesen, daß auf ihm ein oder der andre Privatbrief geschrieben worden sei.
Vielleicht eben der Brief, den Hanna in der Hand hielt und den zu lesen sie sich immer noch nicht entschließen konnte.Sie hatte gestern für Selma nach Photographie des Verstorbenen gesucht, die, wie sie wußte, irgendwo hier im Schreibtisch liegen mußten. Da hatte sie diese Brief gefunden. Rechts im Seitenschrank, in einem sonst ganz leeren Fach hatte er gelegen vorn an, groß, weiß, gleichsam auf der Lauer. Heftig erschrocken war sie vor dieser Entdeckung stehen geblieben, ohne den Mut, das Schriftstück zu berühren. Dann – unter einem unabweislich zwingenden Gefühl – hatte sie die Lade sacht, unhörbar zugeschoben und den Schrank abgeschlossen. So lange er, der ihr da geschrieben hatte, noch über der Erde war, wollte sie nichts lesen. Nachher, wenn er in Frieden ruhte, war immer noch Zeit. Sie wußte ja, was der Brief enthalten würde. Vorwürfe, leidenschaftliche, heftige, wütende Anklagen ohne Schonung, hingeschleudert in der Maßlosigkeit seiner Hassesliebe. Sie wußte, ach, sie wußte! Auch sein Tod sollte sie nicht befreien von der Last der bittern Schmähungen. Schriftlich hatte er es ihr geben wollen, daß sie ihm das Leben vergiftet habe.
Sie schüttelte aber endlich den Kopf, wie sie so da saß in der lautlosen Stille der Nacht. Sie atmete auch tief auf. Nichts, was du mir da geschrieben hast, dachte sie, kann mich so tief mehr treffen wie deine letzten lebendigen Worte. So bitter wie zu späte Selbsterkenntnis, glaub’ ich, schmeckt kein andres Gift. Also gieb nur her!
Als sie den Umschlag aufschnitt, kam ihr – warum nicht schon viel eher? – die Erinnerung an jenen andern Brief, den Brief ihrer Mutter, „nach meinem Tode zu lesen.“ Ein qualvolles, schluchzendes Aufatmen erschütterte sie. Sie schloß die Augen. Mit diesem zweiten, andern Abschiedsgruß hielt sie die Vergeltung dieser verfehlten vier Jahre in der Hand. Sie konnte nicht bitter genug sein.
Hanna wischte mit dem Handrücken über die nassen Augen und entfaltete die große, vierfach zusammengelegte blaue Karte. Viel stand aber nicht darauf.
„Du wirst jedenfalls brennend wünschen, zu erfahren, wie es um Deine ersehnte Erbschaft steht, da unsre Ehe ja kinderlos geblieben ist. Mein Testament liegt natürlich in gerichtlichem Verwahrsam, aber um Deine Spannung nicht auf eine zu harte Probe zu stellen, will ich Dir den Inhalt verraten. – Ich ernenne Dich zu meiner Universalerbin – mit einer einzigen Bedingung. Du darfst nicht wieder heiraten! Willst Du eine neue Ehe schließen, so verlierst Du das schöne Vermögen bis auf das gesetzlich Dir zustehende Pflichtteil. Das Haus hättest Du in diesem Falle sofort zu räumen und meiner Schwester zu überlassen. Ueber die Verwendung meiner baren Hinterlassenschaft – zu gemeinnützigen Zwecke – hätte alsdann gleichfalls Selma zu bestimmen. Jetzt wird sich Dein verhungerter Schulmeister wohl zweimal besinnen, ehe er um Deine freigewordene Hand werben kommt. Die Spekulation war falsch, Ihr habt Euch in mir leider gründlich verrechnet. Wohl bekomme Euch gleichermaßen die Toggenburgerei oder die neue Ehe – wenn anders sie Euch jetzt noch begehrenswert erscheint. Schade, daß ich Dein Gesicht jetzt nicht sehen und – küssen kann. Adieu.
Einen recht schönen Gruß aus dem sogenannten Jenseits von Deinem Mann, der Dir treuer war als Du ihm.
„So war das gemeint?“ flüsterte Hanna, indem sie den Brief langsam zerriß. „Wie unglücklich warst du, als du das schriebst. Und wie weit, wie weit hast du am Ziel vorbei geschossen. Es wäre nicht nötig gewesen Ludwig, das da. Wahrhaftig nicht.“
„Tag, Hans! Ist der Bruder vorrätig?“
„Jawohl, Herr Günther. Vor einer halben Stunde ist er heimgekommen. Aber es ist noch einer drin bei ihm. Ein Ochse mit'm Brett vorm Kopf.“
Günther fuhr dem Jungen mit der Hand in das blonde Kraushaar und zauste ihn ein wenig. „Frecher Schnabel du! Ulke nicht über schwache Nebenmenschen. Sei froh, daß du keine Nachhilfestunden brauchst.“
„Na, mein Großer, möcht' mir es auch eklig besorgen, ei Wetter.“
„Verdientermaßen. Schickte sich schlecht für Johannes Rettenbacher. Uebrigens, wie steht das mit deiner Schwester Grete? Auch zu Hause?“
„Und wie! Nachmittag! Kaffeestunde!“
„Meinte ich eben im Stillen. Na dann also – –“ Flink hängte der Musiker seinen Hut an den Nagel. Hans war eifrig bereit, ihm beim Ablegen zu helfen. „Aus Versehen erwischte er aber den innern Aermelrand und zog ihm in größter Geschwindigkeit Ueberzieher und Rock zugleich von der Schulter.
„Halunke!“ rief Günther lachend. „Was fällt dir denn ein?“
Hans schien nun sehr bestürzt, aber so flink er bei Ausübung seines Schelmenstückchens gewesen war, so läppisch benahm er sich, als es galt, den Herrn Lehrer wieder anzuziehen. Ueber dem vergnügten Gelobe öffnete sich die Wohnzimmerthür.
„Ob ich mir es nicht gedacht habe,“ sagte Grete Zöllner strahlend. „Wenn's auf dem Vorplatz lacht und kracht und juchzt, dann ist es allemal Herr Günther.“
„Wagnerisches Motiv, Frau Zöllner! Sehen Sie 'mal an. Lärmende, lachende, lümmelnde Lebenslust! Verstehen Sie? Schönen guten Nachmittag. Darf ich ein bißchen hineinkommen?“
„Nur näher, bitte schön. Sie kriegen auch ein Täßchen Kaffee.“
„Krieg’ ich? Famos! Aber als ganz ungebetener Gast –“
„Ich hatte so eine Ahnung, wissen Sie, als wenn Sie kommen würden, und hab’ drum eine Bohne mehr in die Kaffeemühle gethan.“
„Ja, ja,“ warnte Hans mit besorgter Miene, „wenn Herr Günther davon nur keinen Dadderich bekommt. Das muß ja das reine Gift geworden sein –“
„Mach dich lieber nützlich, du Frechling,“ unterbrach ihn [823] Grete, „und hole uns eine Brezel vom Bäcker. Ich hab' kein Brot mehr im Hause. Hier.“
Sie schob ihm ein Fünfzigpfennigstück zwischen die Finger. Der Junge betrachtete die Münze, auf die flache Hand gelegt, mit einem Auge, wie ein Vogel.
„Also, zwei Brezeln,“ sagte er schlingelhaft lächelnd, „zu fünfundzwanzig. Sehr freigebig.“
Hinaus war er.
„Den haben wir uns gut gezogen, was?“ meinte Günther mit einem Kopfwinken nach der Richtung, von wo man Hansens Holterdipolter auf der Treppe noch hören konnte.
„Aber nein“, gab Grete zu. „Und wer ist am meisten schuld? Sie! Was darf er sich alles gegen Sie herausnehmen! Was lassen Sie sich alles von ihm gefallen!“
„Ja, aber nur in Civil. Als Freund. Hier zu Hause. In der Schule steht er stramm. Augen rechts. Rührt sich nicht. Ich liebe den Bengel höllisch. Ist Rasse drin. Wo ist denn aber unser Fränzchen?“
Günther hob die Tischdecke auf, guckte auch unter das Sofa, er war gewohnt, den Kleinen immer erst ausfindig machen zu müssen.
„Den suchen Sie heute nur nicht. Er ist zur Geburtstagsfeier unten bei dem Hauswirtssohn. Der kleine Junge, wissen Sie, mit dem er immer so nett spielt. Selig ist er vorhin abgezogen. Setzen Sie sich her, ja? Bis der Hans zurückkommt, näh' ich noch schnell die paar Knöpfe an.“
„Warten wir nicht auf den Bruder mit dem Kaffee?“
„Der hat seinen schon drin. Er schien mir so ein bißchen verfroren, da wollt' ich –“ sie unterbrach sich, ließ auch die Arbeit sinken. Aus ihren hübschen blauen Augen sah sie nachdenklich zu Günther auf. „Mit dem Arnold, wissen Sie, mit dem ist es nicht mehr richtig.“
„Wieso? Das heißt, ich seh's ja selber. Aber was meinen Sie denn, was ihm fehlt?“
„Ja, wenn ich das wüßte, da wär' ich ein ganz Teil klüger. Das ist ja eben das Elend. Also Ihnen fällt es auch schon auf? Na, wie sollt’ es auch nicht, er ist ja zu sehr verändert. Wenigstens, wer ihn genau kennt, und mit ihm lebt, und ihn lieb hat, der merkt’s. Freilich, was man so einen ernsten Menschen nennt, das war er ja immer; viel lachen war von je her nicht seine Art. Spaß hat er aber darum doch verstanden. Das wissen Sie ja am besten. Aber jetzt – schon seit Wochen geht er herum, wie gedrückt, oder wie gequält. Nicht, daß er brummig wäre oder launisch. Nur so still, so ohne Freude. Klagen thut er über nichts, wie würd’ er denn, das säh' ihm ja nicht ähnlich. Wissen Sie, bei uns sagt man dazu es wurmisiert was in ihm 'rum. Bloß was? Meta sagte vorgestern: es sieht aus, als wenn er eine unglückliche Liebe hätte. Aber wo sollt’ er die plötzlich hernehmen?“
„Kiek doch, die Meta,“ schmunzelte Günther, „was die für ’ne feine Nase hat. Und darauf sind Sie nicht gekommen?“
Grete horchte hoch auf. „Was sagen Sie da? Was meinen Sie?“
Aber es blieb keine Zeit mehr zu einem ungestörten Gespräch. Schon rasselte draußen das Thürschloß und Hans – er hatte den Drücker mitgenommen – kam zurück. Grete war so bestürzt von Günthers Andeutung, daß sie kaum danach hinhörte, wie ihr der Bruder beruhigend versicherte, er habe sie mit den zwei Brezeln nur uzen wollen. Gedankenlos schüttelte sie die kleinen Münzen in ihr Portemonnaie. Auch für die Schnecke die Hans „zugekriegt“ hatte und die er nun triumphierend auf seine Tasse legte, hatte sie nur einen flüchtigen Blick. Ihre verwunderten, eindringlich fragenden Augen kehrten zu Günther zurück.
„Nein, nun sagen Sie bloß – –“ stieß sie heraus.
Der Musiker warnte sie mit einem leisen Kopfnicken nach dem Buben hin, der schon begonnen hatte, aufzuhorchen.
„Natürlich,“ murmelte Grete, noch mehr verwirrt. Sie stand dann auf und kümmerte sich um den Kaffeetisch. Es wurde eine schweigsame kleine Mahlzeit, trotz der Brezelorgie. Hans, dem der Schnabel sonst nicht still stand, betrachtete, wenn auch eifrig schmausend, das versonnene Gesicht seiner Schwester. Da er an eine immer sehr lebhafte Unterhaltung zwischen ihr und Günther gewöhnt war, so schloß er aus Gretens Wortkargheit, daß sie mit seinem geliebten Gönner, „bös“ sei, und nahm ohne weiteres sofort an, daß sie unrecht habe. Er stach mit seiner runden, kräftigen Knabenfaust über Günthers auf dem Tisch ruhende Hand und drückte sie ein bißchen, als Zeichen seiner Zärtlichkeit und Parteinahme.
„Was willst du, Hanswurst?“
„Nichts,“ versicherte er errötend. Und nach einem vorwurfsvollen Blick auf Grete: „Ich meine nur, ärgern Sie sich nicht.“
„Thu ich denn das? Du bist wohl verdreht?“
„Na, weil Sie so still sind. Und die gar. Ich hatte mich doch so gefreut, wie Sie kamen, nun soll es eine fidele Kaffeestunde geben. Und statt dessen sitzen wir nur so herum – –“
„Das hat seinen guten Grund, mein Sohn. Wir beide, deine Schwester und ich, denken über eine wichtige Sache nach, von der du nichts verstehst, und wenn du deinen Happen-Pappen weg hast, wirst du dich gütigst drücken, damit wir sie zu Ende besprechen können.“
Hans runzelte gewaltig die Stirn, eine Widerrede erlaubte er sich aber nicht.
„Muß ich ganz aus dem Hause ’raus?“ fragte er etwas niedergeschlagen.
„Da Arnold noch unterrichtet, wird dir wohl nichts andres übrig bleiben, mein Alter.“
„Tobst noch ein bißchen, ja?“ redete ihm Grete nun auch zu.
Hans, den letzten Bissen im Munde, erhob sich langsam. „Ja wenn’s nicht anders geht – wie lange denn?“
„Sagen wir: Eine halbe Stunde.“
„Seh’ ich Sie aber dann nachher auch noch?“
„In Lebensgröße, verlaß dich drauf. Zieh dir aber was an. Die Sonne ist schon weg.“
„I wo denn! Bei der Hitze.“
„Sei so gut. Fünfzehnter Januar. Wann fängt denn bei dir die Kälte an?“
„Erst, wenn die Spatzen tot vom Dach fallen. Also in einer halben Stunde. Aber genau!“
Er trollte sich.
„In wen? So sagen Sie doch, in wen?“ fragte Grete eifrig, kaum, daß sich die Thür hinter dem Jungen geschlossen hatte. „Er kennt doch keine. Ich weiß doch, mit wem er verkehrt. Und er steckt ja die Nase kaum vor die Thür. Eine unglückliche Liebe, sagen Sie? Ja um Gotteswillen – –“
Es schien aber ein Unstern über diesem Zwiegespräch zu schweben. Frau Grete mußte sich noch einmal gedulden. Draußen klappte die Flurthür, der Schüler ging weg, und gleich darauf trat der Gegenstand ihrer Sorge ins Zimmer.
Arnold begrüßte den Freund, der kein seltener Gast war, mit einem Händedruck und einem Nicken. Er ließ sich dann etwas schwerfällig auf Hansens leeren Platz nieder, schob die Tasse von sich weg über den Tisch und lehnte die Stirn in die aufgestützte Hand.
Mit einer Art von scheuer Bekümmernis betrachtete Grete sein verändertes Gesicht. Seine Blässe und der schmerzliche Zug um die zusammengepreßten Lippen die der blonde, weiche Bart nur schwach verdeckte, redeten ihr plötzlich eine neue Sprache. Wer hatte da in aller Stille ihrem lieben Bruder ein Leid angethan? Es wurde ihr heiß um die Augen.
„Was ist dir denn, mein Noldichen?“ fragte sie halblaut und rührte schüchtern seinen Arm an.
„Müde bin ich,“ gab er kurz, etwas rauh zurück, ohne den Kopf zu heben. „Entschuldigt meine Unhöflichkeit, bitte. Aber ich habe das lebhafte Verlangen, ein Weilchen still zu sitzen und mich nicht zu rühren nicht zu sprechen. Drinnen hielt ich es nicht mehr aus, nach der öden Schulmeisterei. Er schloß die Augen.“
Es blieb nun eine Zeit lang still im Zimmer. Grete und Günther hatten einen betrübten Blick getauscht.
„Aber darum müßt ihr nun nicht auch schweigen Kinder,“ begann Rettenbachers verschleierte Stimme. aufs neue. „Unterhaltet euch doch weiter.“
„Brauchen wir ja nicht,“ wehrte Günther. „Wir haben ganz genug geschwatzt, können es schon so noch aushalten. Aber
[824][825] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [826] hören Sie, Magisterchen, so schlecht wie heute haben Sie mir noch nie gefallen. Was ist denn das? So hat es Sie doch sonst nicht angegriffen, wenn Sie eine Stunde zu geben hatten? Was war’s denn für einer?“
„Einer aus dem Wilhelmsgymnasium, Obertertia. Ist mit Nachterminen in Griechisch und Latein versetzt worden. Ein heilloser Strohkopf. Dem Alter nach könnt’ er bald heiraten. Soll nun mit Gewalt nachgeheizt werden, damit er Ostern nicht wieder zurück muß.“
„Na ja, aber so was kommt Ihnen doch nicht zum erstenmal unter die Finger.“
„Gewiß nicht.“ Rettenbacher ließ jetzt die Hand sinken und lehnte sich, aufschauend, in seinen Stuhl zurück. „Aber haben Sie nicht auch schon Zeiten gekannt – –“
„Wo mir die ganze Prostemahlzeit bis dahin stand?“ fuhr Günther fort, als Arnold stockte. „Hab’ ich. Hab’ ich tüchtig. Aber was will man machen? Man kann die Karre doch nicht stehen lassen.“
„Wer spricht denn davon? Wie kommen Sie mir vor? Es ist ja auch nicht das. Mir geht nur – ich erlebe nur augenblicklich Stunden der Feigheit, so daß ich meine Muskeln nicht spüre. Ich bin faul, schlaff, in widerhaariger, böser Stimmung, mich ärgert die berühmte historische ’Fliege an der Wand'. Ich sollte mich eigentlich schämen, sollte mich vor niemand sehen lassen!
„Im Gegenteil. Sie sollten sich einmal tüchtig satt schimpfen, sich alles herunterreden, was Sie auf dem Herzen haben. Das würde Ihnen gut thun. Gewitter reinigen die Luft bekanntlich.“
„Aber bekanntlich weiß man auch nie, was sie nebenbei noch anrichten können. Also –“
Rettenbacher winkte abwehrend mit der Hand. „Sehen Sie wohl, so ist er nun,“ sagte Grete. Ihre aufmerksam und liebevoll forschenden Augen hatten den Bruder noch kaum verlassen. Sie faßte jetzt, sich zu ihm neigend, nach seiner Hand und schüttelte ihn ein wenig daran.
„So sei doch nicht so gräßlich zugeknöpft, Arnold! Du bist doch hier nicht unter fremden Leuten. Herr Günther sagt, du hättest – na ja, du hättest einen Kummer – Gotte doch, nun wirfst du ihm einen Blick zu, als wenn du ihn fressen wolltest! Denkst du denn, damit sagt er mir was Neues? Schon all die Wochen her hab’ ich mir den Kopf zerbrochen, was dir wohl sein könnte, was dich wohl quälen mochte. Ich bin doch auch nicht blind. Und weh thut’s. mir auch, wenn dir nicht wohl in deiner Haut ist. Was glaubst du denn von deiner Schwester?“
Arnold sah sie freundlich an, er drückte auch ihre Hand, die noch auf der seinen lag.
„Ich glaube, daß du ein gutes, liebes Ding bist, Gretchen,“ sagte er herzlich. „Aber ich glaube auch, daß du mich ruhig meiner Wege gehen lassen solltest. Ich finde mich ganz allein zurecht, bin’s schon von je her so gewöhnt. Daß ich mich in letzter Zeit, wo mir verschiednes durch den Kopf gegangen ist, so wenig beherrscht habe, daß du anfangen konntest, dir Sorgen zu machen, ist höchst unrecht von mir und soll nicht mehr vorkommen. Besonders, da der Grund zu meiner – Mißstimmung keine Lebensfrage betrifft –“
„Keine Lebensfrage?“ fuhr Günther nun dazwischen. „Was denn? Was ist es denn andres als eine Lebensfrage, zum Donnerwetter? Aber Sie sind verrückt, Freundchen, wissen Sie das? Und sie ist auch verrückt. Alle beide seid ihr verrückt!“
Arnold stand rasch auf.
„Wollen Sie einen Augenblick mit mir hineinkommen?“ fragte er mit so verfinstertem Gesicht und so rauher Stimme, daß Grete erschrak.
Günther schien sich aber nichts daraus zu machen.
„Will ich. Gerne,“ sagte er, sich sofort ebenfalls erhebend. „Bin ganz in der Laune dazu.“
Eilig lief er dem Hausherrn voran zur Thür hinaus, über den Vorplatz in Rettenbachers Zimmer.
(Fortsetzung folgt.)
An der Weihnachtstafel.
Festtage sollen mit Festmählern verbunden sein. Das ist Brauch und Sitte bei den Kindern der Neuzeit und war es auch bei unseren Altvorderen. Wo der Geist seine Rechnung gefunden, dort will auch der Leib nicht leer ausgehen, und man kann ihm sein Recht gönnen. Wenn die Tafelfreuden nicht ausarten, so tragen sie viel zur Hebung der festlichen Stimmung bei, während derselben kommt ja in der Regel das Gemüt zur Geltung, und gemütliche Festtage wünscht sich jeder, nicht zu allerletzt gewiß der Deutsche. Große Feste, wie Ostern und Weihnachten, werden aber noch durch besondere Gerichte ausgezeichnet, die man Festspeisen nennt. Viele von ihnen sind uralten Ursprungs und liefern den Beweis, wie die nationale Küche allen Wandlungen der Zeit zu trotzen versteht. Freilich waren einst jene Festgerichte keineswegs nur für Menschen bestimmt, sondern bildeten einen Teil der Gaben, die man Göttern opferte, und bestanden aus dem Besten, was die jeweilige Jahreszeit zu bieten vermochte.
In vielen Gegenden Deutschlands, namentlich im Norden, werden zu Weihnachten Schweinebraten und Schweinskopf aufgetragen. Vielfach wird dieses Gericht Juleber genannt und der Name zeigt schon deutlich, daß es mit der altgermanischen Julfeier zusammenhängt, die um die Mittwinterszeit begangen wurde. Jenes Fest war dem Wotan geweiht und unter den Opfern, die man dem Gotte darbrachte, nahm der „goldborstige Eber“ den wichtigsten Platz ein. Das war durchaus natürlich. Das Schwein war eins der ältesten Haustiere der Germanen, als die Kultur noch in ihren Anfängen begriffen war, ließ es sich leicht halten denn in den weiten Eichenwäldern fand es reichliche Nahrung und bei der Eichelmast konnten schon prächtige Eber groß gezogen werden wie jener, von dem alte Dichter sangen: „Seine Borsten ragen hoch wie der Wald, seine Hauer sind zwölf Ellen lang!“
Eine nicht minder beliebte Weihnachtsspeise bildet der Gänsebraten. In manchen Gegenden wird der fette Vogel allerdings schon Wochen vorher zu Ehren St. Martins verzehrt. Wir wissen aber, daß der heilige Martin, der nach altem Volksglauben auf einem Schimmel reiten soll, mit der Gänsezucht und dem Gänsebraten nichts zu thun hatte. An den Tagen, an welchen die Kirche ihn feiern läßt, verehrten einst die Heiden ihren obersten Gott Wotan und brachten ihm die Gans als Opfer dar. Warum die Wahl gerade auf diesen Vogel fiel, ist leicht zu erklären. Die Gans ist der älteste Vogel, den der Mensch gezähmt und gezogen hat, erst in späterer geschichtlicher Zeit wurde sie in ihrer Bedeutung durch das Huhn zurückgedrängt. Bei den germanischen Völkern muß aber die Zucht der Gänse in besonders hoher Blüte gestanden haben, denn die Römer zogen den kleinen Schlag der germanischen Gänse allen anderen vor, und von den Germanen haben sie auch erst um die Wende des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt den Gebrauch der Daunen kennengelernt. Die Gans war somit ein sehr nützlicher Vogel, der den heidnischen Völkern Eier, Fleisch und warme Polster und Federbetten lieferte, und ursprünglich auch das einzige Hausgeflügel, das die Völker des Nordens ihren Göttern opfern konnten.
Während der Eber und die Gans in ihrer Wertschätzung durch Jahrtausende sich erhalten haben, ist ein drittes Festgericht der germanischen Völker von unsrer Tafel spurlos verschwunden. [827] Es ist dies der Roßbraten. In alter Zeit gab es in Germanien eine Fülle von Pferden; in großen Scharen trieben sie sich in wildem oder verwildertem Zustande umher und wurden gern gejagt und verspeist. Namentlich in norddeutschen Gebieten wurden Rosse Göttern geopfert, wobei das Fleisch der Tiere häufig bei festlichen Gelagen verzehrt wurde. Gerade darum betrachtete wohl die christliche Kirche den Genuß von Pferdefleisch als heidnischen Brauch und eiferte dagegen so unablässig, daß mit der Zeit dem Volke gegen das sonst allgemein übliche Nahrungsmittel ein unüberwindlicher Widerwillen eingeimpft wurde.
Heutzutage nimmt unter den Weihnachtsspeisen auch der Karpfen eine hervorragende Stellung ein. Im Winter sind die Karpfen am besten und eignen sich um diese Zeit vorzüglich als Festspeise. Ob sie schon von den heidnischen Vorfahren der Deutschen gewürdigt wurden, läßt sich nicht feststellen. Vom Karpfen schweigt im Altertum alle Kunde, erst um das Jahr 500 nach Christi Geburt wird er zum erstenmal in einer Schrift Cassiodors, des Geheimschreibers des großen Ostgotenkönigs Theoderich, erwähnt, in welcher gefordert wird, daß die Provinzialstatthalter den Fisch für die königliche Tafel liefern.
Neben dem Karpfen erscheint auch der Hering vielfach auf der Weihnachtstafel, und zwar zumeist als Heringssalat. Ursprünglich war der Seefisch in dem deutschen Binnenlande nicht bekannt, wohl aber galt er in skandinavischen Ländern als Festspeise; es war dort Sitte, am Julfeste Hering mit Haferbrei zu verzehren. Somit hat der Hering, der auch an Sylvester auf der Tafel zu erscheinen pflegt, das volle Anrecht, als ein Weihnachtsfisch zu gelten. Das sei zum Trost aller derjenigen hervorgehoben, die, bei der steigenden Verteuerung unsrer edlen Süßwasserfische, auf den Karpfen beim Weihnachtsmahl lieber verzichten.
Mehr noch als Braten und Fisch ist für Weihnachten Backwerk aller Art charakteristisch. Auch diese Sitte, das liebe tägliche Brot für die Festtage durch Kuchen und Süßigkeiten zu ersetzen, war schon im heidnischen Altertum gebräuchlich. Die germanischen Priesterinnen formten aus gesüßtem Teig Kuchen in Gestalt der den verschiedenen Gottheiten geheiligten Tiere oder der Götter selbst, buken dieselben in den Tempeln und verteilten das Gebäck an Festtagen unter das Volk. Derartig geformte Kuchen werden heutzutage von Bäckern und Hausfrauen zu allen Zeiten des Jahres bereitet, am häufigsten jedoch zu Weihnachten. Im Norden pflegt man vielfach den Weihnachtsbäckereien die Gestalt des Julebers zu geben; er erscheint auch unter den weihnachtlichen Kuchenformen in Schlesien; in der Mark begegnen wir den Pereken, Kuchen, die vorwiegend Pferdegestalt haben; in Ostfriesland kennt man die Nüjarskaukjes, dünne Kuchen, auf welchen Pferde gedruckt sind. Süddeutschland, vor allem Schwaben, hat um diese Zeit seine „Springerle“, ein Backwerk, auf welches Menschen- und Tierfiguren gepreßt werden. Im Laufe der Zeit wurde jedoch dem Volke die Form der Kuchen teilweise nebensächlich, da es deren Bedeutung nicht mehr verstand und so bäckt man jetzt in Norddeutschland die formlosen, aber gediegenen Christstollen, Christwecken und Striezeln, während Süddeutschland seine Früchte-, Klözen- oder Hutzelbrote hat. Hutzeln oder Klözen heißen die gedörrten Birnschnitze, die früher neben dem Honig den Hauptbestandteil des Gebäckes bildeten; heute werden dazu noch Rosinen, Feigen, Mandeln und andere Früchte verwendet. Hier und dort besteht die Sitte, daß die Mädchen gerade in der Christnacht ihre Liebhaber mit Klözenbrot beschenken.
Das verbreitete Weihnachtsgebäck ist jedoch der Honig- oder Lebkuchen, auch Pfefferkuchen genannt. Sein Ursprung ist zweifellos in altheidnischer Zeit zu suchen, da man noch den Zucker nicht kannte und den Honig als Süßmittel verwandte. Der Honigkuchen oder Honigfladen galt bei allen indogermanischen Völkern als eine Opferspeise, die man den Göttern darreichte und mit der man Geister besänftigen konnte. Auf gottesdienstliche Zwecke dieses Kuchens deutet auch der Name Lebkuchen; er ist von dem Worte leben abgeleitet, das in mittelalterlichem Latein ein Gebäck bedeutete, das die Priester nach kirchlichen Festen unters Volk austeilten. Die christlichen Geistlichen haben in diesem Falle ohne Zweifel einen heidnischen Brauch angenommen, um das bekehrte Volk mehr an den neuen Gottesdienst zu fesseln.
Die seit uralten Zeiten übliche Süßbäckerei europäischer Völker erhielt jedoch nach den Kreuzzügen eine völlige Umwandlung. Damals begann eine gesteigerte Zufuhr orientalischer Waren nach dem Abendlande und die Völker Europas lernten den Zucker, verschiedene Südfrüchte und allerlei Gewürze kennen. Durch Zusatz verschiedener Gewürze wurde aus dem alten Honigfladen der neuere Pfefferkuchen gestaltet, und die Venetianer brachten ein Zuckergebäck in den Handel, das heute namentlich in Norddeutschland eine beliebte Weihnachtsschleckerei bildet. Zu Ehren des Schutzheiligen Venedigs wurde es Marci panis, Markusbrot, genannt, aber die Venetianer hatten das Marzipan nicht erfunden, sondern darin nur orientalisches Zuckerwerk nachgeahmt.
In einigen norddeutschen Gegenden giebt man den Weihnachtskuchen auch die Gestalt eines Rades oder einer Scheibe. Das ist wieder ein Symbol der Sonne, deren Wende ja um die Mittwinterszeit gefeiert wurde. In der oldenburgischen Landschaft Saterland kennt man eine Sitte, die gleichfalls an den Sonnenkultus erinnert. Es wird dort in den heiligen zwölf Nächten die Wepelrot, ein Rad aus Weidenruten geflochten, in der Mitte ist es mit Goldblech geziert und von diesem laufen dichte Weidenstäbe strahlenförmig nach dem Rande. Die über die Felge reichenden Speichen sind mit Aepfeln geschmückt. Diese Wepelrot wird nun in die Häuser guter Nachbarn oder geliebter Mädchen geworfen.
Unter den Früchten, die am Weihnachtsfest geschenkt werden, sind Aepfel und Nüsse die wichtigsten. Ohne diese kann man sich eigentlich keine rechte Weihnachtsbescherung denken. Nun sind gerade Apfel- und Nußbäume die ältesten Obstbäume die den Völkern Mitteleuropas bekannt waren, wobei wir allerdings nicht an Walnüsse, sondern an Haselnüsse denken müssen. Alle anderen Obstbäume, auch der Walnußbaum, wurden erst in einer späteren Zeit aus dem Orient und den südlichen Ländern eingeführt. Der Apfelbaum und die Haselnuß wurden aber seit jeher besonders verehrt und mit allerlei Mythen umgeben, so daß sie sich ausgezeichnet als Opfergaben bei Festen eigneten.
So sehen wir, wie sich gerade in den wichtigen und beliebtesten Weihnachtsspeisen ältester Brauch und älteste Sitte unserer Vorfahren spiegeln. Wir sind aber in der Lage, noch Beweise dafür beizubringen, daß jene Speisen nicht nur beim Winterfeste genossen wurden, sondern daß sie genossen werden mußten, weil sie zu gottesdienstlichen Gebräuchen gehörten.
In Schlesien läßt man in der Christnacht den Tisch gedeckt, damit die Engel kommen und von ihm speisen. Darin ist wieder ein christlicher Mantel um einen heidnischen Brauch geworfen. Sehr deutlich hat sich der letztere noch im Möllthal in Oberkärnten erhalten. Dort stellt man in der Dreikönigsnacht Brot und gefüllte Nudeln für die Perchtel (Berchta, Freia) auf den Küchentisch, damit sie davon abbeiße und koste. That sie das, so wird das kommende Jahr ein gutes sein.
Anderseits giebt es im Volke noch Ueberlieferungen, wonach derjenige, der die vorgeschriebenen Weihnachtsgerichte nicht genießt, für die Unterlassung des Gebots mit Strafe bedroht wird. Einem solchen Säumigen schneidet die Perchta den Bauch auf, füllt Häckerling hinein und näht ihn mit Pflugschar und Eisenkette wieder zu.
In neuester Zeit ist oft die Ansicht ausgesprochen worden, daß das Weihnachtsfest, wie wir es feiern, in früheren Zeiten nicht bekannt war, daß unsere heidnischen Vorfahren nur ein großes Herbstfest kannten, das sich bis in den Winter hinein erstreckte.
Wir möchten dieser Anschauung nicht ohne weiteres zustimmen. Das Winterfest der alten Germanen bestand nicht allein in Schmausereien und was aus alter Zeit auf das Weihnachtsfest unsrer Tage überkommen ist, das sind nicht die Speisen allein. Die Julfeier war ein großes Friedensfest, denn Jul bedeutet Frieden. An ihm ruhte jeder Streit und man gelobte angesichts der Altäre der alten Götter Frieden und Gerechtigkeit. Es dämmerte schon damals in den Tiefen des Volksgemüts der Gedanke an Liebe und Versöhnung, und die Neuzeit hat nur das Erbe der Väter fortentwickelt, indem sie Weihnachten zum höchsten Fest der Liebe gestaltete.
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Friede auf Erden.
Mit Illustrationen von Fritz Bergen.
„Es ist doch die reine Ironie, daß man in einer solchen Sache zwei Tage vor Weihnachten Termin ansetzt,“ sagte er, den Mund zu einem bitteren Lächeln verziehend.
Der Rechtsanwalt zuckte die Achseln. „Vielleicht wär’s gar nicht unpraktisch, immer die vorletzten Termine auf diese Zeit hinauszuschieben und grundsätzlich die Scheidungen kurz nach Weihnachten auszusprechen. Um Weihnachten ist am Ende jeder ein bißchen Stimmungsmensch, da hält das letzte Restchen von Versöhnlichkeit Feiertag.“
„Sie sehen ja, daß in meinem Fall Hopfen und Malz verloren ist. Schließlich – ich danke Gott, daß die Vorfragen endlich glatt erledigt sind und die aufregende Zeit ein Ende nehmen soll. Sie sind sicher, daß die Scheidung im Februartermin endlich vollzogen werden wird?“
„Ich habe mit Rosenthal privatim noch gesprochen – danach muß ich bestimmt annehmen, daß nichts im Wege steht.“
„Nun also – dann will ich Sie nicht weiter aufhalten …“
Er reichte dem Anwalt die Hand.
„Ich bin Ihnen herzlich dankbar, daß Sie sich soviel Mühe bezüglich des heiklen Punktes gemacht haben; es wäre mir doch schwer geworden, die Summe aus dem Geschäft zu ziehen …“
„Das ist wirklich nicht so sehr mein Verdienst, wie Sie denken,“ sagte der Anwalt, ihm die Hand schüttelnd. „Ich habe ihr ja, ziemlich dick aufgetragen, vorgerechnet, wie lange sich die Sache andernfalls hinziehen würde: die Hauptsache war, daß Rosenthal vernünftig genug war, uns nicht entgegenzuarbeiten und daß ich Ihre Frau Gemahlin gerade in so rabiater Stimmung traf. Hören Sie – eine interessante Person ist sie, ich kann mir nicht helfen! Aber einen festen Willen hätten Sie ihr wohl zeigen müssen, um … Pardon, wenn ich das sage …“
„O bitte, das habe ich gerade versucht – den Effekt sehen Sie. Als Geschäftsmann, mit dem Kopf voll Sorgen, kann man freilich nicht ganze Arbeit machen. Na – vielleicht kommt sie noch einmal in die richtigen Hände, ich will Gott danken, wenn ich erst den gesicherten Frieden im Hause habe. Leben Sie wohl, Herr Doktor! Ich will noch ein paar Besorgungen für meine Kinderchen machen.“ Er verließ, von dem Rechtsanwalt bis in das Bureau begleitet, das Sprechzimmer.
Er war Kaufmann; in einem der Villenvororte Berlins wohnte er, in der Hauptstadt hatte er ein Importgeschäft für Baumaterial. Ein stattlicher Mann, schlank, bärtig bis auf das ausrasierte Kinn, brünett wie ein Choleriker und mit einem Gesicht, welches auf Zähigkeit, um nicht zu sagen, Eigensinn schließen läßt, dem Alter nach ein ausgehender Dreißiger.
Als er auf die Taubenstraße hinaustrat, knöpfte er den Ueberrock fester zu, denn es gab da ein tolles Schneetreiben in dem weihnachtlich zeitigen Abenddunkel, daß die lichtspendenden Gasflammen, unfähig, ihres Amtes zu walten, sich in einen Nebel verkrochen. Er patschte, halb getrieben vom Winde, über das schlüpfrige Pflaster, erreichte endlich die Charlottenstraße – dort war’s nicht besser. „Natürlich“, murmelte er aus seiner verbitterten Stimmung heraus, „es mußte ja so kommen, ich habe ja den Schirm zu Hause gelassen …“ Die Lust, jetzt bis in die Leipziger Straße zu gehen und dort einzukaufen, verging ihm bis zur Mohrenstraße – er erinnerte sich plötzlich einer Weinstube, dort muß sie liegen, ein paar Häuser hin …. Und er arbeitet sich mühsam bis dahin durch und atmet erst auf, als er im Hausflur den Schnee abklopft.
Die Stube ist leer bis auf drei Stammgäste, die bei dem Wirt sitzen, und einen einzelnen Herrn in einer Ecke, bei dem ein Kellner soeben eine Flasche entkorkt. Es ist eins jener kleinen primitiv ausgestatteten und mäßig beleuchteten Lokale, die von Kennern aufgesucht werden, weil sie die Hauptsache dort finden: gut behandelte Weine zu mäßigen Preisen. Der Wirt erhebt sich zu einer flüchtigen Verbeugung, der Kellner schielt beiseite und schneidet ein Gesicht bis der Pfropf knallt. Jetzt giebt er den Blick auf den Empfänger der Flasche frei, und der eben eingetretene Gast stößt einen Laut der Ueberraschung aus.
„Felix,“ sagt er halblaut und geht auf ihn zu. „Was machst du Weihnachten in Europa?“
„Teufel, alter Sohn, das trifft sich ja großartig! Ich habe wahrhaftig in den paar Tage meines Hierseins schon soviel Zufälle wie diesen erlebt, daß ich beinahe glaube, in Berlin ist der Zufall jetzt Regel geworden.“
Sie betrachten einander und drücken sich die Hände, zwei Jugendfreude, die für gewöhnlich der Atlantische Ocean trennt.
„Ich mußte Knall und Fall herüber, um eine ganz faule Sache genauer zu untersuchen, ehe es für uns zu spät ist. Ich erzähle dir gelegentlich mal davon. Natürlich ist das meiner alten Mutter sehr angenehm. Ich wäre schon bei dir gewesen, aber – bei dir sieht’s ja traurig aus … hör’ mal, was sind das für Geschichten … meine Mutter, die davon gehört hat, schrieb mir drüber … Näheres wußte sie ja auch nicht … Kellner, noch ein Glas und eine zweite Flasche in Bereitschaft!“
„Ich komme eben von meinem Anwalt“, sagte der andere melancholisch. „Es wird ja bald ausgestanden sein“.
„Komm, setz’ dich mal her!“ Der Freund warf einen Blick nach dem besetzten Tische hin und sprach dann gedämpft weiter: „Also wahrhaftig, du liegst mit deiner Frau in Scheidung?“ Der andere nickte.
„Herrgott, vor zwei Jahren noch kein Gedanke dran…
„Sag’ bloß, wie ist das gekommen? Dummheiten gemacht? Deine Frau etwa – hm? Ich denke immer, ihr lebt in schönster Harmonie … hast du denn die beiden Jungen noch?“
„Ja, Gott sei Dank … und doch wieder, wenn ich sie ansehe … keine Mutter … jetzt zu Weihnachten … “
„Wo steckt denn deine Frau?“
„Hier, in Berlin. Sie hat sich mit dem Geld, worüber sie von ihrem Vermögen verfügen konnte, eine Etage eingerichtet und vermietet so lange, bis wir geschieden sein werden; dann hat sie es ja nicht mehr nötig.“
„Hm, sie war ja sehr vermögend von Haus aus. Aber mir ist die ganze Sache vorläufig noch vollständig schleierhaft!“
Der Kellner bringt das Glas.
[829] „Na, anstoßen wollen wir, Prosit!“ nickt der Amerikaner. „Du armer Teufel … reitet dich die Scheidung nicht pekuniär ein bißchen hinein, oder bist du geschäftlich schon so weit, daß du ihr Eingebrachtes liegen hast?“
„Sie geht drauf ein, mir einen Teil noch zu lassen. Im nächsten Jahre stoße ich’s vielleicht schon ab. Ach …“ Der traurige Mann preßt den Kopf in die Hand, „ihr Geld hat mir ja Gewinn gebracht, aber keinen Segen!“
Der Freund, dessen klugem, jovialem Gesicht die teilnehmende Leichenbittermiene wie eine Maske steht, gönnt ihm eine Pause bis der andere sich mit energischer Bewegung aufrafft.
„Raus man – was ist passiert? Scheidungsgrund – Fragezeichen!“
„Böswillige Verlassung … ganz einfach, wir haben uns verloren.“
„Das ist alles? Das heißt also, ihr habt euch so lange gekabbelt, bis sie rabiat geworden und dir durchgebrannt ist! Mein lieber Franz, nimm mir’s nicht übel, wenn die Sache so liegt dann seid ihr alle beide schuld!“ Er zog ein Etui und öffnete es. „Willst du rauchen?“ – „Danke,“ sagte der andere … „ich habe …“ Sie tauschten aus und zündeten die Cigarren an.
Dann tranken sie wieder.
„Wenn nur ein Teil in der Ehe die Geschichte richtig anfängt, so kann es zu solchem Krach nicht kommen! Deine Frau ist ja immer ein bißchen forsch gewesen – den Eindruck habe ich gleich von ihr gehabt … aber du …?“
Er schüttelt den Kopf. Der andre pafft hastig.
„Es mag sein … es wäre ja wohl zu verhindern gewesen. Aber dann war ich unterm Schlitten, Felix! Ich bin auch eigensinnig, ich weiß es. Doch was meine Frau mir zuletzt geboten hat, das hält kein Mann aus, der Schamgefühl im Leibe hat …“
„Um die letzte Zeit handelt es sich gar nicht, alter Sohn vorher, vorher! Eine Verbitterung, die ihr Heil nur in einer Scheidung sieht, kommt nicht von heute auf morgen, die ist immer das Ende eines langen Guerillakriegs. Ihr habt euch das so sacht herangeärgert, anders ist’s gar nicht möglich!“
Der andere spielte mit dem Fuß seines Glases und blickte tiefsinnig vor sich hin. „Das ganze Unglück kam davon, daß ich eine vermögende Frau geheiratet habe. Wahrhaftig nicht des Geldes wegen – du kennst sie, diese Frau nimmt einer wohl ohne Auskunftsbureau! Aber ich hatte nichts als eine leidliche Stellung. Das gab von vornherein eine schiefe Lage. Sie war verwöhnt, Temperament hat sie reichlich – was sie wollte, ich mußte mit! Das hätte ich mir ja gefallen lassen, aber die Art, wie sie das selbstverständlich fand! – Du hättest es so wenig ausgehalten wie ich …“
„Ich? Ich hätte sie ausgelacht.“
„Hm – du … es mag sein, daß ich nicht genug Humor habe. Und das Geschäft, das ich mit ihrem Gelde gründete, machte mir in der ersten Zeit den Kopf gehörig warm. Ich hatte immer ein katzenjämmerliches Gefühl, daß es ihr Geld war, was ich riskierte, erzählte ihr vom Geschäft …“
„Das war eine große Dummheit. Nur mit Frauen nicht vom Geschäft sprechen! Die haben keine Courage.“
„Ja so – sie fing an, sich drein zu mengen … was soll ich dir lang und breit erzählen, die Geschichte ist verpfuscht. Mir thun bloß meine armen Jungen leid.“
„Wie alt sind sie denn jetzt?“
„Vier und zwei einhalb.“
„Wen hast du denn bei ihnen?“
„Für jetzt ein tüchtiges Mädchen. Ich werde ja schließlich mich nach einer Gesellschafterin umsehen müssen. Man schiebt eben so etwas hinaus, kann sich so rasch nicht in den Gedanken finden, daß das Alte zerbrochen ist, daß man sich anders einrichten muß!“
„Wie lange ist denn deine Frau weg von dir?“
„Ein halbes Jahr etwa.“
„Doch schon? So lange wär’s her, daß ich keinen Brief von dir bekommen? Wahrhaftig, es kann sein, der letzte wurde mir nach Chicago nachgeschickt, wenn ich mich recht erinnere …“
Diese ganzen Auseinandersetzungen waren geflüstert worden, während sich das vierblättrige Kleeblatt drüben ohne viel Aufwand an Temperament, wie Leute, die hier zu Hause sind, unterhalten hatte. Jetzt sah der bedrückte Ehemann nach der Uhr: „Ich muß gehn, Felix, hoffentlich hat das Wetter nachgelassen. Ich kam nur herein, um Zuflucht zu suchen, habe keinen Schirm mit. Kommst du die Feiertage mal herüber zu mir? Es wäre nett, würde mir ein bißchen über die traurigen Gedanken weghelfen.“ Er stand auf.
„Natürlich, alter Sohn, ganz gern.“
Der Kellner eilte herbei. Der andere zahlte, ließ sich in den Ueberrock helfen: „Auf Wiedersehn, also. Grüß deine Mutter!“
Der Wirt erhob sich wieder zu der stereotypen Verbeugung, die drei Stammgäste schielten …
Nun war er draußen, das Schneetreiben hatte fast ganz nachgelassen. Er ging in die Leipziger Straße einkaufen.
Eine hübsche, nicht große Villa in einem verschneiten Garten. Eine Laterne am Gittereingang wirft das notdürftigste Licht. Der Himmel ist stichdunkel. In der Wohnstube sitzt ein älteres Mädchen am Fenster. „Is will sehn!“ ruft ein kleiner Kerl im Sammetkittel sehr energisch und zieht das Mädchen am Rock, und immer wieder mit dem Eigensinn der Jugend: „Is will sehn! Is will sehn, Hedwis!“ Er ist blond und rosig.
„Du bist dumm, Maxi,“ spricht es aus einem Fauteuil, dort sitzt der ältere Bruder, lässig zurückgelegt, die Aermchen rechts und links auf den Lehnen, schmal und brünett im Gesicht wie der Vater. „Es hat noch nicht gepfiffen; wenn er kommt, pfeift er auf der Erbsenpfeife, hat er gesagt, und was er gesagt hat, ist wahr.“
„Siehst du, Edi ist viel artiger als du,“ spricht das Mädchen. „Der Weihnachtsmann hört alles.“
„Is bin auch artig,“ sagt der Kleine nach kurzem Bedenken.
Das Mädchen setzt sich gelangweilt auf einen Stuhl. „Edi, du sollst nicht immer mit den Füßen an den Stuhl schlagen!“
Der sieht nachdenklich aus. „Hedwig,“ sagt er, statt zu reagieren, „ich glaube, gestern habe ich den Weihnachtsmann gesehn.“
„So? Wo denn?“ Sie nimmt Maxi auf den Schoß. „Hat der Weihnachtsmann eine rote Mütze auf, wie ein Dienstmann?“
„Bewahre, eine Pelzmütze.“
Edi besinnt sich. „Dann ist es doch vielleicht bloß ein Dienstmann gewesen …“
Ein schrillender Pfiff draußen, die Kinder werden plötzlich lebendig, Maxi zappelt vom Schoß hinab, Edi rutscht aus dem Sessel. „Papa – Papa … wird jetzt beschert, Hedwig?“
Sie stehen beide dicht an der Thür, der Kleine schlägt mit den Fäusten dagegen. „Ja ja, gleich …“ Draußen stapft es in dem Hausflur, stapft an der Thür vorbei, öffnet nebenan eine Thür. „Hier setzen Sie ab … So, da haben Sie … Und nun erst kommt es zur Thür, wo die Kinder warten, und öffnet. Edi späht rasch hinaus, während sich der Vater erst zu dem Kleinen bückt, ihn aufhebt und küßt.
[830] „Mein kleiner Junge, mein süßer kleiner Junge …“ Er setzt ihn nieder und nimmt den andern auf. Seine Augen sind feucht. Ein bitterer Gedanke zuckt ihm durch den Sinn: „Tiere geben ihre Jungen nur ums Leben von sich … und ihr …“
„Papa, war das etwa der Weihnachtsmann, der bei dir war?“ fragt da Edi.
„Freilich.“
„Er hat doch eine rote Dienstmannsmütze auf, Hedwig, keine Pelzmütze,“ sagt der kleine Mann triumphierend. „Haben die Kinder gegessen?“
„Ja, Herr Binder.“
„Dann sollen sie jetzt beschert bekommen. Mir bringen Sie nachher ein paar Butterbrote und eine Flasche Bier ins Zimmer, jetzt bleiben Sie noch eine Weile bei den Kindern. Also wartet recht artig, erst singen die Engel, dann klingelt’s …“
Er nickt und geht wieder in den Hausflur, in die Weihnachtsstube, den Salon mit dem großen roten Smyrnateppich und der lustigen Rokokoeinrichtung, dem hübschen Vielerlei, in dem – sie! ihren launenvollen Geschmack aufgegeben … mit der Fensternische, wie geschaffen, um den Christbaum aufzunehmen.
Da steht der verlassene Mann, die
Hände gefaltet, blickt düster vor sich ins Weite, den Mund von Bitterkeit geschürzt – eine stumme Predigt an eine ferne Adresse und nun schlägt er die Hände vors Gesicht und preßt sie auf der Stirn fest zusammen …
Er ist fertig damit, nimmt Zündhölzer und zündet die Baumlichter an, die Lichter um die Deckenlampe mit dem blitzenden Prismenbehang, die Wandlüster, es giebt da zwei kleine Tische, allerlei schon drauf … er verteilt, was er in der Leipzigerstraße in letzter Stunde erstanden. Auf den über Seite gestellten Haupttisch kommt allerlei für das Mädchen.
Er geht leer aus. Wie anders einst …
Er schüttelt den Gedanken ab, setzt sich an ein Harmonium, schlägt den Deckel auf und spielt, ein Weihnachtslied, leise, ganz leise … vor ihm taucht der uralte Weihnachtsgruß auf: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen …
Friede auf Erden! … Streit, Haß, Unfrieden, zerbrochenes Glück … o, wie er sie geliebt hat, angebetet …
In seinem ganzen Gesicht zuckt es. Er springt auf, greift zu einer Tischglocke.
„Meine Jungen,“ sagt er halb schluchzend, als sie zaghaft, mit den weitgeöffneten Kinderaugen, hereintappeln, nimmt sie auf, küßt sie, einen nach dem andern, trägt jedes zu seinem Anteil. Sie sehen ihn verwundert an, nur einen Augenblick, dann ist alles Interesse von den Herrlichkeiten da verschlungen.
Das Mädchen bedankt sich, beklommen, geht es hinaus, um das Abendbrot zu besorgen. Er spielt mit den Kindern, trommelt, pfeift, musiziert … das zerstreut ihn. Was hilft’s! Er wird das Fest verwinden und ein neues Leben anfangen.
„Soll ich hier auf dem Tisch decken?“ fragt Hedwig durch die Thür.
„Machen Sie bloß keine große Deckerei, bringen Sie nur den Teller mit Butterbroten und das Bier.
Sie legt eine Serviette auf und bringt; er ißt stehend, während die Kinder mit allem, was Räder hat, über den rotglühenden Teppich karriolen.
„Ihr müßt auch den Christbaum ansehen … Marie, sieh mal, soviel Lichterchen … und da hängt Schönes drauf! Nachher erzähle ich auch eine Geschichte vom Christbaum, wie die Engelchen ihn angeputzt haben …. “
Nur ein Blick, dann wenden sie sich ungeteilt wieder ihrem Fuhrwerk zu. Was künftig sein wird, ist ihnen gleichgültig.
Er überläßt sie sich selber und beobachtet sie. Sie haben ihre Mutter vergessen, in einem halben Jahre. Als wäre sie nie gewesen. Eine grausame Thatsache … er denkt sich in die Seele dieser Mutter, wenn sie das wüßte, und ihn schaudert. Er wird sich in diese Kinderseelen prägen, so tief wie möglich, ihn sollen sie nicht vergessen!
Er kauert zu ihnen nieder und spielt wieder mit ihnen. Ein Stündchen vergeht, er sieht nach der Uhr … ah, sie zeigen noch keine Müdigkeit. Noch ein halbes Stündchen!
Hedwig räumt ab. „Sollen die Kinder noch aufbleiben, Herr Binder?“
„Noch ein Weilchen.“
Sie geht hinaus – bevor sie die Thür schließt, giebt es ein Geräusch draußen, wie an der Hausthür … dann ist’s verhallt. Der Hausherr hat einen Augenblick acht draufgegeben – legt keinen Wert drauf. Aber gleich drauf kommt Hedwig wieder und bleibt an der Thür stehen.
„Herr,“ sagt sie halblaut.
„Was ist?“ Er fährt mit dem Gesicht auf, wie sieht das Mädchen aus? Rot im Gesicht, verlegen, verstört, wichtig, geheimnisvoll …
„Die gnädige Frau ist da.“ Wie ein Blitz durchschlägt’s ihn. Das ist etwas Ungeheuerliches! Er hat Not, sich zu erheben. „Wo?“ fragt er.
Sie winkt mit dem Kopfe seitlich. „Dort. Im Hausflur.“
Es wirbelt in seinem Kopfe. „Bleiben Sie bei den Kindern, Hedwig, spielen Sie mit ihnen. Ist noch Licht im Flur?“
„Ja.“
Er geht hinaus. Der Flur ist nicht breit, die Hälfte der Länge nimmt die Treppe ein. Unter der Treppe, an der Wand lehnt mit dem Kopf eine mittelgroße Frauengestalt, im pelzverbrämten Abendmantel, die Hände in dem Musse, ein Pelzmützchen auf, das Gesicht weiß verschleiert.
Er steht einen Augenblick wie erstarrt, und sie rührt sich nicht. „Was wünschest du?“ fragt er mit kalter Abwehr. „Ich will zu meinen Kindern,“ sagt sie tonlos. Es liegt etwas Erschütterndes in dieser einfachen Art, wie sie sich einführt. Aber er macht sich hart.
„Wozu das?“ fragt er, sich ein paar Schritte nähernd. „Was man thut, muß man ganz thun, wenn man etwas will, muß man die Konsequenzen auf sich nehmen. Die Kinder fragen nicht mehr nach dir – weshalb sie wieder verwirren …“
Sie schluchzt plötzlich auf, schluchzt, sinkt nieder, kauert sich auf den Boden.
„Meine Kinder,“ stößt sie dazwischen halblaut heraus, „meine kleinen Jungen … sie haben mich vergessen … es ist nicht möglich …“
„Es ist so, und es ist gut so …“
„Nein, es ist nicht gut so!“ sagt sie mit erstickter Stimme und erhebt sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung. „Das sind die Kinder meiner Schmerzen, und ich habe ein Recht auf sie, das unverlierbar ist. ich habe nichts gethan, was jemand berechtigen könnte, mich aus ihrer Erinnerung zu streichen…“
„Du hast sie verlassen; ich denke, das genügt,“ sagt er kalt.
„Meine Kinder – meine Kinder? O Gott … dich habe ich verlassen, der mich peinigt, von dessen Stichen und Schlägen ich die blutigen Male in meiner Seele trage! Du bist’s, der die Kinder mutterlos macht …“
„Das verantworte ich …“
„Das verantwortest du – du …“ Sie tritt ihm nahe, [831] indem sie den Schleier zurückschlägt; er hat das schöne blühende, verweinte Gesicht dicht vor sich, die erregten Augen blitzen im Halbschatten … mein Gott, das ist all das Rüstzeug süßer Waffen, das ihn einst zu ihren Füßen niedergezwungen, und es durchzittert ihn wie am ersten Tage, wo er in der Pferdebahn ihr gegenüber gesessen …, eine Tote wird vor ihm lebendig, das Liebste, was er begraben … wie Sturm in erstickende Glut fährt es, die dumpfe Kirchhofsruhe seines Innern jäh aufstörend … quält ihn, als müsse er zur Erleichterung die Arme breiten … was hat er verloren? Das Glück, das einzige nennenswerte, die Sonne, den Sommer, eingetauscht für die nüchterne, kahle, eintönig dämmernde Steppe von Ruhe …
A-h! Weg damit!
„Ueber diesen Punkt haben wir genug diskutiert, meine ich. Du glaubst glücklicher zu sein ohne mich … in dieser Hölle, wie du zu sagen beliebtest, ist’s still, seit du fort bist … die Kinder sind mein … ich will nicht, daß du unsern Frieden wieder aufwühlst. Ich will’s nicht!“
Er spricht zuletzt hart, drohend. „O – sagt sie mit fliegendem Atem, „aber ich will’s! Noch sind wir nicht geschieden, noch bin ich Herrin hier im Hause, kann hierher zurückkehren …“
In diesem Augenblick sagt dort ein Stimmchen hinter der Thür:
„Mama, liebe Mama!“
„Max –“ schluchzt sie auf. „Maxi … zurück!“
Ratlos prallt er beiseite vor diesem überwältigenden Ausbruch von Muttersehnsucht; sie reißt die Thür auf und liegt vor ihrem Kleinen auf den Knien und der Mann hört die erstickenden Küsse und die heißen abgebrochenen Laute, die von Unaussprechlichem stammeln.
Finster steht er, überblickt den Flur … da steht ein großer Waschkorb: Geschenke für die Kinder, sagt er sich.
Er kann, was jetzt geschieht, nicht hindern; in der That, er hat kein Recht dazu. Er kann sie nur mit einer Brutalität entfernen, und sie kann mit der Polizei wiederkommen. Er ist erbittert … was soll das werden, sie nimmt ihm die Kinder für heut’ … für lange … er hat ihnen einst gesagt, sie sei weit fortgereist …“
Was nun? Was thut er? „Hedwig!“ ruft er. Und das Mädchen erscheint „Eine Lampe- in das – Zimmer da!“
Er geht in sein Rauchzimmer, bei der Treppe, neben der Eingangsthür, läßt die Thür offen, bis die Lampe kommt. Ein komfortables Herrenzimmer. Er zündet sich eine Cigarre an und geht brütend auf dem Teppich hin und wieder, ein freiwillig Verbannter.
Nun sieht er nach der Thür; ewig kann das nicht dauern, die Kinder müssen schließlich doch zu Bett.
Die Scenerie drüben im Salon schwebt vor ihm: die selige Mutter mit den lang entbehrten Kindern. Welch ein Weihnachtsabend ist das nun geworden! Diese Mutter, dies schöne, heißblütige Weib, das sein gewesen … es ist schrecklich, aber es ist wahr. Jetzt erst ist es wieder, als wäre das Haus bewohnt.
Stimmen und Stimmchen draußen – ihre Stimme mit dem lachenden Metallklang, der ihm immer im Ohr geblieben; sie holen den Waschkorb, er hört ihn knistern …
Wieder Stille.
Er steht, und auf einmal durchbebt’s ihn, als stünde sie vor ihm wie vorhin, den Schleier aufgeschlagen, ihr Hauch trifft ihn warm, der schwüle Dunst ihrer fieberhaften Erregung, er fühlt ihre Nähe, wie einst … wie einst … Täuschung – aber … mein Gott, warum ist das vorbei?
Diese trostlose Oede, zu der er sich hier verdammt hat! Warum kommt man nicht, ihm zu sagen, daß die Kinder auch nach ihm verlangen?
Er raucht, raucht – wird diese Cigarre zu Ende rauchen, dann gehn und die Kinder zu Bett schicken. Immer sieht er im Geist die Frau, die Mutter, mit den Kleinen … dazwischen sieht er nach der Uhr, wohl zehnmal.
Endlich ist’s soweit.
Er hat Herzklopfen, aber er geht.
„Papa – Papa – hat Weihnachtsmann auch gebracht,“ sagt Maxi und hält ein Kaninchen auf Rädern. „Das hier auch, Papa …“
„So so. – Jetzt wird’s aber höchste Zeit, daß ihr zu Bett geht.
„Mama bringt uns zu Bett,“ spricht Edi.
Dort steht sie, bläst die letzten Lichter am Baume aus. Ihre Ueberkleidung liegt auf der Sofalehne, der Hut drauf. Sie hat ein graues Kleid an, das er kennt … und das ist das schöne, weiche Haar am Hinterkopf, das er auch kennt, so dick aufgenommen.
„Gut, aber es ist schon sehr spät für euch …“
„Ich gehe gleich mit den Kindern,“ sagt sie ohne Affekt, ohne ihn anzusehen.
„Gute Nacht, lieber Papa!“
„Gute Nacht, mein kleiner Junge … gute Nacht, Edi.“
Er küßt die Kinder, sie geht an ihm vorüber, ins Wohnzimmer, dreht sich um: „Kommt!“ Ein scheuer Augenblitz streift ihn. Und die Kinder trippeln ihr nach.
Er wird hier auf die Mutter warten, wird noch ein paar ernste Worte mit ihr reden … das geht so nicht, sie muß künftig ihn und die Kinder in Ruhe lassen!
Und er wandelt wieder auf und ab und überlegt, was er sagen soll – dazwischen fällt ihm ins Auge, was sie den Kindern mitgebracht hat …
[832]
[833] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [834] Wo sie nur bleibt? Es gehn ja noch ausreichend Züge …
„Hedwig!“ ruft ihre Stimme in den Flur, und er hört des Mädchens Schritte schlürfen. Das kommt nicht wieder und kommt nicht wieder. Endlich! er öffnet die Thür. „Wo bleibt meine Frau?“ fragt er gedämpft.
„Sie hat sich schon niedergelegt,“ sagt das Mädchen, als ob das etwas Selbstverständliches wäre.
„Zu Bett.“
Er macht Augen, als sähe er Gespenster – und doch durchrieselt es ihn wunderbar …
„Ja“, nickt Hedwig und stutzt sichtlich.
„Es ist gut … nein … legen Sie sich auch nieder.“
Er wird in sein Zimmer gehn, sich mit einer Decke aufs Sofa legen.
Er hat ja kein Recht, es ihr zu wehren. Noch ist die Scheidung ja nicht gerichtlich bestätigt … Und er löscht alles Licht, begiebt sich mit starken Schritten hinüber … da ist ein Schlafsofa, und die Decke noch vom Mittagsschlafe her. Er löscht auch hier die Lampe und bettet sich.
Aber schlafen … jetzt schlafen …!
Es muß möglich sein!
Und in der Abgespanntheit, in der Dunkelheit stimmt’s endlich, daß er müde wird, dämmert … da drüben … da drüben …
Als er aufschrickt, ist’s stockfinster vor seinen Augen. Er richtet sich auf, es ist, als hätte etwas seine Hand gefaßt und wieder losgelassen. Da steht’s, etwas Lichtes, Undeutliches … er reißt die Augen auf … . auf einmal ist er sehr munter … sie …
„Ich bin’s, Franz.“
Sie zögert einen Augenblick, dann setzt sie sich zu ihm auf den Sofarand.
„Ich kann nicht schlafen, will ein vernünftiges Wort mit dir reden. Bist du dafür zu haben?“
„Bitte,“ sagt er.
Ein Fieber durchfährt ihn.
Ihr Gesicht mit den dunklen Augen dämmert zwei Schritt von ihm, das Knistern ihres Kleides neben ihm regt alle Nerven auf.
„Es wird mir nicht leicht; aber drüben atmen unsre Kinder in der Stille, ihre kleinen duftenden Atemzüge sagten mir: du mußt! Wir beide haben hart gekämpft miteinander, das entfremdet. Ob wir uns je das wieder werden könnten, was wir uns waren … ich weiß es nicht. Ich habe dir einen Eklat bereitet, und du bist im Vorteil gegen mich. Du bringst ein größeres Opfer als ich, wenn du nachgiebst, mit mir im selben Hause weiter zu leben. Aber ich möchte dich fragen: Willst du’s versuchen?“
Diese Worte, so eintönig gesprochen, wie gedämpfte Rede klingt, sehen nach kühler Verständigkeit aus, und doch – in der Stimme bebt etwas, eine unterdrückte Bewegung, die erlöst sein will.
„Versprichst du dir etwas davon?“ fragt er nach kurzem Besinnen.
Ihre Hand spielt nervös mit den Falten der Decke.
„Wenn wir mit dem einzigen Wunsch nebeneinander gehen, den Frieden zu hüten und für unsere Kinder zu leben – dann glaub’ ich: wir kommen aus. Ich kann nicht erwarten, daß du von früheren Empfindungen … von einst meine ich … noch für mich übrig hast … das wäre vielleicht nicht einmal gut. Aber die Kinder! Die Sehnsucht nach ihnen hat mich all die Zeit her gequält, wo ich von dir fort bin, doch habe ich’s ausgehalten – bis heute. Bis Weihnachten …. Wie ich heute in die Stadt ging und die Leute in den Spielzeugläden einkaufen sah – wie ich in meiner Todeinsamkeit saß, so verlassen und verloren, da zitterte ich nach meinen kleinen Vögelchen … ich wäre gestorben oder verrückt geworden, wenn ich sie heute nicht gesehen hätte, mit ihnen gespielt, ihre Stimmchen gehört! … ich sage es ganz offen, wie es war … Ich kann nicht von meinen Kindern gehen,“ schloß sie mit leidenschaftlichem Aufbäumen.
„Hasse mich, laß mich’s fühlen … aber ich will bei meinen Kindern sein!“
Ihre Stimme brach zuletzt, erstickte, – der Mann auf dem Sofa fühlte ohne Berührung, daß sie am ganzen Leibe bebte.
„Und ich?“ fragte er mit tiefer Bitterkeit, „und ich?“ Und er setzte sich höher auf.
Ein paar Augenblicke schwieg sie, saß wie erstarrt, nur die dunklen Augen suchten geheimnisvoll, als könnten sie nicht finden, hier nicht, da nicht, weithin nicht … und plötzlich fühlte er die weichen Frauenarme um seinen Hals geschlungen und ihr Antlitz an dem seinen, heiß, schwer atmend …
„Franz,“ stammelte sie … „Franz!“ …
Und in tiefer Scham raffte sie sich auf und entfloh.
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Am andern Tag kam der Amerikaner Felix. Er hatte sich einen netten Plan zurecht gemacht: Herrgott, müssen denn die zwei sich wirklich durchaus scheiden lassen? Er wird die Sachlage genauer untersuchen, vielleicht läßt sich da ein gutes Werk thun.
Er machte Augen wie Theetassen.
„Na nun adieu, alter Sohn – – da hast du mich gestern schön angelogen …“
In der Weihnachtsstube fand er das Paar, niemand war ihm entgegengegangen, ihn zu bewillkommnen.
Die Tanne hinter den beiden duftete zu ihm, er stolperte beinahe über Maxis Kaninchen, der ihm damit in die Beine fuhr.
„Weihnachtszauber,“ sagte der Hausherr und kam strahlend mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, „Friede auf Erden …“
„Und dem Menschen ein Wohlgefallen,“ schloß lachend der Freund und deutete mit langem Zeigefinger auf seine breite Brust.
„Von Herzen, meine gnädige Frau! – Ich wollte Sie heute noch auf dem Umwege über den Mann hier wo anders aufsuchen …“
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Weihnachtsmärkte.
Wo frohe Feste große Volksmassen vereinten, dort pflegte sich seit jeher der „fliegende Kaufmann“ mit seinen Buden einzustellen. Reich an Volksfesten war aber in früheren Jahrhunderten die Zeit um die winterliche Sonnenwende. Man kannte noch nicht den im Kerzenlicht strahlenden Weihnachtsbaum, aber die Gehilfen des Christkindes, Sankt Klaus, Knecht Ruprecht und andere, gingen fleißig umher und huldigten der Sitte des Beschenkens. Umzüge aller Art wurden abgehalten und Weihnachtsspiele zur Darstellung gebracht. Dabei wurden je nach Land und Sitte besondere Gaben ausgeteilt und besonderes süßes Gebäck verzehrt. Zu solchen Zeiten hielten auch der Kaufmann und Zuckerbäcker ihre reiche Ernte ab: Weihnachtsmärkte wurden zu stetigen Vorläufern und Begleitern des Weihnachtsfestes.
In der Gegenwart sind viele der alten Bräuche verschwunden, selten nur noch begegnet man in entlegenen Dörfern den vermummten Gestalten, die einst die Phantasie des Volkes erdichtet hatte, dafür ist Weihnachten zum hohen Fest der Liebe geworden. Unter dem Christbaum dürfen die Gaben für jung und alt nicht fehlen. Die Heilige Nacht ist das große Geschenkfest der Deutschen geworden. Unter diesen Umständen haben sich die Weihnachtsmärkte wohl erhalten, ja, ihre Bedeutung ist gewachsen. Wenn sie auch im großen und ganzen alle das gleiche moderne Gepräge tragen, so haben sich doch bei diesem und jenem Spuren ihres alten Ursprungs nicht völlig verwischt.
Kaum in einer andern Stadt des Deutschen Reiches dürfte das Weihnachtsfest eine so intensive Thätigkeit hervorrufen als in dem alten mauerumgürteten Nürnberg. In vielen Häusern herrscht wochenlang vorher eine fieberhafte Thätigkeit. Muß ja doch Nürnberg einen großen Teil der schönen Sachen liefern, die der Weihnachtsmann den braven Kindern in allen Gegenden Deutschlands beschert, sendet es ihnen ja doch die knusperigen süßen Lebkuchen, welche den Leckermäulchen lieber denn Gold und Silber sind, wenn man einem alten Schriftsteller glauben darf. Auch äußerlich machen sich die herannahenden Festtage bemerkbar. Am Tage der heiligen Barbara, das ist am 4. Dezember, beginnt seit Jahrhunderten der Christkindleinsmarkt, von den Nürnbergern kurzweg der „Kindlesmarkt“ genannt. Auf dem großen Marktplatze werden lange Reihen von Buden aufgeschlagen, in welchen die Verfertiger der schönen bunten Spielwaren und Süßigkeiten, die „Professionisten“, wie man sie früher nannte, dem kauflustigen Publikum ihre schönen Sachen zugänglich machen. Schon im Mittelalter hat dieser Markt viele Fremde nach Nürnberg gezogen, die mit der einheimischen Bevölkerung wetteiferten, sich des „Nürnberger Tandes“ zu bemächtigen – natürlich gegen gute Bezahlung. Den Gipfelpunkt erreichte der Zudrang von auswärts am Thomastag – 21. Dezember. Im Jahre 1527 wurden die Zöllner an den Thoren angewiesen die Wagen und Karren aufzuzeichnen, welche in die Stadt einfuhren, wobei sich folgende Ziffern ergaben: Frauenthor 250 Wagen, 8 Karren; Spittlerthor 440 Wagen, 60 Karren; Neues Thor 207 Wagen 57 Karren Tiergärtner Thor 110 Wagen 40 Karren: im ganzen 1007 Wagen und 165 Karren, fürwahr eine sehr stattliche Wagenburg, obgleich dabei noch die Ziffern jener Fuhrwerke fehlen, die durch das Lauferthor eingezogen sind.
Zwar nicht mehr am Tage des heiligen Thomas, aber an dem darauf folgenden Sonntag, dem letzten vor dem Christabend, der nun der Thomastag genannt wird, findet diese Masseneinwanderung in Nürnberg heute noch statt, ist doch der Thomastag das letzte jener Volksfeste in Franken, die mit dem „Walperlastag“ auf der Ehrenburg in der Fränkischen Schweiz am 1. Mai alljährlich ihren Anfang nehmen. Schon am Vorabend finden sich viele Fremde ein, die Gasthäuser der Stadt sind gut besetzt, auf den Straßen herrscht reges Leben, geschäftiges Treiben. Am Sonntag aber strömt eine fröhliche Menge zu den Thoren herein, während viele Tausende durch die Eisenbahnzüge gebracht werden.
Die Straßen der Stadt werden allgemach zu eng, es kostet Mühe, sich durch die Menschenmenge hindurchzuwinden, die sich hier zusammengefunden. Wenn auch kaum Einer Nürnberg verlassen wird, ohne etwas gekauft zu haben, so ist bei vielen der Gäste doch nicht mehr der Einkauf der Hauptzweck, der sie hierher geführt. Es ist vielmehr bei manchem die Aussicht und Gewißheit, alte Schulkameraden und Studiengenossen, liebwerte Freunde und Kollegen treffen, und einige angenehme, anregende Stunden mit ihnen verleben zu können. Forstleute, Geistliche und Lehrer, Beamte aller Art aus kleinen Orten sind daher zahlreich vertreten. Besonders zahlreich finden sich aber regelmäßig die Erlanger Studentenschaft, dann neuerdings auch viele farbentragende Musensöhne aus Würzburg, München und Aschaffenburg ein, die in ihren bunten Mützen das Straßenbild anmutig beleben; gar freundliche Grüße winken ihnen Nürnbergs schöne Töchter aus ihren malerischen Chörchen zu.
Und abends vereinigen fröhliche Festkneipen Aktive und Alte Herren; manch lustiges Lied erklingt, manch schönes Wort wird gesprochen, voll Freude erinnern sich die Aelteren an der Jugend goldene Zeit. Der Mittelpunkt all des Lebens und Treibens am Thomastage ist aber der Kindleinsmarkt, der eine vorzügliche Staffage des prächtigen malerischen Marktplatzes bildet, zu dem die Türme von St. Sebald und des Rathauses grüßend herüberblicken. Trefflich hat diese Scenerie P. F. Messerschmitt auf unserm Bilde S. 832 und 833 dargestellt. Manch alter Knabe wird hier wieder jung, und oft sind es schon recht ausgewachsene Kinder, die, mit Waldteufel und Ratsche, Trommel und Pfeife, Trompete und Mundharmonika ausgerüstet, hier ihre ebenso liebliche wie ohrenzerreißende Musik ertönen lassen. Alles atmet eitel Lust und Freude, jeder ist schon jetzt in der richtigen Feststimmung, voll Ahnung der schönen und herrlichen Dinge, die das schönste aller Feste bringen wird. Auch die Geschäftsleute sind vergnügt und reiben sich die Hände, denn schon der Nürnberger Lokaldichter und ehrbare Flaschnermeister Grüber hat in seinem „Kindleinsmarkt am Thomastag“ gesagt:
„Dös g'häiert mit zon Kindlesmark
Und mit zon Thomestog,
Dau sucht a jeder, wos'n g'fällt
Und kafft si, wos er mog.“
Mitten in das rege Treiben der Reichshauptstadt versetzt uns das Bild W. Papes auf S. 824 u. 825. In den letzten Wochen und Tagen vor Weihnachten wird wohl die ganze Stadt zu einem großen Weihnachtsmarkt. Auf Plätzen und Straßen reihen sich die duftenden Tannenbäume zu Hainen und Wäldchen zusammen. Buden wachsen empor und die Schaufenster aller Läden prangen im schönsten Schmuck. Am Sonntag vor Weihnachten erreicht dieses Treiben seinen Höhepunkt, da bestürmt eine Flut von Käufern die Verkaufsstände und Läden, und der Volksmund hat diesen Tag den „Goldenen Sonntag“ genannt, da er Geld unter die arbeitsamen Leute bringt wie sonst kein Tag im Jahre!
W. Pape hat ein treffliches Momentbild dieses Hastens und Treibens geliefert. Sein Schauplatz ist die belebte Ecke der Leipziger- und Friedrichstraße. Im Vordergrunde sehen wir einige der kindlichen Hausierer, die auch eine Kleinigkeit für den Weihnachtsabend verdienen möchten. Da stehen die Mädchen mit Schäfchen und Ruten, dem „haarigen Mann“ und anderem Weihnachtstand, während ein Junge an die elegante Modedame sich wendet: „Scheene junge Frau, vielleicht noch 'n paar Walddeibel jefällig?“ Die Menge auf der Straße rennt und drängt, alles mit Weihnachtseinkäufen bepackt. Den Mittelpunkt der bewegten Scene bildet eine Droschke, in die, obgleich selbst der gutmütige Rosselenker schon über und über bepackt ist, immer noch „ein paar Kleinigkeiten“ hinein müssen.
Einen derart von Kauflust belebten Weihnachtsmarkt mit leichter Schneedecke und klarem sonnigen Himmel möchten wir für alle deutschen Städte zum kommenden Fest erwünschen. In tausend und aber tausend Familien, die hart um den Lebensunterhalt ringen müssen, hängt ja die Freude am Heiligen Abend von dem Ausfall des Weihnachtsgeschäftes ab. Wen das Schicksal günstig gestellt und mit Mitteln gesegnet hat, der möge darum vor dem Christfest ein wenig zum Verschwender werden und reichlich einkaufen nicht nur in den Prunkgeschäften, sondern auch in den kleinen stillen Läden und den Buden im Freien.
[836]
Ruprecht
Wenn die Flocken fliegen,
Kommt der Weihnachtsmann,
Rührt die kleinen Herzen,
Rührt die großen an.
Macht er nun die Fahrt
Ueber tausend Jahre
Weht sein weißer Bart.
Durch die Dämmerstunde
Lauscht an jedem Laden,
Horcht an jeder Thür.
Kennt sie all’ bei Namen,
Weiß um jedes Kind,
Ob sie artig sind.
Niemals war dem Guten
Noch zu fern ein Haus,
Läßt sich nicht verdrießen
Nickten all’ die Kleinen
Schläfrig ein am Herd,
Kramt er aus dem Sacke
Buch und Schaukelpferd.
Daß ihn niemand sah,
Läßt uns Großen lächelnd
Liebe Träume da.
Und er thut ein Wunder
Hat die Herzen wieder
Voll und warm gemacht.
Paul Härtel.
Tierisches Leben unter Eis.
Durch den winterlichen Hochwald führt uns der Weg zu dem einsam gelegenen Bergsee. In tausend Lichtern spielen die frostigen Strahlen der Dezembersonne auf der glitzernden Eisfläche. Die Natur ist eingegangen in die große Winterruhe, in der sie frische Kräfte sammelt zu baldigem, neuem Sprossen und Keimen. Tiefe Stille umgiebt uns, heute raschelt keine Eidechse im Gras, kein fröhlicher Vogelchor ertönt in den Zweigen, lautlos klettern gewandte Meisen an den kahlen Aesten und trägen Fluges zieht ein Rabe zu unseren Häupten.
Das vollendete Bild des Todes scheint uns der See zu geben. Das flüssige leichtbewegliche Element ist erstarrt unter dem Frosthauch des Winters und jedes Leben ist verschwunden. Da hüpft kein Frosch bei unserem Nahen mit plumpem Sprung ins Wasser, kein zierlicher Salamander taucht zwischen den Blättern am Ufer auf, kein Fisch springt draußen auf leicht gekräuselter Wasserfläche empor.
Ist wirklich alles Leben erstorben? Weit draußen im See zeigen Warnungspfähle den Schlittschuhläufern eine gefährliche Stelle an. Ein Loch ist dort in das Eis geschlagen. Es soll wohl ein „Luftloch“ sein, welches ein besorgter Fischbesitzer gemacht hat, um dem Wasser atmosphärische Luft zuzuführen; vielleicht hat es auch zu winterlichen Fischereizwecken gedient.
Hiernach zu schließen pulsiert also doch auch unter dem Eis noch thätiges Leben?
Eine Reihe von Fragen tritt sofort uns entgegen: Herrscht in den gefrorenen Wasserbecken überhaupt keine Winterruhe? Oder sind nur einzelne Bewohner in der glücklichen Lage, die Winternacht zu verträumen, während anderen auch im Winter das harte Ringen um die Existenz beschieden ist?
Die Natur liebt keine Monotonie; auf den verschiedensten Wegen verfolgt sie das gleiche Ziel, die Erhaltung ihrer Geschöpfe. Dem einen ist nur die Lebensdauer eines kurzen Sommers beschieden, aber widerstandsfähige Keime sorgen für das Erstehen einer neuen Generation im kommenden Frühjahr; andere Lebewesen versinken in einen schützenden Winterschlaf, der ihnen die Nahrungsaufnahme unnötig macht und bei herabgesetzter Lebensthätigkeit über alle Fährlichkeiten hinüberhilft. wiederum anderen Organismen ist die glückliche Gabe mit auf den Lebensweg gegeben, in geringer Abhängigkeit von Temperatur und sonstigen äußeren Einflüssen, sich ihres Daseins auch im Winter freuen zu dürfen und endlich begegnen wir auch in Deutschland manchen Organismen, denen die Winterszeit sogar als die angenehmste des Jahres erscheint.
Erst in neuerer Zeit hat sich die biologische Wissenschaft eingehender auch mit der Frage beschäftigt, wie die Bewohner unserer Wasserbecken den Winter verbringen, und fragen wir heute bei ihr hierüber an, so bekommen wir oft noch recht ungenügende Antwort. Wir dürfen freilich hieraus keinen Vorwurf erheben, denn kaum zehn Jahre sind es her, seit überhaupt der Tierwelt unserer Binnengewässer in Fach- und Laienkreisen in erhöhtem Maß Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch der bescheidenste Tümpel zeigt im Sommer ein reiches Leben an tierischen und niederen pflanzlichen Organismen. In Weihern und vollends erst in großen Seebecken umfaßt das Inventar an Lebewesen leicht viele Dutzend Arten. Frösche, Salamander und Fische vertreten die Wirbeltiere, zwischen den Pflanzen des Ufers kriechen Schnecken umher, während im schlammigen Boden große Muscheln stecken; auf Steinen und an Schilfstengeln sitzen korallenartig verzweigt oder in dicken Knollen die Kolonien der Schwämme und Moostierchen. Schon mit den bloßen Augen erkennen wir zahlreiche Wasserinsekten und Insektenlarven, und nehmen wir das Netz zur Hand und fahren zwischen Uferpflanzen hin oder fischen draußen auf freiem See, so füllen sich unsere Gläser mit einem Gewimmel halbmikroskopischer Tiere, welche die Zoologie meist zu den kleinen Krebstierchen zählt. Forschen wir noch weiter und nehmen das Mikroskop zu Hilfe, so enthüllt es uns noch Lebewesen, die dem menschlichen Auge verborgen geblieben waren: Rädertierchen verschiedenster Art, Infusorien winzige pflanzliche Gebilde mit einem eleganten Kieselpanzer, die bekannten Diatomeen, und auch Bakterien.
Dieses Bild sommerlichen Lebens eines kleinen Wasserbeckens von geringer Tiefe ändert sich im Winter. Schon im Frühsommer haben die Wassersalamander nach dem Laichgeschäft das Wasser verlassen und sich ans Land begeben, wo sie unter Steinen und
[837][838] Moos im Herbst zum Winterschlaf sich verkriechen. Ihre Verwandten, die Frösche, sind zwar dem feuchten Element treu geblieben, sinkt aber die Temperatur des Wassers immer mehr, dann bohren sie sich tief im Schlamm des Grundes ein und verfallen hier in einen lethargischen Winterschlaf.
Der Schlamm ist auch für viele andere Geschöpfe der schützende Zufluchtsort, der ihnen den Winter überstehen hilft. Wohl die Mehrzahl der Wasserkäfer und Wasserwanzen, die in ausgebildetem Zustand überwintern, wie auch die zahlreichen Insektenlarven, die wir im Wasser finden, die Larven der Libellen, der Eintagsfliegen verkriechen sich, soweit sie ihre Entwicklung noch nicht vollendet haben, im Schlamm. Als ausnahmslose Regel können wir es freilich nicht hinstellen, denn nicht selten finden wir an offenen Stellen des Eises, an Einflüssen oder Abflüssen auch Wasserinsekten mitten im Winter schwimmend oder herumkriechend.
Auch die Wasserschnecken verhalten sich verschieden; während vielfach angegeben wird, daß die großen bekannten Sumpfschnecken sich zur Winterruhe in den Schlamm verbergen, liegen von anderer Seite Beobachtungen vor, daß diese Schnecken mitten im Winter in dick gefrorenen Teichen auf dem Grund sich fortbewegen, ja, Brockmeier bemerkte selbst an der Unterseite des Eises eine Wasserschnecke kriechen. Freilich mag der von der Schnecke abgesonderte Schleim die Kälteempfindung mindern. Darf demnach als sicher angenommen werden, daß die Schnecken der Regel nach oder wenigstens zum Teil in keinen Winterschlaf verfallen, so findet doch während dieser Zeit keine erhöhte Lebensthätigkeit statt, die sich im Wachstum oder in der Eiablage äußert.
Andere Tiere, die wir im Sommer vielfach in unserem kleinen Weiher, dem häufigen Ziel unserer Exkursionen, gefunden haben, sind im Winter völlig verschwunden. Vergebens suchen wir besonders nach Schwämmen und Moostieren. Sie scheinen aus der Liste der Bewohner des Wasserbeckens getilgt, und doch finden wir sie sicher wieder im nächsten Frühjahr. Wenn der Sommer vorüber ist, sehen wir, wie in diesen pflanzenähnlichen Lebewesen in ungeheurer Zahl kleine runde oder ovale Körperchen entstehen, die mit einer dicken, oft noch durch Kieselbestandteile verstärkten Hülle umgeben sind; es sind Dauerkeime, mit dem wissenschaftlichen Namen bei den Schwämmen „Gemmulae“, bei den Moostieren „Statoblasten“ genannt, dazu bestimmt, die Fortexistenz der Art über den Winter hinaus zu erhalten. Der Tierstock, in welchem sie entstanden, geht seinem Zerfall entgegen; die Dauerkeime werden hierdurch frei, wie der Sämann den Samen ausstreut, verstreuen sie Wind und Wellen über den ganzen See. Die einen haften an Steinen und Holzwerk, die andern sinken langsam zu Boden andere bleiben hängen am Gefieder der Wasservögel und werden in weit entlegene Wasserbecken transportiert; gegen Kälte und kürzeres Austrocknen sind sie gefeit durch ihre schützende Hülle, ja sie bedürfen sogar längerer Ruhe, um die Keimfähigkeit zu erlangen, wenn im Frühjahr die milden Strahlen der Sonne das Wasser wieder erwärmen. So ist bei diesen niederen Tieren zwar das Individuum dem Winter zum Opfer gefallen, aber die Natur hat Fürsorge getroffen, daß die Art erhalten wird.
Aehnliches finden wir bei vielen niederen Krebsen, besonders den sogenannten Wasserflöhen, den Daphnien und den verwandten Formen. Im Laufe des Sommers produzieren die Tiere sogenannte Sommereier, die sich im mütterlichen Körper in rascher Folge zu jungen Krebschen entwickeln, naht aber der Herbst, so entstehen die Wintereier, welche mit einer eigenartigen harten Schale umgeben sind, von dem kleinen Kruster abgelegt werden und die Fähigkeit besitzen, niedere Temperaturgrade zu überdauern, während die Krebschen selbst im Winter verschwinden.
So vermissen wir manche alte Bekannte aus den Sommertagen oder wir müssen sie im Schlamm suchen. Nicht gering aber ist die Zahl der Tierchen, die wir auch im tiefsten Winter unter der dicksten Eisdecke in voller Lebensthätigkeit antreffen.
Die Untersuchung eines gefrorenen Wasserbeckens ist freilich etwas schwieriger, auch sind zu dieser Zeit diese zoologischen Studien im Freien etwas weniger angenehm als an einem schönen Sommertag. Wir haben Vorsorge getroffen, daß bis zu unserer Ankunft ein mehrere Meter langer Schlitz in das dicke Eis gehauen wurde, in welchem wir nun mit dem feinen Netz fischen. Die Eisdecke ist über 30 cm dick, die Tiefe des Wassers sehr gering, knapp einen Meter betragend, die Wassertemperatur unter dem Eisrand 1°C, am Boden 1 ½°. Ist es möglich, hier etwas zu finden? Groß ist allerdings unsere Ausbeute nicht, aber nachdem wir den Inhalt unseres Netzes in ein kleines Glas mit Wasser gebracht haben und unseren Fang mit der Lupe mustern, finden wir zahlreiche winzige Tierchen, die in schnellenden Bewegungen das Wasser durcheilen, von Zeit zu Zeit kurz stehen bleibend. Es sind ebenfalls kleine Kruster, zu den Hüpferlingen oder Cyklopsarten gehörend, die wir auch im Sommer nie in der Tierwelt unserer Gewässer vermissen. Daß sie sich in der eisigen Temperatur wohlfühlen, zeigen die zahlreichen mit Eiersäckchen versehenen Weibchen. Für manche Arten fällt die Hauptperiode ihrer Entwicklung geradezu in die strengsten Wintermonate. So fand, um nur ein Beispiel anzuführen, Zacharias, daß eine bestimmte Art dieser kleinen Krebse im Plöner See von Juni bis Ende August völlig verschwand, ihre größte Verbreitung aber im Dezember erreichte, zu welcher Zeit sich etwa 50 000 Stück unter einem Quadratmeter Seefläche fanden.
Noch manche andere bemerkenswerte Form unter diesem an oder unter der Grenze der Sichtbarkeit stehenden Kleingetieren, z. B. Rädertiere und Infusorien, erwischen wir bei unserer winterlichen Exkursion, mehr aber noch fesselt unser Interesse das Leben der Fische in den mit Eis bedeckten Wasserbecken.
Auch die größten Wasserbewohner überdauern selbst in seichten Wasserbecken leicht die Winterzeit, wenn nicht besonders ungünstige Verhältnisse eintreten, vollständiges Ausfrieren oder Luftmangel. Friert ein Wasserbecken bis zum Grunde aus, was infolge der besonderen physikalischen Verhältnisse des Wassers nur bei sehr seichten Ansammlungen oder bei wiederholtem Auseisen anzunehmen ist, so fällt jedes aktive Leben der Vernichtung anheim, nur die widerstandsfähigsten Dauerkeime, die wir bereits kennenlernten, vermögen auch ein Einfrieren zu überstehen. Wohl lesen wir immer und immer wieder von Fischen und Fröschen, die, in einem Eisklumpen eingefroren, trotzdem zu neuem Leben erwachten, aber für alle diese Erzählungen kann durch das streng wissenschaftliche Experiment, wie es in den letzten Jahren u. a. besonders Kochs ausführte, der Wahrheitsbeweis nicht erbracht werden. Wohl vermögen viele Wassertiere niedere Temperaturen zu ertragen, selbst wenn das Wasser rings um sie gefroren ist, können sie noch einige Zeit leben, aber wenn sie nur einen Tag völlig vom Eis umschlossen waren, starben die Versuchstiere. Den Fischen muß daher die Möglichkeit gegeben sein, in tieferem Wasser oder im Notfall auch im Schlamm eine frostfreie Zufluchtsstätte zu finden. Da Wasser ein sehr schlechter Wärmeleiter ist, so erweist sich schon eine Wassertiefe von 1 bis 1½ m als hinreichend.
Eine bestimmte Tiefe genügt jedoch allein nicht zur Erhaltung der winterlichen Fauna, sondern vor allem muß auch das Wasser gesund bleiben. Bei kleineren Wasserbecken, die keinen Zu- oder Abfluß haben, verdirbt nicht selten das Wasser völlig. Abnahme des Sauerstoffgehaltes und Zunahme der Fäulnisbakterien, die mit dem Abschluß des Wassers durch die Eisdecke Hand in Hand gehen, können in solchen Wasserbecken den gesamten Fischbestand vernichten. In solchen Fällen nutzen selbst in das Eis geschlagene Löcher nach Kochs' Untersuchungen nicht, sondern es muß zur Erhaltung der Fische Luft eingepumpt werden.
Es ist dies freilich nur ein schwacher Ersatz für die natürliche Luftzufuhr, die an Einflüssen von Bächen in das zugefrorene Wasserbecken stattfindet. Hier finden wir naturgemäß auch das reichste tierische Winterleben; besonders suchen auch die sehr sauerstoffbedürftigen Bachflohkrebse, die sog. Flußgarneelen, gern solche Plätze auf.
Haben die Wasserbecken auch nur eine mäßige Tiefe von nur wenig Metern, so ändern sich bereits die Existenzbedingungen zu gunsten der unter dem Eis lebenden Tiere und in großen Seebecken herrscht auch im Winter eine Fülle organischen Lebens. Es sind zum Teil andere Arten als diejenigen, die wir im Sommer sehen, aber in welch großer Masse auch im Winter sich die niedere Tierwelt findet, haben wir bereits an einem Beispiel kennengelernt. Schon in wenig Metern Tiefe hat das Wasser [839] eines dick gefrorenen Sees eine Temperatur von etwa +4°C, und für viele Tiere ist diese Temperatur völlig zureichend, besonders für solche, die an und für sich in größeren Tiefen leben, wo auch im Sommer die Temperatur nicht viel höher steigt.
In ausgedehntestem Maße hat zum erstenmal Imhof über diese interessante Frage systematisch durchgeführte Untersuchungen gemacht. In den Wintermonaten Dezember und Januar untersuchte er schon vor mehreren Jahren hochgelegene Wasserbecken im Ober-Engadin und Kanton Graubünden, z. B. den St. Moritzsee, den Silvaplanasee u.v.a., darunter auch den Lej Sgrischus in 2640 m Höhe, welchen neun Monate lang eine Eisdecke abschließt. Wo sich auch nur eine Tiefe von einigen Metern ergab, fand sich organisches Leben. ja sogar solche Tiere, die wir bei unserer winterlichen Exkursion nach dem seichten Weiher vermißt haben, lebten in der Tiefe der gefrorenen Seen. Hier fanden sich, wie z. B. im Campfèrsee, üppig gewachsene Stöckchen von Moostierchen, auf deren Aestchen wohlgenährte Hydren saßen. Ferner kleine Kruster der verschiedenen Ordnungen, nicht nur Hüpferlinge, sondern auch Wasserflöhe, Fadenwürmer und Strudelwürmer, Wassermilben, Insekten und Insektenlarven. Es ist kein Wunder, daß bei solch reich gedecktem Tisch mitten im Winter es auch den Fischen nicht schlecht geht und die Forellen, die Imhof in diesen hochgelegenen Seen fischte, sich wohlgenährt zeigten. Wir wissen ja auch, daß für die trefflichen Bodensee-Felchen, welche zu den besten unserer Tafelfische zählen, die Laichzeit mitten in den Winter fällt.
Nur scheinbar und trügerisch ist die Todesruhe, in welcher uns das winterliche Wasserbecken erscheint. In weitaus den meisten Fällen herrscht reges Leben unter dem Eis, meist klein zwar und dem gewöhnlichen Blick sich entziehend, nicht unwert der näheren Beachtung und nicht bedeutungslos im vielverzweigten Haushalt der Natur.
Christabend. (Zu unserer Kunstbeilage und dem Bilde S. 837) In verschiedener, aber gleich ansprechender Weise verherrlichen unsere Bilder den Zauber des Christabends. J. R. Wehle führt uns auf seinem Gemälde „Der große Augenblick“ in den engen Kreis einer glücklichen Familie. Für die Kinder ist gerade der große Augenblick gekommen, sie dürfen in das Zimmer eintreten, in welchem der duftende Tannenbaum im Lichterglanz erstrahlt und allerlei Gaben, die das Kinderherz erfreuen, ausgebreitet sind. Freudige Ueberraschung strahlt aus den hellen Kinderaugen und Freude verklärt die Gesichter der Eltern. Alljährlich wiederholt sich dieser große Augenblick im deutschen Hause, aber sein Glanz blaßt niemals ab. Unwiderstehlich werden die Herzen von dem Zauber ergriffen, der von dem Christbaume ausgeht.
In die hehre Pracht des winterlichen Waldes, versetzt uns dagegen das Bild von G. Mühlberg. Tausend Sterne funkeln am dunklen Firmament und tief im Thale glühen die Fenster in den Häusern des Dorfes. Im Lichterglanz erstrahlt auch die kleine Kirche, und von ihrem Turme tönt das Glockengeläute, das die Gemeinde zur Christmette ruft. Wie ergreifen die heiligen Töne die Wanderer, welche auf dem Heimweg begriffen sind. Das Sternenzelt wird ihnen zu einem gewaltigen Kirchendom, der düstere Wald verliert seine Schrecken, und zwischen den schneebehängten Tannen erscheint ihnen das gabenspendende Christkind. Ein tiefer und wahrer Sinn liegt in diesem allegorischen Bilde. Ueberall kann das herrlichste Weihnachtsfest gefeiert werden, überall erscheint das Christkind, wo es Menschen giebt, die an Liebe glauben.
O. Verbecks Erzählungen. Der Roman „Einsam“, der gegenwärtig in der „Gartenlaube“ veröffentlicht wird, erfreut sich, wie wir aus zahlreichen Zuschriften ersehen, eines außerordentlichen Beifalls. In diesen Zuschriften spricht eine Anzahl unserer Leser und Leserinnen auch den Wunsch aus, Näheres über die bisherige schriftstellerische Thätigkeit des Autors zu erfahren. Zugleich wird die Frage an uns gerichtet, ob dieser Autor, der so packend schildert und so warm zu Herzen spricht, ein Mann oder eine Frau sei.
Wir können darauf erwidern, daß der Name O. Verbeck das Pseudonym einer reichbegabten Schriftstellerin ist, die bereits vor ihrem Roman „Einsam“ eine Reihe kleinerer, aber eigenartiger und fesselnder Novellen geschrieben hat. Dieselben sind als ein hübsch ausgestattetes Buch unter dem Titel „Drei Erzählungen“: Der erste Beste, Die Neuenhofer Stücke, Maria Neander im Verlage von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig erschienen.
Von diesen drei Erzählungen ist die „Neuenhofer Stücke“ nur eine kurze „Ferienerinnerung“, eine originelle Charakterstudie, während die beiden anderen mit feiner Empfindung und großer Sorgfalt ausgearbeitete Novellen sind, in welchen die Vorzüge des Verbeck’schen Talentes voll zur Geltung kommen.
Die Hauptgestalt der Novelle „Der erste Beste“ ist Margarete, ein junges Mädchen, das aus Gram über ihre erste unglückliche Liebe den „ersten Besten“ heiratet, der mit Zustimmung ihrer guten und klugen Mutter um ihre Hand anhält. Die junge Ehe nimmt keinen guten Anfang. Es kommt zu einer Entfremdung der Gatten. Sich selbst überlassen, gelangt indessen Margarete Schritt für Schritt zu der Einsicht, wie unrecht, undankbar sie gehandelt hat. Beschämt, empfindet sie tiefe Reue, heiße Liebe erwacht in ihrem Herzen und schließlich erfolgt eine glückliche Versöhnung.
In dieser Novelle sind die Herzenskämpfe der jungen Frau mit warmem Empfinden geschildert. O. Verbeck zeigt sich dabei als eine überaus feine Kennerin der geheimsten Regungen des Frauengemüts. Eine scharfe Beobachterin der Menschen und der Natur, versteht sie mit klarer Ueberlegung die Situationen, in welche ihre Heldin versetzt wird, zu schildern. Dabei kommt ihr eine knappe aber formvollendete und vom dichterischen Hauch belebte Sprache zu statten. So wirken auch in dieser Erzählung die Schilderungen des Landlebens auf dem wohlgeordneten Gute Hellborn und die Scenen aus dem Aufenthalte an der Ostsee überaus fesselnd und anziehend.
Sehr ernsthaft ist der Inhalt der Novelle „Maria Neander“. Mit feinen Zügen ist die Gestalt der so herb Getäuschten gezeichnet. Der Leser gewinnt die innigste Teilnahme für diese anmutige Maria, die unter dem unerträglichen Drucke ihrer geheimen Schuld so schwer leidet. Der Ausgang ist auch in dieser Novelle erfreulich, denn zuletzt schließen die durch so schwere Kämpfe geläuterten Herzen den ewigen Bund.
Wie vielseitig O. Verbeck veranlagt ist, ersehen wir noch aus einem anderen Buche, das sie geschrieben hat. „Allerleirauh“ heißt sein Titel und es enthält sieben reizende Tiergeschichten für Kinder. Dieselben wollen in den Kinderherzen Mitgefühl für die Tierwelt erwecken, was der Verfasserin in glücklichster Weise gelingt. Sie unterrichtet die Kleinen, wie sie auf die „Sprache der Tiere“ achten sollen. Ein Mensch, der Tiere lieb hat, versteht genau, was sie sprechen. Denn er hört, wenn z. B. so ein Hund bellt oder winselt oder schnauft, ganz deutlich, was dieses Bellen oder Winseln oder Schnaufen zu bedeuten hat. Er versteht es so genau, daß er sich all diese Töne in wirkliche Worte übersetzen kann, als wären sie gesprochen worden. Das Buch, gleichfalls im Verlage von Fr. Wilh. Grunow erschienen, ist mit 39 trefflichen Illustrationen von Ch. Botteler geschmückt. Von der Mutter vorgelesen, werden diese Tiergeschichten sicher in jedem deutschen Hause an den langen Winterabenden unter den Kleinen und Kleinsten eifrige und dankbare Zuhörer finden.
Die Maschinenphotographie. Bei der Wichtigkeit, welche die Photographie neuerdings in der Illustrationstechnik gewonnen hat, kann es nicht wunder nehmen, daß man die umständliche Arbeit des Kopierens, Entwickelns und Fixierens, welche bisher nach Vollendung der photographischen Aufnahme für jedes einzelne Positivbild erforderlich war, auch auf diesem Gebiete der Maschine zuzuwälzen sucht. Es giebt zwar eine Anzahl von sogenannten photographischen Druckverfahren, aber diese liefern vielfach nur ein mehr oder weniger deutliches Abbild der Photographie, ohne die Frische und den warmen Ton einer solchen in vollem Maße zu besitzen.
Ein neues, zuerst in Amerika und jetzt auch schon in Deutschland angewandtes Verfahren zur fabrikmäßigen Herstellung wirklicher photographischer Positive ist bestimmt, den älteren Methoden des Umdrucks Konkurrenz zu bereiten und die eigentliche Photographie dem Buch- und Zeitungsdruck dienstbar zu machen. Die dazu nötigen Vorrichtungen bestehen aus einer Kopiermaschine und dem ebenfalls maschinenartig bedienten Entwicklungs- und Fixierbad, an welches sich endlich eine Trockenkammer anschliesst. In allen Räumen wird unter Ausschluß des Tageslichtes bei künstlicher Beleuchtung gearbeitet.
Die Kopiermaschine enthält in einem horizontalen Rahmen eine Reihe von nebeneinander liegenden photographischen Platten oder Negativen, die entweder alle nach einer Aufnahme gefertigt sind und alle denselben Gegenstand darstellen oder aber, wenn es sich [840] um die gleichzeitige Herstellung verschiedener Bilder handelt, beliebig verschiedene Aufnahmen enthalten. Es ist nur notwendig, daß alle gleichzeitig kopierten Platten annähernd von derselben „Härte“ oder Durchsichtigkeit sind, damit sie beim Kopieren eine ziemlich gleichdauernde Belichtung vertragen. Ueber diesem Negativrahmen befindet sich eine Kappe, die im Innern 4 starke elektrische Glühlampen enthält, unter ihm mit geringem Abstand eine glatte bewegliche Druckplatte.
Der photographische Druck erfolgt nun auf einer endlosen Bahn lichtempfindlichen Bromgelatinepapiers die sich von einem Rollgestell abwickelt und über die Druckplatte hinweggezogen wird. Der ganze Raum ist, um schädliche Vor- und Nebenbelichtungen zu verhüten, nur durch rote Lampen erhellt, und die Strahlen der erwähnten elektrischen Glühlampen werden von der Kappe gehindert, sich durch den Druckersaal zu zerstreuen. Sobald das lichtempfindliche Papier über der Druckplatte liegt, wird seine Bewegung automatisch unterbrochen, und statt dessen preßt die Druckplatte es etwa 2 Sekunden lang von unten fest gegen den Negativrahmen. In demselben Augenblick flammen in der Kappe die elektrischen Lampen auf und kodieren sämtliche Negative mit gleicher Schärfe. Dann verlöschen sie; das von der Druckplatte freigegebene Brompapier wird um eine Bildbreite weitergeführt und steht abermals still, um von neuem gegen die Platten gepreßt und belichtet zu werden. Der Prozeß wiederholt sich in jeder Minute dreißigmal und vermag je nach der Bildgröße 5000 bis 18000 Positive in der Stunde herzustellen, die nur noch der Entwicklung, Fixierung und Trocknung bedürfen, um gebrauchsfertig zu sein.
Diese Weiterbehandlung geschieht ebenso wie die Belichtung fabrikmäßig in ganzen Rollen, von denen eine jede mehrere tausend Bilder enthält. Dieselben werden in den von gedämmtem Lichte erfüllten Entwicklungssaal gedruckt, in welchem ein langer wasserdichter Trog, etwa 1 Meter hoch und reichlich von der Breite des Rollenpapiers hintereinander eine Menge von Abteilungen enthält, die alle mit verschiedenen Lösungen gefüllt sind. Das von seiner Rolle langsam ablaufende Papier wird nun mit gleichbleibender Geschwindigkeit, die etwa 10 Fuß in der Minute beträgt, mittels Leitungsrollen in vielen Windungen durch alle diese Flüssigkeiten hindurchgeführt. Die erste Abteilung des Troges enthält eine bestimmte Menge eines schon ziemlich abgebrauchten Eisenoxalat-Entwicklers und die zweite eine eben solche Menge von frischem Entwickler. Um das bei der Entwicklung frei werdende Eisen, das dem Papier anhaftet, wieder zu entfernen, durchläuft die Rolle in der dritten Abteilung eine verdünnte Essiglösung, welche diese Eisenspuren begierig aufnimmt. Dann wird sie ununterbrochen weiterlaufend im vierten Troge gründlich mit reinem Wasser gewaschen. Die fünfte Abteilung imprägniert die Bilder mit unterschwefligsaurem Natron und dann gelangt die Rolle nach einer abermaligen Waschung in einen Trog mit Alaunwasser welches dem Papier die nötige Härte giebt. Zwei oder drei Gefäße mit reinem Wasser sorgen für die Reinigung des Papiers und im letzten leeren Troge werden die Bilder endlich der kräftigen Wirkung mehrerer Zerstäuber ausgesetzt welche die letzten Säurereste abwaschen.
Hat so die Rolle den ganzen 10 Meter langen Trog in 40 bis 50 Windungen durchmessen, so wird der Bogen, immer noch in einem Stück über ein endloses Tuch in eine Kammer geführt, welche durch einen Gasofen beständig auf sehr hoher Temperatur gehalten wird. Hier werden die Bilder sehr schnell getrocknet, noch einmal kurze Zeit aufgerollt und sind dann zum Zerschneiden, Aufkleben oder zum sonstigen Gebrauch fertig. Ein solcher Apparat vermag täglich 100 000 bis 150 000 Bilder wohlfeil genug herzustellen, um mit den älteren Illustrationsdruckverfahren in Wettbewerb treten zu können. Bw.
Weihnachten an Bord. (Mit Abbildung.) „Weihnachtszeit, goldene Zeit!“ Wer das ganze Jahr kein Heimweh bekommen hat in der Fremde, am Weihnachtsabend darf er es haben. Weihnachten ist ein Heimatfest wie kein anderes. Da kommen all die friedlichen und freundlichen Gedanken wieder, die lange Zeit geschwiegen haben mögen: wie's im Elternhaus so traulich und heimlich war um die Zeit der Wintersonnenwende, wenn die Mutter hierhin zog und dorthin mit ihren verborgenen Herrlichkeiten wenn der Kuchenduft durchs Haus wehte und kräftiger Tannenduft aus der besten Stube drang; bis dann am Heiligabend im hellen Lichterglanz jedes Geheimnis offenbar wurde. Ja, der Weihnachtsbaum! Wie alt oder wie neu seine Sitte sein mag: urdeutsch ist sie und urdeutsch bleibt sie. „Ohne Tannenbaum kein Weihnachten“. Aus den Fenstern des Arbeiters bricht der helle Glanz und im Prunksaal des Reichen flimmern die Kerzen aus grünem duftigen Gezweig und unter ihnen klingt es innig und fromm und fröhlich. „Vom Himmel hoch, da komm ich her!“- Auch der deutsche Seemann, der treu, aufopfernd und anspruchslos auf weitem Meer sein schweres Tagewerk thut, auch er will der Weihnachtsfreude nicht ganz entbehren. Wenn es irgend möglich, sucht jedes Schiff seinen „Weihnachtshafen“ auf, um in Ruhe und Frieden feiern zu können. Und schöne, oft unvergeßliche Tage sind es für jeden, der sie mitfeiern durfte, die Weihnachtstage an Bord, und aus gutem Herzen geschieht, was geschehen kann, um allen die Heimat zu ersetzen. Vom Kommandanten und Admiral bis zum jüngsten Schiffsjungen. Vor allem darf er nicht fehlen, der Weihnachtsbaum! Ob ihn, wie einst auf der „Hansa“, dem Schiff der deutschen Polarforscher in Nacht und Eis auf treibender Scholle, ein Besenstiel ersetzt, in dessen Löcher dürftige Reiser gesteckt sind, ob ein mit Mühe aufgetriebenes Kiefernbäumchen mit struppigen Aesten auf dem Laplata oder ob gar nur ein junger Mangobaum in den Tropen an seine Stelle tritt: sie alle tragen bescheiden und stolz zugleich ihren leuchtenden Lichterschmuck und um sie geschart stehen in der Batterie und im Zwischendeck die Mannschaften und freuen sich kindlich der Kleinigkeiten, welche die treue Fürsorge der Offiziere, kameradschaftlicher Sinn und Liebe aus der Heimat ihnen beschert, und in der Offiziersmesse ist’s an dem Abend wie in einem traulichen Familienzimmer: auch hier hat kameradschaftliche Treue den Baum geschmückt und den Tisch bereitet.
Das haben die deutschen Schiffe für sich allein; und allein vor allen Nationen auch den schönen, sinnigen Schmuck des Weihnachtsbäumchens in den Toppen, wenn er nur irgendwie aufzutreiben ist. Zweimal im Jahr werden sie geschmückt mit seltener Zier: einmal am Pfingstmorgen mit duftigen Maien und am Weihnachtsabend mit grünem Tannenreis. Und wenn sie doch von oben herwinken über See und Land und unter ihnen gar der mächtige Heimatswimpel weit flatternd ausweht zum Zeichen, daß das Schiff heimwärts zieht, dann mag ein fröhlicher Zuruf von Deck der Lohn des Toppsgasten sein, der mit kundiger Hand ihn in der luftigen Höhe festgezurrt. Am ersten Weihnachtsmorgen aber wird die Schiffsgemeinde zusammentreten, um den kleinen Altar an Deck, und es wird hinklingen über die Wasser: „Vom Himmel hoch, da komm ich her!“ – ein Kinderlied auf die Weihnachten, gesungen von Männern und wie der Heimatswimpel ausweht und die Flagge rauscht, heißt’s am Abend wie am Morgen: „Allhie gut Deutschland allerwege!“ Euch allen, die draußen feiern auf „blauem Wasser“, der Heimat fern: „Fröhliche Weihnacht!“ P. G. Heims.
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.