Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1897)/Heft 51

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[841]

Nr. 51.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Einsam.

Roman von O. Verbeck.

     (20. Fortsetzung)

43.

Na, schießen Sie los,“ sagte Günther kampflustig, als die Thür hinter Rettenbacher und ihm geschlossen war. „Ich hab’ auch ein Gewehr. Wollen sehen, wer’s am längsten aushält.“

Rettenbacher, schon wieder gefaßt, ging ein paarmal langsam im Zimmer auf und ab, ohne zu sprechen, bis er an dem Fenster neben seinem Schreibtisch stehen blieb. Dort lehnte er sich an, mit dem Rücken gegen das Licht.

Es lag nicht in seiner Art, heftig aufzubrausen, wenn er zornig war. Die jahrelang geübte Gewohnheit, sich zu beherrschen, sich nicht zu verraten, hatte mit der Zeit ein ganzes Netz feiner, zäher Fangfäden um sein Empfindungsleben gesponnen. Nirgendwo, so schien’s ihm endlich, gab es mehr eine

Der Kaisersaal im neuen Rathause zu Hamburg.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hans Breuer in Hamburg.

[842] Lücke, groß genug, um eine rechtschaffen drohende Faust oder eine greifende Hand hindurchzustecken. – Schweig. Arbeite. Gieb her. Behalte nichts für dich. Verlange nichts für dich. – So hatten seine Richtworte gelautet, jahraus, jahrein. Schweig! Diese schwere Kunst hatte er meisterlich gelernt. Nur daß ihm in ihrer Ausübung die helle Flamme der Seelenfreiheit allmählich zu verglimmen begann, die Flügel verkümmerten, die ihn himmelan hätten tragen können. Arbeite! Das hatte er gewollt, so lange er denken konnte. Die Arbeit war seinem Gewissen das tägliche Brot. Sie wäre es ihm gewesen und geblieben, auch wenn sie nicht Ernährerin geheißen hätte. Verlange nichts für dich! – Jahrelang hatte er dieses kalte Pflichtgebot stumpfsinnig ertragen. An dem Friedhof seiner jung gestorbenen Träume vorüber war er dem Wegweiser in das Land der Herzenseinsamkeit gefolgt, hatte sich nicht mehr umgesehen. Erst in dieser letzten Zeit war der Hunger nach Glück, nach eigenem, still gehegtem, sonnenwarmem Hausglück wieder so wild geworden, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte, um still zu bleiben. Den wühlenden, nagenden Schmerz der Entbehrung ganz zu verhehlen war ihm dennoch nicht gelungen, wie er wohl einsehen mußte. Aber sich darüber auszuklagen, jammernd um die kümmerlichen Brosamen des Mitleids zu betteln war er nicht gesonnen, noch weniger, von anderm Mund sein stummes Leid beim Namen gerufen zu hören.

Mit sprühenden Augen, deren Feuer dem überraschten Freunde ganz unerwartete, ungekannte Gluten zeigte, sah er Günther an.

„Ich bin sehr böse auf Sie,“ sagte er nach dieser langen Pause mit verhaltener, tief grollender Stimme.

„Meinetwegen! Mach’ mir gar nichts draus, erwiderte der arme Sünder so störrisch wie möglich. Im Grunde fühlte er sich aber schon gar nicht mehr so sicher in seiner Haut, wie er zu zeigen sich bemühte, nach Art der Lammherzigen suchte er sich selber Mut zu machen, indem er laut und heftig sprach: „Was hab’ ich denn so Schlimmes gethan?“

„Sie haben gethan – und nicht zum erstenmal, erinnern Sie sich –, was ich mir Ihnen gegenüber nie erlauben würde, so nahe wir uns auch stehen. Sie haben sich schon wieder unberufen in meine allerpersönlichsten Angelegenheiten gemischt. Jetzt sogar, indem Sie meine Schwester zu Hilfe nehmen. Das möcht’ ich mir denn doch in Zukunft dringend – hören Sie? – ganz dringend ein für allemal verbeten haben. Solange ich Ihnen nicht sage. So und so geht’s weiter, ich weiß allein nicht mehr fertig zu werden. Helfen Sie mir – – solange ich Sie also nicht rufe – bleiben Sie gütigst in Ihrem Gehege. Ich steige ja auch nicht über Ihren Zaun.

„Komische Sorte von Freundschaft,“ knurrte Günther. „Wissen 5ie, wie man so was nennt?“ schrie er Rettenbacher an, näher auf ihn zutretend. „Hochmut nennt man das!“

Arnold hob langsam die Achseln.

„Kann sein,“ sagte er mit einem bittern Lächeln. „Es giebt ja unterschiedliche Arten davon. Die meinige ist dann jedenfalls ein Kind der Notwehr. Ein fröhliches Gesicht hat er nicht.“

„Das weiß der liebe Himmel! Aber außerdem – was wollt’ ich denn noch sagen – ja, außerdem irren Sie sich, wenn Sie glauben ich hätte was dagegen, wenn Sie über meinen Zaun gestiegen kämen. Ich bin nicht so wie Sie. Wenn Sie heute sagten: Kamerad, knöpfen Sie Ihre Weste nur auf, ich seh's ja, sie ist schon ganz versengt – so würd’ ich Ihnen einfach um den Hals fallen und rufen: „Du blinder Gockel, das merkst du jetzt erst?“

Mit lebhaft aufhorchendem Gesicht sah Rettenbacher den Freund durchdringend an. Er schien eine Frage thun zu wollen. Aber Günther hatte noch das Wort und ließ es sich nicht nehmen; er war froh, daß er so schön im Gange war.

„Davon später,“ sagte er hastig, mit der vorgestreckten Hand und gespreizten, schüttelnden Fingern Arnolds Erstaunen verscheuchend. „Das kommt auch noch, läuft uns nicht weg, war eigentlich nur nicht das, was ich im Augenblick meinte – –“. Seine Worte überstürzten sich förmlich. „Thun Sie mir die Liebe und lassen Sie mich dieses einzige Mal reden, bis ich von selber aufhöre, sonst platz’ ich! Sie lächeln. Das ist ja so weit ganz gut. Ein Zeichen, daß Ihre dumme Wut verflogen ist. Aber Sie sollen auch Ihr Gesicht ruhig halten, bis ich fertig bin, sonst komm’ ich aus dem Text. Lächeln können Sie nachher. Werden schon auch noch lächeln!“

„Warten Sie, eins noch,“ unterbrach Rettenbacher, schon wieder ernsthaft, Günthers ungeduldigen Redestrom. „Was haben Sie der Grete gesagt?“

„Nichts hab’ ich ihr gesagt. Sie kamen uns ja gerade dazwischen, als ich ihr erzählen wollte.“

„Woher hat sie dann aber die Frage nach meinem sogenannten Kummer?“

„Das war ja eben der Anfang, bei dem Sie uns unterbrachen. Und Kummer hat sie nachher bloß gesagt. Ich hatte es schon bei seinem richtigen Namen genannt –“

„Sind Sie des Teufels?“ rief Arnold aufflammend… „Wer giebt Ihnen das Recht?“

„Weiß ich nicht. Hab’s mir jedenfalls genommen. Und behalt’ es auch einstweilen, wenn Sie auch Feuer speien. Hat der Kerl ein Paar Augen, Gotts Donner! Aber ich bin nun einmal drin in der Geschichte und ich muß nun auch durch – und das sag’ ich Ihnen: Wenn Sie mich nicht mehr anhören wollen, dann geh’ ich zwar zu der Thüre da hinaus, aber herein komm’ ich dann nicht mehr, darauf können Sie sich verlassen. Ueberhaupt nicht mehr! Verstanden, Sie Trotzkopf, greulicher?“

„Das entscheidet freilich,“ sagte Rettenbacher halblaut, in dem Blick, mit dem er den aufgeregten Freund ansah, lag allerlei: Noch nicht überwundener Verdruß, Erstaunen, Weichheit, Güte, und als Schleier eine Art von Lächeln.

Er warf sich in eine Sofaecke und lehnte den Kopf zurück. „Oeffnen Sie Ihre Schleuse. Ueberschwemmen Sie mich. Ich halte still.“

„Höchste Zeit“, sagte Günther, sich schnell einen Stuhl heranziehend und am Tisch, Arnold gegenüber, niedersitzend.

„Also. Zum richtigen Anfang! Was ich mir bis jetzt noch nie erlaubt habe. Sie lieben die Hanna, das steht fest.“

„Seit wann steht das fest?“ fragte Rettenbacher unter einem flüchtigen Farbenwechsel, aber in trockenem Ton, ohne den Kopf von der Lehne wegzurühren, mit dem Blick der halbgeschlossenen Augen irgendwo, „Wer hat Ihnen das erzählt?“

„Onkelchen“ – – Günther schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ich denke, das lassen Sie. Das ist zu dumm. Ueber diesen Punkt können wir wirklich ganz ruhig zur Tagesordnung übergehen. Daß Sie das Mädel schon vor fünf Jahren geliebt haben, das wissen die Spatzen auf dem Dach.“

Arnold richtete sich nun doch hastig auf. Seine Augen brannten wieder. „Was reden Sie da?“ stieß er heraus.

„Nichts Schlimmes, beruhigen Sie sich nur. Das mit den Spatzen dürfen Sie buchstäblich nehmen. Denken Sie etwa, die auf Waseniussens Fensterbrett haben vor Zeiten mit Glasaugen in die Stube geguckt? Haben sich nicht ihren Vers gemacht? – Er lehnt sich wieder an, er ist wieder brav. Recht so. Also weiter! – Ich meinte also: Ich wußte es, und die Mutter. Eine Zeit lang dachte ich ja auch, nein, ich schwor Stein und Bein, es könnte auch dem Mädel nicht verborgen geblieben sein. Schien aber dann doch so, denn sonst hätte sie ja nicht – oder vielmehr sonst würde sie – na, lassen wir das elende Kapitel. Warum sie den Mann schließlich genommen hat, wissen wir ja, und auch, was aus dem vergeblichen Opfer geworden ist. Für eins aber möcht’ ich heute meine beiden Hände ins Feuer legen. Nämlich, daß sie ihr armes Herze gerade so hat unterkriegen müssen, wie Sie das werte Ihrige, und daß Sie nicht alleine gelitten haben. Mir scheint vielmehr, das unglückliche Ding war noch weit schlimmer dran als Sie, denn Sie haben doch keine andere Frau nehmen müssen, was? Gott sei Lob und Dank! Denn wenn jetzt Sie noch an der Kette säßen, wo Hanna wieder frei ist – –“

Rettenbacher erhob hastig abwehrend die Hand. „Hören Sie auf,“ sagte er rauh. „Wenn Sie weiter nichts können, als dasselbe Lied noch einmal singen – –“

„Ruhig! Ausreden lassen!“ unterbrach der andere, ärgerlich mit der Faust auf den Tisch klopfend. „Wissen Sie denn, was ich sagen will? Keine Spur wissen Sie davon. Dasselbe Lied. Da wär’ ich schön dumm! Nachdem Sie mich angeschnoben [843] haben, daß ich bald an die Wand gefallen wäre. ,Ich heirate keine reiche Frau! Ich lasse mich nicht von einer Millionärin füttern!’ Auch gut. Das sind Ansichtssachen. Dagegen läßt sich nichts sagen. Gefiel mir auch eigentlich wieder mächtig von Ihnen. Auf der andern Seite find’ ich, wenn man eine rechtschaffen lieb hat, dann braucht ihr Geld kein Hindernis zu sein. Aber einerlei. Das war nun abgemacht. Da kam’s dann heraus, was das Biest, der Thomas, für ein niederträchtiges Testament gemacht hatte. Wer es nur so flink unter die Leute gebracht hat! Ich denke mir, die liebe Schwägerin wird wohl das Ihrige dazu gethan haben; die hatte so offenbar eine Pike auf unser armes Wurm. Nu? sagt’ ich damals zu Ihnen, he? Die Millionen könnten Sie doch nun nicht mehr drücken, wenn Sie auf die Freite gingen. Wieder gefehlt! Wieder angeschnauzt! Ich hab’s gut gehabt bei Ihnen in diesem letzten Vierteljahr, alle Wetter. ,Wie können Sie denken, daß ich einer Frau zumuten werde, um meinetwillen ihr Vermögen aufzugeben?’ – Nu war’s ganz aus. Nu kriegt’ ich richtig das Stillschweigen. Da war nichts mehr zu wollen. Dornen rundum! Hochmutsdornen. Eigensinnsdornen. Verlegenheitsdornen! Ein nettes Gewächs. Und mitten drinne saßen Sie und grämten sich. Und ich sah mir das mit an und fuchste mich. Und die arme Grete zerbrach sich den Kopf, was Ihnen fehlen möchte, denn von dem Hannichen hatte sie natürlich keine Ahnung, weil Sie wandelnder Grabstein ja nie ein Wort von ihr geredet hatten, vorher nicht und nachher erst recht nicht.

„Nun? Und das endliche Ende von Ihrem langen Lied?“ fragte Rettenbacher müde. Er hatte regungslos dagesessen und erhob jetzt zum erstenmal wieder die traurigen Augen. „Zu welchem guten Zweck haben Sie mir nun diese meilenlange Rede gehalten? Nur, um abermals festzustellen, daß mir nicht zu helfen ist –“

„Nee!“ rief Günther aufspringend. „Jetzt kommt mein Trumpf!“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „War bloß eine wirkungsvolle Einleitung. Allerneuste Depesche! Sie ist keine Millionärin mehr.“

„Was heißt das?“ Im höchsten Grade betroffen richtete sich Rettenbacher auf seinem Platz in die Höhe.

„Das heißt, daß sie sich arm geschenkt hat auf geradezu geniale Weise arm geschenkt hat. Weg ist das viele Geld. Futschicato!“

„Was für Märchen! Woher wollen Sie das wissen?“

„Aus allerbester Quelle, von ihr selbst. Und brühwarm. Ich war gestern bei ihr. Aber nicht etwa in ihrem Palast am Tiergarten. Da stieß ich mir vorgestern die Nase. Der ist zugeschlossen, bis auf weiteres! Läden herunter. Ausgestorben. Nur der Gärtner wohnt noch hinten in seinem Häuschen. Von dem kriegt’ ich denn die neue Adresse. Ausgerechnet in Nieder-Lehme an der Dahme. Das Dorf hinter Königswusterhausen, wissen Sie. Sie können sich denken, mit welcher Fixigkeit ich am anderen Tage hinausfuhr. Gespannt wie ein Flitzbogen. Seit Weihnachten hatte ich sie nicht gesehen. Bei ihrer letzten Kinderbescherung war ich noch dabei gewesen. Damals verlautete aber noch kein Sterbenswörtchen von diesen Geschichten. Waren eben noch nicht spruchreif, wie ich nachträglich höre. Unterwegs auf der Eisenbahn zerbrach ich mir den Kopf darüber, weshalb ums Himmelswillen sie da mitten im Winter auf Sommerfrische gezogen sein möchte. Der Gärtner in der Tiergartenstraße hatte mir keinerlei Auskunft geben können. Da draußen fand ich sie denn – kennen Sie das Dings? Gute halbe Stunde über Feld von der Bahn aus. So ein langgestrecktes Dorf, die eine Rückseite an dem Flüßchen. Lauter einzeln liegende Gehöfte, immer fünfzig, achtzig, hundert Schritte Ackerland dazwischen. Ungemütlich, besonders im Winter. Da find’ ich sie denn in so einer Art von Villa; wenigstens wollt’ es vorzeiten so aussehen, das Haus. Mit Säulchen vor der Thür mit ’nem griechischen Dächelchen oder so was darüber. Eingang von der Seite. Ein reich gewordener und schnell wieder verkrachter Unternehmer hat es vor einer längeren Reihe von Jahren gebaut. So ein Residenzchen für Sommergäste, die zurückgezogen leben wollten. Der Nachfolger hat dann noch einen Flügel angeklebt, häßlich, nüchtern vorn entlang, mit sechs Fenstern, paßt gar nicht dazu. Ein verdrehtes Gebäude. Liegt noch obendrein mitten in einem großen, verwilderten Garten. –“

„So kommen Sie doch nur endlich zur Sache!“ unterbrach ihn Rettenbacher ungeduldig. „Was soll die lange Einleitung?“

„Recht haben Sie. Scheußlich von mir, was? Sie noch lange auf die Folter zu spannen. Wollte es nur so recht plastisch beschreiben, damit Sie den richtigen Eindruck bekämen. Also: Da sitzt sie, da wohnt sie, da bleibt sie. Niet- und nagelfest. Für Sommer und Winter. Das wäre der Winkel, sagt sie, den sie so lange gesucht hätte, und in dem sie sich nun einspinnen wollte – aber schon gut, alle Einzelheiten später, zu Befehl! Zuerst die märchenhafte Geldgeschichte, wirklich märchenhaft; schon, weil’s so was eigentlich gar nicht giebt! Denn – abgesehen von der Gemeinheit mit dem Testament – wie hätte sie sich ihr Leben jetzt hübsch und behaglich einrichten können, nachdem sie von ihrem Quälgeist erlöst war. Mit dieser kolossalen Erbschaft, ganz zu freier Verfügung. Ich hab’s wieder vergessen, aber es war eine eklig hohe Ziffer. Und doch – wie Gott den Schaden besieht – sie ruht nicht, bis sie das Geld los ist, sie will es nicht behalten, sie fürchtet sich davor. Also – ich erzähl’ ja schon – das Kurze und das Lange von der Geschichte: reichlich dreiviertel ihres Vermögens ist deponiert zum Bau und zur nachherigen Verwaltung einer großen Stiftung, ,Thomas-Stiftung’ soll sie hießen, die aus drei Teilen besteht, Hauptteil ein Kinderkrankenhaus, besonders für die Kinder aus der Arbeiterbevölkerung. Sie wollen, je nach dem Befund der elterlichen Kasse, umsonst oder gegen Zahlung eines winzigen Satzes aufgenommen werden. Diese Bestimmung gilt dem Selbstgefühl der Leute, die noch nicht ganz auf dem Trocknen sitzen. Dann, erstes Anhängsel: eine Art Spittel, aber in feinem, hübschem Stil; ein Versorgungshaus für alte oder sonst arbeitsunfähige Leute. Zweites Anhängsel: eine sogenannte ,Kinderstube’, das ist ein Haus, wo die Mütter, die auf Arbeit ausgehen müssen, ihre kleinen, nicht schulpflichtigen Kinder, vom Säugling an, morgens, abliefern können, und wo die Würmer dann gefüttert und verwahrt werden, bis sie sie am Abend wieder abholen. Was sagen Sie dazu? Fein, famos, was? Unser Hannichen! Wenn alles so wird, wie sie sich’s ausgedacht hat, dann giebt das eine ganz einzige Sache. Aber bis dahin ist es noch weit. Die Pläne sind zwar schon entworfen; sie hat einen sehr geschickten Architekten erwischt. Aber ehe alles überwunden ist, was es da noch an gesetzlichen, amtlichen, magistratlichen, fiskalischen Beschwernissen und so weiter und so weiter zu bestehen giebt, – läuft noch mancher Tropfen Wasser zu Thal. Doch jedenfalls: Das Geld ist schon nicht mehr ihr Eigentum, das liegt schon ganz fest als Schenkung bei der Stadt. Mag’s da noch so lange Zinsen tragen, bis man anfangen kann zu bauen. Ferner hat sie dann noch einzelne große Summen an verschiedene Wohlthätigkeitsanstalten Berlins gegeben; aber ohne Namen, als ,Ungenannte’. An die Asyle für Obdachlose, an das städtische Waisenhaus, an die Wärmehallen, an die Kinderspeisungsstätten, an – ich weiß nicht mehr! Alles in allem noch ein klotziges Stück Geld. Selbstverständlich sind all diese Mitteilungen durchaus vertraulich. Wenn sie wüßte, daß ich – ei du lieber Gott! Aber ich weiß ja, was ich thue, und warum. Uebrig behalten für sich hat sie nur ungefähr so viel, daß sie gerade so leben kann, wie sie mit der Mutter gelebt hatte, ehe das Unglück anfing und Thomas kam, um sie zu retten. Ja richtig, das Haus nicht zu vergessen, das hat sie mit allem Inventar, außer ihrem, Hannas, ganz persönlichen Eigentum, der Familie in Breslau zur Verfügung gestellt. Ist natürlich auch angenommen worden, und ohne Handkuß. Soviel sie weiß, soll nach Ablauf des Trauerjahres Nichte Evchen ihre Residenz drin aufschlagen. Na, ihr kann’s einerlei sein. Bald nach Weihnachten ist sie ausgezogen, ganz still und lautlos, mit ihrem kleinen Um und Auf aus der alten Linkstraßenwohnung, und hinaus auf das Dorf in das einsame Haus.“

Günther schwieg und betrachtete den Freund, der, sehr bleich, in einer Art von Erstarrung dasaß. Kaum unterschied man, ob er atme, ob er wohl höre. Nur von den groß offnen, fernabträumenden Augen war ein Schleier niedergesunken, der sie bis jetzt verdüstert hatte. Günther wunderte sich, wie schön diese Augen doch eigentlich wären. Wieviel schöner mußten sie aber noch werden, wenn sie erst lernten, zu lächeln. Aber bis dahin – –

Arnold rührte sich jetzt. Mit einem tiefen Seufzer schien er zu erwachen.

[844]

Die „Hohenzollerische Hochzeit“ zu Hechingen im Jahre 1598.
Nach einer Originalzeichnung von K. Weigand.

[845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] „In das einsame Haus“ – wiederholte er mit noch wenig Stimme, abgebrochen, gleichsam horchend, als brächte eine zurückkehrende Tonwelle die letzten Worte näher an sein Ohr, als verstünde er sie nun erst deutlich. „Wie kommt sie gerade dorthin?“

„Rein durch Zufall. Wie der oft so wunderlich spielt. Sie hatte an die Eltern ihrer Bertha geschrieben um zu erfahren, ob das Mädchen in Stellung sei und ob sie sie möglichenfalls wieder bekommen könne. Der Haushalt in der Tiergartenstraße wurde ja zu Januar aufgelöst. Sämtliche Dienstboten waren zu Weihnachten noch besonders reich beschenkt worden. Zum Abschied – es war schon mehr ein Trauerfest. Die Pauline heulte wie ein Schloßhund, und August ging herum, als sollte er geköpft werden. Alle haben sie an ihr gehangen. Aber sie konnte ja keinen von ihnen behalten, so wie sie ihr Leben nun eingerichtet hatte. Also die Bertha, wenn’s irgend zu machen war. Die Alten wohnten in Friedrichsfelde, das wußte Hanna noch und fragte dort an. Aber Krügers waren weggezogen, und so ließ die Antwort auf sich warten, weil der Brief ihnen nachschlich. Die bekannte Findigkeit unserer Post eruierte sie denn auch richtig in Nieder-Lehme, wo sie das bewußte Grundstück gepachtet hatten. Außer dem großen Garten gehört nämlich noch ein bißchen Land dazu. Dann hat der zweite Besitzer seiner Zeit auch ein kleines Stallgebäude hingesetzt. Da haben sie nun ein paar Schweine, Ziegen und Kaninchen drinne. Mit den Langöhrchen treiben sie Handel in der Gegend. Also die alte Krügern schreibt so und so, und die Bertha wäre bei ihnen, außer Dienst, weil sie ihnen in der Wirtschaft helfen müßte, und es würde wohl nicht gehen, denn jemand Fremdes annehmen, wenn man die eigene Tochter haben könnte et cetera, et cetera. Tags darauf kommt die Bertha selbst, weil ihr doch das Herz schwer war wegen der Absage. Sie erzählt, wie sie da draußen leben, und wie's bei ihnen aussieht, und daß sie im Sommer, wenn sich jemand fände, vermieteten. Mein Hannichen faßt einen raschen Entschluß – es kam ihr, sagt sie, wie eine Eingebung – fährt hinaus, sieht sich die Sache an und mietet stehenden Fußes den Alten die eine Wohnung ab. In der anderen, in dem scheußlichen, angeklebten Flügel nach vorne heraus, wohnen eben Krügers. Jede hat ihre eigene Küche mit allem Zubehör. Die Bertha ging so natürlich mit in Kauf, denn sie bleibt so den Alten auf diese Weise unbenommen. So hat sich die Geschichte zugetragen. Gelungen, nicht? Riesig billig wohnt und lebt sie nun da draußen selbstverständlich. Was sie zum Wirtschaften braucht, bekommt sie im Ort oder in Wusterhausen, zur Not in Berlin.“

„Und wie – lebt sie sonst?“ fragte Rettenbacher zögernd.

Günther zuckte die Achseln. „Kreuzfidel ist anders,“ antwortete er. „Wenigstens nach meinem Geschmack. Einsam, verdammt einsam. Gewissermaßen trostlos. Vielleicht, daß es im Sommer hübscher ist. Aber in unserm Klima ist der Sommer bekanntlich eine selten auftretende Jahreszeit. Sie sitzt da wie in der Verbannung. Aber sie wollte nichts davon hören, daß ich es gräßlich fand. Ihr wär’s recht so, sagte sie, für sie wär’s genau das, was sie sich gewünscht hätte, das letzte und einzige, was sie sich noch gewünscht hätte. Ihr Zufluchtsort. Schön brauchte er nicht zu sein, nur still.“

„Sie glauben also –“ begann Rettenbacher wieder mit bedeckter Stimme. Er sprach aber nicht zu Ende. Das Wort schien ihm zu versagen. Er griff nur mit unsichrer Hand nach einem Blatt Papier, das auf dem Tische lag, und drückte es in der Faust zu einem Klümpchen zusammen.

„Ja“, sagte Günther, heftig nickend. „Ich glaube, das meinte ich gerade, als ich vorhin sagte, sie wäre auch verrückt. Was es ist, das sie so – ich möchte sagen, so umsponnen hat, wie mit einem grauen Netz, ich weiß es nicht. Nach wieder leben wollen sieht mir ihr Gesicht nicht aus. Eher nach warten, bis es alle ist. Grüße hat sie mir auch nicht aufgetragen. Scheußlich deprimiert zog ich eigentlich ab. Unterwegs wurde mir aber dann besser zu Mute. Es giebt nur einen, der sie zur Vernunft bringen kann. Sie wissen, wen ich meine, alter Freund. Drum bin ich heute herauskarriolt, sowie ich mein Pensum hinter mir hatte. Ich sagte mir: Riskier’ dein Leben. Mehr wie sacksiedegrob kann er ja nicht werden, wenn du ihm zum drittenmal mit derselben Sache auf den Pelz gerückt kommst. Nur muß es ausgehalten werden, nur mußt du nicht beim ersten Wort in die Ecke fliegen, sondern standhalten, ihn niederschreien. Habe ich also gethan. Habe meine Mission erfüllt. Mir ist jetzt soweit ganz wohl. Wohler als Ihnen, wie mir scheint, Sie infamer, alter Schwarzseher. Oder was bedeuten diese nachdenklichen, diese abgründig dunklen Augen? Der Deibel soll Sie holen, wenn Sie jetzt noch keinen Mut haben. Was Sie vor fünf Jahren nicht konnten und durften, das können und dürfen Sie doch heute getrost, sollt’ ich meinen. Denn so weit kennen wir doch unsere Hanna Wasenius, daß sie ihrer Lebtage auf gebackene Lämmerschwänzchen und Lampreten nicht versessen gewesen ist, was? Und die Art, wie sie jetzt ihr Geld untergebracht hat, beweist denn doch wohl – Sie lächeln und schütteln den Kopf. Worüber? Beweist es etwa nicht – –“

Rettenbacher griff über den Tisch nach Günthers Hand und hielt sie fest. „Halt, halt,“ bat er mit einem herzlichen Blick. „Lassen Sie es gut sein. Hören Sie auf. Gegen wen verteidigen Sie denn eigentlich Ihren Schützling? Glauben Sie wirklich, Sie müßten mir erst sagen, wer sie ist?“

„Scheint bald so. Sie sitzen da und sagen kein Wort.“

„Kann ich denn? Sie sind ja ein Wasserfall, liebes Güntherchen. Sie schlagen jedes andere Geräusch tot. Und zweitens gehört Redenhalten nicht zu meinen Talenten, wie Sie wissen sollten. Besonders im Augenblick – –“

„Na gut. Das seh' ich zur Not noch ein. Ich nehme alles zurück. Also Sie haben Mut?“

„Freilich hab' ich Mut, Sie wilder Advokat.“

„Was wollen Sie also thun?“

Arnold stand auf. „Warten,“ sagte er tief ernst, „aber mit dem leuchtenden Ernst des frischen, freudigen Willens. Warten und ihr Zeit lassen! Sie nicht quälen, so lange sie noch so wund ist. Ihr zunächst die Einsamkeit vergönnen, nach der sie sich so sehr gesehnt hat. Nicht auf sie einreden, so lange sie noch schweigen will. Hoffen, glauben, daß die Natur als Nothelferin ihr Amt nicht versäumen wird.“

„Schön. Und dann?“

Rettenbacher wandte sich ab und trat ans Fenster. Wohl eine Minute blieb es ganz still im Zimmer.

„Ich sollte Sie nun vielleicht erst ein bißchen allein lassen, was?“ fragte dann Günther halblaut, mit einem treuherzig zärtlichen Lächeln, das der andre nicht sehen konnte.

„Bitte ja, – – ich wäre Ihnen sehr dankbar –.“ Es war kaum zu verstehen, so heiser und abgerissen kam es aus der zusammengedrückten Kehle.

Ganz sacht und ohne sich noch einmal umzuschauen, schlich der „wilde Advokat“ zur Thür hinaus.

„Ich glaube wirklich, das hab' ich ganz famos gedeichselt,“ sagte er eine Minute später im Wohnzimmer zu Grete, die in großer Sorge auf seine Rückkehr gewartet hatte. In kurzen Zügen, so kurz es ihm möglich war wenigstens, und in so knappen Umrissen als das leidenschaftliche Interesse der gespannt lauschenden Schwester zuließ, erzählte er nun den Lebenslauf dieser wehmütigen Liebesgeschichte, – in der von Liebe eigentlich noch gar nichts vorgekommen war.

„Sie ist sehr krank, das arme kleine Tierchen,“ schloß er seinen Bericht. „Nicht nur körperlich, was schon ganz genug wäre. Aber auch ihre Seele ist kaputt, und das ist schlimmer. Wenn nun der Arnold ihr nicht hilft, dann weiß ich nicht, was werden soll. Aber er wird ja doch wohl. Ich hoffe, übers Jahr sind wir schon ein ganzes Ende weiter. Elend freuen würde ich mich!“

„Gott, und ich erst,“ sagte Grete.

Günther hob aufhorchend den Kopf und sah sie an. Wahrhaftig, sie hatte Thränen in den Augen „Warum weinen Sie denn, liebe, gute, allerbeste Frau Zöllner?“

„Ach was,“ murmelte sie dunkel errötend und stand auf, lief auch aus der Thür, denn draußen hatte es heftig geklingelt. Natürlich war es der Hans.

„Viel länger als eine halbe Stunde bin ich weggeblieben,“ rief er. „Nun werdet ihr doch mit eurer Beratung fertig sein.“

Und verdutzt von einem zum andern blickend „Noch nicht?“

(Fortsetzung folgt.)
[847]

Ein Besuch bei Heinrich Heine.

Von Rudolf v. Gottschall.

Die Zahl derjenigen, welche den Dichter des „Buchs der Lieder“ von Angesicht gesehen und ihn in seiner Matratzengruft in Paris besucht haben, schmilzt immer mehr zusammen; die beiden Deutschen, welche den intimsten Verkehr mit Heine in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens unterhielten und auf Grund desselben eingehend berichten konnten, Heinrich Laube und Alfred Meißner, sind nun auch schon vor Jahren dahingeschieden. Es wird daher nicht unwillkommen sein, wenn ich jetzt, da der hundertste Geburtstag des Dichters vielfach gefeiert wird,[1] aus meinen Lebenserinnerungen das Blatt hervorhole, auf welchem ein Besuch bei Heinrich Heine verzeichnet steht.

Es war im Herbst 1851, als ich mich von Hamburg aus zu einer Reise nach Paris rüstete.

Der Buchhändler Julius Campe in Hamburg, den Heine „aller Verleger Blüte“ genannt hat, war auch mein Verleger geworden, und ich übernahm es gern, Aufträge von ihm an den kranken Dichter in Paris zu bestellen. Campe war kein Enthusiast, aber für Heine besaß er so viel Schwärmerei, wie nur irgend ein deutscher Verleger für den Verfasser gutgehender Schriften besitzen kann. Er zahlte ihm auch eine Lebensrente für das Recht, später seine gesammelten Werke herauszugeben. Kam ein neues Manuskript von Heine an, so war dies ein Ereignis. Campes Laden in der Schauenburger Straße, dessen hohe, tief herabgehende Fenster jedem gestatteten, das Bild des dahinter arbeitenden Verlegers in Lebensgröße in sich aufzunehmen und das ganze Treiben in dieser Werkstatt des Buchhandels zu übersehen, wurde zwar nicht illuminiert, aber wenigstens das Gesicht des Eigentümers erleuchtete, ja verklärte sich, und nachdem er selbst die Lektüre der neuen Sendung genossen hatte, sorgte er gleich im Laden für ein begeistertes Publikum, das seine Verzückung teilte und seine Erwartung eines glänzenden Erfolgs von Hause aus verbürgte. Zwei junge Hamburger Advokaten pflegten ihm abwechselnd die neuen Gedichte vorzulesen. Da stand er, die unvermeidliche Schnupftabaksdose in der Hand, über das volle gerötete Gesicht schwebte ein behagliches oder verschmitztes Lächeln, wenn ein Gedankenblitz des Dichters bei ihm oder seinen Vorlesern einschlug.

Julius Campe war damals der berühmteste deutsche Buchhändler oder auch der berüchtigste; denn er war der „verbotenste“; nicht nur einzelne seiner Verlagsartikel, einmal wurde sogar sein ganzer Verlag verboten, was Heine zu dem lustigen Vers veranlaßte:

„Es blüht der Lenz, es platzen die Schoten,
Wir atmen frei in der freien Natur,
Und wird uns der ganze Verlag verboten,
So schwindet am Ende von selbst die Censur.

Campe war ein Hort des deutschen Liberalismus; namentlich aber suchten die Censurflüchtlinge aus Oesterreich bei ihm eine Zuflucht, und er wußte sie wieder auf verbotenen Wegen durch die schwarzgelben Grenzpfähle hindurchzuschmuggeln, nachdem sich das eine flüchtige Manuskript in viele hundert heimkehrende Bände verwandelt hatte.

Wer sich aber unter diesem staatsgefährlichen Mann einen feueräugigen und langhaarigen Demagogen dachte, der mußte seines Irrtums schmerzlich gewahr werden, wenn er den behaglichen alten Herrn mit dem Quäkerhut über den Hamburger Jungfernstieg wandern sah. Ja, der thatkräftige Gegner der patriarchalischen Regierungen hatte als Buchhändler selbst etwas Patriarchalisches; er liebte seinen Schriftstellern gegenüber weder Abmachungen noch Abrechnungen; er war kein Freund der Kontrakte, welche seine persönliche Freiheit beschränkten. Dafür war er sehr freigebig mit Vorschüssen und sorgte für die jungen geistigen Kämpfer, die unter seinen Fahnen ins Feld rückten. Und dem verhaßten Metternich zum Trotz war er selbst ein guter Diplomat: er verstand in seltener Weise die Kunst, nie bei der Stange zu bleiben und das Gespräch abzulenken, wenn etwas berührt wurde, worüber er nicht Lust hatte sich auszusprechen; sachte und unmerklich glitt er hinüber zu irgend einer lustigen Anekdote und bot dem Zuhörer eine Prise an, um dessen Aufmerksamkeit abzulenken. Ueberhaupt war sein Laden ein Gesprächssalon, eine Art bureau d’esprit, wo die geistreichen Leute Hamburgs zusammenkamen und ihre Witzraketen steigen ließen. Es ging da oft recht laut und lustig zu – aber feierliche Stille mußte herrschen, wenn die Post mit den Bestellzetteln kam. Dann trat Campe an sein Pult und vertiefte sich in das Studium seiner buchhändlerischen Erfolge, denn er war ein guter Geschäftsmann, obgleich er später lieber in Austernbänken als in Litteratur spekulierte.

Damals, einige Zeit vor meiner Abreise nach Paris, war das Manuskript von Heines „Romanzero“ eingegangen, und nachdem der „Weiße Elefant“ und „Die Königin Pomare“ bei den jungen Advokaten und den andern Besuchern des Campeschen Ladens den gebührenden Beifall gefunden, war es gedruckt worden und zierlich geheftet. Ich übernahm den Auftrag, die ersten fertigen Exemplare dem Dichter in Paris persönlich zu überreichen. Rasch hatte ich eine Kritik über den „Romanzero“ in einem der gelesenen Hamburger Blätter erscheinen lassen, und auch diese Taufrede über das junge Kind nahm ich mit nach der Seinestadt. Mein Begleiter war der frühere Hamburger Operndirektor Cornet, ein Heine-Enthusiast, der aus dem Waggonfenster hinaus die neuen Gedichte in die eintönigen Hannoverschen Lande hinausdeklamierte.

In Paris angekommen, suchte ich mich zuerst häuslich einzurichten. Es waren trübe Novembertage und die alte Lutetia machte dem Namen der „Schmutzstadt“ alle Ehre. Ich bemerkte zu meinem Bedauern, daß die Leute hier ein anderes Französisch sprachen als dasjenige, welches ich zehn Jahre lang gelernt hatte, und ich bestrebte mich, mein Ohr an diese fremdartigen Laute zu gewöhnen.

Kaum hatte ich ein Unterkommen gefunden, so machte ich mich auf den Weg nach der Rue d’Amsterdam, und nachdem ich die Hausnummer entdeckt hatte, schritt ich über den Hof und stieg die Treppe des Seitengebäudes hinauf, in dessen zweitem Stockwerk der Dichter wohnte. Unter meinem Arm trug ich die Exemplare des „Romanzero“ – ich wußte, daß der Name Campe mir die meist verschlossene Pforte öffnen würde.

Mir war eigen zu Mute. Die Begeisterung für Heine reichte weit in meine Jugend zurück. Seine Lieder hatten sich schon früh meinem Gedächtnis eingeprägt. Als Primaner eines ostpreußischen Gymnasiums hatte ich mit einem Freunde, dem Sohn eines benachbarten Gutsherrn, in dessen Schloßpark unter Lachthränen die „Harzreise“ gelesen, und später hatte manche Schöne der Haupt- und Residenzstadt am Pregel seine Lieder am Klavier gesungen und mir damit das Herz gerührt. Und nun sollte ich den Dichter selbst von Angesicht sehen, aber nicht wie er einst durch die Straßen geschlendert war – die Hände in den Hosentaschen, im Uebermut seiner unverwüstlichen Laune, sondern krank, elend, gelähmt.

Man ließ mich ein. Mathilde, seine Frau, war nicht anwesend. Ich habe sie auch bei meinen späteren Besuchen nie gesehen. Sie liebte die Deutschen nicht.

Es war ein enges Zimmer, in das ich eintrat. Zwischen dem Fenster und einer spanischen Wand schritt ich hindurch, hinter der letzteren lag der Dichter. Um den Ankömmling zu sehen, mußte er mit der Hand die Augenlider in die Höhe heben, die sich über das Auge herabgesenkt hatten – auch sein geistiges Kind, das er jetzt in Händen hielt, den „Romanzero“, konnte er nur so betrachten. Wenn so ein Büchlein sich wohlgerüstet zur Reise in die Welt darstellt, so macht es immer dem Verfasser eine große Freude. Auch Heine wiegte mit einer gewissen Zärtlichkeit sein neues Musenkind in der Hand und dankte dem Ueberbringer.

Ich konnte in dem Halbdunkel kaum seine Züge erkennen, nur das sah ich: es war ein Häufchen Elend, das da vor [848] mir lag, ein zusammengeschrumpftes Menschenkind, kläglich verkümmert und schattenhaft. Schon waren seine Augen wieder geschlossen und seine Züge hatten den Ausdruck schmerzlicher Ergebung. Seine Stimme hatte etwas Klagendes, sie klang wie aus einem Abgrund des Wehs heraus. Er klagte über seine furchtbaren Schmerzen in den schlummerlosen Nächten – es war wie das Stöhnen eines Gemarterten. Aber bald wußte er doch auch andere Töne anzuschlagen – und das war das Merkwürdigste, daß diese Stimme rasch umsprang zur leichten Konversation, zu Scherz und Witz. Sobald sich das Gespräch aus der dumpfen Enge der Krankenstube in freiere Regionen aufschwang, da schien auch des Dichters Geist wie losgelöst von dem Elend des Daseins und schwebte froh empor. Es giebt einen Witz der Verzweiflung, und der große Shakespeare hat uns genug Proben davon in seinen Schauspielen gegeben. Wenn ein Sterblicher zu solchem Witz berechtigt war, so war es Heine, der tiefunglückliche Dichter – und doch war sein Witz nicht von solcher Art, es war vielmehr ein Witz, der sich an seinen eigenen Treffern erfreute. Er konnte boshaft sein, aber diese Bosheit hatte nichts gemein mit dem Neid, mit dem der Unglückliche die Glücklichen verfolgt, es war Humor, mit der „lachenden Thräne im Wappen.“

Auf seinen Wunsch las ich dem Dichter meine Besprechung des „Romanzero“ vor. Sie erfreute ihn sichtlich. Aus einem neuerdings veröffentlichten Briefe Heines habe ich ersehen, daß er damals meinem Stil ein glänzendes Lob erteilte; ich kann das ohne Erröten hier erwähnen, denn welcher Poet lobt nicht den Stil eines Aufsatzes, in dem ihm selbst eine begeisterte Huldigung gespendet wird!“

Wir sprachen viel über Hamburg, über Julius Campe, das „junge Deutschland“, über Gutzkow, gegen den er sehr aufgebracht war wegen seines Werkes über Börne. –

Als ich Heine das nächste Mal besuchte, begleitete mich der Operndirektor Cornet, und ich wurde Zeuge einer Debatte, in welcher Heine seine ganze Schlagfertigkeit zeigte. Cornet war ein Verehrer Meyerbeers, dessen Opern er im Hamburger Stadttheater oft genug mit schönem Erfolg zur Aufführung gebracht hatte. Heine aber war ein erbitterter Gegner des Komponisten und hatte in Vers und Prosa ihn nicht verschont. Cornet ließ sich durch des Dichters Widerspruch nicht in seinem Lobe irremachen, er rühmte Meyerbeers Vielseitigkeit und daß dieser zwei „Stile“ habe, den deutschen und den italienischen. Darauf erwiderte Heine rasch mit einem unorthographischen, aber schlagenden Witzwort:

„Ja, er hat zwei Stühle, aber er kann auf keinem sitzen.“

Zahlreich waren die geflügelten Worte Heines, doch sie sind nicht alle in meinem Gedächtnis haften geblieben, und das Talent Eckermanns, das gesprochene Wort rasch aufzuzeichnen ist mir leider nicht zu teil geworden.

Heine war ein großer Anhänger Ludwig Philipps und hat dessen Lob in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ in allen Tonarten gesungen. Wohl aus Ueberzeugung, doch hat man ihm oft zum Vorwurf gemacht, daß er eine Pension von der Juli-Dynastie angenommen hatte. Nach dem Sturze Ludwig Philipps, nach der Februarrevolution, kümmerte sich Heine wenig mehr um die Politik. Es kam hinzu, daß er seit 1848 das Zimmer hüten mußte. Von dem damaligen Präsidenten der Republik, Louis Napoleon, hatte er keine sonderlich hohe Meinung, wie ja auch die Pariser demselben nicht viel zutrauten, weder im guten noch im bösen. Gerüchte von einem Staatsstreich durchschwirrten in jenen Tagen die Luft, doch man glaubte nicht recht daran und war bald wieder beruhigt.

Heine beleuchtete mit einigen treffenden Witzen die tonangebenden Persönlichkeiten der Pariser Salons, die politischen und die schriftstellerischen. Mir ist noch in der Erinnerung, daß er von einer gerade vielgenannten Gräfin sagte, sie sei süßlich wie ein in den Schmutz gefallener Bonbon.

Auch auf Moritz Hartmann kam die Rede – er lebte jetzt in Paris als Flüchtling und ich hatte seine Bekanntschaft gemacht. Der Sänger von „Kelch und Schwert“, der Vertreter der äußersten Linken des Frankfurter Parlaments, der Verfasser der „Reimchronik des Pfaffen Maurians“, war ein schöner Mann, dessen Gesichtszüge einen edlen Schnitt und einen ansprechenden Ausdruck hatten. Heine, zu dem er öfter kam, sagte von ihm: „O ja, er ist recht schön und alle Frauen sind in ihn verliebt, nur die neun Musen nicht!“

Doch nicht bloß das körperliche Elend gab dem Dichter jene Klagen ein, die er wie einen Strauß von Passionsblumen in seinem „Romanzero“ zusammengebunden hat. Sein Ach und Weh war nicht auf einem Punkte zu kurieren – er hatte noch einen anderen wunden Fleck, den er gleich im ersten kurzen Lied seines „Lazarus“ berührt:

„Wenn du aber gar nichts hast,
Ach so lasse dich begraben,
Denn ein Recht zu leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben.“

Trotz der Freigebigkeit seines Verlegers Campe und seines Onkels Salomon Heine in Hamburg, mit dem er aber bisweilen auf gespanntem Fuße stand, war öfters große Ebbe in seiner Kasse – und dann klagte er über seine Finanznöte. Durch diese Klagen schimmerte manchmal das Gefühl durch, daß er in Paris doch eigentlich in der Verbannung lebe, ein Gefühl, das er nicht loswerden konnte, trotz des Hohnes und Spottes, womit er im „Wintermärchen“ das arme Deutschland überschüttet, trotz der im Grunde glänzenden Aufnahme, die er in Frankreich gefunden. Hatte doch ein französischer König, ehe die garstigen Februarbarrikaden sein Königtum fortfegten, ihm eine Pension gezahlt, war er doch eine französische Berühmtheit. Der Schlüsselverwalter der modernen Unsterblichkeiten, Professor Saint-René Taillandier, hatte ihm in der „Revue des deux mondes“ das ehrenvollste Denkmal gesetzt und ihn bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet, in derselben Zeitschrift, in der sich größere mit Beifall angenommene französische Aufsätze aus Heines eigener Feder befanden. Die Pariser Schriftstellerwelt, die von den anderen deutschen Dichtern wenig wußte, begrüßte in ihm einen ausgezeichneten Kollegen. Und trotzdem hatte Heine Heimweh und sehnte sich nach den „schönen Apfelsinen des lieben Mütterleins in Hamburg.“

Ich wußte, als ich von dem Dichter Abschied nahm, daß ich ihn nicht wiedersehen würde, er war dem Tode verfallen. Und doch lebte er noch einige Jahre und in die Zeit nach meinem Besuch fällt die merkwürdigste Liebesepisode seines Lebens, die Liebe zu jener „Mouche“, die wie ein verspäteter Schutzengel um sein Krankenlager schwebte und die Muse seiner letzten Gedichte wurde.

Ich begegnete oft Achselzucken in deutschen Landen, wenn ich von Heinrich Heine sprach, aber ich fand auch Bewunderung des Dichters, wo ich sie am wenigsten vermutet hatte. Anderthalb Jahrzehnte nach meinem damaligen Aufenthalt in Paris besuchte mich im Seebad von Travemünde ein anderer kranker Dichter, der nur einige Stunden des Tages von heftigen Schmerzen frei war. Ich war in Lübeck bei ihm gewesen, und er kam, um den Besuch zu erwidern. Es war der Dichter jener keuschen Minne, „von der nur Gott im Himmel weiß“, es war Emanuel Geibel. Gewiß, kein größerer Gegensatz als der zwischen diesem Dichter und dem des „Romanzero“. Bei einer Flasche Champagner vergaß Geibel den Jammer der Krankheit, die ihn so schwer daniedergeworfen hatte und ihm nur kurze Ruhepausen gönnte, er wurde heiter erregt.

Das Gespräch kam auf Heine, und nun begannen wir ein Deklamatorium aus Heines Gedichten, bei dem wir beide gleich glänzend bestanden, denn Geibel und ich kannten sie auswendig von Anfang zu Ende – und nirgends riß uns der Faden ab. Konnten wir besser den Dichter feiern? Und das geschah doch gleichsam im feindlichen Lager!

Es war ein dunkler trüber Herbsttag, am Anfang des Dezembers 1851 an dem ich von Paris Abschied nahm. Schon einige Tage darauf las ich in Brüssel die Kunde von dem Staatsstreiche der Nacht und später die Berichte über die blutigen Kämpfe in den Straßen. Ob das Echo des Gewehrfeuers von den Boulevards bis in die stille Klause der Rue d'Amsterdam gedrungen sein mochte? Heine hatte in seiner Jugend für den ersten Napoleon so viel Begeisterung verschwendet, daß ihm für den dritten nichts mehr übrig geblieben war. Ich aber war ein paar Tage zu früh abgereist, um große geschichtliche Ereignisse mitzuerleben.


[849]

Kriegshunde in alter und neuer Zeit.

In Wort und Bild geschildert von J. Bungartz.

Seit uralter Zeit haben die verschiedensten Völker Hunde zu Kriegszwecken verwendet. Die klugen wachsamen Tiere dienten zum Aufspüren des Feindes oder hielten bei Vorposten Wache. Vor allem aber unterstützten sie, solange es keine vollkommenen Feuerwaffen gab, die Krieger beim Hauptangriff und im Handgemenge der Schlacht. Dabei leistete der Hund durch seinen mutigen Charakter, seine große Stärke und sein scharfes Gebiß vielfach große Dienste.

Die Geschichte hat uns zahlreiche Nachrichten von Kriegshunden überliefert und auch bildliche Darstellungen derselben sind aus alter Zeit erhalten geblieben. Unter den Ruinen von Babylon hat man ein Relief gefunden, das Krieger mit ihren Hunden darstellt, und ein herculanisches Basrelief führt uns Hunde vor, die eine Burg verteidigen und mit einem Schuppenpanzer und Stachelhalsband geschützt sind (vgl. obige Abbildung). In der „bunten Halle“ zu Athen befand sich ein Gemälde von Polygnot, das die Schlacht bei Marathon verherrlichte, auf demselben war auch ein Hund verewigt, der sich mit derselben Bravour wie sein Herr geschlagen hatte. Wie Aelian erzählt, bildete die Magnesier im Kriege gegen die Epheser eine dreifache Schlachtreihe. Die erste Linie bestand aus starken, wild erregten und bissigen Hunden, die zweite aus Sklaven und erst hinter diesen kamen die Krieger.

Altrömischer Kriegshund mit Panzer.

Noch mehr als die Griechen und Römer bedienten sich die Barbarenvölker des Altertums der Kriegshunde. Kaspische Völkerstämme führten stets Hunde im Heere, die nach dem Ton der Trompete mitmarschierten und an der Seite ihrer Herren kämpften. Sie wurden mit denselben Ehre wie die Krieger und mit diesen begraben. Die Castabaler in Cappadozien formierten eigene „Hundebataillione“, welche die Vorhut ihrer Truppen bildeten. Die Heerscharen der Völker des Nordens wurde gleichfalls von Hunden begleitet. Als die Römer im Jahre 101 v. Chr. auf den Raudischen Feldern bei Vercellä die Cymbern schlugen, hatten sie einen schweren Kampf mit den Hunden zu bestehen, welche die Wagenburg mutig verteidigten. Strabo erzählt ferner, daß die Kelten zu Kriegszwecken Dogge aus England bezogen, aber auch eigene Hunderassen zu diesem Dienst abrichteten.

Aus diesen geschichtliche Ueberlieferungen ersieht man, eine wie große Rolle der Hund beim Angriff und bei der Verteidigung spielte. Es waren auch nur große, starke und wilde Hunde, welche in den Krieg mitzogen, Tiere der Art, wie sie von Aristoteles als canis epiroticus oder canis molossus beschrieben wurde (vgl. nebenstehende Abbildung). Sie zeichnete sich wie die canes albani durch riesige Körperkraft und tollkühnen Mut aus und waren wohl mit Recht gefürchtete Gegner. Von den gallischen Hunden sagt Appian: „Großer Ruhm erhebt die mancherlei keltischen Hunde“; nach dem Urteil der Römer waren sie unschön und selbst die besten sähen schlecht aus, sie waren lang gezottelt, gewandt und kampfeslustig, bissig und belferten auf der Jagd bei Verfolgung des Wildes.

Auch in der neueren Geschichte erscheint der Hund als Begleiter des Kriegers.

Heinrich VIII von England unterhielt eine große Anzahl schottischer Bluthunde. Sie begleiteten die englischen Hilfstruppen, die der König seinem Verbündeten Karl V gegen Franz I von Frankreich sandte. Kaiser Karl soll seinen Soldaten zugerufen haben: „Ich hoffe, ihr werdet ebenso tapfer sein wie eure Hunde!“ Bekannt ist ferner, daß Karl V während der Belagerung von Valencia beim Zusammenstoß mit den Spaniern erst seine Kriegshunde voranschickte. Diese trafen mit den feindlichen Hunden zusammen und fochten mit ihnen einen mörderischen Kampf aus, wobei die spanischen Hunde unterlagen.

Der Canis molossus.

Zu einem solchen regelrechten Treffen ist es auch zwischen den Kriegshunden der Schweizer und denen von dem burgundischen Heere Karls des Kühnen in der Schlacht bei Granson gekommen, und ein gleiches soll sich bei Murten ereignet haben.

Der Kriegshund folgte auch den europäischen Entdeckern über den Atlantischen Ocean und unterstützte die spanischen Eroberer in ihren Kämpfen mit den Indianern. Berühmt war unter anderem der Bluthund Leoncico, der treue Begleiter Balboas. Auf dem denkwürdigen Zuge Balboas nach der Südsee hat er sich derart hervorgethan, daß ihm ein Beuteanteil im Werte von 500 Castellanos (etwa 6000 Mark) zuerkannt wurde.

Die Zeiten der rohen Kriegsführung, in welcher Tiere gegen Menschen gehetzt wurden, sind gottlob dahin. Mit der Vervollkommnung der Feuerwaffen verschwindet der Hund als Mitkämpfer von dem Kriegsschauplatze civilisierter Völker. Wohl begleiteten in der Neuzeit öfter Hunde ihre Herren in Feldzügen, aber sie dienten nicht mehr zum Angriff, sondern als Kundschafter.

Napoleon I hatte einen Hund „Moustache“, der fast alle Feldzüge seines Herrn mitgemacht hat. In der Schlacht bei Austerlitz soll derselbe eine verloren gegangene Regimentsfahne dem betreffenden Oberst zurückgebracht haben, für welche That das kluge Tier auf dem Schlachtfelde feierlichst dekoriert wurde. In seinem letzten Kriege mit der Türkei hat Rußland sowohl in Europa wie in Kleinasien Hunde zu Kriegszwecken verwendet und ebenso haben die Oesterreicher in der Herzegowina Hunde zum Aufspüren von Hinterhalten mit Erfolg geführt.

Gegenwärtig beschäftigen sich fast alle Kulturstaaten mit [850] der Heranbildung brauchbarer Kriegshunde. Vor allem wird erstrebt, die äußerst gut entwickelten Sinne des Hundes, seine Wachsamkeit, leichte Auffassungsgabe, seine Treue und Ausdauer, dem Heere und besonders auch dem Kriegs-Sanitätswesen dienstbar zu machen.

Die Verwendung des modernen Kriegshundes ist eine vielseitige; er soll Vorposten-, Boten- und Rekognoscierungsdienst versehen, Munition in die Feuerlinie tragen, Gepäckstücke bewachen etc. Eine seiner schönsten Aufgaben ist aber das Aufsuchen von Verwundeten.

Diese vielseitige Verwendung im Dienste verlangt allerdings einen äußerst befähigten und auch den Witterungseinflüssen standhaltenden Hund. Weichliche, ängstliche und nervös veranlagte Rassen sind daher schon von vornherein zu dem strapaziösen Dienste nicht berufen, da Anforderungen an sie herantreten können, die nicht allein die Anwendung der äußersten Kraftanstrengung sondern auch Entbehrungen aller Art erfordern.

Der schottische Terrier als Kriegshund.

In den verschiedensten Staaten hat man mit allen möglichen Rassen Versuche angestellt und diese haben ergeben, daß die Schäferhundrassen im allgemeinen am befähigtsten für den Kriegs- und Sanitätsdienst sind. Unter ihnen wieder werden die schottischen Schäferhunde, die Collies (vgl. die Abbildung), besonders gerühmt. Es sind dies nicht allein äußerst widerstandsfähige und ausdauernde, sondern auch sehr intelligente Hunde, die, in guter, verständiger Hand dressiert, allen gerechten Anforderungen vollauf entsprechen. In letzter Zeit werden Versuche mit dem Ayredale-Terrier (eine schottische Rasse, die viel Aehnlichkeit mit dem deutschen rauhhaarigen Pinscher, dem sogenannten Rattenfänger hat) bei den preußischen Jägerbataillonen angestellt (vgl. Abbildung).

Der Kriegshund findet seine Ausbildung direkt bei der Truppe, und hier sind es namentlich die Jägerbataillone, die sich mit der Heranbildung desselben befassen.

Um eine Entlastung des Kriegshundes herbeizuführen wird zum Aufsuchen versteckt liegender Verwundeter der „Sanitätshund“ empfohlen, der seit einigen Jahren durch den Vorsitzenden des „Deutschen Vereins für Sanitätshunde“ gezüchtet und herangebildet wird. Diese Hunde haben bei den offiziellen Suchen und unter den ungünstigsten Verhältnissen ihre volle Brauchbarkeit für den angestrebten Dienst ergeben und die Erwartungen, welche man auf sie im Ernstfalle setzt, dürften nicht enttäuscht werden. Der genannte Verein giebt die fertig dressierten Hunde unentgeltlich an die Sanitätskolonnen ab, er bedarf der Unterstützung aller Menschen und Vaterlandsfreunde, um sein uneigennütziges Streben verwirklichen zu können. Die Mitglieder des Vereins zahlen einen jährlichen Beitrag von 3 Mark. Vorsitzender ist der Verfasser dieses Artikels, der Tiermaler und Schriftsteller L. Bungartz in Lechenich (Rheinprovinz), der gern jedem die gewünschte Auskunft erteilt.

Die Hauptthätigkeit der Sanitätshunde wird im Ernstfalle die Nach- und Nachtsuche auf dem Schlachtfelde sein und zwar hauptsächlich in durchschnittenem Gelände, im Gebirge und in Waldungen. Es werden daher vornehmlich solche Stecken begangen werden müssen, die abseits der Hauptaktion liegen, und solche in dichtem Unterholz, die möglicherweise von den Krankenträgern nicht abgesucht oder doch leicht übergangen werden. Die Sanitätshunde eignen sich vortrefflich zu diesem Dienst, denn sie finden mit fast nie fehlender Sicherheit selbst an den verborgensten Stellen versteckt liegende Personen auf. Aus den letzten Kriegen sind genügend Fälle bekannt, daß viele Verwundete von den Krankenträgern nicht gefunden wurden und an einsamen Stellen unter großen Schmerzen durch Verblutung den Heldentod erlitten.

Der schottische Schäferhund als Sanitätshund.

Wenn also Hunde herangebildet werben, um solche traurigen Fälle zu mindern und sie thunlichst unmöglich zu machen, so ist es sicher ein dankenswertes und humanes Unternehmen, das die Unterstützung eines jeden fühlenden Menschenfreundes finden sollte. Wie viel Elend kann dadurch gemindert werden, wie viele tapfere Vaterlandsverteidiger können dadurch ihren Lieben erhalten bleiben!

In einer praktisch konstruierten Ausrüstung führt der Sanitätshund (vgl. Abbildung) das notwendigste Verbandzeug und Erfrischungen mit sich, damit ein Verwundeter, soweit ihm der Gebrauch seiner Hände gestattet, von diesem entnehmen kann. Bei dem Verwundeten angekommen, legt der Hund sich zunächst nieder, damit von dem Inhalt seiner Taschen Gebrauch gemacht werden kann, läuft dann wieder zu seinem Führer zurück und leitet diesen an die Fundstelle. Für die Nachtsuche wird der Hund noch mit einem sichtbaren Lichte ausgerüstet, damit der Führer ihm überall auch in der Dunkelheit folgen kann und ihn nicht aus dem Auge verliert. Eine aufgerollte wasserdichte Decke dient dem Hunde bei seiner Ruhe als Unterlage oder kann ihm auch bei anhaltendem nassen Wetter, bei strenger Kälte zum Schutz übergeschnallt werden. So ausgerüstet, versieht der richtig und gut dressierte Sanitätshund mit unermüdlicher Ausdauer und mit wahrer Leidenschaft seinen Dienst und übernimmt die Rolle eines Retters in der Not.


[851]

Der Stoandlnarr.

Eine tiroler Geschichte von Rudolf Greinz.

Es sah recht buntscheckig aus im Laden des Kramer Luis. Was nur irgend ländliche Bedürfnisse erfordern, war da in reicher Auswahl aufgespeichert. Tabakbeutel und Peitschenstiele, Zuckerhüte und Mehlsäcke, Hauskappen und Schuhnägel, Wichsschachteln und Kandiszucker gaben sich ein friedliches Stelldichein neben anderen eßbaren oder irgendwie zur Verschönerung des Lebens dienenden Waren. Mitten darunter thronte auf einer Art Schusterstuhl der Luis und schmauchte seine kurze Reggelpfeife. Wenige hatten ihn anders gekannt, als er gegenwärtig war: meeralt, voll Runzeln im Gesicht, die kleinen listigen Augen eingekniffen, den passenden Mund immer gespitzt wie ein Hecht auf dem Trocknen.

Man munkelte, daß der Kramer Luis bis über die Ohren im Geld sitze. Sein Aeußeres hatte, wie gesagt, nichts Verlockendes. Dazu kam noch ein großer Höcker. Im übrigen besaß der Luis eine unverwüstliche Gesundheit, war zäh wie Sohlenleder und immerwährend bei gutem Humor, wenn dieser auch recht viele bissige Bestandteile hatte. Was im Umkreis von zehn Meilen passierte, das wußte der Luis am allerbesten. Er saß ja den ganzen Tag wie eine Spinne im Netz und sammelte Neuigkeiten.

Der Kramer stopfte sich gerade frischen Tabak in die Pfeife, als ein Kunde eintrat. Es war ein starker Bursch, hoch in den Dreißigern. Haar und Bart hingen ihm ziemlich verwildert um das wetterbraune Gesicht.

„Bist auch wieder amal aber vom Berg, Romedi!“ begrüßte der Kramer den Ankömmling. „Wird dir wohl wieder Pappendeckel und Leim ausgangen sein, denn was anderes hast ja noch nie bei mir kauft!“

„Dös geht di gar nix an!“ erwiderte der Romedi etwas unwirsch. „Wann’s dir zuviel Müh’ macht, kann i mir’s durch die Botin von der Stadt auch bringen lassen!“

„Sei nur nit gleich oben aus!“ beschwichtigte ihn der Luis und ging eilfertig in eine Ecke des Ladens, von wo er bald mit einem riesigen Packen Pappendeckel zurückkam. „Der wird wohl wieder a Weil’ langen?“ meinte er. „Und Marmelpapier is auch neues kommen. Kannst dir aussuchen, was dir g’fallt.“ Dabei zog er aus einer Lade einen Stoß bunt gesprenkelten Papieres hervor.

Der Romedi suchte lange aus, legte sich seinen Bedarf beiseite, den ihm der Kramer zu einer Rolle packte, und wollte sich, nachdem er noch einige Stücke Leim erworben, entfernen. Dem Luis schien aber daran gelegen zu sein, noch eine Weile Unterhaltung zu haben. Er zupfte den Burschen beim Aermel. „Wir sein ja nit auf’m Wasser, daß du di so zu schleunen brauchst. Setz’ di a wengerl nieder, und i schenk’ dir a Glaserl Kerscheler ein. So an seltenen B’such werd’ i doch nit gleich laufen lassen!“

Der Bursch folgte halb widerstrebend und setzte sich auf die Ladentafel. Gleich darauf stellte der Kramer den Kirschenschnaps neben ihn. „So, jetzt können wir doch noch a christliches Wort reden von Gott und der Welt. Sag’ amal, Romedi, tragt dir denn dein G’schäft etwas ein auch?“

„Sonst würd’ i wohl nit leben können!“ erklärte der Gefragte kurz, indem er an dem Schnapsglas nippte.

„Will’s glauben! Will’s glauben!“ versicherte der Kramer. „Schau, es is doch gut, daß so allerhand neue Moden in die Welt kommen. Zu meiner Zeit hätt’ einer bei so a Bransch verhungern müssen. Aber seit die Herrischen alleweil mehr in die Berg’ auferkraxelt kommen und mit ihre Winterfenster und Spekuliereisen[2] jeden Grashalm und jedes Stoandl[3] abschnuffeln – seitdem macht man halt mit di Stoaner auch a G’schäft.

„Wenn man’s versteht!“ erwiderte der Romedi, während ein spöttisches Lachen über sein Gesicht zuckte.

„Ja, ja,“ sagte der Kramer und rückte näher herzu. „Du mußt es in dei’m Hirnkasten schon ganz extra eing’richtet haben. I wüßt’ amal mit dö Stoaner nix anz’fangen!“

„Vielleicht kennst di mit der War’ besser aus, wenn sie in dei’m Gries und Mehl vorkommt!“ versetzte der Romedi boshaft.

„Mit so überflüssigen Reden kannst daheim bleiben!“ verteidigte sich der Luis aufgebracht und leitete gleich auf ein anderes Thema über. „Weißt schon das Neueste? Der Kurzweger Sagschneider is auf der Gant. In a paar Tagen versteigern sie ihm sein ganzes Zeug!“

„Dem Sagschneider?“ fuhr der Romedi empor. Die Nachricht machte sichtlich einen starken Eindruck auf ihn.

„Recht g’schieht ihr, der hochmütigen Bagaschi!“ lachte der Kramer. „Jetzt wird’s dem Sagschneider sein Weib, die Emerenz, wohl bleiben lassen, seidene Schürzen z’tragen und die teuersten Halstücheln, dö aufzutreiben sein, und a silbernes Miederg’schnür! Hat sich ja mit dem Kurzweger den allerbesten auszusuchen glaubt. War ja a G’riß um dös Diandl, und die Buab’n sein zu ihrer Schönheit wallfahrten gangen, als wann’s a wunderthätig’s Frauenbild am Altar wär’! Mir scheint, Romedi,“ meinte der Luis, mit den Augen zwinkernd, „du hast die Emerenz auch amal nit ungern g’sehen? Seid’s ja miteinander aufg’wachsen.“

Der Bursch stierte völlig geistesabwesend vor sich hin und schien die Frage des Kramers überhört zu haben. Dann raffte er sich auf, trank hastig seinen „Kerscheler“ aus und wollte gehen. Abermals hielt ihn der Kramer zurück „Mir dünkt, Romedi, du hast heut’ nit dein’ besten Tag?“

„Was macht denn nachher der Kurzweger?“ fragte der Romedi, um wenigstens etwas zu sagen.

„Der hat sich’s leicht vorg’nommen!“ spottete der Luis. „Der is auf und davon. Seit drei Tagen hat ihn koa Mensch mehr g’sehen. D’ Hoamat is ihm wohl z’eng wordn! Er wird nach Amerika sein.“ Der Kramer rückte jetzt wieder ganz nahe an den Romedi heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Und weißt du, wer die Emerenz und ihren Mann auf nix bracht hat? I – hab’s than! I hab’ die größte Hypothek auf den Hof, und alle anderen Gläubiger friß i auf’m Kraut! I laß’ der stolzen Brut das Dach überm Kopf und ’s Bett unterm Buckel verkaufen! Dann wird’s die Emerenz wohl einsehen, daß sie mit dem Kramer Luis besser g’fahren wär’!“

„Mit dir?“ fragte der Romedi, dem es ganz wirblig im Kopf wurde.

„Ja, mit mir!“ zischte der Luis und stemmte beide Fäuste auf die Ladentafel. „I hab’ das Diandl zu mei’m Weib machen wollen! Und i hätt’ sie auf Händen tragen! A Leben hätt’ sie g’habt wie a Reichsgräfin! Freilich hat sie mi[r] abg’schnalzt! Aber von da an hab’ i mir’s g’schworen … und du siehst, i hab’ mein’ Schwur g’halten! Ja, ja, aufg’schoben is nit aufg’hoben!“ Damit brach er in ein krampfhaftes Gelächter aus.

Der Romedi stand unterdessen vor ihm und öffnete fortwährend seine beiden Fäuste, sie gleich darauf wieder ballend, als ob er in der Luft etwas kneten wollte. Jetzt faßte er den Kramer bei den Schultern, hob ihn mit einem Ruck über die Ladentafel und schrie. „Du elendige Kreatur, soll i dir nit gleich da auf der Stell’ dein Lebenslicht ausblasen! Du und die Emerenz! Himmelsakra! Mach’ Reu’ und Leid, sag’ i dir!“ Jede Muskel an dem starken Burschen bebte.

Der Kramer war leichenblaß geworden vor Angst. Nun erhob er ein mörderisches Geschrei. „Zu Hilf! Zu Hilf! Er bringt mi um!“

Das schien den Romedi zu ernüchtern. Er gab dem Luis einen „Schupfer“, daß er auf den nächsten Mehlsack zu reiten kam, griff nach seiner Rolle und meinte gelassen: „Hab’ koa Angst. Is mir nit der Müh’ wert, wegen so an Kerl ins Kriminal z’kommen. Aber das merk’ dir, Kramer! Der Letzte hat noch nit g’schlagen! Vielleicht reden wir Zwei noch a Wörterl mitanander!“

„Aber vor G’richt!“ zeterte der Luis, auf seinem Mehlsack, nach Atem ringend.

„Kann auch möglich sein,“ meinte der Romedi gleichgültig und war im nächsten Augenblick auf der Dorfgasse.

„Stoandlnarr! Stoandlnarr!“ brüllte ihm wütend der Kramer, der zur Thür geeilt war, aus Leibeskräften nach.

Der Romedi ließ sich durch den Schimpf nicht beirren und schritt rüstig fürbaß. Bald hatte er die letzten Häuser des [852] Dorfes hinter sich. Nun ging es durch Wiesen und Aecker dem Wald zu. Ein schwüler Sommerabend lag über dem Unterinnthal. Auf den Gipfeln der Berge ballten sich schwarze Wolkenmassen zusammen. Kein Lufthauch rührte sich, kein Laut war hörbar als das Zirpen der Grillen im roten Klee oder der Pfiff eines vorüberschwirrenden Vogels. Hier und da hörte man auch das Wetzen einen Sense in benachbarten Wiesen.

Als der Wanderer den anfangs ebenen und dann sacht ansteigendem Wald betrat, war es dort womöglich noch „dunstiger“. Seine Joppe hatte der Bursch ausgezogen und trug sie mit der Rolle unterm Arm. Der Vorgang beim Kramer hatte den Romedi mehr aufgeregt, als er sich selbst eingestehen wollte. Sonst pflegte er ein Liedel zu pfeifen, wenn er so mit wuchtigen Schritten seinen Weg verfolgte. Heute wollte ihm kein einziger Ton aus der Kehle.

In der Ferne begannen die ersten Donner zu grollen. Es wurde schon beinahe finster im Wald und man mußte Weg und Steg gut kennen, wenn man sich nicht verirren wollte. Der Pfad wurde immer steiniger und steiler. Der Romedi hatte noch ein tüchtiges Stück, bis er seine einfache Behausung droben im Gebirge erreichte. Schon wechselten die Bestände der Fichten und Föhren vielfach mit der Zwergkiefer, die in dem felsigen Untergrund noch am ehesten ihr Fortkommen fand. Jetzt leuchtete ein greller Blitz hernieder, dem in kurzer Frist ein dumpfes Poltern folgte. Gleichzeitig fielen die ersten Regentropfen. Der Romedi hielt keuchend inne, denn er hatte die letzte Viertelstunde seines Weges fast im Sprunge zurückgelegt. Furcht vor dem Wetter kannte er nicht. Der Sturm in seinem Innern war’s, der ihn antrieb, über den holprigen Weg so hinauf zu rasen. Nun ließ er sch auf einem mit Moos und Farrenkraut überwachsenen Felsstück nieder, vergrub das Gesicht in beide Hände und dachte nach.

Die ganze Welt um ihn war vergessen, der Sturm, der die Wipfel der Bäume zauste, das Gewitter, das in immer größerer Heftigkeit losbrach, der niederrauschende Regen. Mochte es ihn erschlagen und verschwemmen, den armen Stoandlnarr! Es wäre ihm gerade recht gewesen. Sein ganzes Leben zog an dem Burschen im düstern Hochwald vorüber, und die entfesselten Elemente spielten ihm dazu auf.

Der Romedi war schon als ganz kleines Büblein aus Welschtirol in das Dorf im Unterinnthal gekommen. Von seinen Eltern hatte er nur wenig Erinnerungen. Sein Vater war ein Maurer gewesen, der mit seinem Weib in der Gegend eine Weile gelebt hatte und dann wieder in seine Heimat gezogen war. Den Romedi hatte sie bei einem Bauern gegen gute Worte als Hüterbua zurückgelassen. Er konnte bereits auf eigenen Füßen laufen und sich daher sein Brot allein verdienen. Auf diese Weise war der lästige Mitesser am besten „angebaut“. Wenn er einmal herangewachsen wäre, würde man ihn schon wieder mit nach Hause nehmen, hatten seine Eltern beim Abschied gesagt. Dann sollte er das Handwerk des Vaters erlernen. Nach dem „welschen Bua“ frug aber kein Mensch mehr. Auch alle später eingezogenen Erkundigungen über seine Eltern blieben erfolglos. So behielt man Buben im Dorf. Deutsch hatte er inzwischen gründlich gelernt und seine Muttersprache vollkommen vergessen.

Aus dem kleinen Hüterbua war ein braver Knecht geworden, der sich auf die Bauernarbeit verstand wie selten einer. Als der Romedi schon ein ganz großer „Lackl“ und bald zwanzig Jahre alt war, kam er auf den Hof des Praxmarer, eines ziemlich wohlhabenden Bauern. Die Bäuerin war nicht mehr am Leben. Der Praxmarer hauste allein auf dem Anwesen mit seinem Gesinde und der kleinen Emerenz, dem einzigen Sprößling seiner kurzen Ehe. Das Diandl war damals zehn Jahre alt und „a rechter Uebermuat“. An dem Madl ist ein Bua verloren gegangen, pflegten die Leute zu sagen. Da der Praxmarer mit Holz und Vieh handelte und daher viel auswärts war, blieb das kleine Ding dem Gesinde. überlassen und der Obhut eines alten treuen Haushundes, der das Kind öfter als einmal aus dem Mühlbach gezogen hatte. Gerade einige Wochen, nachdem der „Phylax“ seinen letzten „Schnaufer“ gethan, kam der Romedi auf den Hof und übernahm das Amt des alten Hundes. Es war wirklich rührend, zu sehen, wie der hoch aufgeschossene, unbehilfliche Bursche dem Kinde jede freie Minute widmete, es bewachte wie seinen Augapfel, ihm Puppe und Maispfeife schnitzte und sich von seinem Händchen im Spiel zerzausen ließ. Er hätte sich eher in Stücke hacken lassen, bevor dem Diandl des Praxmarer auch nur ein Haar gekrümmt worden wäre.

Lange dauerte diese Wächterrolle allerdings nicht. Die kleine Emerenz wuchs heran und vertauschte ihr Spielzeug mit der Arbeit im Haus. Der Romedi war auf dem Hofe eine unschätzbare Kraft geworden. Er sah nach allem, griff überall von selbst zu und arbeitete unverdrossen von früh bis abends. Darüber verstrichen die Jahre. Er wußte es zuletzt selbst nicht mehr, wie lange er schon beim Praxmarer diente. Daß es schon ziemlich lange sein müsse, konnte er sich an der Emerenz ausrechnen, die eine stattliche Dirn geworden war und, wie die übrigen Diandeln und ehemaligen Schulkameradinnen mit Neid eingestehen mußten, die schönste im ganzen Dorf. Und doch war alles ganz langsam und stetig vor sich gegangen. Der Romedi erinnerte sich noch ganz genau, wie das Diandl in die Schule ging und glückstrahlend mit dem ersten Preis, einem riesigen, in hellroten Sammet gebundenen Gebetbuch, heimkam. Dann besuchte sie noch ein Jahr die Sonntagsschule, wobei der Romedi sie gewöhnlich abholte, um das plötzlich ganz scheu gewordene Diandl vor den Neckereien der jungen Burschen, die mit ihr am Sonntag die Christenlehre besuchte, zu bewahren. Mehr als einen Zudringlichen hatte er durchgeholzt. Später wußte sich dann das Diandl selbst zu helfen. Eine schnippische Bemerkung der schönen Emerenz fruchtete dann mehr als früher die Fäuste des Romedi.

Die beiden Gespielen waren nicht mehr viel beisammen und hatten auch nicht mehr viel miteinander zu reden. Jedes ging seiner Arbeit nach. Und an den Abenden im „Hoamgart“ waren zu viele, als daß man ein vertraulich Wörtlein allein hätte wechseln können. In irgend einem Winkel leise zu „tuscheln“, hätte nur üble Nachrede erzeugt. Und schließlich, was sollten sie sich auch leise oder laut sagen, was nicht alle Welt hätte hören können? Sie war die Tochter vom Haus, und er war der Knecht. Dieser große Unterschied, der in den Kinderjahren ja nur wenig ins Gewicht fiel, hatte sich nunmehr Geltung verschafft. Da hieß es, den Abstand zu wahren!

Die Emerenz war gerade nicht stolz geworden. Aber daß sie etwas auf sich halten konnte, das wußte sie. Gar mancher Bursch guckte sich die Augen nach ihr aus, wenn sie so leichtfüßig dahineilte wie ein Reh, daß die dicken braunen Zöpfe im Winde flogen. Von den vielen Bewerbern konnte sich keiner rühmen, daß ihm die Emerenz auch nur die Spitze des kleinen Fingers gereicht hätte. Ob sie ans Heiraten dachte oder nicht? Wer wollte es entscheiden? Jedenfalls waren schon genug mit ellenlangen Gesichtern abgefahren, die sie nur „von weitem“ darum gefragt hatten.

Das Leben ging auf dem Praxmarer Hof ruhig weiter. Außer Tod, Feldschaden, Brand, Wassergefahr und dergleichen giebt es ja nicht viele aufregende Momente im Bauernleben, Liebe und Ehe etwa noch mit eingeschlossen. Der Romedi war daher in aller äußeren Ruhe dreißig Jahre alt geworden. Was er innerlich dachte und fühlte, darum fragte ihn niemand. Schien auch niemand neugierig danach zu sein!

Ein neues Element war allerdings in sein Leben getreten. Das hatte der Besuch von mehreren Geologen, die sich einige Wochen in der Gegend aufhielte, mit sich gebracht. Da auf dem Hof die strengste Feldarbeit gerade vorüber war, erlaubte der Bauer dem Romedi, den fremden Herren als Führer in die umliegenden Berge zu dienen. Das war für den Romedi eine Zeit der größten Anregung. Anfangs machte sich wohl die Spottlust in ihm geltend – „Was dö Herrischen doch für verrückte G’sellen san, weil sie sich wegen a paar elendige Stoaner halb zu tot schwitzen! Von Tag zu Tag wuchs jedoch das Interesse des Burschen an der Sache. Er sperrte Mund und Auge auf darüber, daß es in der ihn zunächst umgebenden Welt so viel gab, von dem er bisher keine Ahnung gehabt. Er war wohl oft genug früher mit der Büchse über der Schulter in die Berge gestiegen. Da hatten ihm aber die Steine nur manchen gelinden oder starken Fluch entlockt, und es war ihm einer wie der andere erschienen. Jetzt war er eifrig bestrebt, den fremden Herren so viel als möglich von ihrer Wissenschaft abzulauschen und hatte sich auch innerhalb der wenigen Wochen ganz erkleckliche

[853]

Johanna Sebus.
Aus der Prachtausgabe von „Goethes Gedichten“, illustriert von Frank Kirchbach.
Verlag von Adolf Titze in Leipzig.

[854] Kenntnisse angeeignet. Namentlich wußte er jetzt recht genau, daß es auch wertvolle Steine gab und daß ein Stück Feld schließlich auch mit der Sache zu verdienen sei. Kurz, als die Herren abreisten war aus dem Romedi ein vollendeter „Stoandlnarr“ geworden, welcher Spitzname denn auch nicht lange auf sich warten ließ. Jede freie Stunde benutzte er, um in den Bergen herumzustreifen, und oft kam er mit ganzen Lasten seltener Mineralien zurück. Mit seinen Lehrern, denen er zum Führer gedient, war er in Verbindung geblieben, und so wußte er seine Funde auch direkt zu verwerten.

Als ab und zu und dann immer häufiger kleinere Geldsendungen von auswärts an den Romedi einlangten, schüttelten die Bauern den Kopf und begannen langsam zu begreifen, daß der Knecht nicht so verrückt sein müsse, wie man anfangs geglaubt. Und als der Romedi eines Tages gar mit einem schier faustgroßen Granaten heimkam und dann ein hübsch Stück Geld dafür einheimste, regte sich schon der Neid.

Der „Stoandlnarr“ aber waltete wie ein Gebieter über all den fast unzugänglichen und versteckten Plätzen, die er ringsum in den Bergen aufgestöbert hatte und noch gehörig auszunutzen gedachte.

Dann war für ihn ein Tag gekommen, an dem er glaubte, der Himmel sei auf die Erde herabgefallen. Das war, als er sich ein Herz genommen, der Emerenz zu entdecken, wie lieb er sie habe und wie er meine, ohne sie nicht mehr leben zu können. Und das Diandl war ihm an die Brust gesunken. Sie hatten sich ewige Treue geschworen. Arbeiten wollte er für sie, bis ihm das Blut von den Händen rinne! Und wenn er alle Berggipfel und Felszacken im ganzen Unterinnthal abtragen sollte! Der Vater durfte vorderhand nichts von der „G’spusi“ wissen. Es wäre ja noch Zeit. Er, der Romedi, wollte dann schon selbst mit dem Alten ein vernünftiges Wort reden, wenn er von seiner letzten Waffenübung bei den Tiroler Landesschützen heim käme und damit militärfrei würde.

Der Romedi rückte im Sommer auf vier Wochen ein, zum heftigen Verdruß des Praxmarer, dem sein Knecht unter der dringendsten Feldarbeit gewaltig abging. Aber der Kaiser wollte halt auch seine Leute haben. Da ließ sich nichts machen.

Vier Wochen sei nur ein Sprung, meinte der Romedi, als er von der Emerenz Abschied nahm. Und seine letzte Zeit beim “Militari“ wollte er im Nu „aberg’rissen“ haben. Wieviel Unerwartetes kann aber sich auch in der kürzesten Spanne Zeit ereignen! Das sollte der Romedi erfahren als er zurückkam.

Seine erste Frage, als er mit seinem Urlauberpäckchen den Hof betrat, war nach der Emerenz. Das Diandl sei seit ein paar Tagen fort zu einer Bas’n nach Brixen, um dort ihre Ausstattung zu nähen. Ja, sollte der alte Praxmarer schon alles wissen und mit allem einverstanden sein? durchblitzte es den Heimgekehrten in plötzlicher Freude. Um so schwerer traf ihn der wahre Sachverhalt. Die Emerenz war mit einem anderen versprochen!

Wie und warum das gekommen, dem hatte der Romedi nie nachgeforscht. Ob das Diandl nur dem Drängen ihres Vaters nachgegeben, ob sie dessen Widerstand gefürchtet und sich schließlich selbst geschämt habe, nur einen armen Knecht zu heiraten, er brauchte es nicht zu wissen. Er fragte nicht nach den Gründen. Für ihn war die vollendete Thatsache genügend, um ihm den „Himmel auf Erden“ im Verlauf weniger Minuten in die leibhaftige Höll’ zu verwandeln. Ziemlich hoch hinaus hatte die Emerenz freilich immer wollen! Das fiel dem Romedi erst jetzt wieder ein. Drum wird ihr halt der reiche Kurzweger lieber gewesen sein als der „welsche Bua“, der eigentlich kein Herz im Leib zu haben brauchte, weil das ein überflüssig Ding ist für einen bloßen Knecht!

Der Kurzweger, der vor einigen Jahren mit einem Sack voll Banknoten aus Bayern zugewandert war, hatte schon seit geraumer Zeit mit dem Praxmarer in einer Art Kompagniegeschäft gestanden, indem er den reichen Wälderbesitz des Bauern „praktisch“ verwertete. Er hatte eine riesige Brettersäge nahe beim Dorf errichtet, die großes Geld abzuwerfen schien. Wenigstens rückten die Bauern den Hut vor dem „Sagschneider“. Das will immerhin etwas heißen und passiert einem Einheimischen außer dem Pfarrer, Doktor und Bezirksrichter nicht sonderlich oft.

Ein Vierteljahr, nachdem der Romedi heimgekommen war, hielt der Kurzweger mit der Emerenz Hochzeit. Es ging hoch her dabei. Der Wein floß in Strömen, und die Böller krachten vom frühesten Morgen bis spät in die Nacht.

Der Romedi hatte noch am Tage seiner Heimkehr Abschied vom Praxmarerhof genommen. Den Grund erfuhr der Bauer, der ihn ungern ziehen sah, nicht. Er fragte auch nicht danach. Wenn der Romedi „mir nichts dir nichts und ohne irgend welchen Grund davon laufe, dann war er eben nicht recht gescheit. Wenn er aber gar sich Hoffnungen auf die Emerenz gemacht haben sollte, dann sei er erst recht verrückt. Ein Raderl zu viel habe der Bursch unter jeder Bedingung in seinem Hirnkasten. Damit war die Sache für den Bauern abgethan.

Dann sah man den Romedi über ein Jahr lang in der Gegend nicht mehr, bis er plötzlich wieder auftauchte. Es hieß, er sei inzwischen im Welschland gewesen. Einen Welschen hatte er wenigstens mitgebracht. Und das war ein Bruder des Romedi, der, wie die Leute im Dorf meinten, einen ganz verzwickten „krautwelschen“ Taufnamen hatte. Niemand konnte sich ihn merken.

Der ehemalige Knecht vom Praxmarer kaufte sich eine halb zerfallene Mühle hoch im Berg droben, die er zu einem ganz stattlichen und wetterfesten kleinen Haus wieder aufbaute. Mit der noch verfügbaren Wasserkraft richtete er sich dort eine Stein-Schleiferei ein und vergrößerte seinen Handel mit seltenen Steinen nach auswärts. Unten im Dorf ließ er sich nicht oft sehen. Nur wenn er Lebensmittel einzukaufen, gewichtige Pakete und Säcke auf die Post zu befördern hatte, ging er hinunter, oder wenn er sich beim Kramer das Material für all die großen und kleinen Pappschachteln holte, die er sich für seine mineralogischen Sammlungen selbst anfertigte. Bisweilen fuhr er aber auch nach Innsbruck, und im Dorf munkelte man, daß er dann seine Einnahmen auf die Sparkasse trage. Noch seltener kam jemand vom Dorf zu dem Einsamen hinauf. Um so mehr wurde er von fremden Touristen besucht. Auf dem Praxmarerhof war aber der Kurzweger unumschränkt Herr geworden, da der alte Bauer bald nach der Hochzeit seiner Tochter gestorben war. – –

Der Regen hatte nachgelassen, das Wetter seine ärgste Gewalt ausgetobt. Der Romedi schreckte empor. Wie lange mochte er so im Wald gesessen haben? Ihm schien es ein Augenblick zu sein. So rasch und jäh war alles vor seinem Innern vorübergeflogen. Das war also das Ende vom Lied: der Kurzweger auf der Gant und die Emerenz eine Bettlerin! Dann ballte er unwillkürlich wieder die Faust, wenn er des Kramers gedachte. Dabei erinnerte er sich der drunten eingekauften Rolle. Sie lag neben ihm auf dem Boden und war vom Regen zu einer breiigen Masse zerweicht worden. Der Romedi trat sie mit dem Fuß in den Boden. Er war selbst naß bis auf die Haut. Nicht einmal die Joppe hatte er umgehangen, die schwer und ganz durchtränkt neben ihm lag. Mit einem gleichmütigen Achselzucken zündete er sich jetzt seine Pfeife an. Die Zündhölzer in der kleinen blechernen Büchse waren trocken geblieben. Er schritt vorwärts. Man sah kaum einen Fuß breit Weges in dem Wald vor sich. Der Romedi fand sich aber auch im Finstern zurecht. Da und dort orientierte ihn auch die schwache Glut seiner Pfeife.

„Also der Kurzweger auf der Gant –“ murmelte er wiederholt, indem er gemessenen Schrittes aufwärts stieg. Ein Gerücht, daß der reiche Sagschneider durch fortgesetzte verfehlte Spekulationen namhafte Verluste erlitten, war dem Romedi allerdings auch schon vor einiger Zeit zu Ohren gekommen. Er hatte aber darauf nichts Besonderes gegeben. Jetzt fiel es ihm ein, daß der Kramer Luis und der Kurzweger schon seit Jahr und Tag immer beisammen steckten , gemeinschaftlich Geschäfte machten ja, daß der Luis im Dorf geradezu als der geschäftliche Ratgeber des Sagschneider galt. „Also darum? – Verfluchter Haderlump!“ wetterte der Romedi laut vor sich hin.

Dabei wäre er bei einem Haar an seinem Haus vorüber „geschuht“. So tief war er in Gedanken. Er öffnete die Thür und machte im Hausflur Licht. Der Bruder lag offenbar schon lange im Bett. Er hörte sein regelmäßiges Schnarchen aus der Kammer. Der Romedi hatte bei all dem Sinnieren Hunger und Durst bekommen. Er ging in die Stube und schnitt sich einen tüchtigen „Ranggen“ Brot ab. Aus der Selchkammer neben der Küche holte er sich ein „Trumm“ Speck. Die beiden Brüder waren ganz gut zugerichtet und kamen auch ohne Häuserin prächtig durch, kochten und wirtschafteten selbst. In der Stube [855] langte sich der Romedi noch die Flasche mit dem Enzian aus dem Wandkasten und ließ es sich gehörig schmecken.

Nachdem er sich so gestärkt hatte, trieb es ihn, vor dem Schlafengehen noch einmal in der Werkstätte Nachschau zu halten. Er kletterte über eine leiterartige Stiege empor und öffnete die aus Brettern roh gezimmerte Thür, die zu seinem Heiligtum führte. Das kleine Gemach war nicht gemauert, sondern aus gesägten Balken aufgeführt, durch die der Wind, trotz der Moosverkleidung in den Ritzen und Spalten, reichlichen Zutritt hatte.

Es herrschte eine peinliche Ordnung in diesem primitiven Naturalienkabinett. Schränke mit Glasscheiben, andere, an denen die Thüren bloß aus grünem Wachstuch in Holzrahmen waren, zierten die Wände. Jeder einzelne Kasten war ein besonderer Stolz des Romedi. Nur schweren Herzens plünderte er den Inhalt seiner Sammlungen, wenn kauflustige Touristen zu ihm kamen und für die wertvollen Mineralien die blanken Gulden, Fünfer und Zehner in die Tasche des „Stoandlnarrs“ wandern ließen.

In einem der Balken kunstvoll eingekerbt, befand sich ein für das Auge des Unkundigen nicht zu unterscheidendes kleines Schubfach, das der Romedi nur seinen besonderen Günstlingen öffnete. Jetzt leuchtete er mit dem kärglichen Talglicht nach dem Balken, bohrte mit einer spitzen Ahle in das Holz und zog an derselben ein kleines Kästchen heraus. Es war völlig wie Hexerei anzusehen Er öffnete das Behältnis und weidete sich an der stattlichen Reihe von kunstvoll geschliffenen Granaten, Amethysten, Opalen und Lasursteinen, die er im Laufe der Jahre mühsam auf seinen einsamen Bergfahrten gesammelt, selbst bearbeitet und nur zum geringsten Teil verkauft hatte. Ein eigener Geiz war über den Romedi gekommen. Wenn er sich von einem der prachtvollen Steine trennen sollte, war es ihm stets, als ob man ihm etliche Tropfen seines Herzbluts abzapfen würde.

Auch einige im Schliff noch nicht vollendete Stücke befanden sich in der Sammlung, in der jeder kostbare Steinfund sofort aufbewahrt wurde. Früher war der Romedi nicht so mißtrauisch gewesen. Seitdem aber bei den wiederholten Besuchen von Fremden manchmal das und jenes wertvolle Stück von selbst „Füße gekriegt“ hatte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, ließ es sich der Romedi gesagt sein.

Er entnahm dem Kästchen einen Granaten, an dem sich noch mehrere rauhe Flächen zeigten, ging an die sinnreich eingerichtete und in ihren meisten Teilen von ihm selbst erfundene Schleifbank und zündete dort eine kleine Blendlaterne an. Dann wollte er durch einen Druck auf einen hölzernen Hebel die Wasserkraft in Bewegung setzen. Die Maschinerie versagte. Sollte das Gewitter an dem Einlauf des Baches etwas zerstört haben? Dem Romedi ließ es keine Ruhe. Er mochte sich hundertmal sagen, daß es ja morgen auch noch Zeit sei, zum Rechten zu sehen! Schlafen hätte er doch nicht können! Noch niemals war ihm seit dem Bau der Schleiferei eine solche Störung passiert.

Er löschte die Kerze aus, nahm die Blendlaterne und kletterte über die Stiege nieder in den Hausflur. Dann trat er ins Freie. Ein scharfer schneidiger Wind hatte sich im Nordosten erhoben und blies ihm gleich vor der Hausthür das Licht aus. Mit einem kräftigen Fluch ging er in die Küche und zündete die Laterne wieder an. Kaum war er zu dem Bachstall gekommen, dasselbe Manöver!

„Na, wart’, i werd’ dir helfen, Teufelswind überanand! knirschte der Romedi zwischen den Zähnen, tappte sich im Finstern in die Holzschupfe und holte einen großen „Kenten“, wie man die aus harzigem Tannen- und Fichtenholz verfertigten Kienfpanfackeln nennt. Der „Kenten“ fing bald Feuer. Der Romedi schwang ihn unterwegs in dem pfeifenden Wind über seinem Kopf im Kreise, um ihn vollends zum Brennen zu bringen.

In dem flackernden Licht stieg er rasch zu dem Wehr empor, das den heute ziemlich mächtig angeschwollenen Wildbach teilweise zu seiner Steinschleiferei lenkte und ihm den unbändigen Gesellen dienstbar machte.

An dem Wehr war nichts zu entdecken. Der Romedi leuchtete das tief gegrabene und mit Dielen-Eichenbrettern eingefaßte Bachbett entlang. Auch da nichts! Sollte ein Mutwilliger etwas an dem Hebelwerk zerstört haben? Aber auch an dem Hebelwerk, das die Wasserkraft seiner Werkstätte zuführte, bemerkte er bei oberflächlichem Zusehen nichts.

Da, was war das? Unter dem Schaufelrad ein dunkler Körper, der sich wie mit Gewalt hineingezwängt hatte! Der Romedi leuchtete zu und hätte im nächsten Augenblick mit einem lauten Aufschrei fast den Kienspan fallen lassen. Es war ein menschlicher Körper, der durch die Gewalt des Wassers herbeigeschwemmt worden und unter dem Rade stecken geblieben war. Der Romedi bekreuzte sich unwillkürlich, bohrte aber dann mit einem raschen Entschluß die Fackel zwischen zwei Schaufeln des Rades, die ziemlich eng aneinander schlossen, und sprang, wie er war, in das Bachbett. Das eiskalte Wasser reichte ihm bis über die Hüften. Mit schier übermenschlicher Anstrengung versuchte er, den Körper unter dem Rade hervorzubringen. Es gelang dem sonst äußerst kräftigen Burschen nicht.

Er kletterte wieder ans Ufer, lief ins Haus und weckte seinen Bruder. Beide arbeiteten mit vereinten Kräften gut eine halbe Stunde, bis es ihnen gelang, den Leichnam zu bergen. Der Tote kam mit dem Gesicht gegen den Boden zu liegen. Als man den schweren Körper umwendete und der Romedi ihm mit der Fackel ins Gesicht leuchtete, stieß er von neuem einen lauten Schrei aus … es war der Kurzweger, der Mann der Emerenz. (Fortsetzung folgt.) 0


Blätter und Blüten.

Der Kaisersaal des neuen Rathauses in Hamburg. (Zu dem Bilde S. 841) An einem stolzen Prunkbau mit reich ausgestatteten Innenräumen fehlte es bisher der alten Freien und Hansestadt ganz und gar. Ja, ihre Häupter waren geradezu in Verlegenheit, wenn einmal vornehmer Besuch sich einstellte, ob der Frage, wo er zu empfangen und zu bewirten sei. Um so freudiger preist jetzt der Hamburger begeistert sein neues am 26. Oktober eingeweihtes Rathaus, dessen Ansicht wir bereits im Jahrgang 1892, S. 317[WS 1], der „Gartenlaube“ gebracht haben. An den drei Wochentagen, an denen „Ein hoher Senat“ keine Sitzung hält, wird es von Tausenden und aber Tausenden durchwogt, die bewundernd Treppenhäuser und Hallen, Säle und Zimmer mit den auserwählten Schätzen einer geschmackvoll gediegenen Ausstattung und Einrichtung anstaunen. Mit gebührender Ehrfurcht wird die Ratsstube betrachtet, wo, falls es sich um Gnadengesuche handelt, selbst über Leben oder Tod entschieden werden kann, sowie der Sitzungssaal der 160köpfigen „Bürgerschaft“, die gleichberechtigt mit dem Senat, die höchsten Herrschergewalt des kaufmännischen Freistaates teilt. Zwischen diesen beiden Stätten der Gesetzgebung erstreckt sich im Hauptgeschoß eine stattliche Flucht von Beratungs- und Empfangszimmern. Selbst der eigentliche große „Festsaal“ hat einen Nützlichkeitszweck, denn dort werden in gemeinsamen Rat- und Bürgersitzungen die Beeidigungen neugekürter Senatoren vor sich gehen. – Den zweitgrößten Saal führen wir unsern Lesern heute im Bilde vor. Seinen Namen trägt er aus Anlaß des Umstandes, daß Kaiser Wilhelm II bei der Vorfeier zur Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals 1895 in ihm den Begrüßungskreis abhielt; denn schon damals konnte das erst teilweise fertiggestellte Rathaus nutzbar gemacht werden. Die in dem Kaisersaal ausgestellten Marmorbüsten Kaiser Wilhelms und seiner Paladine schenkten begüterte Handelsherren. Ueberhaupt verursachte der größte Teil der Kunstschätze der Rathauseinrichtung dem Staatssäckel keine Kosten; einzelne Bürger wie Vereinigungen aller Art widmeten wertvolle Gaben in Fülle. Der leitende Gedanke bei der Ausschmückung des Kaisersaales war, das Wiedererstehen des Deutschen Reiches sowie die Bedeutung deutscher Seemacht und deutschen Welthandels zu verbildlichen. Arthur Filger schuf die Gemälde. Das große Hauptbild an der gewölbten Decke bringt den Triumph der deutschen Flagge zur Anschauung: die Göttin des Glücks, in der Rechten das schwarz-welß-rote Banner, thront in einer von zwei Walrossen gezogenen Muschel umgeben von Putten mit den Geräten der Landwirtschaft, des Handels und des Städtebaues. Genien mit Friedenspalmen schweben voran, Nereiden mit Harfen und Tritonen mit Posaunen geleiten den Zug. Rechts und links vom Hauptbilde erscheinen die Göttinnen der Erdkunde und der Sternkunde, derjenigen Wissenschaften, auf denen das Seewesen vornehmlich beruht. Die Längswände weisen acht Schutzgöttinnen deutscher Seestädte auf. An den Kurzwänden treten namentlich Figurengruppen in hocherhabener Bildhauerarbeit von Börner, Hamburg heran; sie stellen alle Länder dar, mit denen Hamburg in überseeischen Handelsbeziehungen steht. Roter Marmor bekleidet den unteren Teil der Wände und faßt die Thür- und Fensteröffnungen ein. Die Thüren von Palisander und Ebenholz mit eingelegter Arbeit in Silber und Bronze legen für Hamburgs Kunsthandwerk ehrendes Zeugnis ab. Ueber der Hauptthür erinnert eine eherne Tafel an die erste Benutzung des Saales durch den Kaiser.

[856] Eine Hohenzollernhochzeit im Jahre 1598. (Zu dem Bilde S. 844 und 845.) Die Festfreude des Mittelalters wußte bekanntlich sowohl geistliche als weltliche Anlässe trefflich auszunutzen, ihr Höchstes aber hat sie stets im hochzeitlichen Gepränge geleistet, mochte sich dasselbe nun als tagelanges Schmausen und Tanzen im Adels- und Bürgerhause oder als die große Prachtentfaltung einer sittlichen Vermählung darstellen. Manche von diesen Festen, so vor allem die glanzvolle brabantische Hochzeit Maximilians I. lebten noch jahrhundertelang im Volksmunde, auch die in unserem Bilde dargestellte Hohenzollersche Hochzeit zu Hechingen am 11. Oktober 1598 blieb in der Erinnerung von Kindern und Kindeskindern haften. Der Bräutigam, Graf Johann Georg von Hohenzollern-Hechingen, dem später Kaiser Ferdinand den Fürstentitel verlieh, gehörte den schwäbischen Linien des Geschlechtes an, von welchen heute nur noch die Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen bestehen. Seine Braut war Franziska, Gräfin von Salm, die Tochter eines bedeutenden und mächtigen Hauses.

Mit dem ganzen Geleit seiner edlen Gäste ritt in der Frühe des Hochzeitstages der junge Graf von Zollern aus dem Thore, um die herannahende Braut einzuholen. Volksjubel und Kartaunenknall begrüßten sie, darauf ging es ungesäumt zur Trauung in einem geschmückten Saale des Schlosses.

Nach derselben bewegte sich der Hochzeitszug in den Festsaal, welchen unser Bild in großer Lebendigkeit darstellt. Zuoberst thront unter seinen vereinigten Wappen das Brautpaar mit den nächsten Verwandten; rechts und links davon ziehen sich die Tafeln für die Gäste hin, welch letztere streng nach ihren Rangklassen geordnet sind: der hohe und der niedere Adel, Amtspersonen und Priesterschaft.

So viele und mannigfache Gerichte nun die Vorschneider zu zerlegen und die Diener darzureichen hatten: ein Hauptstück bei jeder damaligen Festtafel waren die sogenannten Schauessen, Konfektschalen mit künstlichen Darstellungen, oft von großem Wert. Die Stammburg Hohenzollern ziert den Tisch des Brautpaares; auf dem unteren befindet sich zwischen dem gesulzten Eberkopf und der schweren Marzipantorte, der heilige Georg mit dem Drachen kämpfend, dem Namen des Bräutigams zu Ehren. Auf der Tribüne spielt die Tafelmusik ihre lustigen Weisen, wie später zum Tanz. Man horcht auf sie zwischen den Späßen der Schalksnarren, die am Tisch ihr Wesen treiben, man läßt es sich dabei von Herzen schmecken, und ist nun, da der Nachtisch beginnt, voll Spannung, was für „Aufführungen“ ganz besonderer Erfindungen dieses prächtige Fest krönen sollen.

Und siehe da! herein tritt ein Wesen ganz seltsamer Art. Zwischen zwei kerzentragenden Pagen schiebt sich feierlich-steif ein lebensgroßes Fräulein mit Wachsgesicht und blonder Lockenperücke in den Saal, schreitet langsam nach dem Tisch des Brautpaares, verneigt sich zu wiederholten Malen und verläßt dann den Saal ebenso gravitätisch, als sie gekommen. Die Braut sieht etwas erschreckt auf die leblose Erscheinung, der Bräutigam aber scheint im Geheimnis zu sein und zu wissen, daß ein kleiner Page in dem hohlen Innenraum steckt und vermittels Schnüren Kopf- und Armbewegungen lenkt.

Am nächsten Tage, wo dem eigentlichen Hochzeitsmahle ein ebenso gediegenes Nachessen folgte, kam dieselbe Figur nochmals herein, aber nun trug sie zwei schöne Kindlein auf den Armen, als Zukunftsweissagung für das junge Paar. Bn.     

Schneeschmelzmaschine in New York.

Schneeschmelzmaschine in den Straßen von New York. (Mit Abbildung.) In den Großstädten bringen starke Schneefälle lästige Verkehrshemmungen hervor und die Beseitigung der Schneemassen verschlingt Unsummen. Nach einem Schneesturm, wie sie in New York gar nicht selten sind, muß das Straßenreinigungsamt oft 75 000 bis 150 000 Dollar für das Wegschaffen des Schnees mittels der gewöhnlichen Abfuhr zahlen. Man hat deswegen dort schon im Winter Versuche mit Schneeschmelzmaschinen gemacht, die sich außerordentlich bewährt haben. Unser Bild zeigt uns eine solche, durch die „Snow and Ice Liquefying Company“ von Paterson (New Jersey) hergestellte Maschine in Thätigkeit. Sie ruht auf einem von zwei Pferden gezogenen vierräderigen Wagen; unter dem Kutschersitz liegt ein großes Naphthareservoir, zwischen den Vorder- und Hinterrädern ist der Dampfkessel mit dem Mechanismus aufgestellt, und nach rückwärts erstreckt sich der Schmelzkasten weit über die Hinterräder hinaus. Auf letzteren wird der Schnee mit Schaufeln geworfen, ein nach rückwärts gebogenes Schutzblech über den Hinterrädern verhindert, daß die Schneemassen mit dem Mechanismus in Berührung kommen. In der Mitte zieht sich längs eines durchgehenden Schlitzes im Verdeck des Kastens ein starkes Doppelgitter hin; zu dessen beiden Seiten sich die daraufgeworfenen Schneemassen verteilen. Nachdem das Naphthareservoir gefüllt ist, wird der Dampfkessel mit Holz angefeuert und der sich entwickelnde heiße Dampf in Rohrwindungen geleitet, die am Boden des Reservoirs angeordnet sind. Die Hitze bringt das Naphtha gleichfalls zum Verdampfen und treibt einen Teil in den am oberen Teile des Behälters befindlichen Separator. Von dort wird der Dampf unter den Dampfkessel geleitet, wo er als Heizmaterial dient. Uebersteigt der Druck des Dampfes einen gewissen Grad, so tritt nun ein Gebläse in Thätigkeit. Ein Teil der Luft, die diesem entströmt, mischt sich mit dem Naphthadampf im Heizraum des Dampfkessels, und dadurch steigert sich der Druck des Dampfes um das Doppelte; in dieser Stärke verharrt er dann, solange die Maschine in Thätigkeit bleibt. Soll nun die Arbeit des Schneeschmelzens beginnen, so läßt man den Naphthadampf aus dem Separator und den Gebläsewind zusammen in den unteren Teil des Schmelzkastens strömen, wo sie sich miteinander vermischen und entzündet werden. Der feurige Dampf schlägt zeitweilig durch den Schlitz zwischen dem Gitter in bläulich leuchtenden Flammen hoch empor. Es entwickelt sich dabei in dem Innern des Schmelzkastens eine so gewaltige Hitze, daß die aufgeschütteten Schneemassen in überraschend kurzer Zeit zum Schmelzen gebracht werden. Das Schneewasser fließt unten ab und kann durch Schläuche unmittelbar in die Straßenkanäle geleitet werden. E. M.     

Johanna Sebus. (Zu dem Bilde S. 853.) Als im verwichenen Sommer die furchtbaren Heimsuchungen weiter Landstriche durch Wasserkatastrophen das gesamte Vaterland in Trauer versetzen, wird gar manchem unserer Leser Goethes Ballade „Johanna Sebus“ im Gedächtnis lebendig geworden sein, welche das furchtbare Walten der über die Ufer getretenen Flüsse ergreifend wie kein anderes Gedicht schildert. Goethe dichtete die Ballade „zum Andenken der siebzehnjährigen Schönen, Guten, aus dem Dorfe Brienen, die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgange des Rheins und dem großen Bruche des Dammes von Cleverham, Hilfe reichend, unterging“. In der großen illustrierten „Prachtausgabe von Goethes Gedichten, ausgewählt von Karl Heinemann, mit Bildern nach Zeichnungen von Frank Kirchbach“, welche soeben im Verlage von Aldolf Titze in Leipzig rechtzeitig erschienen ist, um sich als kostbares Weihnachtsgeschenk darzubieten, hat auch diese Ballade eine wahrhaft künstlerische Illustration erhalten. Wir geben sie als Probe in verkleinertem Umfang wieder. Sie zeigt das edle Mädchen bei seinem heldenhaften Rettungswerk. Eben hat die Furchtlose die Mutter ans sichere Ufer gebracht, da wendet sie sich zurück, um auch der auf dem Bühl inmitten der Flut ihrer harrenden Hausgenossin samt ihren drei Kindern Hilfe zu bringen. Wir kennen ihr Schicksal. Wohl gelangt sie durch die hochgehenden Wogen zu den Jammernden, aber vergeblich:

Der Damm verschwand, ein Meer erbraust’s,
Den kleinen Hügel im Kreis umsaust’s.
Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund …
Schön Suschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut? …
Rings um sie her ist Wasserbahn,
Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Da nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.“ …

Die Darstellung der Scene durch Frank Kirchbach, dem die „Gartenlaube“ schon so manches schöne Bild verdankt, ist charakteristisch für die feine Empfindung und das reine Stilgefühl, mit welchen er die hohe Aufgabe zu lösen bestrebt war, der hinreißenden poetischen Bildersprache des Goetheschen Genius in dieser Prachtausgabe seiner Gedichte mit den Mitteln des Malers gerecht zu werden.


[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Die biographische Forschung hat freilich nachgewiesen, daß die weitverbreitete Annahme, Heine sei am 13. Dezember 1797 geboren, auf einem vom Dichter selbst begangenen Irrtum beruht und thatsächlich der 13. Dezember 1799 als Heines Geburtstag zu gelten hat. Doch wird von vielen noch an der älteren Angabe, so auch in den meisten Nachschlagewerken, festgehalten. D. Red. 
  2. Brillen und Ferngläser.
  3. Steinchen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. S. 317 bezieht sich auf die Wochen-Ausgabe, in der bei WS u. a. im Jahrgang 1892 verwendeten Halbheftausgabe ist das die S. 307.