Die Gartenlaube (1898)/Heft 2

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[36 c]

2. Heft. Preis 10 cents. 3. Februar 1898.



Max Well & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[36 d]

Inhalt.
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Kleine Mitteilungen.


Zur Errichtung eines Denkmals für Heinrich Noé erläßt die Sektion Bozen des „Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins“ einen Aufruf. All die vielen Freunde unserer deutschen Alpenwelt, denen der verstorbene Schriftsteller durch seine Werke ein begeisternder Geleitsmann auf so mancher Berg- und Thalfahrt gewesen, werden gewiß gern dazu beitragen, daß ihm ein würdiges Denkmal in der schönen südtiroler Stadt erstehe, in der er am liebsten den Wanderstab rasten ließ und auch die letzte Zeit seines Lebensabends verbrachte. Schon vor mehr als dreißig Jahren, als größere Alpenreisen noch zu den Seltenheiten gehörten, war Heinrich Noé einer der wanderfrohen Pioniere, die mit kühner Entdeckerlust in die abseits vom Weltverkehr gelegenen hohen Gebirgsthäler drangen, Land und Leute, Sitte und Brauch mit liebevollem Anteil studierend, um dann der Welt von dem Geschauten treue Kunde zu geben. Seine Schilderungskunst war die eines echten Poeten, der mit schönheitskundigen Künstleraugen in die tote und die belebte Natur blickte. Ein jeder, der sich mit seinen Büchern vertraut gemacht hat, wird Noés Anregungen auch Genüsse zu danken haben, die zu seinen schönsten Reiseerinnerungen zählen.

Das Denkmal soll in einfacher, aber der Bedeutung des Verstorbenen entsprechender Gestaltung in dem Bozen benachbarten Kurort Gries erstehen, wo Noé auch seine letzte Ruhestätte fand. Beiträge werden von allen Vereinsleitungen alpiner Sektionen, im besonderen vom Kassier der obengenannten Sektion Bozen, Herrn Anton Red daselbst, entgegengenommen.

Ein alter Mitarbeiter der „Gartenlaube“, der „Achtundvierziger“ Theodor Kirchhoff in Sän Franzisko, hat in diesen Tagen seinen 70. Geburtstag gefeiert. Am 8. Jannar 1828 zu Uetersen in Holstein geboren – sein Vater war nachher Bürgermeister in Kiel – wurde er in früher Jugend von der nationalen Bewegung ergriffen, welche 1848 zu dem Aufstand der Elbherzogtümer gegen Dänemark führte. Er hatte noch nicht lange das Gymnasium beendigt und seine Studien als Polytechniker in Hannover begonnen, da bestimmte ihn der Ausbruch des Kriegs, als Freiwilliger an der bewaffneten Erhebung für die „ungeteilte“ Selbständigkeit Schleswig-Holsteins teilzunehmen: er wurde Lieutenant und bewährte sich tapfer bis ans Ende des Kriegs. Nach dem Siege der Dänen wanderte er nach Amerika aus, wo er anfangs ein unruhiges Wanderleben führte und mancherlei Abenteuer bestand, bis er in Clarksville (Texas) festen Fuß faßte und ein Geschäft gründete, das anfangs florierte, durch den Bürgerkrieg aber wieder zerstört ward. 1862 kehrte er auf ein Jahr in die Heimat zurück, bereiste Deutschland, England, Schottland, die Schweiz und Frankreich und begann, sich als Schriftsteller zu bethätigen. Aus Oregon, wo er sich in The Dalles als Kaufmann niederließ, schrieb er seine ersten Landschaftsschilderungen aus dem „Westen“ für die „Gartenlaube“. 1869 siedelte er nach San Franzisko über, wo er noch jetzt in voller Rüstigkeit lebt.

Wiederholt hat er inzwischen die alte Heimat besucht, allezeit aber zu ihr lebhafte geistige Beziehungen unterhalten. Seinen früheren Dichtungen und Reisebildern hat Kirchhoff eben jetzt ein neues Werk folgen lassen, das uns sein reiches buntbewegtes Leben in einem poetischen Spiegelbild zeigt: die episch-lyrische Dichtung „Hermann, ein Auswandererleben“. Wir wünschen dem wackeren Mitarbeiter einen reich gesegneten Lebensabend!

Das Brummen der Dampfkessel. Nicht selten nimmt man an den im Betrieb befindlichen Kesseln von Lokomobilen, Lokomotiven oder Betriebsdampfmaschinen ein eigentümliches lautes Brummen oder Dröhnen wahr, ohne daß der Laie der Regel nach imstande ist, sich von den Ursachen dieser Erscheinung Rechenschaft abzulegen. In Wirklichkeit entsteht das Brummen, das man mitunter kilometerweit vernehmen kann und das in solchen Fällen zu einer großen Belästigung der Nachbarschaft des betreffenden Kessels wird, durch die heftigen Luftströmungen, die beim Heizen des Kessels auf dem Rost ihren Anfang nehmen und dann die metallischen, nicht vollkommen starren Teile der Kesselkonstruktion in Mitschwingung versetzen. Unter Umständen können diese Schwingungen sich bis zu dem Maße steigern, daß das Brummen zu einem starken dröhnenden Geheul wird, daß Feuerrohre bersten und aus dem Kessel herausfliegen und infolge der deftigen Lufterschütterungen, genau wie bei einer starken Explosion, Fensterscheiben in der Nachbarschaft zerspringen. Neben Fehlern in der Konstruktion sind es in der Regel auch solche in der Bedienung der betreffenden Kessel, welche das Brummen oder Heulen veranlassen, besonders eine zu leichte Kesselkonstruktion in ersterer oder eine unregelmäßige Beschüttung des Rostes in letzterer Hinsicht. Bei Flammrohrkesseln konnte das Brummen fast immer durch die Verstärkung der Rohre mittels Einbauten, bei vielen anderen Kesseln durch die Anwendung eines zäheren, leichter schlackenden Brennmaterials vermieden werden. Bw.     

Blutrache in Albanien. Albanien ist das unbekannteste Land Europas; namentlich ist das Reisen in Oberalbanien für den Fremden mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Dr. Hassert hat im letzten Jahre unter vielen Mühen dieses Gebiet durchforscht. Seinem Berichte darüber entnehmen wir die folgenden Mitteilungen über die verderblichen Folgen der „Blutrache“, die dort noch allgemein üblich ist. Sie fordert alljährlich gegen 3000 Menschenleben. Wie eine schwere Geißel lastet die Unsitte auf dem Lande. Die Männer sind nur in den Kirchen und auf bestimmten Straßen, auf welchen „Gottesfrieden“ herrscht, ihres Lebens sicher. Sonst sind sie überall von Mordanschlag bedroht. Sie verlassen darum die Ortschaften nur mit den Waffen in der Hand und viele ihrer Wohnhäuser sind burgartig gebaut und zur Verteidigung eingerichtet. Da an Frauen keine Blutrache geübt wird, besorgen diese die meisten Feldarbeiten. An der Küste sind die Verhältnisse wesentlich besser, und hoffentlich dringt die Kultur bald in das schöne Gebirgsland und bringt seinen Bewohnern den ersehnten Frieden.

Die Verwendung des Hahns als Uhr. Warum haben die Menschen in grauer Vorzeit das Huhn gezähmt? Doch wohl wegen seiner Eier und seines Fleisches! Diese Erklärung scheint uns auf den ersten Blick am natürlichsten, ist aber bei näherer Betrachtung unhaltbar: denn die ersten Hühner, die in der Gefangenschaft des Menschen lebten, legten wenig Eier und vermehrten sich nur schwach. Es müssen also andere Gründe gewesen sein, die den Menschen bestimmten, das Huhn zu seinem Hausgenossen zu machen. Sehr wahrscheinlich ist es, daß der erste Nutzen, den diese Vögel dem Menschen brachten, in ihrer Verwendung als Uhr bestand. Während viele Tiere die Dämmerung des Morgens und des Abends mit Lautäußerungen begrüßen, hat der Hahn die besondere Eigenschaft, um Mitternacht zu krähen. Dadurch wurde er für Menschen, die noch keine Uhren hatten, sehr wichtig. Die Römer waren im Altertum gewöhnt, sich nach der Stimme des Hahnes zu richten, der bürgerliche Tag begann bei ihnen mit dem ersten Hahnenschrei. Die Spanier nahmen die Hühner hauptsächlich als Uhren nach Amerika, und es fiel ihnen auf, daß die Vögel in der Neuen Welt nicht mehr so pünktlich krähen wollten.

In seinem trefflichen Werke „Die Haustiere und ihre Beziehungen zur Wirtschaft des Menschen“ (Leipzig, Duncker & Humblot) führt Eduard Hahn einige Beispiele an, wie sehr diese Verwendung der Hühner noch heute verbreitet ist. Im Orient pflegen große Karawanen gewöhnlich einen recht schönen Hahn mit sich zu führen, dessen Krähen den Aufbruch der Reisenden regelt. In Abessinien sind Hähne die Kirchenuhr, als Uhren werden sie von den Kaffern geschätzt und auch in Birma benutzt.

Zuerst wurden die Hühner höchstwahrscheinlich in Südasien gezähmt, im Laufe der Zeit begannen sie als Haustiere unter dem Schutze der Menschen fleißiger Eier zu legen, und nun wurden sie auch nach dieser Richtung hin als Nutzgeflügel geschätzt.

Nach Europa kamen die Haushühner verhältnismäßig spät, vermutlich erst im fünften oder sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt.

Eisenbahnwohnhäuser. Wer hat nicht schon mit Wohlgefallen so manches der am Bahndamm entlang aufgestellten sauberen Häuschen betrachtet? Hier hausen in ihren Dienstwohnungen die Leute, welche im Bahnbetriebe und bei der Bahnunterhaltung beschäftigt sind: die Bahnmeister, Rangiermeister, Weichensteller, Bahnwärter, Rottenarbeiter, deren Dienst das Wohnen in möglichster Nähe des Schauplatzes ihrer Thätigkeit erheischt.

Im Deutschen Reiche giebt es nahezu 24000 solcher Häuser, von denen je eins bei den deutschen Staatsbahnen auf 1,7 km, bei den Privatbahnen auf 2,5 km Betriebslänge entfällt. Beiden einzelnen Verwaltungen scheint der Bedarf freilich sehr verschieden, je nach den Grundsätzen, welche beim Bau maßgebend waren. Während die Verhältniszahl der Staatsbahnen bei der Oldenburgischen Bahn nicht ganz 1, bei der Main-Neckarbahn 1,2 beträgt, steigt sie im Bezirk Erfurt auf 5, im Bezirk Halle auf 4,5, im Bezirk Magdeburg auf 4. Von den Privatbahnen hat die bayrische Ludwigsbahn (Nürnberg-Fürth) die günstigste Zahl: 9 Wohnhäuser auf 6 km Betriebslänge. Bei einigen Privatbahnen steigt die Verhältniszahl außergewöhnlich hoch, bis zu 27; andere dagegen haben für Bahnbedienstete gar keine Wohnhäuser zwischen den Stationen.

[36 e]

CORNELIA, DIE MUTTER DER GRACCHEN
Nach einer Originalzeichnung von G. Biermann


[Die Gartenlaube] 1898.      Kunstbeilage 2.

[36 f] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[37]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0037.jpg

Strandkapelle S. Ampeglio bei Bordighera.
Nach der Natur gezeichnet von H. Nestel.



1898

[38]

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

(1. Fortsetzung.)

Herr Mohrmann wird gebeten, heute nachmittag zu Sr. Excellenz zu kommen; von fünf Uhr ab sind Excellenz zu sprechen.“

Als Anton sich um fünf Uhr melden läßt, wird er in das Tafelzimmer geführt. Die Thüren stehen weit offen nach der Terrasse zu und gewähren einen Blick über das große Beet voll wurzelechter Rosen, aus dessen Mitte ein Rokoko-Amor sich erhebt und schalkhaft mit seinem Pfeile droht, auf einen schnurgeraden, von hochstämmigem Buchs eingefaßten Weg, der dem Ausgange des Parkes zuführt. Drüben, jenseit des Gitters, erblickt man Felder, Wiesen, Dörfer und Obstbäume, soweit das Auge reicht.

Die Herrschaften sitzen unter dem Zeltdach von rot und weiß gestreiftem Leinen, das aber schon stark verblichen und stellenweise rissig ist; der bejahrte Herr im Rollstuhl, die Beine in wollene Jägerdecken gehüllt, einen echt türkischen Fes auf dem Kopfe. Er hat, trotz seiner Achtzig, die noch jugendlich feurigen Augen des alten Soldaten, eine energische Adlernase, und trägt den weißen Bart, wie der erste Kaiser Wilhelm ihn trug, mit ausrasiertem Kinn. Er ist sehr sorgfältig gekleidet in ein smoking dress aus braunem Sammet und raucht aus einer wappengeschmückten Cigarrenspitze.

Die beiden Damen, seine Töchter Antoinette und Josepha, sehen fast ebenso alt aus wie der Vater. Die jüngere, fünfzigjährige, ist ihm ähnlich, aber die kühne Nase kontrastiert wunderlich mit den vergrämten Augen und dem wehen Zug um die herabgezogenen Mundwinkel. Die ältere ist sehr stark und groß und wechselt alle Augenblicke die Farbe, wie nervöse Menschen es thun. Das ehemals blonde Haar liegt in altmodischen Scheiteln zur Seite des Gesichtes und die Augen besitzen eine gewisse Schalkheit – sie nimmt das Leben von der ironischen Seite. Der Anzug beider Damen ist mehr als einfach; schwarze Wolle, von ungeschickter Hand gearbeitet.

Josepha, die jüngere, hat eben eine Dresdner Zeitung vorgelesen; als die große blonde Erscheinung des Pächters die Steinfliesen der Veranda betritt, läßt sie das Blatt sinken.

„Papa,“ sagt sie leise zu dem leicht entschlummerten alten Herrn.

„Was giebt’s?“ fährt er auf.

„Ich glaube – Herr Mohrmann –“

„Ach so! Pardon! Bitte, Herr Mohrmann, treten Sie näher. Ihr könnt mich getrost ein wenig allein lassen mit dem Herrn, Kinder,“ wendet er sich an die alten Fräulein. „Laß etwas Bier auftragen, Tonette.“ Und während die beiden Damen an dem sich verneigenden Anton vorüberschreiten, ruft der Baron ungeduldig: „Setzen Sie sich doch, Mohrmann, setzen Sie sich doch, ich habe Sie mir übrigens so groß gar nicht vorgestellt! Sie haben wohl seiner Zeit einen Gardeflügelmann abgegeben?“

„Jawohl, Herr Baron, da oben bei St. Privat.“

Die Fräulein stehen noch einen Augenblick im Tafelzimmer und flüstern. „Er ist ja schrecklich liebenswürdig zu ihm,“ sagt Tonette, und Josepha hebt ein wenig die Schultern: „Das ist er immer, wenn er jemand anpumpen will.“

„Kind,“ flüstert die Aeltere. „den Mohrmann wird er doch nicht anpumpen? Kann höchstens ein Vorausbezahlen der Pacht erbitten.“

„Allerdings etwas ganz anderes!“ betont Josepha ironisch. „Komm nur, Tonette,“ fügt sie dann hinzu, „wir gehen indessen drüben ins Wäldchen; wir waren noch nicht ein einziges Mal an den Gräbern unserer Hunde. Nicht mal das hat man mehr! Ach, wenn Pet und Bob noch lebten!“

„Aber, Kind, schaff dir doch wieder so ein Hundevieh an! Ein Teckel, der wird sich schon mit durchfressen,“ sagt Tonette draußen im Flur, „schlimmsten Falles abonnieren wir ihn bei der Pächterin aufs Mittagsessen.“

Josepha zuckt die schmalen spitzen Schultern. „Du kannst noch Unsinn machen, Tonette! Natürlich frißt sich ein Teckel durch, aber wie die Edith sich hier durchfressen will, das ist mir schleierhaft. Und Michaelis übers Jahr muß sie doch herkommen, wo soll sie sonst hin? Dann ist sie achtzehn, die Erziehungsgelder hören auf, und es wird auch wirklich Zeit, sie aus der Pension zu nehmen, das arme Wurm! Ach, bitte, sage mir, Tonette, wie soll das werden? Sie braucht doch Schuh und Kleider und Gott weiß noch was! Wir können sie doch nicht einpökeln? Sie muß sich zeigen in Gesellschaften und im Ballsaal, wenn sie überhaupt eine Partie machen soll.“

„Dann nehmen wir die alten Brokatgardinen und kleiden unsere junge Schönheit in Sammet und Seide,“ antwortet die Aeltere scheinbar ernsthaft. „Spazier’ nur ins Wäldchen, Josepha, und singe nicht vor dem Kantor her, es wird sich schon alles historisch entwickeln. Ich will das Bier bestellen, dann komm’ ich nach.“

Auf der Veranda bittet indessen, nach längeren Gesprächen über Ernteaussichten und Viehstand, der Baron so im Vorbeigehen den Pächter um Vorausbezahlung der Pacht. „Eh, Sie wissen ja, Mohrmann, Krankheit kostet Geld, verteufelt viel Geld! Und der Junge, das wissen Sie nicht, was der mich gekostet hat, mein Enkel, der nun ja leider tot ist. Für die Enkelin habe ich auch zu sorgen. Könnt’ ich nur selber noch wirtschaften, wollt’s schon herauskriegen! Sie haben die Geschichte halb umsonst, lieber Mohrmann.“

„Excellenz, wenn Sie eine Ahnung hätten, wie wir arbeiten müssen, meine Frau und ich – – nicht einen Pfennig könnt’ ich mehr Pacht geben,“ antwortet er ruhig.

„Ja, ja, das sagen sie alle, das kenne ich schon. Uebrigens drängle ich Sie ja auch nicht.“

„Das würde Ihnen auch nichts helfen, Herr Baron, gottlob ist ein Kontrakt da,“ sagt der blonde Riese.

„Ich weiß ja, weiß ja! Also, bitte, schicken Sie mir die Summe, aber möglichst bald.“

„Ich werde sofort die nötigen Schritte thun, in etwa drei Tagen kann das Geld in Ihren Händen sein, Excellenz. Und jetzt möchte ich mich empfehlen.“

„Nicht doch! Nicht doch! Noch eine Cigarre, lieber Mohrmann? Man freut sich, wenn man mal wieder mit einem vernünftigen Menschen sprechen kann. Ich bin ungern auf Wartau, sehr ungern, man stirbt hier vor Langerweile. Früher, so vor zwanzig Jahren, war ein fideler Kerl von Pastor hier, spielte ein großartiges L’hombre – der jetzige ist einfach – –“

„Mein Schwager, Herr Baron,“ unterbricht ihn Mohrmann.

„Ihr Schwager? Ach so – ja richtig – Pardon, ich gratuliere. Was ich sagen wollte – einfach ist er, sehr einfach, Ihr Herr Schwager, wie ein Prediger ja sein soll, und im übrigen ist nichts weiter in dem Nest. Ein Verkehr mit den Gutsnachbarn etwa? Na, wenn man gelähmt ist und – das verfluchte Geld – ja – – Und wenn man bedenkt, Mohrmann, wie er heute sozusagen auf der Straße liegt, der Mammon,“ fährt er fort, „und daß unsereiner sich nicht bücken kann, um ihn aus dem Kot aufzuheben, wie jeder andere thut: aber es geht doch einmal nicht!“

„Warum denn nicht, Excellenz?“ fragt Mohrmann. „Man sagt bekanntlich vom Gelde: non olet.“

„He?“ fährt der alte Herr empor, „ich soll wohl Haarfärbemittel oder Abführpillen erfinden, oder Hustenbonbons oder einen neuen Gilka?“ Er lachte krähend, bis der Husten ihn fast erstickte.

„Das nicht, Excellenz, aber zum Beispiel eine Bierbrauerei mit Malzfabrik? Ich wundere mich, daß – –“

„Das wächst auch so aus der Erde, die Brauerei und die Fabrik, nicht wahr?“ fragt der Baron und macht mit Daumen und Zeigefinger die Pantomime des Geldzählens. „Nee, mein Bester, davon wollen wir die Finger lassen. Uebrigens sehe ich,“ fährt er fort, „Sie sitzen wie auf Kohlen, will Sie nicht länger aufhalten. Bringen Sie nur die Wirtschaft hoch – soviel Sie können. Der Hof sieht gut aus, sehr gut,“ lobt er, „ich freue mich darüber, man kann nicht wissen, wie’s kommt – – es haben sich Könige trennen müssen von ihren Ländern, warum [39] nicht auch ein armer Landedelmann von seiner Scholle. Auf Wiedersehen, lieber Mohrmann, besten Dank!“

Anton kommt nach Hause, nicht gerade erbaut von seinem Besuche, aber auch nicht verstimmt; er ist in der Lage, dem alten Herrn die Gefälligkeit zu erweisen, warum soll er nicht? Er sucht in der Wohnstube nach Christel, um ihr zu berichten, und da er sie nicht findet, setzt er sich an seinen Schreibtisch, um der Leipziger Bank, bei der er ein laufendes Konto hat, zu schreiben, damit sie die Summe schicke, die er dem alten Baron zahlen soll. Im Begriff, dies zu thun, erblickt er einen Brief, der mit dem Abendblatt der Magdeburger Zeitung dorthin gelegt ist, ergreift ihn und besieht sich die großen energischen Schriftzüge ein Weilchen. „Kenne doch die Klaue,“ murmelt er, „wer ist’s doch gleich in aller Welt? Na, Werden’s gleich sehen.“ Er öffnet das Couvert mit seinem Taschenmesser, faltet den Bogen auseinander und sieht nach der Unterschrift. „I, guck’ mal an – Willi Buchenberg, lebst du auch noch? Na, was will er denn, der alte Bursche? Königlicher Bergassessor? Ich sag’s ja, diese Titel! Na, denn los!“

Er liest den ziemlich langen Brief mit regem Interesse, und als er geendet hat, fängt er nochmal von vorne an. Dann geht er, das Briefblatt in den auf dem Rücken gefalteten Händen, im Zimmer auf und ab, liest nochmals, holt einen Band von Brockhaus, sucht nach, zuerst im Stehen, dann vor seinem Schreibtisch, vergleicht das Gelesene mit dem Brief, streicht sich einigemal über seine erhitzte Stirn und murmelt endlich: „Scheint nicht ohne! Wäre vielleicht näherer Betrachtung wert!“ Dann setzt er sich nieder und sinnt, liest wieder und überlegt. –

Christel findet ihn nach einer guten Stunde am Fenster stehend und in die beginnende Dämmerung starrend. „Anto,“ sagt sie, „du bist hier? Du bist so still gewesen, daß ich dich nebenan gar nicht gehört habe; ich sitze schon ein ganzes Weilchen mit meiner Arbeit da drinnen und sehe über den Hof, ob du nicht kommst.“

„Hättest du nur lieber mal hier herein geguckt, ich warte schon eine Ewigkeit auf dich.“

„Ach? Aber warum riefst du nicht?“

„Na, Scherz beiseite, ich wartete nicht, ich dachte an – du wirst’s ja erfahren seiner Zeit. Und nun falle nicht in Ohnmacht, Kind, ich muß morgen wieder verreisen; kann drei bis vier Tage dauern, daß ich wegbleibe.“

Sie sieht erschreckt zu ihm hinüber.

„Es ist nichts, Kind; wenn’s gelingt, erzähl’ ich’s dir. Frage mich jetzt mal nicht aus, mir geht so wie so schon ein Mühlrad im Kopfe herum.“

„Etwas Unangenehmes?“ forscht sie, trotz seines Verbotes.

„Ach was – im Gegenteil! Es kann sehr angenehm werden, und wenn nicht – hat’s weiter nicht geschadet. Wenn du mir einen Gefallen thun willst, Christel, dann fragst du mich nun nicht weiter, gelt? ‚Sobald’s gar ist, wirds gegessen‘, sagte meine Mutier zum Vater, wenn er wissen wollte, was sie zu Mittag kochte.“

Christel schweigt. Er hat sonst alles mit ihr beredet, und es thut ihr einen Augenblick weh; aber sie sagt sich, daß er seine Gründe haben wird, ihr jetzt keine Mitteilung zu machen von dem, was er vorhat, und sie erkundigt sich mit ihrer freundlichsten Miene: „Was soll ich dir einpacken, Anto? Kommst du aus mit dem Handkoffer?“

„Allemal, Christel! Thue nur genügend Wäsche hinein, es könnte doch möglicherweise, wie schon gesagt, ein paar Tage dauern. Meine Adresse lasse ich dir hier; dem Heine sitze ein wenig auf dem Pelz, der Windhund hat in Regwitz eine Liebschaft. Könntest auch mal auf die Felder fahren, wenn du Zeit hast; in den Auwiesen hauen sie diese Woche.“

„Die Zeit muß ich haben, Anto,“ antwortet sie einfach.

„Bist eine Hauptperson, Christel,“ lobt er und streicht ihr flüchtig die Wange. „Nun paß auf! Uebermorgen kommt Geld von der Leipziger Bank, das händigst du dem Baron aus, bittest um eine Quittung und – hör’, Christel, daß du ordentlich anschreibst, was auf das Schloß geliefert wird! Wir schinden uns genug um die Pacht, und umsonst ist der Tod. Solche Herrschaft hat eine verflucht vornehme Vergeßlichkeit für Kleinigkeiten.“

„Vielleicht auch zuweilen thatsächlich kein Geld,“ lächelt sie.

„Erzieh’ sie nur. Alle acht Tage schickst du ihnen eine Nota.“

„Natürlich, Anto, wenn du es willst.“

Er pfeift ein paar Takte, stellt sich an das Fenster und betrachtet das Schloß, das dunkel und massig wie ein riesiger Würfel da liegt. Nirgends Licht, nur aus den Zimmern der alten Fräulein schimmert ein schwacher Lampenschein durch die Aeste der großen Linde herüber.

„Arme Würmer,“ murmelt er, „’s ist ’ne Sünd’ und ’ne Schande! Ihr könnt sehen, wie ihr durchkommt, wenn der Herr Vater die Augen zuthut; nicht der Ziegel auf dem Dache gehört euer.“

„Was sagst du, Anto?“ fragt Christel und tritt neben ihn.

„Daß es ein verfluchter Egoismus ist, wenn einer Kinder hat und sorgt nicht für sie, sondern sieht zu, wie er sein liebes Ich möglichst gut durchs Leben amüsiert! Gemein ist’s, ein Tier macht’s besser.“

„Du denkst an die alten Fräulein drüben?“ fragt sie. „Lieber Gott! Hast recht, Anto; an ihrer Stelle könnte ich kein Auge zuthun bei dem Gedanken, was wird aus mir? Und dabei soll ich doch jedes Ei aufschreiben, du alter Geizkragen?“ fügt sie hinzu und schmiegt sich ein wenig an ihn.

„So lange der alte Rabe lebt – ja! Denn wenn wir auch umsonst in die Küche stiften würden, was und wieviel wir können, so käme doch alles nur ihm zu gute. Man muß nie helfen, die Leute in ihren Schwächen zu bestärken.“

„Tu wirst ihn schwerlich noch erziehen,“ spricht sie leise, und dabei denkt sie: Wie würde er sorgen für seine Kinder! Und die alte tiefe Traurigkeit legt sich wie lähmend auf ihr Herz.

Er sieht noch immer das Schloß an, und dabei sagt er weich: „Ich kenne dich schon, Christel, ich weiß, was du meinst. Meinetwegen zähle falsch, wenn du ein halb Schock Eier hinüberschickst; es kommt mir wahrhaftig nicht darauf an –“

„Wir haben ja auch genug,“ unterbricht sie ihn.

Er fährt herum. „Du bist himmlisch! Genug? Noch lange nicht! Wollen wir denn immer nur pachten? Nee, Schatz – mein Traum ist die eigene Scholle.“

Sie preßt in der Dunkelheit die Hände aufs Herz. „Für wen denn?“ will es sich auf ihre Lippen drängen, „für uns beide? für uns, die wir fast die beste Zeit des Lebens hinter uns haben? Wir sind ja allein, wir haben keine Kinder, Anto – –.“ Aber sie schweigt, schweigt aus Bangigkeit, daß dieser Gedanke von ihm aufgegriffen werden könnte, ihn lähmen könnte in seiner frischen Lust zur Arbeit, zum Erwerb. Wenn ihr doch Gott diesen einen Wunsch erfüllte, diesen einen! Aber Gott giebt und verfügt über menschliches Wissen und Verstehen. Bei Pastors sind nun sieben, ein achtes wird erwartet, und die arme geplagte Frau seufzte gestern zu Christel: „Ich hätt’ es diesmal dir so gegönnt! Wie soll’s werden mit dem Häuflein?“ Aber der liebe Gott hat Christel wohl vergessen, und sie muß noch dankbar sein, daß Anton nicht murrt – das könnte sie nimmer ertragen.

Und Christel wendet sich um, zündet Licht an und beginnt seinen Koffer zu packen für die morgende Reise.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Acht Tage ist Anton fort, einmal hat er auch geschrieben, aus irgend einem Orte, der auf –rode endigt; und dann ganz unversehens, als sie von den Wiesen nach Hause kommt eines Nachmittags, warm vom Gehen, in einem leichten blauen Leinenkleid, das frische Gesicht versteckt unter dem großen braunen Strohhut, sitzt er in der Eßstube vor dem Vespertisch und ißt, als habe er während der acht Tage seiner Abwesenheit gehungert.

„Anto!“ ruft sie glückselig, „gottlob, daß du wieder daheim bist!“

Und im nächsten Augenblick sitzt sie ihm gegenüber und sieht ihn mit leuchtenden Augen an. „Dir ist etwas geglückt! Dir ist was geglückt,“ wiederholt sie, sein Gesicht studierend, und als er ihr verschmitzt zwischen zwei Schluck Bier zunickt, wird sie rot vor Freude.

„Eine Mühle habe ich gekauft, Christel, bei Winderode.“

„Herr Jesus, Anto – was willst du mit einer Mühle?“ fragt sie erstaunt.

Er schluckt eben an einem großen Stück Schinken. „Du,

[40]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0040.jpg

Der Empfangstag.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Hey.

[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] Christel, du hast ja Geld, willst du dich beteiligen an unserm Unternehmen?“

„Nun spann’ mich doch nicht so auf die Folter, sondern sag’s endlich,“ fordert sie und starrt ihn an mit ängstlichen Augen.

„Ja, sofort! Also kurz gesagt, ich habe dir schon einmal vom Freund Buchenberg gesprochen?“

„Nein!“ sagt Christel.

„Aber, Frau!“ ruft er vorwurfsvoll, „er hängt doch drinnen zwischen den andern Bildern in der Wohnstube mit dem Verbindungsband über der Schulter, dem Schmiß auf der Backe und dem Cerevis.“

„Ach so, ja, jetzt weiß ich,“ unterbricht ihn Christel, „nun, was ist’s mit ihm?“

„Na, der hat im Harz, in der Nähe von Winderode geschürft auf Flußspat. Weißt du, was ‚Schürfen‘ ist?“

„Nein,“ erwidert sie ganz beschämt über ihre Unwissenheit.

„Schürfen ist, sozusagen, das Aufsuchen von einem Mineral unter der Erdoberfläche, und dazu bedarf es der obrigkeitlichen Erlaubnis, eines sogenannten Schürfscheines, in vorliegendem Falle für Flußspat. Er hat also geschürft und ein kolossal günstiges Resultat erzielt; denke dir, chemisch reinen Flußspat hat er gemutet. Weißt du, was ‚muten‘ ist, Christel?“

Sie schüttelt abermals den Kopf.

„Muten nennt man das Ansuchen bei der Bergbehörde um Verleihung des Bergwerkes als Eigentum, behufs Ausbeutung desselben. Hast du das verstanden, Christel?“

Sie nickt.

„Schön! Also wir wollen Flußspat gewinnen, weißt du, was Flußspat ist?“

Sie schüttelt den Kopf, sie weiß es nicht.

„Flußspat ist ein Mineral, kleines Schaf, ein wertvolles, und wird zu allerlei Dingen gebraucht; unter anderm ist es unentbehrlich bei der Emaille- und Porzellanfabrikation, und wenn uns das Unternehmen glückt, fällt uns ein schönes Stück Geld in die Hände. Chemisch reiner Flußspat, was das sagen will!“

„Und dein Freund Buchenberg?“

„Buchenberg ist Bergassessor, hat auf einer Urlaubsreise im Harz umhergeschnüffelt, dann geschürft und schließlich gemutet. Es ist auch alles klipp und klar und absolut kein Schwindel dabei. Der gute Junge würde übrigens sicher kein Sterbenswörtchen von seinem Vorhaben verraten haben, wenn er das Betriebskapital im Portemonnaie hätte; dieses fehlt indes so gänzlich, daß er einen Kompagnon mit dem nötigen Kleingeld braucht. Nun war es ein ganz gescheiter Gedanke, daß er sich meiner erinnert hat – na kurz, ich sehe die Geschichte für gut an und habe ihm ein Kapital in Aussicht gestellt. Nächste Woche geht’s los, da wird der erste Spatenstich gemacht, Beamte und Bergleute sind bereits fest engagiert und das erforderliche Betriebsmaterial ist bestellt –“

„Und du glaubst, daß es rentieren wird?“ unterbricht sie ihn.

„Sonst hätt’ ich mich nicht eingelassen damit. Siehst du, Christel – – aber, mein Gott, das verstehst du doch nicht, überhaupt, man soll nicht soviel davon reden! Und wenn du jetzt ein wenig Zeit hast, setz’ dich her und mach’ deinen Rapport, Christel – was giebt’s Neues auf Wartau?“

Sie sitzen jetzt beide nebeneinander im Wohnzimmer auf dem Sofa und Christel berichtet eine lange Reihe kleiner Vorkommnisse, zuletzt auch, daß Heine sich wirklich verlobt hat und daß die Fräulein vom Schlosse jeden Morgen Buttermilch im Keller trinken und am liebsten einen stundenlangen Schwatz machen. „Gestern haben sie mich sogar zum Kaffee gebeten, als ob unsereiner Zeit hätte wie sie, Anto.“

„Wart’ nur, Christel,“ sagt er ernsthaft, „die Zeit kommt, wo du dich mit deinem Strickstrumpf ans Fenster setzt und Kaffeegesellschaften hältst, wart’ nur!“

„Um Gotteswillcn, das wäre mein Tod, Anto! Ich möcht’s nicht.“

„Wirst schon mögen, Christel, besonders wenn du dann Zeit hast zum Lesen.“ Er lacht, weil sie verlegen wird wie immer, wenn er sie mit dieser ihrer Leidenschaft neckt, und sie schüttelt leise den Kopf.

„Anpumpen müssen wir dich aber,“ sagt er dann und schlägt sie kameradschaftlich auf die Schulter. „Giebst du gern etwas Kapital dazu als stiller Teilhaber – was?“

„Anpumpen? Es ist ja dein, was ich habe,“ erwidert sie, „und du wirst schon wissen, was du thust.“

Und als der unruhige Mann schon aus der Stube gegangen ist, weil er den Verwalter sprechen will, sagt sie still für sich: „Und wenn’s wirklich glückt, wir brauchen’s ja nicht – wozu denn? Ja – wozu denn?“




Zwei Jahre sind verflossen. Es ist an einem kalten Oktobertage, da kommt Anton im Wagen zurück von der Station; neben ihm sitzt ein Herr, den er abgeholt hat. Christel wartet droben im wohlgeheizten Zimmer mit einem Imbiß, und nachdem sich die Herren etwas aufgetaut haben, gehen sie hinüber ins Schloß.

Christel weiß nichts weiter, als daß der Herr der Anwalt des Barons ist, und daß letzterer Geschäfte mit Anton und im Beisein des Rechtsbeistandes zu ordnen hat. Aber sie ahnt etwas, und das liegt wie Centnergewicht auf ihrem Herzen.

Um sie her sieht’s noch ebenso aus wie damals, als sie einzog vor sieben Jahren. Bis auf ein einziges Stück sind’s noch die alten Möbel, und Christel selbst ist noch die stattliche blonde, wie aus dem Ei gepellte Hausfrau von damals, aber es liegt etwas in ihrem Gesicht, etwas Gespanntes, Sorgenvolles, und um die Mundwinkel zuckt’s wie Trauer. Dieses Möbel da, das sich so großartig von sechs Männern die Treppe hinauftragen ließ, dieser eiserne Geldschrank! Da steht er, groß, breit, trotzig, bereit, jeden Augenblick seinem Herrn ein Vermögen zu übergeben, damit sich dieser auf eigene Füße stellen kann, wie er es immer so sehnlich gewünscht hat. Christel hat mit Freude, in die sich auch ein gut Teil Bangigkeit mischte, erlebt, wie das Unternehmen im Harz sich in ein Vermögen verwandelte, in ein recht respektables sogar. Jetzt ist die Anlage Aktiengesellschaft geworden und wirft ihren Gründern einen mehr als reichlichen Gewinn ab. Für Mohrmanns giebt das eine schier fürstliche Rente, so wertvoll ist die Grube geworden.

Christel hat das Anwachsen der Einkünfte wie etwas Unheimliches angesehen und hat es nicht glauben wollen, daß sie jetzt reiche Leute sind. Schließlich hat sie viel geweint, Nächte hindurch so geweint und in ihre Kissen geschluchzt, daß Anton grob geworden ist. – „Heiliges Kreuzdonnerwetter, ist das der Dank dasür, daß man dich zur reichen Frau gemacht hat?“

Sie hat ihre Thränen seitdem verschluckt und ihre Frage: „Ach Gott, für wen denn nur?“ unterdrückt. Anton ist ja so glücklich, und vor zwei Tagen hat er zu ihr gesagt: „Christel, setz’ dich in die Sofaecke, damit du nicht umfällst – ich kaufe Wartau!“

„Es ist recht,“ hatte sie ungläubig geantwortet, „daß wir wieder Sorgen bekommen, denn es ist nicht gut, wenn der Mensch keine hat,“ und weiter kein Wort über das gesprochen, was er im Ernst zu thun beabsichtigte. Aber nun ist er wirklich drüben mit dem Notar, nun drückt ihr die näherkommende Thatsache wie betäubend auf Kopf und Herz. Sie steht am Fenster, obgleich in der Wirtschaft vollauf zu thun wäre, und stiert nach dem stillen Schloß hinüber; wie gelähmt ist sie.

Auf den großen Steinfliesen des Platzes, der vom Wirtschaftshofe durch ein köstliches schmiedeeisernes Thor abgeschieden ist, treibt der Wind sein Spiel mit den dürren Blättern der Linde. Die vorhanglosen Fensterreihen des Schlosses sehen traurig durch den leichten Nebel herüber, wie tote, weit offene Augen; das Portal ist geschlossen. An den zwei einzigen mit Gardinen versehenen Fenstern glaubt Christel Fräulein Josepha von Wartau zu erkennen, die da unbeweglich verharrt und starr auf einen Fleck niederblickt. Wie oft schon hat Christel sie so gesehen, unthätig, freudlos, eine durch Armut Gefangene. Und doch, wie hängen die alten Mädchen an dem Schloß ihrer Väter! Christel hat’s gesehen, wie sich ihre Wangen röteten, wenn sie erzählten vom einstigen Glanz ihres Hauses; sie hatten’s ja noch erlebt. „Als Seine Majestät hier war!“ hatte Josepha erzählt, „damals, als der König uns die Ehre gab, drei Tage unser Gast zu sein,“ erzählte Tonette. Weiße Kleider hatten sie angehabt, [43] weiße Seide, und Perlen um den Hals; und im Bankettsaal hatte der Thronfolger mit Josepha eine Quadrille getanzt nach dem großen Diner, zu dem die adligen Rittergutsbesitzer der Umgegend und die Offizierskorps der benachbarten Garnisonen geladen waren.

O, Wartau war überhaupt historischer Boden! Die Großmutter der beiden Damen hatte so viel erzählen können aus der Franzosenzeit; droben neben der Bibliothek hatte Napoleon zwei Nächte geschlafen. Und der Hof war eines Tages von Kosaken angefüllt gewesen. Und dann der preußische Rittmeister, den nach der Schlacht bei Leipzig sein Bursche bewußtlos bis hierher geschleppt!

Ja, das war eine romantische Geschichte. Der Großvater hatte ihn in der Orangerie untergebracht, er sollte nicht im Schloß verpflegt werden; der alte Herr vergötterte Napoleon. Aber er hatte nicht bedacht, daß in seinem Hause ein schönes Töchterlein aufgewachsen war mit einem Herzen voll glühender Liebe fürs Vaterland, und daß in den Heckengängen des Gartens ein lachender mit dem Pfeil drohender Amor stand; daß der Mondschein so golden über dem herbstlichen Park lag, als scheine er in Sommernächte hinein, und daß die Taxuswände an der Orangerie so dicht und verschwiegen sind. Und der preußische Rittmeister nahm das Schloßtöchterlein mit, als er wieder zu seinem Regiment in Halberstadt ging, und die beiden sind so glücklich, so glücklich gewesen!

An das alles mußte Christel denken und an die leuchtenden Augen der alten Fräulein, die ihr das erzählten.

Auch von noch früheren Zeiten hatten sie berichtet, von damals, als der Freund des Grafen Brühl dies Schloß erbaute und Schäferfeste und Redouten gab nach berühmten Mustern! – Droben hing das Bild der schönen Gräfin Cosel, in blaßgelber rosendurchwirkter Seide, den Fächer in der Hand, das sie dem galanten Schloßherrn auf Wartau zur Erinnerung geschenkt.

Fräulein Josepha konnte sie schildern, jene Zeit mit ihrer verschwenderischen Ausgelassenheit, als sei sie dabei gewesen. Christel sieht sie ordentlich in dem Bankettsaal des Schlosses, der durch zwei Stockwerke geht, auf dem Parkett dahingleiten, alle diese genußsuchenden, prunkvollen, frivolen Männer und Frauen.

Jetzt ist’s totenstill da drüben, die vergoldeten Stuckputten des Saales halten nur noch die Fetzen der schweren seidenen Draperien in den zerbröckelnden Armen, und das wundervolle Deckengemälde – Europa auf dem Rücken des Stieres, der die Wellen des Meeres durchschwimmt, begleitet von einem Heer von Tritonen und Nereiden – sieht auf das völlig leere Gemach hernieder, vor dessen Fenstern graue leinene Zuggardinen der Sonne wegen gespannt sind. Der ungeheure Kamin ist mit Holzlatten vernagelt, in allen Ecken der großen Räume kauert der Verfall und grinst über sein Werk.

Und drunten im Zimmer des Schloßherrn verkauft eben der letzte Wartau seinen Stammsitz, der durch seine und seiner Eltern kraftlose Hände geglitten, welche die Kartenblätter besser zu halten verstanden als ihn.

„Ach, weshalb gerade Wartau?“ sagt Christel. Sie fühlt einen Schauer bei dem Gedanken, daß sie drüben wohnen soll. Warum denn nicht ein einträgliches Mittelgut mit freundlichem Herrenhause und einem kleinen vernünftigen Garten? „Soweit habe ich nie gedacht,“ spricht sie halblaut, „ich wäre zufrieden geblieben als Pächtersfrau – – Und wozu? für wen? Herrgott, gieb, daß Anto eines Tages nicht ebenso frage!“

Sie sieht ihn nach zwei Stunden über den Hof kommen, allein.

Ein rasendes Herzklopfen meldet sich plötzlich: sie ist fast unfähig, sich zu rühren, nur ihr Kopf wendet sich der Thür zu, durch die er jetzt eintritt. Aus leichenblassem Gesicht starren ihre Augen ihn an.

Er streckt ihr beide Hände hin. „Nun, Christel?“

„Und du hast wirklich –?“ stößt sie hervor.

Er nickt stumm, es hat auch ihn mächtig bewegt.

„Und nun, Christel,“ sagt er gerührt, „wollen wir da drüben weiter miteinander schaffen und sorgen, so treu wie bisher in dem kleinen Pächterhause. Zum Hochmütigwerden haben wir beide keine Anlagen, und arbeiten wird’s auch fürder heißen.“

„Drüben? Müssen wir drüben wohnen?“

Er lächelt. „Hier zieht Heine ein, als Inspektor mit seiner jungen Frau.“

„Heine wird Inspektor?“

„Ja! Und sein Ehegespons kriegt die Milchwirtschaft in Verwahrung, und drunten wird der künftige Braumeister wohnen.“

„Anto, fang’ langsam an!“ bittet sie, mit verängstigten Augen.

„Ach was – langsam! Das Ding muß seine Zinsen bringen; die trägt’s nicht aus mit bloßem Ackerbau.“

„Ach, siehst du, Anto – –“

„Red’ nicht, Christel! Bin ich ein leichtsinniger Kerl?“

„Nein, nein, Anto! Aber Wagemut hast du, daß ich staune.“

Er reckt plötzlich seine Riesenfigur in die Höhe und seine Brust dehnt sich. „Ja,“ sagt er fröhlich und laut, „Gott sei Dank, den habe ich! Wer nicht wagt, der gewinnt nicht. Ich muß schaffen, muß wagen; wenn ich das nicht mehr zu thun vermag, Christel, dann bin ich krank oder sonstwie verloren. Also vorwärts mit frischem Mut, Altchen! – Und höre, der Rechtsanwalt kommt nachher zu Tische.“

Sie erschrickt. „Herrgott, ich muß hinunter!“ Und über Hals und Kopf stürzt sie in die Küche, wo die Mägde sie verwundert anstarren. Und als sie nach einem Weilchen, mitten in der Beschäftigung, Anton bemerkt, der vorübergeht mit einigen Weinflaschen in der Hand, läuft sie ihm nach. „Wo bleiben die Herrschaften, wenn wir einziehen?“

„Drüben natürlich! Der alte Herr wird’s nicht mehr lange machen, und die Fräulein haben Freiquartier bis an ihr seliges Ende. Ich dachte, ich macht’ es so recht – wie?“

Sie lächelt und nickt; ihr ist ein Stein vom Herzen gefallen. Sie sollen es kaum fühlen, daß sie Fremde sind, nimmt sie sich vor; sie will’s schon einrichten; sie sollen uns kaum bemerken, den Anto und mich, höchstens, wenn Pastors mal mit den Kindern – – –. Und das ist wieder ein Stich ins Herz. Sie lacht vor ihrem Küchentisch auf, kalt, höhnisch, daß das Mädchen, das neben ihr steht, verwundert aufschaut.

„So! das Abnenschloß, das hätten wir – aber wem werden wir Ahnen sein? Niemand, niemand!“




Bei Pastors hat die Kunde von dem Verkauf Wartaus wie eine Bombe eingeschlagen. Christel ist gegen Abend hingegangen, um zu berichten, mit einem Gesicht so blaß und verlegen, als müsse sie um Entschuldigung bitten, daß sie überhaupt auf der Welt sei.

Zuerst hat sie’s ihrem Schwager gestanden. „Du, Robert,“ sagt sie zu ihm, der in seinem einfachen Studierzimmer sitzt, dessen Luft von dickem blauen Qualm erfüllt ist, „ich muß dir eine Mitteilung machen.“

Er steht vor ihr in einem grauen Schlafrock, den er sich anschaffte, als er heiratete. Der grobe Stoff ist fadenscheinig geworden und oft gestopft; auf dem Rücken, d. h. etwas tiefer unten, sitzt sogar ein großer Flicken; und dieses stark mitgenommene brave Kleidungsstück hat Frau Pastor aus zärtlicher Anhänglichkeit an die Zeit ihres jungen Eheglücks, die es mit erlebte, dankbar mit neuen Aermelaufschlägen und Kragen aus grellrotem Flanell geschmückt, den sie von einem Unterröckchen ihrer Jüngsten erübrigte.

„Nun, liebe Schwägerin?“ fragt der geistliche Herr, in dem gewissen salbungsvollen Ton, der ihm eigen ist, wenn sich jemand vertrauensvoll an ihn wendet. „Doch nichts Böses? Du siehst niedergeschlagen aus.“

„Gar nichts Böses, Robert, aber eine Neuigkeit, die dir überraschend kommen wird – mein Mann hat Wartau gekauft.“

Der Pastor setzt sich unglaublich rasch wieder in den Lehnstuhl, die Pfeife in der zitternden Hand und mit dem dümmsten Gesicht, das er jemals gemacht hat. So starrt er Christel an, die ihm mit ernsten Augen bestätigend zunickt.

„Wartau? Mohrmann – Wartau? Ja aber – ist er denn in der Lage, das – –? Ich weiß ja wohl, daß ihr ein nettes Stück Geld erübrigt habt – aber Wartau? Wieviel [44] hunderttausend Mark? Christel, Christel“ – und nun erhebt er seine Stimme, „du hättest sollen deinen Einfluß als vernünftiges Eheweib aufbieten! Christel – wen der Teufel versuchen will, der wird durch Hoffart verblendet.“

„Ach, Robert, Mohrmann ist der nüchternste Geschäftsmann, den es giebt. Es geht alles mit rechten Dingen zu, aber mich drückt’s, mir ist angst; ich fürchte, ich werde nicht in so große Verhältnisse passen.“ Sie seufzt tief auf.

„Man kann auch in großen Verhältnissen einfach bleiben, Christel.“ Der Pastor hat sich jetzt von der Ueberraschung erholt und klopft ihr auf die Schulter. „Und jemehr Besitz euch Gottes Segen giebt, um so mehr Verpflichtungen habt ihr. Reichtum und Gut ist eine schwere Last. Nun aber – wo – – Der Kauf ist doch perfekt?“ schaltet er ein.

Christel nickt.

„Wo Mohrmann auch mein Patron geworden ist, hoffe ich, daß er sich unseres Kirchleins etwas annimmt! – Sorge du dafür, Christel; das Dach fällt meiner Gemeinde demnächst auf den Kopf.“

„Was ich thun kann, Schwager, das geschieht,“ sagt sie, „und auch sonst, auch sonst mehr als vorher.“

Er hebt die Hand, als stehe er auf der Kanzel. „Wir sind zufrieden mit dem, was Gott uns gab, Christel, wenn er nur meiner Frau Gesundheit spenden will und die Herzen der Kinder gut und rein bewahrt.“

Christel schießen die Thränen in die Augen.

„Hast recht, Schwager; ihr seid reicher als wir,“ sagt sie und wendet sich.

„So mußt du nicht sprechen, liebe Christel; es geschieht alles nach seinem Ratschluß,“ stottert der Pfarrer, betroffen von der Bitterkeit, die aus ihren Worten klingt. „Du bist noch jung, er kann euch noch immer geben, was ihr ersehnt.“

Aber Christel hört es nicht mehr, sie ist schon draußen im Flur und ruft ihren beiden Schwestern, die in der Kinderstube beschäftigt sind, durch den Thürspalt zu: „Mohrmann hat Wartau vorhin gekauft; ich gehe zur Mutter hinauf; wollt ihr Näheres hören, so kommt!“ –

Sie macht die Thür wieder zu und läßt hinter sich in dem eben noch so geräuschvollen Zimmer eine lautlose Stille zurück. Die Nähmaschine ist so jäh verstummt wie das alte dünnstimmige Klavier, auf dem gerade das Menuett aus „Don Juan“ von dem zehnjährigen Gretchen geübt wird; selbst das Lärmen der Jüngsten hat aufgehört, ein wortloses Staunen ist über alle gekommen.

Die alte Frau aber in ihrem Giebelstübchen sitzt wie immer im Lehnstuhl am Tisch vor der Lampe, das Strickzeug – ein ausgewaschenes Kinderstrümpfchen, das einen neuen Hacken beansprucht – in der Hand. Ihr gegenüber die Aelteste, das achtzehnjährige Trudchen, vor einem Haufen Flickwäsche.

„Guten Abend, Mutter!“ sagt Christel und zerrt sich den schwarzen Wollshawl vom Kopfe. „Nur einen Augenblick, wollt’ nur sehen, wie’s geht.“ Sie hat der alten Frau mit den vergrämten Zügen die Hand gegeben, dem jungen Mädchen über den Blondkopf gestrichen und sitzt nun auf dem Sofa, wo sie den schwarzen Kater behutsam zur Seite schiebt. „Mach’ Platz, Peter, mach’ Platz!“

„Wie soll’s gehen,“ murrt die Angeredete, „immer egal so weiter, alle Tage Arbeit, alle Tage Lärm – und der Winter, der alte eklige Winter, und Neues hört man sein Lebtag nicht, oder es ist danach – ärgerliches Zeug!“

„Na, Mutter, dann will ich dir gleich erzählen,“ beginnt Christel frisch, „Mohrmann hat Wartau gekauft heute.“

„I gar!“ sagt die alte Frau, „um Mätzchen zu glauben, bin ich zu alt.“

In diesem Augenblick kommen beide Schwestern herein, die Pfarrerin mit leuchtenden Augen, Louischen, das ältere geplagte Mädchen, mit einem verkniffenen Zug um den Mund.

„Nein, solche Freude!“ ruft die gutmütige Pastorin und fällt Christel um den Hals. „Kinder, nun denkt mal an, unsre Christel als Schloßfrau von Wartau! Nein, Christel, das hast du dir auch nicht träumen lassen!“

„Da könnt ihr Pastors ja ein paar Kinder abnehmen,“ fällt Louischen ins Wort, „adoptieren oder so; und wenn du vielleicht einer Kammerjungfer bedarfst – ich nehme die Stelle – man macht eben verschiedene Carrieren in der Welt.“

„Schwatz’ nicht so albernes Zeug,“ fährt die alte Frau ihre Tochter an, „reiche Leute können ihr Geld allein gebrauchen – gelt Christel, was gehen dich die Pastorskinder an?“

„Sie gehen mich schon an, Mutter, aber ich habe Wartau nicht, sondern mein Mann, und ich glaube, daß er sehr sparsam sein muß, wenn er durchkommen will.“

„Ha! ha! Um den ist mir nicht bange,“ lacht die Greisin, „der versteht’s, hamstert immer so stillweg ein und läßt die Frau sich schinden wie ein Tagelöhnerweib!“

„Das ist nicht wahr,“ sagt Christel empört, „ich habe gearbeitet, weil es mir Freude macht – von Schinden ist keine Rede! Was ich thue, thue ich gern für ihn und für mich.“

„Nicht mal ein Abendmahlskleid hat er dir gegönnt,“ murrt die alte Frau.

„Weil ich keins wollte,“ antwortet Christel, „mein Brautkleid hat’s immer noch gethan bisher.“

„Und dir, Mutter, schenkt er wahrlich genug!“ wirft die Pastorin vorwurfsvoll ein.

„Na, meine Gratulation,“ sagt die Mutter und nickt Christel zu. „Ich brauche nicht viel mehr, aber vergiß die armen Schwestern nicht – ihr habt ja für keinen zu sorgen, außer für euch.“

Christels Blick ist ganz abwesend. „Ich kann Anto keine Vorschriften machen,“ antwortet sie verletzt und erhebt sich.

Da kommt der vorjüngste Bube hereingestürmt und hängt sich an die Falten ihres Kleides. „Trinkt ihr nun alle Tage Chokolade, Tante Christel?“ fragt er aufgeregt, „und sitzt ihr immer Sonntags im Herrschaftsstuhl in der Kirche?“

Sie schüttelt den Kopf und sieht den prächtigen vierjährigen Burschen gerührt an; er ist ihres Mannes Patenkind. „Nein, Antonchen, weder das eine noch das andere.“

„Sag’ nur der Tante Christel, sie soll dich mitnehmen,“ ruft Louischen laut lachend.

„Nimm mich mit, Tante,“ bittet das Kind, „weil du ja doch keinen Jungen hast!“

Die Pastorin reißt das Bürschchen zurück. „Hast du deine Mutter nicht mehr lieb?“ fragt sie streng, „möchtest du fort von ihr?“

„Du kannst mich doch besuchen!“ heult der gekränkte kleine Mensch. Dann aber schließt er die Arme um seine Mutter, stürmisch zärtlich, und widerruft bitterlich weinend sein Verlangen: „Nein, nicht fort, Mama! Nicht fort – bei dir bleiben!“

Die Pastorin wirft Christel einen stolzen Blick voll Mutterfreude zu. „Ich bin reicher als du!“ steht darin, „ich tausche nicht mit deinem großen Schloß um eins meiner Lieben. Arme Christel!“

„Ich muß nun gehen,“ sagt diese fröstelnd. „Guten Abend, Mutter – guten Abend, Schwestern!“

„Wann zieht ihr denn ein,“ ruft die Greisin einlenkend. „Ich will dir doch helfen,“ fügt Louischen großmütig hinzu.

„Ich weiß nicht, was Anto beschlossen hat,“ antwortet Christel und geht mit der Pastorin aus der Thür. Und auf der Treppe – der Bub’ ist schon voran gesprungen – umarmt die Pastorin die stille Frau. „Du kennst ja Mutter und Louischen, Christel? Sie können ihre Freude nicht so recht zeigen, aber ich kann dir sagen, ich freue mich so für euch, es ist schön, wenn Arbeit und Mühe so sichtbar gesegnet werden. Möge das alte Glück mit hinüberziehen in das Herrenhaus und –“ sie bringt ihren Mund ganz dicht an das Ohr der Schwester, „das Storchnest da drauf – weißt schon – möge dir Glück, bringen!“

Christel drückt ihr die Hand und geht schweigend hinaus auf die dunkle Dorfstraße. Der Wind hat sich stärker aufgemacht; in der Ulmenallee, die zum Gutshofe führt, schüttelt er die Aeste, daß sie ächzen und klappern. Das Schloß dahinter ragt massig und finster in die Nacht hinaus.

Und da hinein soll sie? Ihr ist’s plötzlich, als laure dort, in den weiten Gemächern, ein düsteres Unheil auf sie; und als könne sie seinem Anblick entgehen, biegt sie unwillkürlich vom Wege ab und schreitet hinter der Mauer des Schloßgartens bis

[45]

     Arkona. Prinzeß Wilhelm. Kaiserin Augusta. Kaiser, Flaggschiff der I. Division. Kormoran. Irene. Gefion. Deutschland, Flaggschiff der II. Division.
Die Schiffe des deutschen Kreuzergeschwaders in Ostasien.
Nach einer Originalzeichnung von W. Stöwer.

[46] zur Gärtnerwohnung, von der aus sie durch den Gemüsegarten in das Pächterhaus gelangen kann. Wie um sich zu beruhigen, wandert sie noch ein paarmal in dem Hauptgang, der den Park von dem Wirtschaftsgarten trennt, auf und ab. Da wurzelt plötzlich ihr Fuß am Boden. Drüben, auf dem Platz im Park, wo die Sonnenuhr sich befindet, steht unbeweglich eine dunkle Gestalt und schaut zu dem Schlosse empor; deutlich hebt sie sich gegen die helle Mauer ab und Christels an die Dunkelheit gewöhnte Augen erkennen Josepha von Wartau. Sie verharrt da wie aus Stein gemeißelt; unheimlich dünkt es Christel.

Aber auch sie bleibt jenseit der niedern Buchsbaumhecke unbeweglich. Und plötzlich hebt das alte Mädchen die ineinander gefalteten Hände gegen das Schloß empor mit einer verzweifelten Gebärde, dann schlägt sie dieselben vor das Antlitz und sich zur Erde werfend, weint sie laut und leidenschaftlich.

Jeden Ton hört Christel. „Arme, arme Beraubte!“ murmelt sie, „das ist der Abschied von dem Frieden deiner Kindheit, den Wünschen deiner Jugend, dem Stolz deiner alten Tage! Du Aermste, wenn ich könnte, ich gäb’s dir wieder – wie gern? Das weiß nur ich – und Gott!“




Fräulein Tonette sitzt an diesem Abend im Zimmer des alten Barons. Sie breitet eben wieder geduldig die Decke über seine Füße, die er bereits zehnmal abgeworfen hat, denn er ist furchtbar aufgeregt. Seine älteste Tochter hat ihm zum erstenmal in ihrem Leben zu widersprechen gewagt.

„Ich denke, es ist besser für dich, Papa, und auch für uns, wenn wir hier bleiben.“

„Besser? Wieso? Dieses Hundeklima kann ich nicht vertragen,“ antwortet er.

„Der Doktor sagt, die Reise würde dich zu sehr angreifen, Papa.“

„Schockschwerenot! Was der Kerl sagt, danach habe ich mich noch nie gerichtet!“

„Und außerdem – unsere Mittel erlauben es auch nicht, Papa. Sei so gütig, Papa, hör’ mir zu: die beim Verkauf erübrigte Summe ist so fabelhaft gering, sie würde bei einer Reise zu vieren nach dem Süden – – “

„Zu vieren?“ grollt er.

„Ach, Pardon, Papa – zu fünfen, denn du wirst doch Bröse nicht entbehren können?“

„Zu fünfen?“ donnert er, „seid ihr verrückt geworden?“

„Ja, wo soll denn Edith bleiben, wenn Josepha und ich dich begleiten?“

Er bekommt einen plötzlichen Lachanfall, und wie immer endigt dieser in einem erstickenden Husten. Dabei stößt er in langen Pausen hervor:

„Edith? ja ja – ich hatte es ganz vergessen – ich dachte immer – es wär’ genug des Segens – mit euch beiden – ha ha – noch ein Mund mehr, der – gefüttert werden soll!“

Seine Tochter hat ihm soviel als möglich Linderung gebracht, Thee und Wasser, und sie reibt ihm den Rücken, denn er hat sich seitwärts über die Lehne seines Stuhles gebeugt und sieht blaurot aus.

„Ich schere mich den Teufel darum,“ kräht er endlich, „mag sie hier bleiben, diese Edith, mit der Thränenweide von Josepha. Du und Bröse, ihr kommt mit.“

„Aber du müßtest so gut sein, Papa, und ihnen eine bestimmte Summe anweisen für die Zeit unserer Abwesenheit.“

„Bis aufs letzte wird man ausgeplündert!“ schreit er, „bis aufs letzte! Und heute noch bereue ich die blödsinnige Stunde, in der ich eurer Mutter meinen Antrag machte. Ich wollte gar nicht heiraten, ich wollt’ nicht! Aber die Sippe hat nicht geruht: der Name dürfte nicht aussterben – Na, und nun? Und nun?“

Er fängt wieder gellend an zu lachen.

„Dich hat der Verkauf aufgeregt; komm’, Papa, trink etwas Himbeerwasser, es wird dich beruhigen,“ sagt die große starke Dame, die in ihrem einfachen Kleide, dem glatten Scheitel und der plumpen Taille nicht wie eine Dame aussehen würde, wenn nicht die stolze Nase, der fein geschnittene Mund und die wundervoll geformten, peinlich gepflegten Hände gewesen wären. Sie sieht den erschöpften Greis mit einem merkwürdigen, einem gar nicht kindlichen Blick an, während sie ihm zu trinken giebt. Er nimmt’s in kleinen Schlückchen, wie die Kinder trinken, und sinkt dann aufstöhnend zurück.

„Soll dich Bröse nicht lieber ins Bett bringen, Papa?“ fragt sie dann.

„Nein, ich schlafe doch nicht, aber du kannst gehen, Tonette. Sage deiner Schwester, daß sie auf Wartau bleibt mit dem Kinde. Wohnung habe sie, im übrigen müßten sie auskommen mit dem, was ich ihnen gebe – viel kann’s nicht sein.“

„Sie richten sich sicher recht sparsam ein, Papa,“ beruhigt Tonette, „nur weiß ich nicht – – aber davon sprechen wir später, Papa.“

„Was denn nun schon wieder?“ schreit er.

„Es ist ja nichts –“ murmelt sie.

„Doch! Ich kenne schon diese Manöver, wenn euch etwas nicht paßt. ‚Davon sprechen wir später‘, heißt’s dann.“ Er ahmt die sanfte Stimme der Tochter nach. „Weiß schon, was dahinter steckt – die Mauern von Wartau sind nicht dicker als eure Köpfe.“

„Ich dachte, weil Josepha so schwächlich und weil sie seit einer Reihe von Jahren gewohnt ist, den Winter im Süden zuzubringen, und sie infolgedessen möglicherweise unser hartes Klima hier nicht mehr verträgt, ob es nicht besser sei, du läßt mich, statt ihrer, hier?“

„Und ich armer Krüppel kann die nervöse zimperliche Person bedienen?“ fragt er mit grimmigem Humor. „Schön, schön, meinetwegen! Auch Bröse kann ihr ja bei Nervenzufällen als Kammerfrau aufwarten. Na, dann bin ich ja bestens versorgt! Schön, schön – also die Josepha!“

„Ich werde mitkommen, Papa, es ist abgemacht,“ sagt Tonette verdrießlich und mit harter Stimme. Sie hat das Umherreisen so satt, das erbärmliche Reisen, die billigen Hotels, die schlechte Behandlung seitens der trinkgeldenttäuschten Kellner – sie wäre so gern hier geblieben und sie wäre schon durchgekommen mit der Edith. Sie versteht es, billig zu leben, und so wenig Christel die Eier zählte und die Butter wog, so wenig zählte und wog sie nach; sie kann ganz gut Almosen nehmen, ohne sich verletzt zu fühlen, und kommt prächtig weg mit ihrem herablassenden Hochmut solchen Leuten gegenüber.

„Ob dieses Mädchen, diese Josepha, mir wohl den Fuß in mein Zimmer gesetzt hat seit dem Verkauf von Wartau?“ grollt er weiter.

„Sie ist so maßlos unglücklich über den Verlust des alten Familienbesitzes, als stände sie am Sarge eines lieben Menschen,“ sagt Tonette, die Klinke schon in der Hand, „es ist ihr wie mein einziger Wunsch, nach all dem Schweren, das uns traf, hier unsere alten Tage zu verleben.“

„Kann sie doch auch, Herrgott nochmal!“

„Ja, Papa, das können wir, aber – als Mieter.“

„Schön, dann als Mieter!“ schreit er laut, „ich hab’ ’s Geldmachen nicht erlernt. – Gute Nacht!“

Tonette verläßt das Zimmer, geht durch den Flur die breite Treppe hinan in die beiden Stuben, die sie und ihre Schwester gemeinschaftlich bewohnen. Es ist ganz dunkel hier, aber von dem Ruhebette, das inmitten des Raumes steht, schallt ein leises Schluchzen.

„Josepha,“ sagt Tonette hart, „nimm dich doch zusammen – es ist nun mal nicht anders!“

Die Angeredete fährt empor. „Sag mir nichts, ich bitte dich, Tone, sag mir nichts!“ ruft sie.

„Doch sage ich dir etwas – Vater will, daß du hier bleibst, Josepha.“

„Ich bleibe nicht hier, ich gehe ins Stift!“

„So! Und das Kind? Du weißt doch, Edith kommt am ersten November aus der Pension.“

„Du bist ja da, Tonette.“

Tonette lacht spöttisch. „Ich kann mich aber nicht in zwei Teile schneiden!“

„Ach so! Ich soll hier bleiben mit Edith, während ihr – – Das hat Papa so bestimmt?“

„Das hat Papa so bestimmt.“

[47] „Danke! Ich mag nicht, ich kann nicht! Laßt mich in Ruhe in meinem Stift leben, weiter will ich nichts mehr.“

„Machst du dir das Leben schwer!“ murmelt Tonette. „Meinetwegen!“

„Die neue Herrin von Wartau kann Edith ja in Pension nehmen,“ schließt Josepha eigensinnig, „bis du wieder zurück bist, mein’ ich. Meine Nerven halten ein junges Mädchen nicht aus.“

„Ja, ja,“ antwortete die Schwester, „beruhige dich nur, es wird schon alles ins Gleiche kommen. Hier sind deine Baldriantropfen, leg’ dich schlafen; mit all deinem Schreien und Weinen kriegen wir Wartau nicht wieder. Ich wünschte, du sähest das ein, und daß es auch schließlich besser ist, die Geschichte wird freier Hand verkauft als zwangsweise – das begreifst du hoffentlich mit der Zeit noch. Ein jeder wäre nicht darauf eingegangen, uns gutmütigerweise hier wohnen zu lassen bis ans Ende.“

Josepha hat sich aufgerafft und läuft bis zur Thür. „Nicht ein Funke von Stolz ist in dir,“ schreit sie ihrer Schwester zu, „nicht ein Funke von Stolz und Pietät! Gesinnungen hast du wie eine Tagelöhnerin, nein, schlimmer noch, denn selbst die hängt noch an ihrer Kate – ich schäme mich, daß du meine Schwester bist!“

Und dann fällt die Thür hinter ihr ins Schloß und sie läuft voll Jammer und Verzweiflung in die Nacht hinaus nach dem Garten, in dem sie ihre Kinderspiele gespielt und der jetzt Fremden gehört. Und dort bricht sie zusammen und liegt auf der feuchten Erde an der Sonnenuhr lange Zeit.

Tonette sucht ihr Lager auf. Daß ihr sehr behaglich zu Mute ist, kann sie nicht behaupten, aber sie hat es sich längst abgewöhnt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, sie ist schon zufrieden, wenn’s nicht ganz so schlimm wird, wie sie gefürchtet. Gottlob, sie behält doch wenigstens das Dach der Väter über dem Kopf, so lange sie lebt, wenn ihr auch kein Ziegel dieses Daches mehr gehört, sie braucht nicht in einer jämmerlichen Mietswohnung zu hausen. Mit diesem tröstlichen Gedanken schläft sie ein.

Um Mitternacht wird sie geweckt. Bröse ruft vor der Thüre: „Gnä’ Fräulein, kommen Sie doch, ich glaube – der Herr – mit dem Herrn ist’s nicht recht –“ Aber so hastig sich beide Schwestern auch ankleiden, so rasch sie die Treppe hinuntereilen, sie kommen doch nur gerade zurecht, um den letzten Seufzer des Vaters zu hören.

„Das ist ein Herzschlag gewesen,“ meint Bröse, während die Schwestern vor dem Totenbette stehen, ohne noch recht zu begreifen.

Es ist nur spärlich erhellt, das große hohe Gemach. Die Kerze, die Tonette jetzt in die zitternde Hand nimmt, um das stille Antlitz deutlicher zu sehen, wirft zuckende Lichter über die Züge des Entschlafenen, dem der Tod nichts nehmen konnte von dem verbissenen Schmerz seiner letzten Stunden. Der Diener ordnet, leise schluchzend, die Decken und legt die mageren, erkaltenden Hände seines alten Herrn ineinander.

Josepha aber fällt ihrer Schwester um den Hals, und weinend sagt sie:

„Nun find’ ich ihn wieder, Tone, nun versteh’ ich ihn – er hat’s nicht überleben können, er ist an dem Verlust von Wartau gestorben – –.“

Und Tonette streicht der Schluchzenden schweigend über das ergraute Haar.

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Ein düsterer Tag, der Begräbnistag. Nachmittags drei Uhr wird die Feierlichkeit stattfinden.

Christel heftet ihrem Mann auf den nagelneuen Cylinder einen schwarzen Kreppstreifen. Anton, der sein Lebtag nicht eitel war, steht heute eine halbe Stunde vor dem Spiegel und ordnet an seiner Toilette. Christel lächelt, obgleich es ihr gar nicht so zu Mute ist. Sie hat starkes Kopfweh, etwas, was sie sonst nicht kennt.

„Hast du die Enkelin schon gesehen?“ fragt sie dann.

„Nein – du?“

„Ich sah nur so ein schmales schwarzes Figürchen die Treppe hinaufhuschen, als ich aus dem Tafelzimmer kam, wo der Tote aufgebahrt ist. Wie der Blitz war sie oben; sie muß noch sehr jung sein.“

„Achtzehn Jahre, wie Fräulein Tonette sagt. Lebe wohl, Christel – bitte, halte ein Glas Grog parat, wenn ich wieder komme, das Wetter ist so naßkalt.“

Als Anton über den Herrschaftshof schreitet, stehen wenigstens zwanzig Equipagen in Reih’ und Glied dort. Der begüterte Adel der Nachbarschaft ist vollständig erschienen, Anton erkennt dies aus den Livreen der Kutscher und an den Pferden.

Der neue Besitzer von Wartau erscheint fast als letzter, wie er sofort bemerkt. In dem großen Zimmer zu ebener Erde, dessen auf den Flur, rechts und links von der breiten Treppe, mündende Flügelthüren weit offen stehen, ist die Trauerversammlung um den Sarg geschart, nur Herren. Die Gegenwart der Damen hat sich der Tote in einer eigenhändigen, von ihm für sein Begräbnis zurückgelassenen originellen Bestimmung, ohne näheren Kommentar, verbeten.

Der bereits geschlossene Sarg ist mit der ganzen Orangerie umstellt, über die Wartau verfügt, und auf hohen Kandelabern blühen ganze Büschel weißer Kerzen aus dem ernsten Grün hervor.

Aller Augen fliegen zu Mohrmann hinüber, als er jetzt eintritt und grüßt. Er hätte sich in seiner stolzen Persönlichkeit nicht besser präsentieren können als in diesem Augenblick. Einige kennen ihn schon, andere fragen mit Blicken ihre Nachbarn: „Ist er das?“ Sein Gruß wird teils artig, teilweise sogar respektvoll erwidert, und der alte Graf Altwitz sagt zum Amtsrat Sorben: „Verteufelt anständiges Exterieur.“

„Kerl hat einen großartigen Dusel gehabt,“ meint der Freiherr von Rothenbach auf Gitschwitz.

Anton reiht sich irgendwo ein, denn eben betritt sein Schwager mit den drei Hinterbliebenen den Saal. Die beiden alten Töchter führen zwischen sich ein junges Mädchen, ein zierliches, noch kindliches Geschöpf, dessen große mandelförmige Augen unter einem wirren Gekräusel seidiger Stirnlöckchen mit ängstlicher Scheu den Sarg umfassen, mit der Scheu, die die Jugend unwillkürlich vor dem Tod empfindet. Sie hat ein rundes, reizend geformtes Gesicht, sie ist eine Schönheit, darüber sind sich in einem einzigen Augenblick sämtliche Herren klar, die der Enkelin des Toten entgegensehen.

Anton geht es wunderbar. Er hört kein Wort von der Trauerrede, er sieht nicht die Menschen neben sich, nicht den Sarg, in dessen Ritterschild sich Kerzenstrahl und falbes Tageslicht spiegeln. Er steht hinter einer Doppelreihe schwarzbefrackter Herren, hat die Hand um eine Stuhllehne gekrampft und starrt das schöne Mädchen an, zwischen den beiden alten Fräulein, deren Gesichter in schwarzem Krepp fast verschwinden. Die dunklen Augen des Mädchens schweifen wie fragend über alle diese fremden Männer, sie streifen die Wände des Gemachs und bleiben endlich zerstreut an dem Deckenbild hängen, an einem Bacchantenzug, der mit faunischer Lust sich dahin wälzt, bocksfüßige tanzende Männer, kaum bekleidete Weiber. Sie wird rot, schüttelt fast unmerklich den Kopf und sieht wieder geradeaus. Sie müht sich offenbar, den Worten des Geistlichen zu folgen, und plötzlich, wie angezogen von Antons Blicken, bleiben ihre Augen an ihm hängen. Er bemerkt, wie der Ausdruck der Zerstreutheit blitzartig aus ihren Augen verschwindet, wie sie ihn anstarrt mit unverkennbarem Interesse; die feinen Nasenflügel blähen sich ein wenig, eine einzige Sekunde nur, dann senkt sie die Lider.

„Fränze!“ murmelt Anton.

„Amen!“ sagt der Geistliche in diesem Augenblick, und der Schwärm der Anwesenden kommt in Bewegung und drängt zu den Hinterbliebenen. Die drei Damen stehen da wie Fürstinnen und nehmen von jedem der Vorüberdefilierenden die üblichen Beileidsworte in Empfang. Es ist der letzte Akt der alten Vornehmheit, dieses standesgemäße Begräbnis. Auch Anton tritt zu ihnen.

Tonette streckt ihm die Hand hin und nennt ihn: „Lieber Herr Mohrmann.“

Josepha hält beide Hände in den Falten ihres Trauerkleides verborgen; sie senkt kaum den Kopf bei seinen hervorgestotterten Worten; grenzenlos hochmütig ist das scharfgeschnittene vergrämte [48] Gesicht. Das junge Mädchen hat ihn mit einem Ausdruck der Enttäuschung angeschaut, als der Name „Mohrmann“ an ihr Ohr schlägt, ganz anders als vorhin. Seine Stimme bebt etwas, als er spricht, dann nötigt ihn ein weiterer Trauergast, Platz zu machen. Er tritt in den großen Flur, wo die Herren sich sammeln.

Die Träger nähern sich dem Sarge, die Damen ziehen sich in das Zimmer des Verstorbenen zurück, von wo aus sie sehen können, wie der letzte Baron Wartau das Haus seiner Väter verläßt, das schon nicht mehr sein war.

Im Hofe, der in grauer Dämmerung liegt, sprühen jetzt Fackeln auf, die Tagelöhner des Gutes bilden Spalier; er ist dicht gedrängt voll Menschen, fast das ganze Dorf ist anwesend.

In dem uralten Kirchlein unter dem Altar befindet sich die Gruft der Wartaus; dorthin geleiten sie ihn jetzt. Der Zug setzt sich in Bewegung, der Fackelschein wirft grelle Streiflichter über die Linden zur Seite der Freitreppe, über die lächelnden Putten, die die steinerne Einfassung der weit geöffneten Gitterpforte schmücken.

Um das Dach des Pächterhauses und die Giebel der Scheunen zuckt der Flammenschein, und Christel steht am Fenster und sieht den Kondukt vorüberziehen. Sie späht nach Anton – natürlich, da ist er, sie hat ihn schnell herausgefunden, er ragt ja so weit über alle die anderen hinaus, auch über den Herrn, der neben ihm geht.

Er sieht nicht hinauf, er geht mit gesenktem Haupte, als sei ihm das Liebste auf der Welt gestorben. Und jetzt macht er eine Gebärde, als wische er eine Thräne aus dem Auge. Nein, er hat nur den Hut ein wenig gehoben und faßt sich an die Stirn, als habe er Kopfweh. Er wird doch nicht? Im Dorfe geht die Grippe um, Christel selbst fühlt sich unwohl. Um Gotteswillen, sie will tausendmal lieber selbst krank werden, wenn nur Anton gesund bleibt; er ist so ungeduldig dabei, sein Gesicht drückt eine so große Qual aus, schon bei Kleinigkeiten; sie kann ihn nicht leiden sehen, den blonden Riesen.

Als er endlich nach Hause kommt, brodelt das Wasser in der Spiritusmaschine, der Tisch vor dem Sofa im Wohnzimmer ist mit blendend weißem Drell gedeckt und mit kalten Speisen besetzt. Die Lampe brennt, es ist warm und behaglich hier, und Christel sagt freundlich: „Ich dachte, es wäre dir heute lieber, hier allein zu essen, Anto? Du bist von all den Geschichten so abgespannt.“

Er sieht sich um und atmet auf. Es ist ihm in dieser trauten Umgebung, als falle ein eiserner Reif von seiner Brust, der sie pressend und atemerschwerend umspannt hielt.

„Gute Christel,“ sagt er gerührt, „du denkst doch an alles!“

Sie hat ihn noch nie so weich und dankbar sprechen hören und sieht ihn ganz verwundert an; derartige Rücksichten hat sie doch täglich für ihn? „Die Feierlichkeit hat ihn angegriffen,“ denkt sie, „er hat ein Kinderherz, der gute Mensch.“ Und als er nach einem Weilchen umgekleidet aus dem Schlafzimmer kommt und sie sich gegenübersitzen, lächelt sie ihn an, trotz ihrer quälenden Kopfschmerzen.

„Trink’ etwas Warmes, Anto!“

Er mischt mechanisch den Grog und beginnt zu essen, ebenfalls ganz mechanisch.

„Anto,“ fragt Christel den ins Leere hinausstarrenden Mann, „war die junge Enkelin zugegen bei dem Trauerfest?“

Er fährt wie aus einem Traume empor. „Ja!“ sagt er dann kurz.

„Wie sieht sie aus? Ist sie hübsch?“ erkundigt sie sich, weniger aus Neugier, als nur um etwas zu sprechen.

Er nimmt sein Glas und leert es in einem Zuge. Dabei ist er rot geworden. „Ich weiß es nicht,“ antwortet er endlich. – Die erste Lüge ist gesprochen!

Christel fällt’s nicht auf; als ob er für dergleichen Augen hätte, zumal jetzt, wo ihm tausenderlei im Kopfe herumgeht! „Hat Robert gut geredet am Sarge?“

„Ich weiß es nicht, Christel – ich glaube, ja – na, was so bei dergleichen Gelegenheiten gesagt wird,“ antwortet er ungeduldig.

„Neben wem gingst du denn eigentlich, Anto, hinter dem Sarge?“

„Neben Graf Altwitz. Der sprach mich an, als der Zug sich ordnete.“

Jetzt ist ein Lächeln in seinen Augen. „Er sagte, unsere Interessen träfen ja stark zusammen; es ist wegen der Uferausbesserungen des Flusses, weißt du.“ Und nun spricht Anton weiter von den nächsten Zukunftsplänen. „Wir müssen bald in Ordnung kommen, Christel,“ ist der Schluß von jedem seiner Sätze. „Heine will Anfang November heiraten,“ fährt er fort, „in der nächsten Woche nach der Uebernahme ziehen wir hinüber. Etwas anders wird’s werden – ja – etwas ungewohnt – ja – aber das hilft nun nichts, die verängstigten Augen, die du machst, Christel, sind völlig überflüssig. Du wirst dich schon ganz stattlich ausnehmen,“ setzt er hinzu, „als Frau Rittergutsbesitzer Mohrmann. Und zum Visitenfahren schenke ich dir ein schwarzes Atlaskleid; aber erst die Arbeit und dann das Vergnügen.“

Sie lacht mit blassem Gesicht. „Was das Vergnügen anlangt, Anto –“

„Wart’ ab! Wenn der Löwe erst Blut geleckt hat, Christel –“

„Welche Zimmer werden wir denn bewohnen?“ fragt sie.

„Ich nehme das des alten Herrn, weil ich von dort am besten den Hof übersehen kann; es wird ganz so bleiben können, wie es jetzt ist. Daneben, wo der alte Herr gestorben, schlafen wir – hab’ keine Angst, der spukt nicht. Das Tafelzimmer behält seine Bestimmung, und die andern Räume benutzen wir für Besuch. Oben? da rühren wir vorläufig die Hand nicht daran, die Prunkzimmer mögen bleiben wie sie sind, da müßte nämlich gebaut, alles renoviert werden. Die Fräulein behalten die beiden Zimmer über uns, die sie jetzt bewohnen, und bekommen ein drittes dazu für die Enkelin.“

„Ich bitte dich, Anto, laß ein paar von den Stuben unten tapezieren – die schreckliche Malerei an den Wänden, ich kann sie nicht sehen!“

„Hm! Ja, können wir machen, Kind. Einige Familienbilder und wertvolle Andenken nehmen die Fräulein mit hinauf, im übrigen ist der ganze Krämpel unser. Erst wollten sie Auktion machen, aber ich hab’s in Bausch und Bogen mitgekauft. Es soll nämlich eine Urkunde geben, laut welcher eine ganze Reihe wertvoller, genau bezeichneter Gegenstände in Wartau verbleiben muß, selbst wenn es durch Erbschaft oder Verkauf in andere Hände übergeht. Na, wie gesagt, ich red’ erst morgen noch eingehender mit Fräulein Tonette – ist ein ganz vernünftiges Frauenzimmer. Aber du hast Kopfweh, Christel, leg’ dich! Ich habe nur noch ein paar Worte an den Rechtsanwalt zu schreiben.“

Sie ist wirklich kaum fähig, sich aufrecht zu erhalten, läßt den Tisch abräumen und geht.

Anton stellt die Lampe auf den geöffneten Sekretär, schreibt einen Brief und sitzt dann, die Feder in der Hand, und sinnt. Endlich drückt er ein kleines Geheimfach auf, nimmt ein Bündelchen Briefe, die mit einem verblaßten roten Bändchen zusammengebunden sind, heraus und zieht eine Photographie hervor, die er vor sich hinlegt und betrachtet.

„Zum Schreien, diese Aehnlichkeit, wenn sie sich auch schließlich doch nicht gleichen,“ sagt er halblaut; „aber dasselbe Genre, obgleich die eine Putzmacherin, die andere Baronesse ist. Der Mund, der eigensinnige, geschweifte ist’s ganz, und diese dunklen, scheinbar so kühlen Augen ebenfalls, das Ganze – Rasse, Vollblut, edelstes Vollblut! Ach, die Fränze, wie lange habe ich nicht an die gedacht! Die Fränze – eine Liebelei nur, ja, ja! Aber wundervoll war doch diese Zeit; Herrgott, was für ein Philister ist man geworden! Und da kommt die Fränze mit einem Male wieder – die Fränze!“

Er stützt den Kopf auf den Arm und sinnt, und sinnt. Als er sich endlich erhebt, fühlt er, daß er aus der frohen ruhigen Selbstzufriedenheit der letzten Jahre wachgerüttelt, ausgestoßen ist. Ein verwünschtes Gefühl, so weich und weh, und so unruhig! Gottlob, daß es Arbeit giebt morgen, mehr Arbeit beinahe, als er leisten kann!

(Fortsetzung folgt.)



[49]

Kiaotschau und Schantung.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen S. 45, 49, 50 u. 51.

Das ganze deutsche Volk steht unter dem mächtigen Eindruck der Ereignisse in Ostasien. Zum erstenmal weht die deutsche Flagge auf den Türmen einer ostasiatischen Stadt, zum erstenmal stehen deutsche Truppen auf chinesischem Boden, und der Name Kiaotschau ist in aller Mund.

Bis vor wenigen Monaten erfreute sich diese etwa 60000 Einwohner zählende Hafenstadt an der Südküste der Halbinsel von Schantung eines friedlichen, der großen Welt ziemlich unbekannten Daseins, denn seit der in früheren Jahrhunderten die Halbinsel in nordsüdlicher Richtung durchschneidende Schiffskanal versandete, hat Kiaotschau seine frühere Bedeutung eingebüßt. Sein Reichtum ist verschwunden; die Tempel und Pagoden, welche von der einstigen Größe dieser mit mächtigen Ringmauern umgebenen Stadt zeugen, sind dem Verfall nahe. Kiaotschau wäre wohl noch längere Zeit für Europa bedeutungslos geblieben, wenn nicht im vergangenen Herbst in den westlichen Teilen der Provinz Schantung zwei deutsche Missionäre ermordet worden wären.

Das Reisen in China, und namentlich in der genannten am Gelben Meere gelegenen Provinz, ist für den gewöhnlichen Europäer, den Forschungsreisenden oder Kaufmann, nicht besonders gefährlich. Seit der große Venetianer Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert das chinesische Reich bereist hat, wurde es von Hunderten von Europäern nach allen Richtungen durchzogen und durchforscht, ohne daß sie anderen Unbilden oder Gefahren ausgesetzt gewesen wären als in den benachbarten nichtchristlichen Ländern. Hunderte von Missionären sind im chinesischen Reiche thätig und leben in Ruhe und Sicherheit, bis der fanatische Pöbel, durch Mandarinen aufgestachelt, die Oberhand bekommt. Das war nun leider in den letzten Jahren an verschiedenen Orten Chinas, zuletzt in der Provinz Schantung, der Fall.

Karte von Schantung.

Im westlichen Teile dieser so ungemein fruchtbaren und dichtbevölkerten Provinz liegt einer der heiligsten Orte der ganzen buddhistischen Welt, eine Art buddhistisches Jerusalem, denn in der Stadt Kiu-fao wurde im Jahre 551 vor Christi Geburt der größte Heilige Chinas und Ostasiens, Confucius, geboren. Noch heute leben in dieser Stadt die Nachkommen dieses Weisen, und vier Fünftel der 20000 Einwohner von Kiu-fao stammen mehr oder weniger direkt von ihm ab, oder führen doch wenigstens seinen Namen. Der Confuciustempel von Kiu-fao ist einer der großartigsten und kostbarsten des chinesischen Reiches; seine Wände sind mit prächtigen Inschriftentafeln bedeckt, welche von den Kaisern aller Dynastien seit zweitausend Jahren gespendet worden sind, und die im Tempel sowohl als in den ihn umgebenden Galerien aufgehäuften Schätze, durchweg Opferspenden von frommen Chinesen, bilden das kostbarste und reichhaltigste Museum chinesischer Kunstwerke; in dem den Tempel umgebenden Park erheben sich uralte Bäume, und nahe dem Eingang zu dem Palast des Confucius zeigt man den knorrigen Stamm einer Cypresse, welche von dem großen Manne selbst gepflanzt worden ist. Nicht weit von dem Tempel erhebt sich der hohe Grabhügel des großen Moralisten; auch eine Anzahl chinesischer Kaiser ist in seiner Nähe begraben, und im Südwesten von Kiu-fao, in der unweit davon gelegenen Stadt Tsiu-hien befindet sich überdies in einem uralten Parke seit mehr denn 22 Jahrhunderten die Grabstätte des berühmten Apostels von Confucius, des vielverehrten Mencius. Einige dreißig Kilometer nördlich von Kiu-fao liegt der berühmteste Wallfahrtsort von China, die Stadt Taingan, zu Füßen des heiligen Berges Tai-schan, auf welchem schon vor 41 Jahrhunderten chinesische Kaiser den Göttern geopfert haben und den auch Confucius bestiegen hat. Hunderttausende von Wallfahrern aus allen Teilen des Reiches strömen in jedem Jahre hier zusammen, und der ganze Bergdistrikt des westlichen Schantung wird von den Chinesen als heiliges Land angesehen. Wenn also christliche Missionäre ihre Tätigkeit gerade hierher verlegten, so waren sie sich der ihnen drohenden Gefahren wohlbewußt, und so sehr ihre Kühnheit und ihr Opfermut im Interesse des christlichen Glaubens Bewunderung verdient, ihr bedauernswerter Tod durch die Hand fanatischer Mörder erscheint hier erklärlicher als anderswo.

Glücklicherweise befand sich gerade zu dieser Zeit ein deutsches Kriegsgeschwader in den chinesischen Gewässern, so daß ein kräftiges Einschreiten zur Sühnung der Mordthat unmittelbar darauf erfolgen konnte. Am 15. November v. J. erschienen die Kreuzer „Kaiser“, „Prinzeß Wilhelm“, „Irene“ und „Arkona“ vor Kiaotschau und Viceadmiral von Diederichs ließ 600 Mann und 6 Geschütze landen. Die chinesische Besatzung der dort befindlichen Forts trat beim Anblick der deutschen Truppen den Rückzug an. So wurden dieselben ohne Blutvergießen eingenommen und an Stelle der chinesischen Flagge die deutsche [50] gehißt. Die deutsche Seemacht in den ostasiatischen Gewässern, zu der außer den genannten Schiffen noch der Kreuzer vierter Klasse „Kormoran“ gehört, wurde durch eine zweite Division verstärkt, die aus den Kreuzern „Deutschland“, „Kaiserin Augusta“ und „Gefion“ zusammengesetzt ist und unter dem Befehl des Prinzen Heinrich steht. Nachdem der Kreuzer „Kaiserin Augusta“ schon früher von Kreta aus seine Reise nach Kiaotschau angetreten hatte, verließ Prinz Heinrich am 16. Dezember mit den beiden übrigen Schiffen den Kieler Hafen. Inzwischen gelang es aber der deutschen Diplomatie, die Angelegenheit in friedlicher Weise zu regeln. Es kam in Peking ein Vertrag zu stande, durch den China die Kiaotschaubucht mit allen Hoheitsrechten für 99 Jahre pachtweise an Deutschland abgetreten hat. So wurde nicht allein für einen besseren Schutz der Missionen in Schantung gesorgt, sondern Deutschland gewann zugleich einen Stützpunkt für seinen Handel in Ostasien und eine Kohlenstation für seine Schiffe.

Landschaft im mittleren Schantung.

Kiaotschau mit seinem großen und sicheren Hafen wird sich unter deutschem Schutze gewiß zu einem blühenden Handelshafen entwickeln. Denn es ist günstiger gelegen als eine ganze Reihe der bisher dem europäischen Handelsverkehr in China geöffneten Häfen und besitzt auch ein reicheres, besser zugängliches Hinterland. War doch auch Hongkong vor einigen Jahrzehnten nur eine kleine Felseninsel ohne irgend welche Vegetation oder Kultur und nur von einigen hundert Fischern bewohnt. Im Jahre 1839 wurde es von den Engländern besetzt, und heute ist es die mächtigste Handelsmetropole des Ostens mit einer halben Million Einwohnern und einem Schiffs- und Warenverkehr, welcher mit jenen der bedeutendsren Häfen Europas wetteifert. Aehnlich war die Entwicklung von Shanghai; nördlich von diesem Handelsemporium des Yangtsestromes befinden sich noch drei offene Häfen auf chinesischem Gebiet: Tientsin, der Hafen von Peking, Niutschwang, der Hafen der Mandschurei, und Tschifu, der bisherige Hafen von Schantung. Wenn diese drei Häfen sich nicht in dem gleichen Maße entwickelt haben wie Shanghai, so hat dies seinen Grund in der weniger günstigen Lage in Bezug auf die Schiffahrt wie auch auf das Hinterland. Tschifu besonders liegt an der Nordspitze der weit in das Gelbe Meer vorspringenden Halbinsel von Schantung und ist mit dem Hinterlande nur durch einen elenden Karrenweg verbunden, so daß europäische Waren, welche für den westlichen Teil der Provinz Schantung bestimmt sind, großenteils nicht über Tschifu ihren Weg nehmen, sondern von Shanghai den Jangtsestrom aufwärts nach Tschingkiang und von dort auf dem großen Kaiserkanal, welcher den Westen von Schantung durchzieht, an ihre Bestimmung gesandt werden. Für den europäischen Handel mit Schantung und für die Ausfuhr der mannigfachen und ungemein wertvollen Naturprodukte dieser fruchtbaren und mineralreichen Provinz ist kein Hafen so günstig gelegen wie gerade der von Kiaotschau, so daß sich nicht nur der Verkehr über Tschingkiang, sondern auch jener des Hafens Tschifu voraussichtlich nach Kiaotschau ziehen wird.

Dorfstraße in Schantung.

Welche Wichtigkeit der Handel der Provinz Schantung mit der Zeit gewinnen wird, geht schon daraus hervor, daß Schantung bei einem Flächenraum von 140 000 Quadratkilometern, der also nicht viel größer ist als ganz Süddeutschland und die Reichslande zusammengenommen, mehr als die doppelte Bevölkerung dieses Gebietes besitzt. Während Süddeutschland mit Elsaß-Lothringen nur 12½ Millionen Einwohner zählt, hat die Provinz Schantung deren 30 Millionen und gehört somit zu den bevölkertsten Gebieten des Erdballs, an Dichtigkeit mit jener Belgiens vergleichbar. Auch in Bezug auf seine Lage ist Schantung dem europäischen Handel günstiger als die Mehrzahl der anderen Provinzen des chinesischen Riesenreiches. Denn während seine Osthälfte ganz vom Meere umschlossen ist, wird die Westhälfte von schiffbaren Flüssen sowie von dem schon genannten großen Kaiserkanal, einer der belebtesten und wichtigsten Wasserstraßen Chinas, durchzogen.

Die östliche, gebirgige Hälfte ist reich an mineralischen Produkten; in der Nähe der Stadt Wei oder Wei-sjang, die [51] seit altersher durch ihre Handelsbeziehungen berühmt ist, befinden sich ausgedehnte Steinkohlenlager, die großenteils zu Tage liegen und verhältnismäßig leicht ausgebeutet werden können. Von Kiaotschau sind diese Kohlenlager nur etwa 100 km entfernt. Wohl ist die weit ins Meer vorspringende Halbinsel, auf welcher beide Städte liegen, gebirgig, allein die Richtung dieser Gebirgszüge ist nordsüdlich, und zwischen ihnen befinden sich weite fruchtbare, reichbewässerte Thäler, von welchen eines von Kiaotschau direkt nördlich in die Kohlengebiete führt, an welche sich östlich bei Ping-tu wertvolle Eisen-, Blei- und Goldlager anschließen. In früheren Jahrhunderten, als Kiaotschau noch ein bedeutender Hafen war, führte denn auch, wie erwähnt, ein schiffbarer Kanal mit Benutzung der dortigen Flüsse, vor allem des Kiao-ho, quer durch die Halbinsel und verband das Gelbe Meer mit dem Golf von Petschili. Der Kanal ist heute wohl verfallen, kann aber ohne große Mittel wieder hergestellt werden.

In den weiten Thälern der Halbinsel, dann im ganzen Westen und Süden der Provinz ist der Ackerbau in hoher Blüte; Weizen, Bohnen, Reis, Hirse, Erdnüsse, Baumwolle, Tsutsao, eine Pflanze zur Gewinnung von rotem Farbstoff, bedecken weite Strecken, und aus dem Getreidestroh stellen die Bewohner von Schantung massenhaft Strohgeflechte her, welche einen wichtigen Ausfuhrartikel von mehreren Millionen im Wert bilden. Der mittlere Theil der Provinz besitzt einen hochbedeutenden Seidenbau; die Seidenraupen werden auf Maulbeeren aber auch auf Eichen gezogen, und die Einwohner senden nicht nur die Cocons und gesponnene Seide, sondern auch fertige Seidenstoffe hauptsächlich nach Peking; in den nördlichen Gebieten befinden sich ausgedehnte Mohnpflanzungen zur Erzeugung von Opium. Wandert man durch die Provinz Schantung, so erblickt man oft fruchtbare grüne Thäler, in welchen die Dörfer weilerartig zerstreut liegen und die Häuser von Obstbäumen umgeben sind. Die Berge, deren Spitzen häufig von Tempelbauten gekrönt sind, zeigen dagegen nur einen spärlichen Pflanzenwuchs, an ihren Hängen tritt fast überall der nackte Fels zum Vorschein. In größeren Dörfern sind die Häuser massiv gebaut und die Straßen breit und regelmäßig angelegt. Eine unserer Abbildungen Seite 50 zeigt eine Dorfstraße, die gerade durch einen Zug mit Waren beladener Maultiere belebt wird, während wir auf der obenstehenden Abbildung chinesische Feldarbeiter an einem Bewässerungskanal dargestellt sehen.

Die Bevölkerung von Schantung ist friedfertig, arbeitsam und mäßig, dabei ist der Menschenschlag kräftiger und größer als im Süden und Westen von China; wenn der Volksreichtum kein größerer ist, so hat dies seinen Grund weniger in der Bedrückung durch die Mandarine als in den klimatischen Verhältnissen. In manchen Jahren herrscht große Trockenheit, in anderen werden die Ernten durch anhaltende heftige Regengüsse zerstört, welche auch die Flüsse aus ihren Ufern treten lassen und verheerende Überschwemmungen verursachen.

Ein weiteres Hindernis der Entwicklung von Schantung ist die Abwesenheit von Verkehrsmitteln. Auf dem ganzen Gebiete von der Größe Süddeutschlands befindet sich nur eine einzige für Karren benutzbare Straße, jene, welche von Tschifu an der Nordseite der Halbinsel in westlicher Richtung über Wei-sjang nach Tsinan, der Provinz-Hauptstadt, führt. Auch diese Straße ist in der Nähe Tschifus für Karren nicht benutzbar, und so bewegt sich der ganze Warenverkehr der Provinz, wo nicht Schiffsstraßen vorhanden sind, auf elenden Saumpfaden. Die Waren werden auf Maultierrücken oder Schiebkarren verladen, aber trotz der dadurch entstehenden Langsamkeit und Verteuerung des Transportes treffen in Tschifu täglich Tausende von schwerbepackten Maultieren ein. Der Transport von Eisen oder Kohlen aus den nur 150 Kilometer von Tschifu entfernten Minen dorthin kostet ebensoviel wie von Tschifu nach Europa!

Daß sich unter solch elenden Verhältnissen der Handel und Reichtum der Provinz nicht besser entwickeln konnten, liegt auf der Hand, und das erste Erfordernis einer neuen Verwaltung würde es sein müssen, dem Eisenbahnenbau allen möglichen Vorschub zu leisten, zunächst Kiaotschau mit der Hauptstadt Tsinan durch einen Schienenstrang zu verbinden. Der Bau bietet bei den ungemein günstigen Bodenverhältnissen keine Schwierigkeiten und in Anbetracht der dichten Bevölkerung sowie der massenhaft vorhandenen Waren ist der finanzielle Erfolg wohl außer Zweifel. Schon heute besitzt Tschifu, das nur einen Teil des Warenverkehrs von Schantung in seinen Händen hat, eine Ausfuhr von etwa 36 Millionen Mark und eine Einfuhr von etwa 30 Millionen Mark Wert. Daran ist England mit etwa 50% beteiligt, hierauf folgt in erster Linie Deutschland mit 23%, China selbst mit 20% und die restlichen 7% entfallen hauptsächlich auf Rußland und Japan. Man sieht allein daraus schon, zu welcher Bedeutung Schantung für Deutschland werden kann.

In den nächsten Jahren wird sich die Thätigkeit hauptsächlich auf Kiaotschau selbst werfen; ebenso wie in allen anderen offenen Häfen Chinas wird wohl auch dort in der Nähe der Chinesenstadt an einem für den Warenverkehr günstigen Teil der Bucht eine europäische Niederlassung entstehen, in welcher voraussichtlich die Deutschen am zahlreichsten vertreten sein werden. Neben den Kohlenlagern, Reparaturwerkstätten und Docks für die Schiffe werden auch „Hongs“ und „Godauns“ (Warenlager) europäischer und chinesischer Kaufleute errichtet werden, und rings um diese werden sich gewiß auch Tausende fleißiger kräftiger Bewohner von Schantung auf der Suche nach Arbeit und Erwerb ansiedeln.

Es fehlt also keineswegs an Arbeitskräften, und dieser Umstand, verbunden mit der günstigen Lage und einem gesunden, gemäßigten Klima, wird den neuen deutschen Hafen in China gewiß bald einer bedeutenden Blüte zuführen. Wohl sind dort die Winter kälter, die Sommer wärmer als in Deutschland, allein dank der Nähe des Meeres sind die Temperaturübergänge keine plötzlichen; Kiaotschau liegt nur 500 Kilometer von Shanghai, dieser europäischen Großstadt in China, entfernt, ist also von Schnelldampfern in einem Tage zu erreichen. Von dort können sämtliche Bedürfnisse europäischer Ansiedler mit Leichtigkeit befriedigt werden, im Verhältnis gerade so wohlfeil wie in Europa. Ist einmal der Kanal durch die Halbinsel von Schantung hergestellt, so wird sich gewiß ein Teil des großen Schiffs- und Tschunkenverkehrs zwischen dem Süden und Peking über Kiaotschau wenden und dadurch zu einer neuen Quelle des Erwerbs werden. Deutschland kann sich also zu seiner ersten Erwerbung in Ostasien mit Recht beglückwünschen.


[52]

Allerlei alte Biere.

Wer eifrig alte Chroniken studiert, wird oftmals in Staunen darüber versetzt, daß man im Mittelalter Wein selbst in Gegenden baute, in welchen auch in normalen Jahren die Beeren so hart wie Flintenkugeln geblieben sein dürften. In ganz Norddeutschland wurde der Weinbau betrieben und selbst der Wein der Stadt Thorn in Westpreußen erfreute sich einst großen weitverbreiteten Rufes. Man darf nun aber nicht glauben, daß die Trinker diese Sauerampfer mit Todesverachtung hinter die Binde gegossen haben; sie wußten sich zu helfen. Sie mischten dem sauren Weine Honig bei, um ihn süß und genießbar zu machen, und setzten ihn mit Gewürzen und Spezereien aller Art, mit würzigen Kräutern und aromatischen Früchten an, um seinen Wohlgeschmack zu erhöhen. Und ein solch zurechtgemachtes Getränk ließen sich die mittelalterlichen Trinker ebensogut schmecken wie wir uns eine Bowle, bei welcher auch ein geringer Wein zu Ehren kommt.

Aehnlich, wenn auch nicht ganz so, verfuhr man in früheren Jahrhunderten mit den Bieren. Diese waren auch nicht immer gut und ließen oft zu wünschen übrig, was von den „Bierkiesern“ schmerzlichst empfunden wurde. Da half man sich nun ebenso wie man sich bei dem sauren Wein geholfen hatte. Roch ein Bier unangenehm nach dem Fasse, so wurden Reinfarnkraut, Wacholderbeeren, Heiligengeistswurzel, rote Benediktenwurzel und drei frische Eier in das Faß gehängt oder gelegt: „es half“. Um das Sauerwerden des Bieres zu verhindern, hing man Lindenblätter, Nußblätter, Beifuß und Wermut in dasselbe. Damit ein Bier lieblich zu trinken sei, wurde empfohlen, ein halbes Pfund der schon erwähnten roten Benediktenwurzel mit wildem Salbei darein zu hängen; lieblicher Geruch und Geschmack wurden ihm durch ein Säcklein Violwurz oder gestoßene Gewürznelken und gedörrte zerschnittene Lorbeern verliehen. „Ein schmackhaft und männlich Bier“ ward gewonnen durch Beisetzung von Hartenhayn, im Mai gesammelt. Füllte man ein Faß, in welchem vorher Beerwein gewesen, mit Bier, so bekam dies einen Weingeschmack „und ward schön lauter und gar zu gut zu trinken“.

Diese Biere wurden also verbessert, um sie genießbarer zu machen. Aber man machte auch aus guten Bieren Kräuterbiere aller Art, die dann den doppelten Zweck hatten, den Durst zu stillen und den ans Bier gewohnten Trinkern, die mit irgend einer Krankheit belastet waren, gleichzeitig als Arznei zu dienen.

Sehr stattlich war die Reihe dieser Kräuterbiere. Das Rosmarinbier sollte alle vornehmsten Glieder des Körpers, „das Herz, Gehirn und die Geister“, stärken und kräftigen, gegen Verstopfung helfen, Appetit erregen und war „ausbündig gut den Melancholicis“. Letzteren wurde auch Hirschzungenbier empfohlen, das auch jenen, die an der Milz litten oder das Quartanfieber hatten, trefflich gut sein sollte. Das Scordienbier half wider Kolik, Grimmen, Lungen- und Lebergebrechen und kalten Magen. Das Lavendelbier stärkte Haupt, Rückgrat und Nerven. Es wird auch bezeichnet als „ein köstlich Ding wider den Schlag, schwere Gebrechen, Gicht und Lähme“. Melissenbier sollte aus traurigen melancholischen Menschen fröhliche Leute machen, das Herz und die lebendigen Geister stärken, den Frauen sehr gesund und nützlich sein. Auch das Nelkenbier stärkte das Herz, das Gehirn, alle Glieder und den Magen und galt als „gut vor alle kalten Krankheiten des Haupts“. Es scheint, daß alle Kräuter, welche das Volk zu Arzneien gebrauchte, auch zum Würzen der Biere verwendet wurden. Es gab dann auch noch Biere, die nicht mit einem einzigen, sondern mit einer Anzahl von Kräutern angesetzt wurden; von diesen sollte man meistens morgens und abends einen starken warmen Trunk thun.

Einige Biere, die mit nicht weniger als zehn Kräutern präpariert waren, sollten vorzüglich gegen innerliche Wunden sein. Sollte einer seinen Magen „mit Wassertrinken verletzt“ haben, so wurden ihm gestoßene Zimmetrinden in warmem Bier empfohlen. „Wer des Tages weit gereiset und sich sehr übergangen hätte, der wasche die Schenkel mit warmem Bier, das ziehet die Müdigkeit alle aus, nicht allein den Menschen, sondern auch den Pferden“ etc. Es brauchte einer daher nur zur richtigen Zeit die verschiedenen Biere anzuwenden, und er war von allen Leiden befreit.

Nach der Meinung der Alten waren viele Biersorten schon in gewöhnlichem Zustande ohne jede Kräuterzuthat der Gesundheit des Menschen sehr förderlich. Dem seiner Zeit weitberühmten Hamburger Bier wurde nachgesagt, daß es wohl nähre, gut Geblüt mache und „eine schöne subtile glatte Haut“ dem bringe, der sich öfters damit wasche. Es diente also auch als kosmetisches Mittel! Aber nur bei äußerlichem Gebrauche. Denn dem, der zuviel desselben genoß, brachte es „ein kupfern Gesicht“. Auch das Goslarische Bier nährte, wärmte und brachte gut Geblüt; im Alter schmeckte es wie Wein. Man machte gar gute gesunde Suppen davon, die wie Weinsuppen schmeckten. „Wann Einer das Fieber hat, so ist demselbigen Menschen kein Bier lieber und angenehmer, ja auch gesunder als das Eimbeckische Bier.“ Das Brandenburger Bier machte faule, schläfrige Leute, woher es seinen Namen „der alte Claus“ haben sollte – „ist aber sonsten ein gut Bier“. Das Spandauer Bier machte ruhig und sanft schlafen, das Boytzenburger aber machte toll im Kopf und hieß daher „Bit den Kerl“, d. h. „Beiß den Kerl“. Das Danziger Bier ward die Königin aller Gerstenbiere genannt wegen seiner Stärke, seines guten Geschmacks, seines Temperaments etc. Dem Breslauer Bier oder Schöps wurde große Nahrhaftigkeit nachgesagt; es machte die Leute dick und fett. Das Naumburger Bier wird als besonders zu Kräuterbieren verwendbar gerühmt. Das Zerbster Bier war ob seiner Güte hoch gepriesen und namentlich bei Edelleuten und Studenten sehr beliebt:

„Zerbster Bier und Rheinischer Wein,
Darbei wollen wir lustig sein.“

Dem Biere beinahe jedes einzelnen Ortes wurden besondere Eigenschaften zugeschrieben, die auch Veranlassung zu besonderen, oft recht drastischen Namen derselben gaben. Das Wittenberger Bier hieß z. B. „Kuckuck“, das Wernigeroder „Lumpenbier“, das der Stadt Halle a. S. „Puff“, das Kyritzer hatte den bedenklichen Namen „Mord und Totschlag“, der später in den erfreulicheren „Fried und Einigkeit“ umgewandelt wurde etc. Da die Deutschen es für nötig hielten, bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zu trinken, so erhielt das Bier auch hiervon mancherlei Benennungen; es ward Pfingst-, Ernte-, Hochzeits- und Kindtaufsbier, Meister- und Gesellenbier, auch Kirchweihbier genannt. Manche dieser Biere kennt auch die Gegenwart, doch steht namentlich das letztere nicht in bestem Rufe. Um dieses trinkbarer und zuträglicher zu machen, soll noch vor einem halben Säculum von den Gästen in das Bier eine Muskatnuß gerieben worden sein, die der ehrbare Bürger mitsamt dem Reibeisen mit in die Kneipe nahm, um hier den letzten Ausläufer der sogenannten Kräuterbiere herzustellen. Hans Bösch.     


Ein Sommernachtstraum.

Novelle von Arthur Servett.

     (Schluß.)

6.

Vor Rupert und seiner Begleiterin lag die Schloßruine in jener melancholischen und zugleich erhebenden Größe, die nie so ergreifend wirkt wie in der feiernden Stimmung des Sommerabends. Grünende Wälder umrauschten sie, eilende Wolken zogen über sie dahin, der scheidende Tag umfing sie mit seinem dämmernden Licht, und verjüngt von seinem rosigen Schein, glühte sie hinunter von ihrer einsamen Höhe ins ferne Thal.

Welch ein hehrer Zeuge der Geschichte von über sechshundert Jahren! Zerrissen von Stürmen und Wettern, zerklüftet, verwundet, vernarbt überall. Aber lebendiger Epheu grünte an den klaffenden Wunden empor und deckte die Narben wie unsterblicher Lorbeer. Und wie ein tausendfaches Diadem senkte die leuchtende Sonne ihre Abendstrahlen auf ihr Haupt und hüllte ihre unsterbliche Schöne in ein Siegerkleid von Purpur und Gold.

Das Fräulein stand wie in tiefe Andacht versunken. Ihre Hände waren gefaltet, sie wagte kaum den Fuß vorwärts zu setzen, endlich folgte sie Rupert, der langsam vorangeschritten war.

Sie machten einen kurzen Rundgang durch das Schloß. Vieles von den seltenen Schönheiten des Stiles und der Ornamentik entzog ihnen die zunehmende Dämmerung, vieles zeigte sie ihnen um so schöner, besonders da, wo die letzten Sonnenstrahlen die Gegenstände voll noch trafen und nun der Gegensatz in den Farben der grauen Körper der Statuen und des roten Sandsteines der Fassade zu jener Wirkung gelangte, die in ihrer satten Stimmung nur das Abendlicht hervorzubringen vermag.

Sie stiegen hinunter zum großen Faß und Rupert erzählte seiner Gefährtin all die Märchen und Sagen vom Zwerg Perkeo; sie schauten empor zu dem gesprengten Turm, aus dessen Ritzen versöhnende Blumen sprossen, auf dessen Plattform Bäume ragen; sie blickten hinab in den Burggraben, wo einst die Löwen lustwandelten, welche die Kurfürsten ihrem Wappen zu Liebe zähmten und hegten, und wo jetzt Hunderte von gefiederten Sängern ihre Sommerresidenz aufgeschlagen hatten und ihre weichen süßen Schlaflieder empor zum Abendhimmel sandten.

Dem Fräulein war das alles wie ein Traum, als wäre die Ruine ein Zauberschloß, in das sie gebannt, und sie eine Prinzessin aus alten Zeiten, als wandele sie mit ihrem Ritter durch seine stillen Räume. Und die Löwen traten an sie heran und schmiegten sich an ihren Schoß, und sie streichelte ihre Mähnen, und sie nahmen das Futter aus ihrer Hand und legten sich wedelnd vor ihr nieder. Und die Bäume rauschten darüber hin, und die Vögel sangen dazu.

„Wie schön ist es hier!“ Sie sagte es leise zu sich selber, gleich als fürchtete sie, daß ein lautes Wort den Traum und sein holdes Glück zerstören möchte.

[53]

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0053.jpg

Wintermorgen im Walde.
Nach einer Originalzeichnung von A. Mailick.


Aber Rupert hatte es gehört. „Sie bedauern also nicht, daß Sie auf diese Weise Heidelberg kennenlernen?“

„Nein“ erwiderte sie, und ihre weiche Stimme bebte. „Ich habe so vieles gesehen auf dieser Reise, so Herrliches und Großes, daß ich meinte, etwas Aehnliches könne es auf der ganzen Welt nicht geben. Aber wunderbar – ich weiß nicht, wie es kommt – mir ist, als habe ich die Welt noch nie so schön gesehen!“

„Wie mich das freut!“ erwiderte Rupert mit leuchtenden Augen und schaute ihr mit einem vollen Blick ins Antlitz. „Sehen Sie, auch ich habe viel kennengelernt und habe die Welt nirgends so schön gefunden wie hier in Heidelberg. Es liegt ein einziger Zauber über dieser Natur und dieser Stadt. Ich weiß nicht, was es ist und woher es eigentlich kommt, aber eins weiß ich: ich bin nie so glücklich gewesen wie das eine Jahr, da ich hier in Heidelberg studierte.“ Er war plötzlich sehr ernst geworden. Ein nachdenklicher, fast finsterer Zug legte sich auf sein Antlitz, seine Augen suchten den Boden. Auch das Fräulein sprach kein Wort.

Vom weichen Schimmer des Abends umfangen, lag unter ihnen die Stadt – in der Ferne glühte der majestätische Dom im letzten Lichte der sinkenden Sonne, die mit feurigem Rot den Himmel säumte. Dort unten aber rauschten die grünen Fluten des Neckars, so langsam, so träumerisch träge, gleich als fürchteten sie, der Pracht dieses Sommerabends zu schnell zu enteilen.

„Woher das kommt?“ fuhr Rupert langsam fort. „Ich weiß es wieder nicht. Besondere Gründe habe ich jedenfalls nicht dafür. Aber sehen Sie, gnädiges Fräulein – ich weiß zwar nicht, ob Sie mich verstehen werden – ich habe nie wieder so gefühlt, nie wieder innerlich so gelebt wie hier in Heidelberg. Ich möchte sagen: ich bin nie wieder frei gewesen! Es mag die Gegend machen, deren heiterer Charakter auf den Menschen wirkt, die frische rheinländische Daseinslust dieser Pfälzer, die das Leben leicht und sicher auf die elastischen Schultern nimmt, sich nicht von ihm drücken und knechten läßt aller Orten, sondern es mit sich fortträgt in reißendem Schwunge. Der ursprüngliche Zug zur Natur mag es sein, den die Gesellschaft da draußen so bald unter die Füße tritt. Aber was es auch sei: heute, wo ich diese Luft wieder atme, die ich so lange entbehrt, heute erhebt sich vor mir jenes unvergeßliche Jahr in all seiner Schöne, als wolle es noch einmal wiederkehren! Und nicht wahr,“ setzte er leise hinzu, und sein Auge suchte das ihre, „Sie können das verstehen, denn auch Sie – Sie fühlen in diesem Augenblick ein lange nicht gekanntes Glück.“

Ein lange nicht gekanntes Glück! Wie das in ihr widerhallte, welche Gedanken in ihr wach wurden! War sie denn sonst nicht glücklich, hatte sie je entbehrt, was sie nicht hatte?!

Sie wollte ihm ihre Empfindungen verbergen. „Ein Jahr haben Sie in Heidelberg studiert?“ fragte sie schnell, um etwas zu sagen.

„Ein Jahr – aber wie ungezählte Male bin ich in dem einen Jahre durch diese Berge gestreift, das Herz so leicht und so frei, so aufgelegt zu allem Hoffen und Wagen – bis zum Uebermut! O diese Pedanten, die da mit hochweisem Wort den Stab brechen über die kleinen, ihnen lächerlich erscheinenden Auswüchse des Heidelberger Studentenlebens! Wenn sie es ahnten, daß gerade in dieser schrankenlosen Ungebundenheit, die meinetwegen zu tollen Streichen sich versteigen mag, in diesem fröhlich sichern Zutrauen zu sich selber die Wurzel liegt zur wahren Freiheit, zu jenem frischen Gefühl der Schaffenskraft, das sie freilich schnell genug ertöten! Aber,“ unterbrach er sich plötzlich selber, „zu wem sage ich das alles? Sie werden mich auslachen mit meinen Phantasien. Geben sie die Schuld diesem Abend, diesem Ort!“

Aber sie lachte gar nicht. Um ihre Lippen lag wieder der sinnende Ernst, ihre Augen schweiften nachdenklich in die weite Ferne. „Gewiß,“ sagte sie endlich, „wenn Sie mir dasselbe noch vor wenigen Stunden im Eisenbahncoupé gesagt hätten, ich hätte kein Wort von alledem verstanden, hätte Sie für einen Träumer oder Phantasten gehalten. Aber, Sie haben recht. Dieser Abend muß es machen, dieser Ort! Dies alles, was ich heute sehe und erlebe, ist mir wie ein Traum. Und in diesem Traume taucht mit einem Male das Leben auf, das ich bis jetzt geführt. O, mein Gott, dies Leben, das ich bis heute so wunderschön gefunden mit all seinen glänzenden Festen und Gesellschaften, seinen Toilettensorgen und Freuden und das mir im Anblick dieser feiernden Natur mit einem Male, ich weiß nicht wie, armselig und nichtig erscheint! Ich wollte das gar nicht aussprechen, es erschien mir so unrecht, so undankbar, da regen Sie in mir Gedanken an, die ich vielleicht doch besser verstehe – als Sie glauben!“

„Ja, ja,“ rief er schnell. „Sie haben mich verstanden! [54] Und so verstehen Sie vielleicht auch, wie einem zu Mute ist, der hier sich jung und frei fühlte und dann die besten Jahre seines Lebens in der Vollkraft seines Schaffens nutzlos vertrauern muß? In seinem Berufe aufgehen – in ihm wirken wollen mit der ganzen ungeteilten Kraft, das Bewußtsein in sich tragen, daß man auch wirken kann – und immer überflüssig sein, immer noch nicht alt genug, um ein Amt zu erhalten, das dem Leben Zweck giebt, immer hingehalten, immer vertröstet und zu unfreiwilligem Feiern verurteilt sein – glauben Sie mir, das ist ein vernichtendes Los!“

„Sie wirken doch an einem Gymnasium?“

„Gewiß. Aber der Direktor, unter dem ich stehe, ist alt, er haßt jede Neuerung. Die täglichen mechanischen Uebungen, die ewige Monotonie von Semester zu Semester – und dazu alle die Kleinlichkeiten und Sorgen, die gerade dem Lehrerstand erspart bleiben sollten und unter denen er am meisten leidet, die haben den Mann müde gemacht. Und ich? Ich, der ich als überzähliger Lehrer keine Rechte habe und kaum eine Pflicht, der ich eigentlich nur geduldet bin? Nun, ich habe mich zu fügen, habe hübsch artig nach der Schablone mitzuarbeiten! Aber wenn ich dann diese Jungen sehe, diese strammen, blühenden, kraftstrotzenden Jungen mit all ihrem Lebensmut und ihrer Lebensfrische, und ich soll sie strafen nach dem vorgeschriebenen Schema, strafen vielleicht für einen Streich, für den ich sie küssen möchte, dann blute ich unter dem Zwang, in den man mich so früh gesteckt, dann rüttle ich und schüttle an meinen Fesseln, nur um zu fühlen, wie fest sie sind und unlösbar!“

„Unlösbar – das wäre entsetzlich,“ fiel sie ihm ins Wort.

„Es ist so tragisch nicht. Man gewöhnt sich an sie. Sie drücken nicht mehr. Man nimmt sie hin als etwas Selbstverständliches, das zum Leben gehört. ,Die Bande, die erst von Eisen, werden Rosenketten!‘ Das liegt so in der menschlichen Natur. Nur in der Jugend, wenn man noch recht kräftig will und kann, bäumt man sich gegen sie auf – so thöricht wie ich!“

„Und da gäbe es keinen Ausweg?“

„Ich könnte Docent werden. Ja, das war mein Jugendtraum, den ich nie so schön geträumt habe als hier in Heidelberg zu den Füßen bedeutender Lehrer, da die Welt noch vor mir lag so schön, so verheißungsvoll. Aber später wurde es anders. Ich trat in den praktischen Lehrberuf ein. Ich lernte ihn lieben, bis mir diese Jahre des Harrens und Wartens seine Schattenseiten allzu sichtbar zeigten. Und die Universitätscarriere kostet Geld, viel Geld! Das habe ich nicht. Es ist mir schwer genug geworden, mich zu der Stelle eines Probekandidaten durchzukämpfen. Und wenn ich nicht von den Privatstunden, die ich zurückgebliebenen Kindern erteile, und von schriftstellerischen Arbeiten für einige Fachjournale leidliche Einnahmen hätte –“

Er hielt erschreckt inne. Wie kam er, der sonst so Verschlossene, dazu, einer Dame, die er vor einigen Stunden kennengelernt, sein innerstes Herz zu enthüllen, wie kam diese Dame dazu, seine Offenbarungen mit einem Interesse zu verfolgen, die aus jeder Bewegung, jedem Zuge ihres Gesichts zu ihm sprach!?

„Nein,“ sagte sie nach einer kurzen Pause, „ich kann das nicht alles zugeben, was Sie da sagen. Ich wüßte mir in ähnlicher Lage vielleicht noch weniger einen Rat, aber eins wüßte ich: wenn ich ein Mann wäre und vor mir läge die Welt so groß, so lebenswert und ich fühlte mich beengt und gedrückt in Fesseln, die mir wehrten, zu wollen und zu handeln wie es meiner Natur, meinem innersten Leben gemäß, dann hätte ich auch den Mut und die Kraft – glauben Sie mir! – sie zu sprengen und frei und neugeboren hineinzuwandern in die neue Welt!“

Sie hatte mit fliegendem Atem gesprochen, ihr großes leuchtendes Auge hing an seinem ernsten Antlitz, als wollte sie ihn wachrufen zu neuem Wollen und Wagen.

Er aber schüttelte nur den Kopf und lächelte – ein eigentümliches Lächeln, halb freudig bewegt, halb schwermütig resigniert. „Gewiß,“ sagte er langsam, wie jedes Wort wägend. „Es giebt Fesseln, die man mit Kraft und Mut sprengen könnte, wenn man Simsonsstärke in sich fühlt. – Aber es giebt andere Fesseln. Wir leben doch nicht für uns allein. Wer von uns hätte das Recht, für sich zu wollen, für sich zu handeln? Gesetzt, Sie lebten heute in Verhältnissen, die Ihnen unerträglich wären, würden Sie sie verlassen, auch wenn Sie zugleich mit ihnen das Herz Ihres Vaters brächen? Würden Sie dann noch den Mut und die Kraft dazu besitzen?“

Sie senkte das Auge bestürzt zur Erde, sie antwortete nichts.

„Es giebt Fesseln, die kein Simson sprengen kann – heilige Fesseln, in denen wir haften mit unserem ganzen Sein, mögen sie auch unserem rücksichtslosen Wollen und Wünschen drückend erscheinen. Freilich kommen Augenblicke, da meinen wir, wir könnten, wir müßten sie sprengen! Und wenn wir’s thäten – wir würden aufatmen, glückselig uns fühlen, wie neu geboren – ja, wir würden die Wunden vergessen, die ihre Sprengung uns verursachte. Aber das wäre alles nur für Augenblicke. Zuletzt würden wir an diesen Wunden verbluten – rettungslos – und uns geschähe recht!“ So ernst hatte er gesprochen, ein so heiliger Eifer durchglühte sein Antlitz. Sie erkannte den Mann nicht wieder, mit dem sie in der Eisenbahn zusammen gefahren, der sich nicht genug hatte thun können in allerlei Scherzen und Späßen.

Er schien zu erwarten, daß sie ihm entgegne. Aber sie verharrte in sinnendem Schweigen.

„Wissen Sie übrigens,“ fuhr er in etwas schnellerer Rede fort, „daß ich dasselbe gedacht, was Sie vorhin aussprachen?! Angesichts dieses alten Schlosses, in dieser Luft, in der ich so frei und glücklich geatmet, stürmte es auf mich ein mit unwiderstehlicher Gewalt: Was hindert dich, frei zu sein und ungebunden wie einst?! Wirf den Zwang von dir und die Bande, die da draußen dich halten!

Aber sehen Sie, das sind Träume! Jene Sommernachtsträume, die wir im Ernste des Lebens und unter dem Drucke alltäglicher Pflichten so gern träumen, am liebsten dann, wenn die Natur in ihrer feiernden Größe und Schöne zu uns spricht und uns die ganze Seele löst. Dann fühlen wir uns so gehoben, so wagemutig, als gäbe es keine Macht mehr in der Welt, die uns widerstehen könnte. Dann verwandelt unser Träumen Unmöglichkeiten zu Wirklichkeiten. Und sehen Sie – giebt es einen schöneren Sommernachtstraum als diesen hier?!“ Er wies auf das Bild, das vor ihnen lag.


7.

Auf leisen Schwingen war die Nacht herangekommen – sie hatten es nicht gemerkt. Ueber der Landschaft, die bis in die bergige Ferne sich ausbreitete, war der Mond emporgestiegen, ihre ungemessene Weite mit seinem weichen Lichte umfangend, ihre Reize mit seinem Zauber verklärend. Mit leisem Silberschauer schwamm sein Wiederschein auf den Fluten des laut rauschenden Neckars, strahlte er zurück von den träumenden Hügeln.

So klar lag die Welt vor ihnen, so tief und unergründlich zugleich unter dem himmelhohen Sterngezelt. Und so nachdenklich schaute das alte Schloß hinunter ins weite Thal, im Zauber seiner Majestät, den es in seinen glorreichsten Zeiten nie so ausgeübt hatte wie nun seine Ruine in der einsamen Mondesnacht. Wie ein Märchen aus längst vergangener Zeit war das alles.

Und an diesem Bilde hing das Auge des Fräuleins wie gebannt von seiner magischen Gewalt, und der Glanz in diesem Auge wurde feuchter und feuchter, und die kleine Hand, die zu ihm langsam emporgriff, zitterte merkbar.

„Giebt es einen schöneren Sommernachtstraum als diesen hier?“ wiederholte Rupert, ihrem Blick begegnend.

„Ja,“ sagte sie leise, „ein Traum wie dieser ganze Nachmittag, diese ganze, seltsame Reise –“

„Und in solch einem Sommernachtstraum,“ fiel er ihr ins Wort und machte einen Versuch, in den alten scherzhaften Ton zurückzufallen, „da treiben die bösen Geister mit den ehrsamen Menschen ihr Spiel, da erhebt sich aus den Tiefen des Neckars der Kobold Puck, und von den Hügeln und Wiesen tanzen die Elfen herbei, und aus dem Fasse da unten steigt Perkeo hervor, der tückische, und in unsichtbaren Händen trägt er den feurigen Schloßwein. Und ohne daß man es weiß, hat man ihn getrunken, und dann erwachen seltsame, wunderliche Ideen und brausen und gären einem durch den Kopf. wie so alles anders sein müßte und könnte und wie schön und herrlich es dann auf dieser Welt wäre! Doch wenn man erwacht aus dem süßen Rausch, dann ist alles geblieben wie es war und das Ganze war nichts als ein schöner Traum.“

„Nein,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „nichts anderes, es ist eben zu schön, es kann nichts anderes sein.“

„Und so traurig einen auch manchmal das Erwachen ankommt, wir wollen ihnen danken, den freundlichen Geistern, die in des Lebens Einerlei uns dann und wann diese Träume [55] bescheren. Wer wollte ohne sie leben?! Ich keinen Augenblick! Und Sie – seien Sie offen in dieser schönen Stunde: wenn jetzt solch ein kleiner Geist dort aus den Büschen zu Ihnen träte und sagte: ‚Ich bin der Geist des Cognacs. Ich habe mich in Basel versteckt, als du mich suchtest. Ich habe deinen Papa aus dem Coupé herausgelockt und ihn an den Rockschößen festgehalten, als er wieder einsteigen wollte. Ich habe dich mit dem fremden Manne in die weite Welt geschickt‘ – würden Sie ihm zürnen, dem kleinen Geiste, könnten Sie ihm böse sein?“

„Nein – nein,“ erwiderte sie sehr schnell. Aber als er die Hand nach ihr ausstreckte, da trat sie einen Schritt zurück und hob wie abwehrend beide Hände ihm entgegen.

„Und wenn wir morgen beide auseinander gehen und wir uns dann nie wieder sehen – niemals mehr, werden Sie es bedauern, diese Fahrt mit mir nach Heidelberg gemacht zu haben?“

Sie antwortete nicht, aber über ihrem bleichen Antlitz lag ein weicher Schimmer, der deutlicher zu ihm sprach als Worte es je vermocht.

„Ja,“ fuhr er fort, und so sehr er die Stimme auch dämpfte, die leidenschaftliche Erregung, die durch jedes Wort bebte, vermochte er nicht zu verhüllen, „wenn wir morgen aus diesem Traum erwachen und reichen uns die Hände und gehen beide unserer Wege, wie wir gekommen sind – eins nehme ich mit mir, das wird mir folgen in alle Arbeit, in alle Mühe meines Lebens, und auch – in alle Verzagtheit. Das ist die Erinnerung an diese Nacht, an dieses Schloß – und an Sie! – Und Sie?!“ fuhr er fort, und das zuckende Lächeln, das um seine Lippen spielte, verriet seine Bewegtheit mehr, als daß es sie verdeckte – „nun, Sie gehen zurück in das gewohnte Leben. Die glänzenden Feste, die Liebe Ihres Vaters, die Aufmerksamkeit und Verehrung Ihrer Umgebung werden Sie diese Stunde, diesen treuen Gefährten bald vergessen lassen. Aber manchmal, wenn sich in all das rauschende Leben doch ein klein wenig Langeweile, so eine leise Spur von Enttäuschung oder Ueberdruß stehlen wird, oder des Abends, wenn Sie einmal allein sind und Ihr Auge am sternenfunkelnden Himmel weilt, dann wird sie emportauchen, diese einsame Mondesnacht, und zu Ihnen herübergrüßen wird das alte Schloß von seinem grünen Berge. Und das Bild wird dann zu Ihnen sprechen und Sie mahnen und locken wie – nun, wie ein kurzer Sommernachtstraum, den Sie geträumt in einer stillen Nacht, als Ihr Schicksal Sie nach Heidelberg verschlug.“

Sie lächelte unter Thränen. Sie wollte etwas erwidern – da mit einem Male wie aus geheimnisvoller Tiefe steigend, empor vom dunkelnden Neckar und näher und näher kommend, klang es durch die stille Nacht:

0„Alt Heidelberg, du feine,
Du Stadt, an Ehren reich,
Am Neckar und am Rheine
Kein’ andre kommt dir gleich.
0Stadt fröhlicher Gesellen,
An Weisheit schwer und Wein,
Klar ziehn des Stromes Wellen,
Blauäuglein blitzen drein.“

Waren es die Geister, die da unten in der Tiefe sangen? Immer berückender wurde der Zauber, immer schöner die Nacht.

Er war einen Schritt näher an sie herangetreten, ihre Arme berührten sich, ein jähes Erröten flammte durch ihr Antlitz, ein leiser Schauer flog über ihren Leib. Sie wehrte ihm ihre Hand nicht mehr, als er suchend die seine nach ihr ausstreckte.

Ihre Augen ruhten eine Weile ineinander. Ein stilles Glück leuchtete aus ihnen und der Schimmer einer unaussprechlichen Sehnsucht wie der Abglanz der unergründlichen Nacht dort unter ihnen, aus der es emporklang:

0„Und kommt aus lindem Süden
Der Frühling übers Land,
So webt er dir aus Blüten
Ein schimmernd Brautgewand.
0Auch mir stehst du geschrieben
Ins Herz gleich einer Braut,
Es klingt wie junges Lieben
Dein Name mir so traut!“

Noch immer standen die beiden Hand in Hand – noch immer ruhten ihre Augen ineinander. Mit einem Male beugte sich Rupert schnell zu ihr herab, sein heißer Atem berührte ihre Wange. Da riß sich das Fräulein gewaltsam los.

„Wir müssen gehen,“ sagte sie sehr rasch, „es ist tiefe Nacht. Wenn man uns allein hier sähe!“

„Wir sind auf Reisen,“ scherzte er, „da kennt keiner den andern, da ist man einmal frei.“

„Nein!“ erwiderte sie kurz und entschlossen, „es ist die höchste Zeit – der Traum ist zu Ende.“

Eine graue Wolke huschte über den leuchtenden Mond und deckte ihn eine Weile. Der helle Schimmer erblaßte, das Silber des Neckars erbleichte. Die Schloßruine schaute mit einem Male so ernst, so nachdenklich hinunter ins dunkelnde Thal.

„Ja!“ wiederholte Rupert, „ich glaube beinahe, Sie haben recht. Der kurze Traum ist zu Ende. Ich werde bald in meiner Schule erwachen, meinen Jungen Exercitien diktieren – und Sie –

0„Und stechen mich die Dornen
Und wird mir’s draus zu kahl,
Geb’ ich dem Roß die Spornen
Und reit’ ins Neckarthal“

klang es ganz nahe mit vollen kräftigen Accorden an ihre Ohren.

Ein Trupp buntbemützter Studenten zog in den Schloßgarten, dicht an ihnen vorüber. Neugierige Blicke spähten nach dem Fräulein, halblaute Bemerkungen drangen an ihr Ohr.

„Kommen Sie,“ sagte sie und trieb ihren Begleiter zu größerer Eile. – – –

In tiefem Schweigen waren sie ihren Weg gegangen. Sie hatten dabei nicht gemerkt, wie die Zeit verrann. Beide sahen erstaunt auf, als sie sich plötzlich vor dem vornehmen Portal des in elektrischer Beleuchtung strahlenden Hotels befanden. Der Oberkellner empfing sie und machte ihnen die Honneurs. Sie waren so in ihre Gedanken vertieft, daß sie wenig von seinen Bemühungen merkten. An der großen Treppe reichte das Fräulein Rupert die Hand, ihm Gute Nacht zu wünschen.

„Nein!“ rief er, „so dürfen wir uns nicht trennen – so nicht. Morgen kommt Ihr Herr Vater, und der entführt Sie mir und Heidelberg in aller Frühe. Wir sehen uns vielleicht nie wieder und“ – setzte er sehr ernst hinzu – „ich habe Ihnen noch viel zu sagen. Sie müssen mir eine Bitte erfüllen. Wollen Sie? Nein, Sie müssen bedingungslos Ja sagen!“

Einen Augenblick schaute sie zweifelnd in sein Antlitz. „Nun denn – Ja!“

„Ich danke Ihnen. Also: Sie kürzen morgen den gewohnten Schlaf um ein kostbares Stündchen! Wir gehen dann noch einmal da oben hinauf und besehen das Schloß im Morgensonnenschein. Sie haben heute in der Abendbeleuchtung zu wenig von ihm gesehen – und wer weiß, wann Sie wieder nach Heidelberg kommen? Wollen Sie?“

„Ich habe es ja versprochen – gewiß will ich!“ erwiderte sie lachend und reichte ihm noch einmal die Hand.

„Gute Nacht,“ sagte sie dabei mit leiser inniger Stimme.

„Auf Wiedersehen,“ sagte er ebenso leise.


8.

Sie war in ihr Zimmer getreten. Durch die weit geöffneten Fenster drang ein erfrischender Luftzug in die warmen Räume, aus der Ferne vernahm sie das Rauschen des Neckars. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus in die weithin glänzende Nacht, empor zu dem Schlosse, das jetzt, vom weichen Mondlicht wieder voll umgossen, hinausdämmerte ins ferne Thal.

Dort oben hatte sie eben gestanden. Dort hatte jemand Worte zu ihr gesprochen, wie sie solche nie gehört zu haben vermeinte, dort war eine neue Welt vor ihren Augen aufgegangen, eine Welt, in die sie zagend und sehnend zugleich zum erstenmal den Blick gerichtet. Und vor ihrem Geiste stand die alte, in der sie bis jetzt gelebt, in der sie glücklich gewesen bis heute. An ihren Augen vorüber zogen all die Menschen, mit denen das Leben sie in Berührung gebracht – so mancher Mann, den ihr Vater hochgeschätzt, den seine Kameraden priesen wegen seiner Vorzüge und den die Damen verhätschelten. Er hatte sie bevorzugt vor den andern allen, er hatte ihr gedient in unentwegter Ritterlichkeit und Treue, er hatte still und verschlossen um ihre Liebe gefleht so manches Mal.

Und sie war immer dieselbe geblieben, kalt und ungerührt, [56] und nicht die leiseste Regung ihres Herzens sprach mehr für ihn als für die andern alle. Und heute?!

Heute fühlte sie mit einem Male ihr thörichtes Herz aufwallen wie nie in ihrem Leben, heute war in ihr eine Sehnsucht erwacht, von der sie nie eine Ahnung gehabt.

Lag es an dieser abenteuerlichen Reise, dieser Gegend mit all ihren Reizen, dieser wunderbaren Nacht – oder lag es an dem fremden Manne, den sie hier zum erstenmal gesehen und der –

Ja! Sie mochten alle viel gewandter sein und vornehmer, ihre Unterhaltungsgabe viel witziger und bestechender – eins aber fehlte ihnen, eins hatten sie nie vermocht: den Ton anzuschlagen, der widerklingt in einer anderen Brust, die Sprache zu reden, welche wahrhaft erst die Geister vereint, die Sprache des Menschen zum Menschen! Darum waren ihr diese Männer fremd geblieben, so oft sie der Weg des Lebens auch zusammenführte – daheim und auf der Reise. Es war immer dasselbe! Sie war und blieb für sie stets die Dame der großen Gesellschaft, etwas anderes nie! Deshalb hatte sie sich bei allem äußerlichen Glück doch innerlich nie befriedigt gefühlt.

Und nun mit einem Male kam jemand, der nicht zu ihr sprach wie zu der Dame eines besonderen Stands, sondern wie der Mensch zum anderen Menschen. Die Natur mit all ihrer Erhabenheit und Größe hatte ihm das Herz erschlossen, und dies ganze volle Herz hatte er ihr geoffenbart, die er eben erst kennengelernt, und was er fühlte und sagte, war widergeklungen in ihrem Innern wie ein Ton aus einer Heimat, die sie lange nicht gesehen. Sie hatte empfunden, daß sie sich verstanden wie nur gleichfühlende Menschen sich verstehen können.

Und das alles sollte mit dem morgigen Tage aus und vorbei sein? Und warum?! Ja – warum, wenn man nur den Mut in sich fühlt, kräftig zu wollen und zu handeln, Fesseln zu sprengen, die einem unerträglich geworden?!

Sie hatte die Oberkleider gelöst – die freigewordenen Haare fielen über Nacken und Brust – den glühenden Kopf hatte sie in die weichen Arme gestützt, so starrte sie nachdenklich hinweg über den kleinen Handspiegel, der vor ihr stand.

Er hatte Lust, Docent zu werden. Die Gaben dazu besaß er zweifellos, nur das Geld fehlte ihm dazu. Das armselige Geld! Sie lächelte geringschätzig. Aber es war noch etwas anderes!

„Es giebt Fesseln, die kein Simson sprengen kann – heilige Fesseln, in denen wir haften mit unserem ganzen Sein, mögen sie auch unserem rücksichtslosen Wollen und Wünschen drückend erscheinen.“ Wie ihr diese Worte durch den Kopf hallten! Gab es solche Fesseln auch für sie?

Mit einem Male stand das Bild ihres Vaters vor ihr – Rupert selbst hatte sie an ihn erinnert – ihr lieber, guter, aber auch adelsstolzer, starrer Vater, der kein höheres Heiligtum kannte als seinen Stammbaum, der seine amtliche Stellung mit peinlichster Gewissenhaftigkeit, aber mit ebenso unnahbarer Hoheit versah.

Dieser Vater – und der Schulamtskandidat! Sie hätte auflachen können, wenn ihr nicht so furchtbar ernst ums Herz gewesen wäre! Und um ihren Vater gruppierten sich nun alle anderen Glieder der Familie, die von seiten ihrer Mutter, die einem der, ältesten Grafengeschlechter angehörte, in erster Linie, all die Tanten und Basen und deren Gatten und Söhne, alle ohne Ausnahme in den bevorzugtesten Stellungen der Gesellschaft. Und sie sah sie alle voller Verachtung auf sich herabblicken und die großen entrüsteten Nasen rümpfen über die Vergessene und Verlorene, die dort mit dem Schulamtskandidaten fortwanderte in eine Welt hinaus, von der keine Brücke mehr herüberführte!

Nein, es war nicht möglich!

Und selbst wenn sie das auf sich genommen und sich getrennt hätte für alle Zeit von der Welt, in der sie bis jetzt gelebt und glücklich gewesen – wenn dann ihrem Vater, dessen einziges Kind sie war, der sie mit zärtlicher Liebe im Herzen trug, dieses Herz darob gebrochen wäre und sie müßte ihn siechen sehen und welken um ihretwillen – hätte sie auch dann noch den Mut gehabt, kräftig zu wollen und zu handeln wie sie eben wähnte?! auch dann noch die Kraft besessen, so glücklich zu bleiben wie sie heute es träumte?!

Nein! Nein! Sie war mit jähem Entsetzen emporgeschnellt von dem Stuhle.

Er hat recht! Wir leben nicht für uns allein. In unserem Leben wurzelt das anderer Menschen und wir in ihm. Wer hätte das Recht, nur für sich zu wollen und für sich zu handeln? Man darf das Glück nicht suchen jenseit der Grenze, die Gott uns gezogen, und sei es noch so süß und lockend! Alle diese Wünsche sind die Sommernachtsträume des Lebens, die sich so schön träumen, aber nie verwirklichen lassen. Da heißt es entsagen und lernen, das Glück zu finden im eigenen beschränkten Kreise!

Aber austräumen und auskosten will ich diesen herrlichen Traum bis zu Ende und folgen soll er mir mein ganzes Leben hindurch, und wenn es mir wieder flach erscheinen will und alltäglich, dann will ich flüchten zu seinem holden Zauber, bis –

Sie kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Sie lag längst in ihren weichen Kissen. Vor ihren Augen flutete und wallte der silberne Neckar so gleichmäßig, so träumerisch müde – und über ihm hoben und senkten das hohe Haupt die grünenden Berge ganz langsam wie im Takte. Und leise neigte und nickte dazu die mondumflossene Schloßruine. Und um sie herum tanzten in feierlich gemessenem Schritte die Geister des Schlosses, geführt von Perkeo, dem kleinen winzigen Wichte. Und siehe, aus ihrem Reigen trat einer heraus in weißem wallenden Gewande, mit einem Antlitz, in dem der Friede wohnte und die glückselige Ruhe. Der nahm sie in seine Arme und küßte ihr die dunkelblauen Augen und strich ihr mit der zarten Hand über die schweren Lider, die zugefallen waren.

Das war der Schlaf. Der erbarmte sich ihrer und trug sie auf seinen weichen Schwingen in das ferne Reich des Vergessens, des wirklichen Traumes.

Und über ihre roten Lippen spielte ein Lächeln wie ein wehmütig süßes Glück, und die junge Brust hob und senkte sich so ruhig im lieblichsten Sommernachtstraum, den je ein Menschenkind träumte. – – – – – – – – –

Als sie längst eingeschlafen war, kehrte auch Rupert von seiner einsamen Wanderung zurück. Er hatte, indes er am brausenden Neckar entlang ging, einen viel schwereren Kampf gekämpft als sie; aber, als er jetzt in sein Zimmer trat und noch einen Abschiedsblick zum gestirnten Nachthimmel emporsandte, lag der Frieden auf seinen ernsten Zügen und die Festigkeit, welche, des Zieles sich bewußt, Irrwege zu meiden weiß.


9.

Am nächsten Morgen in früher Stunde gingen sie denselben Weg zum Schlosse hinauf, der ihnen durch den vergangenen Abend so unvergeßlich geworden. Die Erinnerung an das, was sie gestern gemeinsam erlebt, flammte in ihrer ganzen Macht auf. Aus ihren ernsten Zügen sprach sie, aus ihren sinnenden Augen, am beredtesten aber aus dem Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, denn schon waren sie eine große Strecke nebeneinander gegangen, und kaum ein Wort war gesprochen.

Hinein aber in diese Erinnerung stahl sich die Wehmut, daß es nun zu Ende sein sollte für immer, was sie hier miteinander empfunden und durchlebt, daß alles nur ein kurzer Traum gewesen, aus dem sie erwacht waren zur ernsten Wirklichkeit, zum traurigen Scheiden!

Zur ernsten Wirklichkeit!

Sie waren am Ziele ihrer Wanderung angelangt. Wieder lag sie vor ihnen, die alte hochragende Schloßruine in ihrer ganzen Majestät und Schöne – aber so verklärt, so traumumflossen, wie gestern im weichen Mondeslicht, sah sie heute in der Morgensonne nicht mehr aus. Wieder hoben und senkten sich da drüben die weinumkränzten Hügel und Berge – aber so zauberisch und unwiderstehlich wie gestern im blauschimmernden Nachtgewande grüßten und winkten sie nicht mehr. Wieder rauschte und brauste da unter ihnen der grüne Neckar – aber das glitzernde Silber auf seinen Fluten war verschwunden, die Nixen stiegen nicht mehr aus seiner Tiefe, die Geister waren alle verstummt, die raunenden und lockenden der gestrigen Mondnacht.

Es war Tag geworden, die Sonne hatte sie vertrieben.

Der Zauber schwieg. Und dennoch – angesichts dieses Schlosses und dieser Umgebung erhob sich alles, was gestern zwischen ihnen vorgefallen, so lebendig in ihrem Inneren, daß es alle Fesseln der Befangenheit und der Wehmut sprengte und ihnen plötzlich die Worte lieh, die sie bis jetzt nicht gefunden.

„Bevor wir scheiden, Eins noch,“ brach das Fräulein zuerst das Schweigen, „es hat mir am meisten zu denken gegeben von

[57]

Im Hofgestüt Lipizza.
Nach dem Gemälde von F. O'Stückenberg.

[58] allem, was wir miteinander gesprochen: Sie sind nicht zufrieden. Sie fühlen sich gelähmt in Ihrem besten Können. Ihr Beruf drückt Sie.“

Er lächelte. „Wenn ich nur einen hätte! Daß ich gar keinen habe, drückt mich nieder.“

„Und Sie sollten keinen finden, der Ihren Wünschen entspräche?“

„Es ist so schwer,“ erwiderte er langsam. „Alles überfüllt! Ich bin zu jung. Sie lächeln – ja, ja – zu jung, obwohl ich mir in diesem Nichtsthun und Warten oft schon so alt vorkomme. Sehen Sie, gerade jetzt befinde ich mich auf der Reise nach Berlin, dort mein Heil noch einmal zu versuchen –“

„Sie haben dort Aussichten –“

„Leider so gut wie gar keine. Aber weil mir gerade an dieser Stelle so viel gelegen, weil gerade sie meinen innersten Herzenswünschen entspräche, will ich das äußerste versuchen.“

„Was für eine Stelle ist das?“

„Es handelt sich um eines der königlichen Staatsgymnasien Berlins. An seine Spitze haben sie vor kurzem einen Mann berufen – nicht so einen alten, verbrauchten, engbrüstigen Pedanten, sondern eine ganze Kraft, einen noch jugendfrisch fühlenden, bedeutenden Philologen, der die höchsten Ideale für seinen Beruf mitbringt und der Mann dazu ist, sie in die That umzusetzen. Er war früher Docent in diesem Heidelberg. Von ihm empfing ich die ersten Anregungen, von ihm die Begeisterung für meinen Beruf, ausgeübt nach seinem Vorbild. Unter diesem Manne zu lehren, von ihm täglich zu lernen, mit ihm aufs neue in geistige Gemeinschaft zu treten – sehen Sie, ein größeres Glück könnte mir nicht widerfahren!“

„Und keine Hoffnung, es erfüllt zu sehen? Kann dieser Direktor denn nichts dafür thun?“

„Er hat ja gethan, was in seinen Kräften steht. Aber so einfach geht das bei uns nicht. Da sitzt am grünen Tische des Unterrichtsministeriums in Berlin so ein allgewaltiger Herr, ein Geheimrat ohnegleichen, ein Schulmonarch, vor dem sich alle beugen müssen. Der hält in den starken Händen Sein und Nichtsein. Und dieser Hartherzige hat bereits über mich zu Gericht gesessen – ein Nichtsein hat er verfügt. Und ich Thor! – Trotz alledem wage ich die weite Reise aus dem Elsaß nach Berlin, trotz alledem suche ich mein Herz mit dem Wahne zu umschmeicheln, es möchte mir auf eine mir allerdings völlig rätselhafte Weise gelingen, die Seele dieses Gestrengen zu erweichen–“

„Und der Namen dieses Geheimrats?“ fragte das Fräulein sehr schnell.

„Altstedt – Geheimrat Altstedt,“ gab er zur Antwort.

„Altstedt?“ rief das Fräulein. „Altstedt!“ wiederholte sie jubelnd, als berge dieser Namen den Inbegriff alles Glücks für sie. „Es ist nicht möglich – das ist zu schön!“

Ganz erstaunt sah Rupert sie an. Sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. Ihre großen Augen leuchteten so hell, so von ganzer Seele vergnügt, und wie ein Kind klatschte sie in die Hände.

„Hören Sie! Dieser Herr Altstedt, der übrigens gar kein hartherziger Tyrann, sondern ein reizender lieber alter Herr ist, den ich hoch verehre, mein werter Herr Doktor – dieser Herr Altstedt ist der intimste Freund meines Vaters. Erst vor seiner Abreise hat Papa ihm einen Dienst erweisen können, für den er ihm zu großer Dankbarkeit verpflichtet ist; denn es handelte sich um seinen einzigen Sohn. Nun weiß ich genau, daß er meinem Vater jeden Gegendienst thun wird, zu dem er irgend imstande ist und den er thun – darf. Und mein Vater? Was wird ihm eine größere Freude sein, als sich dem Manne erkenntlich zu zeigen, der seiner hilflosen Tochter in der Fremde ein so treuer Ritter gewesen!“

Wieder war Rupert zu Mute, als träumte er – oder sollte es die schönste Wirklichkeit sein, die ihm mit einem Male so nahe das Ziel seiner heißesten Wünsche zeigte?!

„Und selbst wenn mein Vater nichts thun könnte oder wollte, was freilich beides ausgeschlossen ist – wir beide sind die besten Freunde, der Herr Geheimrat und ich. – Und ich? Nun ich habe das Bitten zwar wenig gelernt und kaum noch versucht. Aber ich fürchte mich nicht, es wird mir gelingen. So inständig will ich ihn bitten, so hartnäckig! Und sollte ich dem alten Geheimrat zu Füßen sinken müssen, ich werde nicht ruhen, bis er mir die feierliche Urkunde überreicht, in der es schwarz auf weiß steht, daß der Probekandidat Herr Dr. Walter Rupert an das betreffende Staatsgymnasium in Berlin als ordentlicher Lehrer feierlichst berufen ist!“

Sie machte eine flehende Gebärde. Sie faltete bittend die weißen Hände. So zuversichtlich, so vertrauend blickte sie zu Rupert empor, als wäre er der gefürchtete Geheimrat und sie ein bettelnd Kind. Dabei blickte unter dem einfachen Sommerhut das hübsche Gesichtchen so schelmisch hervor, die dunklen Augen blitzten so siegessicher und so siegesfroh zugleich – nein, kein Geheimrat der Welt konnte ihr widerstehen, es wäre unmöglich gewesen!

Und Rupert? Er konnte sie nur ansehen und wieder ansehen. Das Wort, das er ihr sagen wollte, fand er nicht. Aber sein dankbar leuchtender Blick sprach eine um so beredtere Sprache.

„Und dann kommen Sie nach Berlin!“ fuhr sie in lebhafter Erregung fort. „Dann nehmen wir heute nicht Abschied voneinander, dann sehen wir uns wieder, viele, recht viele Male!

Und dann –“ Sie errötete und brach schnell ab.

Was war das?

Waren es die alten, doch schon begrabenen Hoffnungen wieder, die in ihrer Brust rebellisch sich regten, gingen sie auch jetzt einher im hellen Morgensonnenschein, die lockenden Geister des Neckarthales, wachte er wieder auf, der süße Traum der verflossenen Nacht?

„Aber,“ unterbrach sie gewaltsam ihre Gedanken und schaute mit einem fragenden Blick auf Rupert, „Sie sind so nachdenklich geworden, Herr Doktor!“

In der That, als sie jetzt zu ihm sprach, fuhr er fast erschreckt empor wie aus tiefem Sinnen, in das er sich verloren.

„Nachdenklich, ja,“ sagte er mit leise bebender Stimme, „über all dem großen Glück, das Ihre Güte mir verheißt, über dem doppelten Glück, denn es ist nicht nur das meine, sondern auch das eines anderen Menschen.“ Die letzten Worte hatte er nicht ohne eine gewisse Anstrengung gesprochen – er atmete tief und schwer, als er jetzt langsam, fast zögernd fortfuhr:

„Die Zeit ist kostbar. Jede Minute kann Ihr Herr Vater hier sein. Wer weiß, wann wir uns wieder so ungestört sprechen.

Und wir sind uns in der kurzen Zeit zu nahe getreten – wir dürfen nicht auseinander gehen, ohne daß wir uns ganz verstanden hätten. Lassen Sie mich Ihnen erzählen!

Es ist eine alte Geschichte. Und alte Geschichten haben den Vorzug, daß sie immer kurz sind. Kurz ist auch die meine.“

Er hielt einen Augenblick inne, gleich als suchte er nach den richtigen Worten, in denen er zu ihr sprechen wollte.

10.

„Ich war noch sehr jung,“ begann er seine Beichte, während seine Blicke sich vor denen seiner Zuhörerin senkten.

„Ich hatte gerade meine ersten Semester hier in Heidelberg absolviert. Da lernte ich auf dem Gute, dessen Besitzer der Patron meines Vaters ist – er ist Dorfschulmeister – die Erzieherin kennen, ein junges Mädchen von ansprechendem, edlem Angesicht, mit einem Herzen, das offen war für alles Große und Wahre. Sie hatte bessere Tage gesehen; ihr Vater starb früh und ohne jedes Vermögen – sie mußte sich eine Existenz gründen, um sich zu ernähren und ihre Mutter. Sie that es mit einer Energie, die bewundernswert war. Sie hatte dabei viel Schweres durchzumachen und große Unannehmlichkeiten zu überwinden. Aber alles das schien nur dazu angethan, den frohen Mut in ihr zu stärken und den heiteren Glauben an Gott und die Menschen.

Marie war ihr Name, wie der Ihre. Sie kam oft in unser Haus, ich verkehrte viel auf dem Gute – wir traten uns näher, wir glaubten einander zu verstehen – wir verlobten uns.“

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da trat das Fräulein schnell einen Schritt zurück, aus den fein geschnittenen Mundwinkeln sprang plötzlich jener leise Zug von Hochmut wieder, den er gestern an ihr bemerkt – die Spannung, mit der sie bis dahin seinen Worten gefolgt, ließ nach. Er merkte das nicht.

„Ob es vor der Welt und den Menschen eine Verlobung war,“ fuhr er fort, „weiß ich nicht – vor meinem Gewissen war es eine. Ich war damals sehr jung, aber nicht unreif. Es [59] war nicht eine jener übereilten, bald bereuten Verlobungen, die ein Student in den ersten Semestern schließt und löst es war ein ernster, ein heiliger Herzensbund. Wie falsch, solche frühen Verlobungen als eine unverzeihliche Thorheit zu betrachten! Wie viele Männer danken gerade ihr ihre ganze Existenz, ihre Charakterbildung! Tu mein Gott, wenn ich daran denke, was ich diesem Bunde, diesem tapferen Mädchen alles zu danken habe! Wie wußte sie mich zu trösten, wenn ich ungeduldig und verzagt wurde in dem ewigen Harren und Warten auf eine Anstellung, wie den Mut mir zu heben, wenn er sinken wollte! Und dabei nie das leiseste Wort der eigenen Klage, der Unzufriedenheit in all dem schweren Leben und den Bitternissen – denn sie ist heute noch Gouvernante.“ Er hatte mit wachsender Wärme gesprochen, aber die blauen Augen des Fräuleins blickten noch immer so vergessen, so leblos in das sonnige Thal, um die roten Lippen spielte noch immer der verräterische Stolz.

„Es ist ja schließlich kein berauschendes Glück, kein Himmelhochjauchzen, solch eine siebenjährige Verlobung – das können Sie sich wohl denken! Aber ein dankbares Sichgesichertwissen des Herzens, ein wohliges Geborgensein ist es gewesen! Ja, das ist es gewesen – bis auf den gestrigen Tag!“ In seine bleichen Wangen schoß ein jähes Erröten, die scharfgeschnittenen Nasenflügel bebten, und schnell wandte das Fräulein sich ab.

„Ja, bis auf den gestrigen Tag – bis auf diese Mondnacht hier am Schlosse – mit Ihnen!

Nein, nein – Sie müssen mich hören, bis zum Ende hören, ich kann Ihnen diese Beichte nicht ersparen – ich darf es nicht.

Gestern, als ich Sie sah, als ich mit Ihnen auf dieser Stelle stand und sprach, wie ich noch nie mit einem Menschen gesprochen, da geschah etwas Unbeschreibliches. Ein Empfinden zog mir durch die Seele, das ich nicht wiederzugeben vermag. Wie ein wilder Taumel raste es mir durch das Blut, mit unwiderstehlicher Gewalt klang durch mein Inneres wieder und wieder: du bist noch nie glücklich gewesen! du hast die ganze Schöne des Lebens und seine reichsten Schätze noch nie gekannt! du bist ein armer betrogener Narr! Was mir bis dahin der Inbegriff des Friedens war und des sonnigen Glücks, das wurde mir mit einem Male zur drückenden Fessel. Ich fühlte mich gebunden, ich begann gegen meine Bande zu kämpfen – frei wollte ich sein und fühlte, daß ich ein Sklave war. Wie ein einziger Augenblick den ganzen Inhalt eines Lebens, das so festgefügte Gebäude eines langbewährten Glückes umzustoßen vermag – ich habe es nie geahnt, aber gestern habe ich es erfahren!“

Er hielt inne und atmete tief.

In den lauschigen Gründen sangen die Vögel, und unten von der Stadt herauf klang das vielstimmige Läuten der Kirchenglocken zur alten Burgruine empor, so feierlich und mahnend, denn es war Sonntag und die Kirchstunde war nahe.

„Was ich dagegen gethan?“ fuhr Rupert langsam fort, und die Unsicherheit, mit der er bis jetzt gesprochen hatte, wich einer wachsenden Festigkeit. „Als ich gestern von Ihnen Abschied nahm, ging ich allein hinaus in die feiernde Natur. Ein Kampf wogte in meinem Inneren, wie ich ihn niemals durchgemacht, die widerstrebendsten Gefühle stürmten auf mich ein. Ich mußte Ruhe und Festigkeit haben um jeden Preis! So konnte ich es nicht einen Tag länger tragen. Ich sagte mir: Wenn das, was du bis heute für das größte Glück deines Lebens gehalten, sich im ersten Ansturm als ein leerer Wahn erweist, so giebt es nur eine Pflicht noch, und die heißt: brechen, so bald wie möglich Bande brechen, die dir unerträglich sind! Ich gebe es zu, ich dachte in diesem Augenblick wenig an sie, an das Herzeleid, das ich über sie bringen würde, ich dachte nur an mich: es war eben unmöglich, es war gegen meine ganze Natur, unter diesem Zwiespalt im alten Geleise fortzuleben. Was sollte ich thun? Wie mußte ich handeln? Ich prüfte mich mit rücksichtslosem Ernst, indem ich am nächtlich rauschenden Neckar langsam dahinging. Tausendmal stellte ich mir dieselbe Frage, aber die rechte Antwort wollte mir nicht werden. Da faßte ich plötzlich einen Entschluß. Ihnen wollte ich die ganze Geschichte mit ihrer Freude und ihrem Leid erzählen, Ihnen alle meine Kämpfe offenbaren, offen und ohne jeden Rückhalt. Sie haben mich gestern verstanden, wie mich noch niemand verstanden! Sie sind unparteiisch in der ganzen Sache. Sie sollten mir sagen, ob nach dem, was ich Ihnen heute bekannt, solch ein Bündnis noch weiter möglich ist und segenbringend, Sie den Weg mir weisen, Sie allein, und wie Sie ihn zeigten, so wollte ich ihn gehen!“

Wieder hielt er inne, aber das Fräulein stand so regungslos, so geistesabwesend, als ginge die ganze Geschichte da sie gar nichts an.

„So,“ fuhr er fort, „stand es gestern bei mir fest, so wollte ich heute handeln. Da aber ereignete sich etwas Wunderbares - so wunderbar, daß ich fürchte, Sie werden mich jetzt nicht mehr verstehen. Da erzählen Sie mir von Ihren engen Beziehungen zu dem Manne, der mein Wohl und Wehe in seinen Händen hält, öffnen mir goldene Berge der Zukunft, stellen mir eine Anstellung in Aussicht, wie ich sie kaum mehr zu hoffen wagte. Und da – sehen Sie – da mit einem Male steht dieses Mädchen vor mir, dieses Mädchen, das mit mir geharrt und gehofft, mit mir alle Enttäuschungen durchlitten, um immer von neuem weiter zu hoffen und zu warten. Und ich sollte jetzt, wo endlich das heißersehnte Ziel sich zeigt – nein, das wäre undankbar, das wäre ärger als der schändlichste Verrat! Und mehr noch. Als Sie mir diese Aussichten eröffnen, da mit einem Male wird es mir klar, wie arm meine Freude wäre, wie nichtig, wenn ich dann nicht zu ihr gehen könnte und ihr entgegenjubeln: Sieg! All dies Harren und Warten hat nun ein Ende – wir sind am Ziel! Und hatte ich mir eben noch vorgenommen, Sie zu fragen, wie ich handeln sollte, jetzt war es mir klar: ich brauche keine Antwort mehr, selbst die Ihre nicht – mein Herz hat sie mir selbst gegeben!

Der Traum ist vorbei, den ich gestern geträumt – ich bin erwacht. Aber so dunkel und traurig, wie sie mir erst schien, ist diese Wirklichkeit nicht – freilich eine Mondnacht wie die verflossene hier am Heidelberger Schloß mit all ihrem Zauber und ihrer Märchenpracht kann sie nicht sein, aber ein freundlicher, heller Sonnenschein, ein stiller Sonntagsfrieden, in den hinein die festlichen Glocken tönen – so ein ehrsames Glück, wie es sich für einen Schulmeister ziemt.“

Sie wandte ihm langsam das schöne Antlitz wieder zu – die jähe Röte war gewichen. Ein wehmütiger Frieden lag auf ihm wie ein matter Abendglanz.

„Und wie ich Ihnen mein Herz offenbart, so will ich ihr erzählen von diesem Sommernachtstraum in Heidelberg. Und erzählen –“ seine Stimme nahm einen weichen, schmeichelnden Klang an, als er nun, ganz nahe an sie herantretend, fortfuhr, „von der Dame, deren Knappe ich sein durfte, die hier auf der Schloßterrasse gestanden wie eine Königin aus der Märchenzeit, welche alle Jahre einmal niedersteigt zu den Sterblichen, ihre geheimsten Wünsche anhört und sie erfüllt, bevor sie ausgesprochen – von der Königin, der allein wir unser Glück verdanken!“

Er streckte ihr bittend die Hand entgegen, einen Augenblick zögerte sie – dann reichte sie ihm langsam die ihre.

Dabei sah sie ihn mit einem langen Blicke an. Und in dieser Sekunde lag etwas Unsagbares in ihren dunklen Augen, etwas, wie es nur ein Frauenauge widerspiegeln kann und auch dieses nur selten; und wenige sind es, die es je gesehen haben. Die Wenigen aber vergessen es nie.

„Und nun Lebewohl – wir müssen zur Stadt hinunter.“

„Lebewohl!“ wiederholte sie leise und ernst.

Einen Augenblick noch hielten die Hände sich gefaßt – einen Augenblick ruhten die schimmernden Augen ineinander.

Die Glocken waren längst verstummt. Es war so lautlos still, so feierlich rings umher – nur in den dichten Kastanienbäumen über ihnen rauschte der Wind, und drüben in den Büschen schlug leise und lockend die Amsel.

„Marie!“ tönte es plötzlich durch die Stille. „Marie!“ hallte es wieder.

„Mein Vater!“ rief das Fräulein und stürzte dem alten Herrn entgegen, der, pustend und den perlenden Schweiß von der Stirn trocknend, den Schloßberg heraufkam.

Sie lagen sich in den Armen. Marie begrüßte ihn mit einer Herzlichkeit, als wäre er jahrelang verschollen gewesen.

Alle ihre Befangenheit schien in seiner Nähe geschwunden.

„Das war eine schöne Geschichte!“ räsonnierte der alte Herr, „in einen ganz verkehrten Zug geraten, mußte ich in einem weltverlorenen Neste übernachten. Das heißt,“ setzte er etwas verlegen hinzu, „an mir lag es nicht. Nur an den konfusen Anordnungen der Bahnverwaltung, die da Zug neben [60] Zug stellt, so daß auch der Erfahrenste in dem Babel sich nicht zurechtfinden kann. Aber nun du, mein armes, liebes Kind! Ein Glück nur, daß du auf den klugen Gedanken kamst, gleich zu telegraphieren. Hätte dir das übrigens gar nicht zugetraut! Aber langweilig muß es für dich gewesen sein in der fremden Stadt, in dem großen Hotel. Und wie du dich geängstigt haben wirst –“

„Daß alles nicht so schlimm gekommen, daß ich gut, ja, Väterchen, sehr gut aufgehoben gewesen bin, das danken wir allein diesem Herrn. Du erlaubst – Herr Doktor Rupert, der mir Ritterdienste geleistet wie nie ein anderer Herr.“

Das alles klang so auffallend warm, es kam aus so vollem Herzen, daß die Excellenz den jungen Mann mit einem sehr kühlen, prüfenden Blicke maß und die Verbeugung, mit der er die tiefe Reverenz des Doktors erwiderte, sehr gemessen und reserviert, für den Ritter seiner Tochter wohl zu reserviert ausfiel.

Auch als sie nun miteinander vom Schloßhofe zur Stadt herabstiegen, blieb die Excellenz sehr zugeknöpft und kühl. Und je mehr das Fräulein von der Herrlichkeit Heidelbergs schwärmte und dem schönen Mondabend an der alten Schloßruine, um so unnahbarer wurde die Excellenz, um so prüfender und forschender der strenge Blick, mit dem das stolze Auge den Probekandidaten ab und zu beehrte.

Das Fräulein durchschaute die Situation bald. Sie hielt es deshalb für angezeigt, ihrem Vater, sowie sie mit ihm auf dem Zimmer ihres Hotels allein war, einen genaueren Einblick in die Sachlage zu eröffnen. Die Folge war, daß die Excellenz dem Probekandidaten sehr freundlich entgegenkam und ihm für die Dienste, die er seiner Tochter erwiesen, freundlichsten Dank abstattete.

Daß er freilich auch dies mit einer gewissen Leutseligkeit und ein wenig von oben herab that, dafür konnte er nichts, das lag einmal in seiner Art, und Rupert that gut daran, es gar nicht zu bemerken. - - - - - - - - - - - -

Noch denselben Tag fuhren sie zusammen nach Berlin.

Die Excellenz fand bald, daß Rupert „Mensch“ genug war, um sich mit ihm unterhalten zu können, und that dies sehr lebhaft. Das Fräulein aber war schweigsam.

Ab und zu nur, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, ruhte ihr Blick sinnend auf den ernsten Zügen ihres Reisegefährten, und dann schimmerte für einen kurzen Augenblick wieder jenes Unsagbare auf in ihren Augen.

11.

In einen Berg von Akten versunken, saß in seinem Arbeitszimmer im Unterrichtsministerium zu Berlin der Geheimrat Altstedt, als ihm der Besuch des Fräuleins von Fehrbach gemeldet wurde.

So ganz überraschend kam ihm dieser nicht. Der General hatte bereits mit ihm gesprochen, er war über die Angelegenheit orientiert, welche die junge Dame zu ihm führte.

Aber so leicht machte er es ihr nicht. Er empfing sie mit der unbefangensten, herzlichsten Miene. Er begann eine lange Unterhaltung über ihre Reise, er ließ sich alles von Anfang bis zu Ende erzählen, er kannte alle Orte, in denen sie gewesen, er zeigte ein Interesse, eine Teilnahme, er war unerschöpflich in immer neuen Fragen – das Fräulein mußte sich alle Mühe geben, um nicht gar zu zerstreut in diesem qualvollen Verhör zu erscheinen. Als aber endlich der Augenblick gekommen und sie ihr Gesuch mit zagender stockender Stimme vortrug, da setzte er seine amtlichste Miene auf – so streng, so unnahbar, wie sie ihn noch nie gesehen.

Sie wurde ganz verwirrt und ängstlich. Wäre sie doch lieber in seine Wohnung gegangen, hätte sie die Frau Geheimrätin zu ihrer Vertrauten gemacht – das war der einzige Gedanke, den sie fassen konnte!

„Ja, mein liebes Fräulein Marie,“ sagte der Geheimrat, „so sehr gerade ich mich freue, daß Sie in Ihrer Verlegenheit und Angst einen so trefflichen Helfer gewonnen - - Ihr Herr Ritter mag der beste Kavalier von der Welt sein, ob er aber ein so guter Schulmann ist, daß man ihn in verhältnismäßig noch sehr jungen Jahren hier nach Berlin an eines unserer besten Gymnasien beruft, das weiß ich nicht, und Sie, so lieb ich Sie habe, sind mir auch nicht Bürgin dafür. Doch was haben Sie denn da?“ unterbrach er sich plötzlich selber.

Das Fräulein war dunkelrot geworden.

In der lieblichsten Verwirrung nestelte sie mit der zitternden Hand an einem kleinen Pakete, das sie mitgebracht hatte – endlich war die Hülle entfernt, und sie überreichte dem Geheimrat einige Nummern einer bekannten Zeitschrift.

„Ich bat den Herrn Doktor darum – er gab sie mir – ich dachte …“ brachte sie mit stockender Stimme hervor, und ihre Wangen brannten.

Jetzt war es dem Geheimrat nicht mehr möglich, den gestrengen Ernst seiner Amtsmiene aufrecht zu erhalten – er lächelte leise.

„Also Schriftsteller ist er auch. So so – und mehrere Aufsätze gleich. Lassen Sie sehen. ,Die Pädagogik Rousseaus in ihrem Wert und ihrer Verwendbarkeit für die heutige Schule’ – die Zeitschrift ist gut, schreibe selber für sie –“

Das Fräulein hatte sich erhoben.

„Nun, mein liebes Fräulein Marie,“ sagte der Geheimrat, „ich werde sehen. Eine bessere Fürsprecherin als Sie konnte sich dieser Herr Doktor Rupert jedenfalls nicht aussuchen. Aber dennoch – so einfach geht das nicht. Der Bewerber, den ich ausersehen, hat zwar eine Anstellung in seiner Heimat vorgezogen, aber gerade diese Stelle hier in Berlin, um die es sich handelt, ist mir von großer Wichtigkeit. Ich muß für ihre Besetzung streng prüfen und wägen. Jedenfalls – das verspreche ich Ihnen – sollen Sie die erste sein, die meine Entscheidung erfährt - -“

Das Fräulein war längst gegangen.

Die Akten lagen noch immer so hoch aufgestapelt wie vorher. Der Bureaubeamte hatte bereits einigemal die Thür behutsam geöffnet. Er war sonst so eine prompte Erledigung bei dem Herrn Geheimrat gewöhnt, und es lagen heute wichtige Sachen vor.

Aber der Herr Geheimrat saß noch immer vertieft in die Zeitschrift, die vor ihm lag, und las. Einigemal nickte er beifällig – jetzt flog sogar ein sonniges Lächeln über seine ernsten Züge.

„Ein Idealist! Gerade so wie ich, als ich jung war!“

Er hatte sich erhoben und war schnell entschlossen an seinen Schreibtisch getreten.

Aber die Akten blieben unberührt – er nahm einen Briefbogen und schrieb einige Zeilen mit raschen Zügen.

Dann klingelte er dem Bureaubeamten.

„Diesen Brief an Fräulein von Fehrbach – aber sofort – er hat Eile!“

Einen Augenblick noch weilte sein Auge nachdenklich auf den Blättern, die vor ihm lagen – dann ging er an seine Amtsgeschäfte. - - - - - - - - - - - - - - -

Am nächsten Tage wurde Rupert vom Geheimrat empfangen, so freundlich wie vorher nie und auch nicht nachher ein Schulamtskandidat eines ähnlichen Empfangs sich rühmen konnte.

Seine Arbeit hatte dem erfahrenen Kenner sofort den jungen Schulmann von Bedeutung und vielleicht von Zukunft gezeigt, den er brauchen konnte. Die warme Fürsprache des Fräuleins hatte das ihre gethan – die Bedenken gegen seine Jugend waren besiegt und Rupert war ordentlicher Lehrer an dem ihm so besonders sympathischen Gymnasium. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Ein Sommerabend war’s in Berlin.

Oben am weitgeöffneten Fenster ihres Boudoirs stand das Fräulein und blickte sinnenden Auges herab auf die duftenden „Linden“ und das dunkle Gewoge der Menschen unter ihnen.

Die Dämmerung nahm zu. Ein Diener trat ein und überreichte ihr einen Brief, der eben mit der Post angekommen war.

Es war eine Verlobungsanzeige.

Wieder und wieder las sie die einfachen Zeilen. Ein mattes Lächeln spielte um ihre feinen Lippen.

Mit einem Male entsank das Blatt ihren Händen und fiel zur Erde. Und vor den sinnenden Augen entwichen die Linden und das Gewoge der Menschen und der Hufschlag der dahineilenden Pferde. Und empor tauchte eine alte Schloßruine, und der Mond goß sein weiches Licht über ihre Mauern und Zinnen und Türme. Und die weinbekränzten Hügel und Berge grüßten und winkten wie alte Bekannte. Und unter ihren Füßen wogte und rauschte der Neckar, und schimmerndes Silber lag auf seinen Fluten, und in der Tiefe raunten und lockten die Geister.

Noch einmal zog er durch ihre Seele, der kurze Sommernachtstraum in Heidelberg, der schönste, den je sie geträumt.



[61]
Wie das erste Deutsche Parlament entstand.
Ein Rückblick von Johannes Proelß.
I. Märtyrer und Pioniere. (Schluß.)

Das Geheimnis, in welches die seit 1839 von Itzstein nach Hallgarten einberufenen Zusammenkünfte von „Vaterlandsfreunden“ gehüllt waren, blieb bis in den März 1848, in welchem vom Kerne derselben die Einberufung des „Vorparlaments“ ausging, mit bestem Erfolge gewahrt. Zu diesem Kern zählten neben Itzstein, Welcker und jüngeren Rednern der Opposition im badischen Landtag hervorragende Männer von ähnlicher Stellung aus Württemberg, Hessen-Darmstadt, Nassau, Rheinbayern, dem preußischen Rheinland und dem Königreich Sachsen, die fast alle vom Schicksal berufen waren, im Jahre Achtundvierzig als Führer der Volkserhebung zu wirken.

Sylvester Jordan.

Daß das Unternehmen im Sinne der herrschenden Ausnahmegesetze ein Verbrechen des Landesverrats sei, war den Männern natürlich klar. Was ihnen im Fall der Entdeckung bevorstand, das hatte jeder vor Augen, wenn er an das Schicksal Sylvester Jordans dachte, den man in Marburg auf eine bloße Verdächtigung hin mitten aus seiner Thätigkeit als Lehrer des Rechts heraus ins Gefängnis abgeführt hatte. Dort schmachtete er noch, ohne daß bei dem bestehenden geheimen Inquisitionsverfahren von seinem Schicksal ein Laut an die Oeffentlichkeit drang. Und nicht gar weit von Hallgarten, in Darmstadt, lag auch der Kerker, in dem sich der unglückliche Weidig das Leben genommen hatte, aus Verzweiflung über die geistige und auch – körperliche Mißhandlung, die ihm durch seinen brutalen Untersuchungsrichter dort zu teil geworden. Da ihm keine andere Waffe zu Gebote gestanden, hatte sich Weidig mit Glasscherben die Pulsadern aufgeschnitten.

Die Zusammenkünfte der Vaterlandsfreunde erfolgten daher, wie der Historiker Wilh. Zimmermann, selbst ein Achtundvierziger, in seinem Buche „Die deutsche Revolution“ erzählt, unter Wahrung der größten Vorsicht. Auf verschiedenen Wegen kamen sie einzeln oder zu zwei und drei zum Stelldichein. Der schriftliche Verkehr zwischen den Gesinnungsgenossen wurde aus Furcht vor der politischen Polizei, die das Briefgeheimnis nicht achtete, in verabredeten Ausdrücken geführt, die darauf berechnet waren, jene irre zu führen. Aus dem Nachlaß eines später hinzugetretenen preußischen Volksmanns ist eine Einladung erhalten geblieben, welche ein Teilnehmer aus Sachsen (Robert Blum) im Auftrag Itzsteins um die Mitte der vierziger Jahre an ihn richtete. Der Anfang des merkwürdigen Schreibens lautet: „Meine Pflicht legt mir auf, Sie zu benachrichtigen, daß die im Mai vor. J. beschlossene Familienkonferenz im August und zwar auf dem Gute meines alten Onkels Hallgarten bei Oestrich am Rhein stattfindet, und Sie einzuladen, derselben beizuwohnen oder irgend einen Verwandten zur Teilnahme zu veranlassen u. s. w.“ Die hier hervorgehobenen Worte sollten in unbefugten Lesern den Glauben erwecken, es handle sich bei dieser Bestellung um einen harmlosen „Vetterntag“.

Karl Todt.

Die Ziele der heimlich Verbündeten waren thatsächlich friedlicher Natur. Sie konspirierten nicht mit den Verschwörern des Auslands, wie viele der deutschen Flüchtlinge in der Schweiz, in Paris, die sich Mazzinis „Jungem Europa“ angeschlossen. Sie bildeten auch keinen wirklichen „Bund“, wie Jucho in seiner Einleitung zu der offiziellen Ausgabe der Verhandlungen des „Vorparlaments“ hervorhebt. Sie gedachten, die „deutsche Frage“ aus eigner Kraft mit Hilfe der verfassungsmäßigen Rechte, über die sie jetzt noch verfügten und weiter verfügen würden, der Lösung zu nähern. Sehr verschieden nach Stand, Vermögen und Glauben, auch abweichend voneinander im Grad ihres Freiheitsverlangens, waren sie alle einig in der Ueberzeugung, daß die Freiheit in den einzelnen Staaten Deutschlands auf die Dauer nur gewonnen werden könne, wenn eine liberale Bundesreform zugleich die politische Einheit Deutschlands anbahne. Daß vereinzelte Forderungen im Sinne des Antrags Welcker vom Jahre 1831 erfolglos seien, hatte dessen Schicksal erwiesen. Auch die herrliche Rede Uhlands, mit welcher dieser zwei Jahre später in dem „vergeblichen“ württemberger Landtag seiner Hoffnung auf ein „machtbegabtes Organ deutscher Nationalgesinnung“ Ausdruck verliehen, war unter dem Banne der Bundesbeschlüsse wirkungslos verhallt. Es mußte der Versuch gemacht werden, durch gleichzeitiges Vorgehen in den Volkskammern der verschiedenen Verfassungsstaaten nach gemeinsamem Plan den Erfolg zu erzwingen. Aber unter dem Hochdruck der herrschenden Ausnahmegesetze war dafür die Zeit noch nicht reif. Erst galt es, durch immer erneute Anträge und rücksichtslose Kritik die Presse von dem Joch der allem Recht, aller Bildung hohnsprechenden Censur- und Polizeiwillkür zu befreien, die Ausnahmegesetze zu beseitigen und die Bedingungen für ein wahrhaft öffentliches Leben dem Volke zurückzuerobern.

Robert Blum.

Die erste Gelegenheit zu solchem gemeinsamen Vorgehen bot das Verhalten des Bundestags gegen den im Königreich Hannover erfolgten Verfassungsbruch. Trotz des Ansehens, das die sieben aus Göttingen verbannten Professoren genossen, trotz des mächtigen Widerhalls, den ihr Protest und ihre Verteidigungsschriften im gesamten deutschen Bürgertum fanden, trotz der vielen Petitionen, die aus Hannover an den Bundestag um Hilfe ergingen, hatte dieser jede Einsprache abgelehnt. In den konstitutionellen Staaten Deutschlands wurden nunmehr die Volkskammern zu Organen der allgemeinen Entrüstung darüber. Im badischen Landtag hatte Itzstein schon vorher wiederholt gegen den Gewaltakt des Königs Ernst August seine Stimme erhoben und im sächsischen Landtag war der Advokat v. Dieskau aus Plauen seinem Beispiel gefolgt. Jetzt gab Sachsen, wo Karl Todt, der Bürgermeister von Adorf, energisch die Opposition führte, das Beispiel, und die Beschwerden H. G. Eisenstucks und v. Watzdorfs fanden die lebhafte Zustimmung des Hauses. Bald gab es kaum noch einen konstitutionellen deutschen Staat, in dessen Volkskammer nicht ein energischer Protest gegen die Vergewaltigung des Rechts durch den König von Hannover unter stürmischem Beifall widergeklungen wäre.

Aber auch noch andere Verfahren, dem gemeinsamen Ziel sich zu nähern, traten gleich nach der ersten dieser Zusammenkünfte ins Spiel. An dieser hatte neben den beiden sächsischen Kammerabgeordneten, welche zuerst es gewagt hatten, „deutsche“ Angelegenheiten vor das Forum des Dresdner Landtags zu bringen, den schon genannten Vogtländern Todt und v. Dieskau, ein in Leipzig ansässiger, aus Köln gebürtiger Politiker teilgenommen, der, obwohl nicht selbst Abgeordneter, sich im Dienst der Kammeropposition neuerdings als hervorragender Agitator bewährt hatte. Dies war Robert Blum. Als die Professoren Dahlmann und Albrecht nach ihrer Vertreibung aus Göttingen in Leipzig Zuflucht [62] suchten, war der am Leipziger Stadttheater als Sekretär Angestellte zuerst an die Oeffentlichkeit getreten als Führer und Sprecher einer Deputation, welche den Vertriebenen ihre Huldigung darbrachte.

Jetzt ward er Schriftführer in dem Festausschuß, welcher mit der Vorbereitung einer großen Säkularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst in Leipzig betraut war, jenes großen Gutenbergfestes, das dann wirklich vom 24. bis 26. Juni 1840 in der Hauptstadt des deutschen Buchhandels gefeiert wurde.

König Ernst August von Hannover.

In Mainz, dem Geburtsort Gutenbergs, hatte schon 1837 ein ähnliches Fest stattgefunden; dort war Blum bei seiner Anwesenheit am Rheine im vergangenen Herbst in Gesellschaft von Itzstein, dem geborenen Mainzer, gewesen. Nun ließ er es sich angelegen sein, daß der Verlauf des Leipziger Festes sich zu einer großartigen Kundgebung des Verlangens nach Denkfreiheit und Freiheit der Presse gevon Hannover. staltete. Und noch im gleichen Jahre rief er zu Schillers Geburtstag eine Schillerfeier ins Leben, die ihm Gelegenheit bot, den Dichter des „Carlos“ und „Tell“ als den Propheten der patriotischen Ideale des lebenden Geschlechts zu feiern, und welche von nun an alljährlich wiederholt wurde. Politische Feste, politische Vereine waren verboten; so mußten Gedenktage litterarischer Art den politischen Zwecken dienen. Folgte Blum als Veranstalter einer volkstümlichen patriotischen Schillerfeier einem von Württemberg gegebenen Beispiel, wo die von Albert Schott gegründeten Stuttgarter Schillerfeste in ähnlicher Weise wirkten, so lernte er von den badischen Liberalen die Kunst, in Formen scheinbar harmloser Geselligkeit die politischen Gesinnungsgenossen zu organisieren.

Für all diese politische Regsamkeit bot das Jahr, 1840 aber auch einen Spielraum, der noch im Jahre vorher von niemand erhofft worden war. Wieder war es eine von Frankreich drohende Kriegsgefahr, welche einen kurzen Umschwung der deutschen Zustände bewirkte. Thiers entfesselte, um sich populär zu machen, einen gehässigen Preßfeldzug gegen Deutschland: die linke Rheingrenze ward in herausfordernden Wendungen reklamiert. Da sah man es an den Höfen wieder einmal vorübergehend gern, wenn die Deutschen sich als Deutsche fühlten; Beckers „Rheinlied“ trug dem Dichter vom König von Preußen ein Ehrengeschenk ein. Es war ein neuer König, der es verlieh. Nicht mehr der sanftmütige, altersmüde Mitbegründer der Heiligen Alliance, der sich von Metternich all die Zeit daher hatte nachgiebig gängeln lassen. Am 7. Juni 1840 hatte sein Sohn Friedrich Wilhelm IV den stolzen Thron der Hohenzollern bestiegen, von ungeduldigen Hoffnungen aller Vaterlandsfreuude begrüßt.

König Friedrich Wilhelm IV von Preußen.

Bestimmt erwartete man allgemein im Volke, daß er die von seinem Vater wiederholt versprochene Verfassung dem Staate Preußen nun verleihen werde. Und wirklich schienen die Erwartungen sich bald bestätigen zu wollen: die ersten Handlungen des neuen Königs waren liberal: er erließ eine Amnestie für alle politisch Verurteilten und Verfolgten; er verordnete eine mildere Handhabung der Censur; die Brüder Grimm berief er nach Berlin, Arndt und Dahlmann bot er in Bonn wieder ein Lehramt; er ließ Andeutungen laut werden, daß er einen Ausbau der Landesverfassung plane.

Was in weiten Kreisen der Nation an Hoffnungen sich regte, fand Wort und Klang in den Liedern begeisterter Dichter, welche die schmetternden Weckrufe ihrer Lyrik lerchengleich in die Morgenröte der vermeintlich schor tagenden neuen Zeit erschallen ließen. In des Hannoveraners Hofsmann von Fallersleben „Unpolitischen Liedern“, in des Schwaben Georg Herwegh „Gedichten eines Lebendigen“, in des Hessen Dingelstedt „Liedern eines kosmopolitischen Nachtwächters“ sprach sich neben der Empörung über die noch herrschenden Zustände voll Frühlingsstimmung die Zuversicht auf eine baldige Wiedergeburt des Vaterlands im Zeichen der Freiheit aus. Mit einer Antwort auf Beckers „Sie sollen ihn nicht haben“ trat der junge Robert Prutz in Halle, ein Stettiner, ins Feld; in seinem Gedichte „Der Rhein“ führte er aus, daß vom „freien deutschen Rheine“ nur dann erst mit Recht gesungen werden dürfe, wenn Dentschlauds Fürsten und Völker auch selbst wahrhaftdeutsch und frei wären!

Prutz    Hoffmann von Fallersleben    Freiligrath
Kinkel    Dingelstedt    Herwegh

Hoffnungsvoll blickten auch die Vaterlandsfreunde, die in Hallgarten zusammenkamen, auf den mächtigen Staat Friedrichs des Großen, von dem einst nach Deutschlands tiefster Erniedrigung unter dem Scepter Napoleons der patriotische Aufschwung der Nation seinen Ausgang genommen. Sie fühlten sich in ihren Erwartungen bestärkt, als auch in ihren Ländern das preußische Beispiel der Presse zu gute kam.

Wieder traten größere Zeitungen mit liberalen Programmen ins Leben, durch welche die Forderung der Bundesreform weithin Verbreitung fand. Eine Reise, die Welcker im Herbst 1841 nach Berlin und von da nach Hamburg unternahm, wurde zu einem Triumphzuge der von ihm so mannhaft verfochtenen Ideale. Ueberall, wo er sich aufhielt, war er Gegenstand von Ovationen; Sängervereine, Studenten brachten ihm Ständchen: Politiker und Schriftsteller, die in ihm einen Führer verehrten, veranstalteten ihm Bankette. In Berlin sprach er bei einer solchen Gelegenheit in feierlicher Anrede [63] die Mahnung aus: „Fahren wir fort auf allen gesetzlichen Wegen die gesetzliche Freiheit, die zugleich der kräftigste Schutz der Throne ist, zu erstreben. Wenn der hochherzige Stamm der Preußen, der uns, im innigsten Verein mit seinem ruhmwürdigen Fürstenhause, im Kampf um unsere Freiheit gegen den äußeren Feind voranging, ebenso vorangehen wird in dem gesetzlichen Kampfe um die Entwicklung der bürgerlichen Freiheit, dann erst wird unser Vaterland auf der Stufe des Glanzes, des Glückes und der Macht stehen, die ihm gebührt!“ In Hamburg fügte es ein schöner Zufall, daß Hoffmann von Fallerslebens kurz vorher auf Helgoland entstandenes Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ zum erstenmal öffentlich in einem Welcker dargebrachten Ständchen und in Gegenwart des Dichters gesungen wurde. Als das bei Fackelschein gesungene Lied mit den Worten verklang:

„Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh’ im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!“

rief der Sprecher der Sänger, Dr. Wille: „In der Gesinnung dieses Liedes der Deutschen, sei hier dem heldenmütigen, nie ermattenden Vorkämpfer für die heiligen Rechte des deutschen Volkes, dem badischen Ständedeputierten Welcker, als dem Manne der Entschiedenheit in Richtung und That ein dreifaches Hoch gebracht.“ „Ein donnernd Hoch,“ berichtet der Dichter in seinem Tagebuch, „ertönte aus tausend Kehlen. Seit der Anwesenheit Blüchers vor vielen Jahren soll man solche Begeisterung, solche Einmütigkeit nicht gesehen haben.“

Beide Männer, der Dichter wie der Politiker, sollten nach dieser festlichen Begegnung schweren Enttäuschungen entgegengehen. Als Hoffmann von Fallersleben nach Breslau heimkam, um sein Amt als Professor der deutschen Litteratur aufzunehmen, erfuhr er, daß inzwischen gegen ihn eine Untersuchung eingeleitet worden sei wegen der Anstößigkeit seiner „Unpolitischen Lieder“. Bald darauf war er seines Amtes entsetzt und aus Preußen verwiesen. Auch Welcker wurde wegen seiner in Preußen gehaltenen Reden daheim gemaßregelt und verlor aufs neue seine Freiburger Professur, in die er kaum erst wieder eingesetzt worden war. Ein erneuter Vorstoß der Reaktion war im Zuge.

Sehr bald zeigte sich auch, daß Friedrich Wilhelm IV keineswegs gesonnen sei, seinem Volke eine Verfassung zu geben. Und als er die Censur wieder in alter Strenge walten ließ und jeder liberalen Forderung die schroffste Ablehnung entgegenstellte, da begannen auch die Hallgartner Verbündeten in ihrem Kampf für das friedliche Ziel eine schärfere Tonart. Sie wurden die Leiter einer weitverzweigten Organisation der politischen Aufklärung: sie vereinbarten immer neue Formen, um die Ueberzeugung von der Unerträglichkeit der herrschenden Zustände in immer weitere Kreise zu tragen. Sie benutzten dazu nicht nur die ihnen noch belassene Redefreiheit der Kammern, sondern auch, im Wetteifer mit den Poeten der Zeit, die Litteratur und die mancherlei Möglichkeiten, welche der Buchhandel unter dem Druck jener Tage erfunden hatte, um trotz Censur und Preßpolizei politische Druckschriften unter die Leute zu bringen. Eben hatte die badische Kammeropposition, die durch Rottecks Tod 1840 einen schweren Verlust erlitten, bedeutsamen frischen Zuwachs in dem jungen temperamentvollen Mannheimer Advokaten Friedrich Hecker, dem aus der Schweiz heimgekehrten staatsmännisch veranlagten Karl Mathy und dem redegewandten Mannheimer Kaufmann Bassermann erhalten, die alle drei hinfort an den Versammlungen in Hallgarten teilnahmen. Mathy und Bassermany vereinigten sich zur Gründung einer Verlagsbuchhandlung in Mannheim; einer ihrer ersten Verlagsartikel waren die „Zehn Aktenstücke über die Amtsentsetzung des Professors Hoffmann von Fallersleben“. Im Jahre 1843 beging das badische Volk den 25jährigen Bestand seiner Verfassung mit großer Begeisterung. Die reaktionäre Regierung überließ es der Opposition, den milden Fürsten zu feiern, der sie verliehen, und Itzstein wußte mit großem Geschick die Gelegenheit auszubeuten, die überall im Lande veranstalteten Feste zu Kundgebungen im Sinne der vaterländischen Freiheitsforderungen zu machen. Als solche wirkte auch Mathys Schrift „Die Verfassungsfeier in Baden“. Blums Lieferungswerk „Der Verfassungsfreund“, sein Taschenbuch „Vorwärts“, an welchem u. a. Welcker, Hecker, Uhland, Herwegh, Hoffmann v. Fallersleben und Prutz beteiligt waren, dienten, gleich anderen Unternehmungen, der volkstümlichen Propaganda der politischen Grundsätze, welche Welcker in dem mit Rotteck gegründeten „Staatslexikon“ für das gebildetere Publikum leicht faßlich darzustellen bemüht war. Auch die politischen Dichter, die Friedrich Wilhelm IV hoffnungsvoll begrüßt hatten und zu denen sich jetzt Ferdinand Freiligrath, von allen das stärkste Talent, und der junge Bonner Professor Gottfried Kinkel gesellten, verschärften ihre Anklagen und Mahnungen als bekenntniskühne Anwälte der Rechte des deutschen Volkes. Bekannt ist, wie Hoffmann v. Fallersleben den feurigen Freiligrath bei einer Begegnung in Koblenz aus seinem beschaulich romantischen Poetenleben am Rhein aufrüttelte und dafür warb, den Interessen des Volks und des Vaterlands mit seiner Dichtung zu dienen. Es geschah auf einer jener Wanderfahrten, die in, den Jahren nach Hoffmanns Absetzung dessen Leben ausfüllten. Gleich den fahrenden Sängern des Mittelalters sah sich der Dichter genötigt, unstet von einer Rast bei guten Freunden zur andern zu ziehen, da die Ausweisung aus Preußen auch in anderen deutschen Staaten eifrige Nachahmung fand. Aber, unterstützt von seinen geselligen Talenten, der Gabe leichter Improvisation und der Fähigkeit, seine echt volkstümlichen politischen Lieder nach eigener Melodie vorzusingen, wurde er auf diesem Wege ein erfolgreicher Agitator für die Fortschrittsideale der sich ihm befreundenden Politiker, zu denen fast alle die Verbündeten von Hallgarten zählten.

Auf Welckers Landsitz bei Heidelberg, in Mannheim und Hallgarten bei Itzstein fand er wiederholt ein gastliches Standquartier.

Wie die Verbündeten aber im geschlossenen Vereine verfuhren, davon hat uns Friedrich Hecker ein Beispiel überliefert in einem gar anschaulichen Berichte, der sich auf die Zusammenkunft des Jahres 1843 bezieht. In späterer Zeit und im Exil hat er ihn für die „Gartenlaube“ als Lebenserinnerung niedergeschrieben; im Jahrgang 1869 (S. 552) ist derselbe unter dem Titel „Wie die geheimen Wiener Konferenzbeschlüsse an das Tageslicht gezogen wurden“ erschienen. Daß dem reaktionären Verhalten sämtlicher deutschen Regierungen ein gemeinsamer Plan zu Grunde liegen müsse, diese Erkenntnis hatte, wie wir sahen, zur Vereinigung der Männer des Volks geführt. Aber den Plan selbst kannte keiner der Teilnehmer. Da erhielt im Frühjahr 1843 „Vater Itzstein“ durch einen Gesinnungsgenossen von hohen Beziehungen eine Abschrift des geheimen Protokolls jener Wiener Konferenzbeschlüsse, welche die Antwort auf Welckers Forderung einer Volksvertretung beim Bunde, auf das Hambacher Fest, das Frankfurter „Attentat“ gewesen. Mit diesem Fund überraschte er bald danach die nach Hallgarten einberufene Versammlung. Nachdem er sich im geheimen mit sechs bis acht der Anwesenden beraten, wurden sämtliche Gäste nach dem größten Raume des Hauses, nach dem Billardzimmer geführt: man nahm Platz und Itzstein, ein Manuskript hoch in der Hand haltend, erklärte, endlich in den Besitz des Dokumentes der Verschwörung gegen das deutsche Volk gelangt zu sein. Feierliche Stille folgte seiner energischen, ausdrucksvollen, kurzen Anrede. Drüben glitzerten im Sonnenschein die Fenster des Johannisberger Schlosses. Erwartung, Spannung, gewaltsam niedergehaltene Erregung malte sich auf den Gesichtern der schweigenden Versammlung. Jtzstein händigte das Manuskript einem der Anwesenden – Hecker meint sich zu entsinnen, daß es Robert Blum gewesen sei – zur Vorlesung ein.

Langsam, feierlich, sonor und betont wurde das Aktenstück verlesen; mit der größten Spannung hingen die Blicke der Anwesenden an den Lippen des Vorlesenden. „Wir hatten,“ fährt Hecker fort, „mit einem Male den offiziellen Schlüssel zum Gebaren der Minister in allen konstitutionellen Lebensfragen, zu der Preßknebelung und dem Censurunwesen, der ganze Volks’ knebelungs und Verknechtungsapparat lag vor uns …. Daß die vollständige Enthüllung dieser Verschwörung gegen die Völker wie ein Sturm über das Land brausen und auch den Ungläubigsten und Blindesten, welche uns stets der Uebertreibung beschuldigten, die Augen öffnen müsse, daß der Einfluß der Veröffentlichung dieser geheimen Konferenzbeschlüsse auf die öffentliche Meinung und Stimmung ein unberechenbarer sein müsse, darüber war man sich allseitig klar.“ Und so wurde denn beschlossen, das Aktenstück heimlich drucken zu lassen, und zwar – um jeder Entdeckung der Urheber vorzubeugen – im Ausland, mit Pavier [64] und Typen, die wieder in anderen Ländern angeschafft wurden; den Satz besorgte ein „Mitverschworener“, der Philologe A. Deeg. Als dann die nächsten Ständeversammlungen eröffnet wurden, da lagen, wie aus den Wolken geschneit, auf jedem Ministertische, auf jedem Abgeordnetensitze Exemplare der geheimen Konferenzbeschlüsse…. Und nun gingen die Führer der Volksbewegung daran, mit allem Feuer ihrer Beredsamkeit gegen diese Vergewaltigung des deutschen Volkes zu protestieren. Ganz ebenso wurden von Welcker die Aktenstücke aus den Prozessen gegen Weidig und Sylvester Jordan, für deren Familien Itzstein eine nationale Sammlung einleitete, in den Kämpfen der Volkskammern um Oeffentlichkeit der Gerichte verwertet. Anhaben konnten die Regierungen den unerschrockenen Rednern nichts. Als aber im Jahr 1845 die Zusammenkunft der Vaterlandsfreunde in Leipzig bei Blum stattfand und Itzstein und Hecker von dort nach Berlin reisten, da wurden sie hier sofort von der Polizei zwangsweise genötigt, die preußischen Staaten ungesäumt zu verlassen und sich auf dem kürzesten Weg nach der Heimat zurückzubegeben.

Wer von den damaligen Patrioten sich alles an den Zusammenkünften beteiligt hat, ist leider nicht nachzuweisen. Der Bericht Heckers nennt von den badischen Volksmännern neben Itzstein und Welcker noch Sander, Bassermann, Hecker, Mathy, Winter, Farnow, Rindeschwender, Deeg, aus Sachsen v. Dieskau, Blum, v. Watzdorf, aus Köthen die Brüder Alfred und Ottomar Behr, aus Nassau Hergenhahn und die Brüder Leisler, aus Württemberg Fr. Römer, aus Hessen Gratz, Dnpre. Von Bayern dürfen wir in dem Pfälzer Willich einen ständigen Teilnehmer vermuten. Aus Robert Blums Briefen an Johann Jacoby in Königsberg u.Lr. konnte des ersteren Sohn feststellen, daß später auch dieser ebenso wie Heinrich Simon in Breslau und die beiden schlesischen Grafen Reichenbach zu den Verbündeten zählten. Und als man sich im Herbst 1847 um Welcker und Itzstein zusammenfand, jetzt nicht mehr in Hallgarten, sondern in einem kleinen Orte zwischen Darmstadt und Heidelberg an der Bergstraße, zu Heppenheim im Gasthof zum „Halben Mond“, da galt es einer Aktion zu gunsten der Bundesreform, die nicht mehr geheim gehalten wurde. Hier waren auch Hansemann aus Aachen und Mevissen aus Köln anwesend, von Württembergern nennt ein Bericht neben Römer noch Federer, Fetzer, Goppelt und Murschel, von Badensern noch Buhl, Tennig, Kapp, v. Soiron und Weller; von Hessen Wernher und v. Gagern.

Metternichs „System“ kam endlich doch ins Wanken. Wie war aber auch durch sein langes Schreckensregiment der Bewegung vorgearbeitet worden, wie ward sie jetzt unterstützt von aufregenden Ereignissen, die alle die Unhaltbarkeit der herrschenden Zustände lehrten! Vor allem in Preußen, wo der neue König sich schließlich doch zur Einberufung eines Landtags für den gesamten Staat hatte entschließen müssen, aber durch die Art, wie er es that, sogleich einen scharfen Konflikt zwischen Fürst und Volk herbeiführte.



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In der Chemnitzer Koch- und Haushaltschule.

Von Alma Bauer.

Bernsbachplatz!“ verkündet die Stimme des Kondukteurs der elektrischen Bahn. Wir verlassen den Motorwagen und befinden uns gegenüber einem stattlichen Schulgebäude.

Es ist Sommerszeit, und wenige Minuten fehlen an der siebenten Morgenstunde. In Scharen strömen von allen Seiten Kinder der verschiedensten Altersstufen herbei, und wir sehen zur Linken die Buben, zur Rechten die Mädchen in den weitgeöffneten Pforten verschwinden.

Wir folgen den Mädchen, doch nur bis in den unteren Korridor. Dann öffnen wir die zum Hofe führende Thür, durchqueren den geräumigen mit Bäumen bepflanzten Platz und nähern uns einem schmucken einstöckigen Gebäude im Ziegelrohbau, dessen eigenartige Dachkonstruktion uns den Schluß gestattet, daß es einem ungewöhnlichen Zwecke dient.

Auch seine Pforten sind gastlich geöffnet. Doch nur eine beschränkte Anzahl halbwüchsiger Mädchen – offenbar der ersten Klasse angehörig – schlüpft hinein. Das Kennzeichen der Schülerin, die Schultasche, vermissen wir an ihrem Arme. Dafür trägt jede ein Körbchen oder Handtäschchen, in dem außer dem Frühstücksbrot ein mit Band eingefaßtes ledernes Vortuch und zwei saubere Topftücher eingepackt sind.

Mit diesen Mädchen überschreiten wir die Schwelle der geöffneten Thür und befinden uns in der Koch- und Haushaltschule, welche die Stadt Chemnitz vor sieben Jahren als eine der ersten in Deutschland zu Nutz und Frommen der Schülerinnen ihrer Volksschulen errichten ließ.

Nachdem wir in dem geräumigen Vorzimmer unsere Sachen abgelegt haben, betreten wir, von der Leiterin und ihren Gehilfinnen freundlich begrüßt, die saalartige, helle, blitzsaubere Küche, nehmen an einem günstig gelegenen Punkte Platz und betrachten das bewegte Bild, das sich vor unseren Augen entrollt. Als seien die Heinzelmännchen in all ihrer Betriebsamkeit wieder erwacht, so erledigen hier vierzig fleißige Mädchen eine Anzahl vorbereitender häuslicher Arbeiten. Die einen putzen flink und sauber die zehn Kochherde, setzen Wasser auf und zünden das Feuer an – mit wenig Spänen und wenig Lärm, wie wir vergnügt bemerken. Andere tragen die Aschkästen fort, holen Kohlen und füllen die Wassereimer. Eine dritte Gruppe reinigt Kartoffeln für die heutige Mahlzeit, eine vierte poliert das sämtliche Küchengeschirr und wischt die Töpfe aus.

Das alles währt nur kurze Zeit. Auf einen Wink der Lehrerin begeben die Mädchen sich geräuschlos an ihre Plätze, und glaubten wir vorher in einer Küche zu sein, so fühlen wir nunmehr uns in die Schule versetzt. An die letztere erinnern auch das Katheder, die beiden Wandtafeln mit dem Kochrezept des Tages, die Hausordnung, der Stundenplan und verschiedene Anschauungsbilder.

An mäßig großen Küchentischen nehmen auf Schemeln je vier Mädchen Platz, so zwar, daß alle die Lehrerin ansehen.

Nachdem mit Gesang und Gebet das Tagewerk begonnen, erhalten die Kinder zunächst eine in Frage und Antwort gefaßte Unterrichtsstunde über die Nahrungsmittel, deren Beschaffenheit, Wert für den Aufbau des menschlichen Körpers, Preis, Aufbewahrung, vorteilhaften Einkauf; und zwar wird in jeder Lektion das für die Speise des betreffenden Tages gebrauchte Hauptnahruugsmittel besprochen, also die Milch beim Milchreis, das Ei bei den Nudeln, die betreffende Fleischsorte bei einem mit Fleisch verbundenen Gericht.

Heute giebt es „Saure Kartoffeln“, eine Mahlzeit ohne Fleisch, und da die Kartoffel bereits in einer früheren Lektion behandelt wurde, so lautet das Thema des heutigen Tages: Das Fett. Mit Interesse folgen wir der Entwicklung des Lehrstoffes. Wir hören von pflanzlichen und tierischen Fetten, von der hohen Bedeutung gerade dieses Nahrungsmittels für die Volksernährung; wir erfahren, daß der im Freien arbeitende Mensch seiner in reicherem Maße bedarf als der in geschlossenen Räumen und in sitzender Stellung Beschäftigte, und, daß es Pflicht der Hausfrau ist, den Ihren nicht nur überhaupt eine Mahlzeit zu bieten, sondern gerade diejenige, die ihrer Lebensweise am besten entspricht.

Am Schlusse wird das Rezept des Tages durchgenommen und die Lehrerin erteilt sehr genaue Anweisungen betreffs seiner Bereitung.

Nun kann das Kochen losgehen. Die vierzig Schülerinnen sind in zehn Gruppen gegliedert, von denen jede auf einem besonderen Kochherd eine Mahlzeit für vier bis sechs Personen bereitet. Jede Gruppe besitzt auch ihre kleine Kücheneinrichtung für sich. Ein Tisch nebst Schemeln, Wasser und Scheuereimer, Scheuertücher, Geschirrtücher, Holzgerät, irdenes, eisernes und auch emailliertes Geschirr sind vorhanden, aber alles ist höchst einfach und auf das Notwendigste beschränkt in der Art, wie jedes

[65]

Schneeballenkampf.
Nach einer Originalzeichnung von A. Mandlick.

[66] ordentliche Mädchen aus dem Arbeiterstande sich beim Eintritt in die Ehe ausstatten kann und wird.

Mit diesem Hinweis widerlegt sich die oft gehörte Behauptung, die Kochschule gewöhne betreffs der Beschaffenheit des Inventars ihre jungen Zöglinge an Ansprüche, die das bescheidene Heim nicht befriedigen könne.

Um den Kindern einen Begriff vom Preise der Mahlzeit zu geben, kauft zunächst je eines der vier Mädchen bei der Gehilfin an der Hand des Kochrezeptes die erforderlichen Zuthaten. Es hat zu diesem Zwecke eine Mark Wirtschaftsgeld erhalten und trägt alsbald die Ausgaben in ein Büchlein ein, welches sie der Lehrerin nebst dem restierenden Betrag am Schlusse der Stunde zustellt. Dieses Amt wechselt monatlich, ebenso wie verschiedene andere Pflichten, als da sind: Späne schnitzen, Feuerung besorgen, Wasser holen, den während des Kochens sich ansammelnden Aufwasch beseitigen und dergleichen.

Nicht alle Speisen erfordern zu ihrer Bereitung das gleiche Maß an Zeit und Aufmerksamkeit. So gilt es, die vielen Kinder in den Pausen unausgesetzt nützlich zu beschäftigen. Hören wir, wie die Lehrerin sich dieser Aufgabe entledigt, nachdem die angehenden Köchinnen ihre „sauren Kartoffeln“ soweit fertiggestellt haben, daß diese nur noch des Garwerdens bedürfen.

„Die erste Schülerin an jedem Tische bleibt am Herd und giebt auf das Essen und das Feuer acht, die zweite putzt Fenster, die dritte seift Thüren ab und reinigt das Vorzimmer, die vierte reibt das Blechzeug ab,“ ertönt das Kommando.

Hei, wie die Heinzelmännchen sich flink und fröhlich regen! Wie die straffe Disziplin und das anregende gemeinsame Schaffen auch in träge Körper Leben bringt! Sonderbar, daß die in der theoretischen Stunde oft Gescheitesten sich in der Praxis durchaus nicht als die Geschicktesten erweisen. Mit vieler Geduld werden die schwer Begreifenden immer wieder unterwiesen, die Nachlässigen ermahnt, die Langsamen angefeuert.

„Seht, das ist euer Putztuch!“ sagt die Gehilfin und verteilt an die Fensterputzerinnen halbe Bogen Zeitungspapier, die zu einem Knäuel zusammengerollt werden. Die Kinder lachen, aber sie probieren die Sache. Und siehe da! Das vorher sauber gewaschene Glas wird durch kräftiges Abreiben mit Zeitungspapier spiegelblank.

Mit demselben primitiven Putzmittel bearbeitet die vierte Gruppe das Blechzeug. „Natürlich scheuern wir mehreremal im Jahre mit Sodawasser und Zinnsand,“ erläutert die Lehrerin, zu uns gewandt, „aber für die allwöchentliche Reinigung genügt das Zeitungspapier. Wir lassen aus Prinzip unsere Kinder mit den denkbar einfachsten Mitteln arbeiten, damit keine später sich entschuldigen kann, es fehle ihr zur Aufrechterhaltung der Reinlichkeit am Material.“

„Und wie füllen sie an den übrigen Tagen die Pausen aus?“ fragen wir.

„O, wir haben immer viel zu thun und sind froh, wenn wir mit allem fertig werden. Da ist beispielsweise jeden Freitag die Wäsche.“

„Wie? Auch Wäsche wird in der Kochschule gewaschen?“

„Gewiß. Wozu hätten wir den stattlichen Waschkessel in unserer Küche und das nette Bleichplätzchen auf dem Hofe? Es sammeln sich bei uns jede Woche gegen 60 Geschirrtücher und ein paar Dutzend Handtücher an, ebenso eine Anzahl blauleinener und wollener Schürzen, welch’ letztere der Stadtrat für die ärmeren Kinder als Inventar angeschafft hat. Die Wäsche wird von der Donnerstagsklasse eingeweicht, am Freitag gewaschen und auf die Bleiche gebracht, Sonnabends gespült und aufgehangen, Montags gelegt, gerollt und ausgebessert.“ –

Doch die „sauren Kartoffeln“ sind gar und die Mädchen mit ihrer Arbeit fertig geworden. Der willkommene Ruf: „Zum Essen!“ versammelt im Nu die fröhliche Schar um den gedeckten Tisch, und, nachdem das Gebet gesprochen worden ist, wird mit Stolz und gutem Appetit der selbstbereitete „Kosthappen“ verzehrt, an dem im Interesse der aufnahmefähigen, jugendlichen Magen nur eins auszusetzen ist, nämlich, daß er nicht größer sein kann. In den Töpfen bleibt noch Essen zurück, aber es ist für andere bestimmt, für die Gefangenen des Arresthauses sowie für das Publikum, an welches ein Liter Essen zum Preise von 15 Pf. abgegeben wird.

„Durch diesen teilweisen Verkauf unserer Speisen decken sich vollständig die Ausgaben für die Nahrungsmittel,“ erläutert die Lehrerin, „so daß die Stadt nur für die Besoldung der Lehrerinnen und die Verzinsung des Anlagekapitals aufzukommen hat.“

„Und wie hoch beläuft sich der also geforderte jährliche Zuschuß?“

„Auf rund 3000 Mark für jede Kochschule.“

„Für jede? So haben Sie außer dieser noch eine derartige Anstalt?“

„Gewiß, und zwar eine von derselben Größe, denn wir unterrichten insgesamt 480 Volksschülerinnen, und zwar während des ganzen letzten Schuljahres, nicht, wie es an manchen Orten üblich, nur im halbjährigen Kursus.“

Während die liebenswürdige Lehrerin uns diese und manch’ andere Auskunft erteilt, haben die fleißigen Mägdlein die Spuren ihrer kochkünstlerischen Thätigkeit getilgt. In blendender Sauberkeit erstrahlen die Tische und Schemel, die Geschirr- und Topfregale, die Messer, Löffel und die Steinfliesen des Fußbodens. Von der letzten trocknen Oase, auf der wir mit der Lehrerin standen, retten wir uns nach dem Vorzimmer und nehmen dankend Abschied von dieser modernen Bildungsstätte, der wir ein herzliches „Wachse, blühe und gedeihe!“ zurufen. Mögen derartige Schulen, die in den jungen Mädchen den Sinn für Hauswirtschaft wecken, immer weitere Verbreitung finden!


Blätter und Blüten.


Karl v. Holtei. (Zu dem Bildnis S. 67.) Nicht nur im sangesfrohen Schlesien, seiner engeren Heimat, wird man in diesen Tagen gern und in Dankbarkeit des Dichters Karl v. Holtei gedenken, der am 24. Januar vor hundert Jahren in Breslau zur Welt kam. Wohl hat sich der Geschmack seit jener Zeit gewaltig geändert, da seine Singspiele und rührenden Dramen, wie „Lenore“ und „Lorbeerbaum und Bettelstab“, zu den beliebtesten Stücken der deutschen Bühne zählten; aber viele seiner Lieder leben noch heute mit der Frische echter Volkslieder im Bewußtsein der Nation und die besten seiner Romane finden im heranwachsenden Geschlecht immer aufs neue empfängliche Leser. Noch sind auch viele am Leben, die den liebenswürdigen wanderlustigen Dichter persönlich gekannt, ihn als dramatischen Vorleser, als unerschöpflichen Improvisator und humorvollen Anekdotenerzähler bewundert haben. Auch Schauspieler war er in seiner Jugend, aber nicht lange. Dann wurde er Theatersekretär und Theaterdichter; erst in Breslau, dann in Berlin, wo seine erste Frau, die Schauspielerin Luise Rogée, an der Hofbühne wirkte. Auch seine zweite Ehe schloß er mit einer Bühnenkünstlerin, die er wiederum nach kurzem Eheglück durch den Tod verlor. Er war damals gerade Theaterdirektor in Riga. Darauf führte er ein unruhiges Wanderleben als Vorleser dramatischer Dichtungen, vor allem Shakespeares. In dem unterhaltenden und gehaltvollen Memoirenwerk „Vierzig Jahre“ hat er diese an interessanten Begegnungen überaus reiche Zeit sehr anziehend geschildert. In ganz Schlesien aber ist Holtei als Verfasser der „Schlesischen Gedichte“, in denen er den treuherzigen Volkston und die eigenartige Dialektfärbung ausgezeichnet traf, gekannt, anerkannt und beliebt wie kein anderer Dichter. In späteren Lebensjahren schrieb Holtei größere Romane, meistens im Plauderton, zuweilen gefühlvoll oder selbst empfindsam im Stil Jean Pauls, dessen Sentenzen er ja auch in Verse gebracht hat. Großen Beifall fanden die „Vagabunden“, die reich sind an köstlichen Genrebildern aus dem Leben der umherziehenden Artisten und Schausteller. Einen wärmeren Ton schlug er in seinem gemütvollen Roman „Christian Lammfell“ an. In andern Romanen und Erzählungen zeigte er sich als ein kecker Realist, dessen Naivetät manche Kühnheit entschuldigt. Karl v. Holtei ist ein echter schlesischer Volksdichter; aber er hat auch der ganzen deutschen Lesewelt wertvolle Gaben gespendet.

Strandkapelle S. Ampeglio bei Bordighera. (Zu dem Bilde S. 37.) An der herrlichen Riviera di Ponente, am Fuße des Kap S. Ampeglio liegt, halbversteckt in blühenden Gärten und den sanft [67] aufsteigenden Olivenwäldern, die vielgerühmte Palmenstadt Bordighera. Es bedarf keiner großen Anstrengung der Phantasie, um sich hier sofort nach Syrien, Aegypten, Palästina zu versetzen, denn die Palmenfülle und Rosenpracht, die das Auge entzücken, sind ganz orientalisch. Ueber all diese Herrlichkeit aber geht das Meer, das blaue segeldurchwanderte Meer! Ein Blick auf diese schimmernde Bläue, ein Blick vom Kap aus über das leuchtende Land erfüllt unsere Seele mit Entzücken. An diesem Strande erhebt sich in der Nähe einer alten Klosterruine eine kleine Kapelle, an die sich einige Ueberlieferungen der Sage und Geschichte knüpfen.

Karl v. Holtei.
Nach einem Bilde aus dem Jahre 1860.

Vor grauen Jahren kam ein frommer Einsiedler aus der thebaischen Wüste herübergewandert ins Abendland, getrieben vom Geiste, irgend einer seßhaften Bevölkerung das Christentum zu bringen. Das wilde Volk der Ligurer schien dessen sehr bedürftig, das Land heimelte ihn an, so blieb er am Strande des Meeres sitzen, richtete sich eine Kalksteinhöhle an einem in die Flut springenden Felsen zur Zelle ein, führte in dieser Zelle siebzehn Jahre lang ein asketisches Dasein und lehrte und taufte vieles Volk, bis er 428 starb. Seine irdischen Reste blieben und bleichten in der Höhle und erfuhren hohe Verehrung von seiten der umwohnenden Fischer, Hirten und Winzer, die höchste aber im Jahre 1248, da sie in schönem Schrein gesammelt feierlich nach Genua abgeführt und in der Kirche S. Stefano beigesetzt wurden.

Ueber seiner Grotte hatte sich schon lange vor dieser Zeit ein Kloster erhoben, das aber die Sarazenen im Jahre 900 zerstörten. Der Einsiedler batte Ampelius geheißen. Nach ihm erhielt das ganze Kap den Namen Kap S. Ampeglio. W. Kaden.     

Das „Alt-Bremer Haus“ in Bremen. (Mit Abbildungen.)

Das „Alt-Bremer Haus“
in Bremen.

Unsere Großstädte sind in stetem Wachstum begriffen; immer mehr passen sie sich den Bedürfnissen der Neuzeit an, und immer mehr muß das Alte dem Neuen weichen. Ein erfreuliches Zeichen ist es aber, daß man vielerorts bei dieser Umwandlung Denkmäler alter Baukunst pietätvoll zu erhalten sucht. Die alte Hansestadt Bremen ist besonders reich an solchen altertümlichen Häusern, und neuerdings wurde in ihren Mauern das sogenannte „Alt-Bremer Haus“ an der Langenstraße 13 in gelungener Weise wieder hergestellt. Dasselbe, im Volksmunde auch „Essighaus“ genannt, stammt aus dem Jahre 1618, aus der Blütezeit Bremens vor dem Dreißigjährigen Kriege.

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Der große Saal im „Alt-Bremer Haus“.

Es wurde nach den Plänen des berühmten Baumeisters Lüder von Bentheim errichtet, dem Bremen die Stadtwage und das Kornhaus am Fangturm verdankt und der am Anfang des 17. Jahrhunderts auch das berühmte, aus dem 15. Jahrhundert stammende Rathaus in kunstverständiger Weise umgebaut hat. Ursprünglich soll es einen Besitz der Familie Esich gebildet haben, später wurde in ihm eine Essigfabrik eingerichtet. Das alte Haus besitzt eine architektonisch reich verzierte Front mit vorspringenden Söllerfenstern, die zum Teil in Barock-, zum Teil in Renaissancestil gehalten ist. Diese Front hat einen so hohen künstlerischen und altertümlichen Wert, daß das Kensington-Museum in London sie zu erwerben trachtete. Als dies bekannt wurde, kaufte Architekt Alb. D. Dunkel das Haus und erneuerte es unter sorgfältiger Benutzung aller vorhandenen Reste. Zu diesem Zwecke wurde ihm eine Beihilfe von 20000 Mark aus der Rolandstiftung bewilligt, welche den Zweck hat, interessante Bauwerke in Bremen zu erhalten. Die Wiederherstellung ist in trefflicher Weise gelungen. Der Besucher schaut wieder die Pracht eines altbremischen Patrizierhauses. Da sind der „Kantor“, die Lagerdiele mit Wohnstube, die Schlafzimmer, die Küche, der Rokokosaal wieder so eingerichtet, wie es in alter Zeit üblich war. Alte Tapeten, blaubemalte Fliesen und alte Gemälde schmücken die Wände, überall stehen altmodische Kachelöfen, und schöne Holzschnitzereien erfreuen an Galerien, Portalen etc. das Auge. Auf der Dielenwand sind Verse von Arthur Fitger zu lesen, in welchen die Geschichte des Hauses dargestellt wird. Unsere Abbildungen zeigen die Front des „Alt-Bremer Hauses“ und den „großen Saal“. Das schöne Bauwerk ist in den Besitz einer Weingroßhandlung übergegangen und dient nunmehr fröhlichen Zechern zum gemütlichen Aufenthalt.

Der Empfangstag. (Zu dem Bilde S. 40 und 41.) Eine Form der Geselligkeit, die sich neuerdings auch in unseren Großstädten schnell eingebürgert hat, ist der „bestimmte Tag“. Die Hausfrau bezeichnet den Bekannten und Freunden des Hauses einen Tag in der Woche, dessen Nachmittagsstunden sie regelmäßig zum Empfang freundschaftlichen Besuches offen hält. Es entwickelt sich daraus ein Verkehr von anspruchsloserem und zwangloserem Charakter, als ihn die eigentlichen Gesellschaften zulassen; die näheren Bekannten gruppieren sich nach eigner Wahl, wie es uns der Künstler hier im Bilde zeigt. Eine zahlreiche Gesellschaft, alt und jung, füllt den großen Salon; im Hintergrund haben sich die Musikalischen zu Gesang und Spiel des Flügels bemächtigt, im Vordergrund plaudern und lachen die anderen dabei unbekümmert weiter; sie sind eben bei den höchst interessanten Erinnerungen vom letzten Balle, und die Mädchen haben genug zu thun, um sich vereint gegen die Anzüglichkeiten des stets zu Späßen aufgelegten Lieutenants zu wehren. Weiterhin wird von poetischen Seelen ein litterarisches Gespräch gepflegt, auf dem Sofa aber und am Kamin flüstern die älteren Herrschaften leise und angelegentlich von Familien- und Gesundheitsverhältnissen. So kommt jeder zu seinem Rechte und alle haben sich zum Schlusse gut unterhalten.

Holländische Gasbrunnen. Eine neue Art der Beleuchtung hat sich seit kurzem auf vielen Bauernhöfen des nördlichen Hollands eingebürgert. Betritt man ein solches Bauernhaus, sei es in einem Dorfe, sei es weit entlegen von der nächsten menschlichen Wohnung, so ist man erstaunt, in dieser ländlichen Einsamkeit, wo man im Umkreis vieler Meilen mit Sicherheit auf die Abwesenheit jeder Gasanstalt schwören könnte, den Vorteil der Beleuchtung mit Gasglühlicht zu finden. Eine kleine Gaskrone von zwei bis drei Lampen im Wohnzimmer, eine Glühlampe in der Küche, auf der Diele, eine Gaslaterne vor dem Hause, ja eine Glühlampe im Kuhstall gehören in Nordholland auf den einsamsten Bauernhöfen keineswegs zur Seltenheit. Fragt man den Besitzer nach der Quelle dieses in solcher Umgebung höchst überraschenden [68] Lichtes, so wird er uns an den Brunnen auf seinem Hofe führen und auf den eisernen Behälter deuten, der wie ein umgekehrter Kessel mit der Oeffnung nach unten in den Wasserspiegel der Brunnenöffnung taucht und sich mittels Ketten und Rollen auf und nieder bewegen läßt. Die Quelle dieser ländlichen Luxusbeleuchtung ist sogenanntes Brunnengas, von dessen Brennbarkeit und Explosivität die Besitzer eines solchen Brunnens vor einigen Jahren auf unangenehme Weise überzeugt wurden. Daß aus dem Wasser der Gräben und der offenen, sogenannten Nortonbrunnen, durch welche im nördlichen Teil der Niederlande der Wasserbedarf auf dem Lande überwiegend gedeckt wird, häufig Sumpfgas entweicht, war den Anwohnern längst bekannt; man braucht z. B. im Winter auf solchen stehenden Gräben nur ein kleines Loch ins Eis zu schlagen, um das daraus entweichende Gas nach kurzer Zeit anzünden zu können. Durch Zufall lernte man auch die große Menge des Gases kennen, welches aus dem Wasser der offenen Norton- oder Abessynierbrunnen entweicht. Einige Knaben spielten am Rande eines solchen Brunnens mit Zündhölzern, das explosive Gemenge aus Luft und Sumpfgas, welches sich über dem Wasserspiegel in der Brunnenröhre gebildet hatte, wurde durch ein herabfallendes Streichholz entzündet, und einer der Knaben durch die emporschlagende Flamme schwerverletzt. Da das brackige, gelbe und salzhaltige Wasser der Nortonbrunnen als Trinkwasser höchstens für das Vieh gebraucht wird und von diesem ohne Schaden vertragen zu werden scheint, so verlor es auch nach der Entdeckung des Gasgehaltes nicht weiter an Wert. Dagegen kam ein Brunnenmacher aus Parmerend, Namens Lankema, auf den Gedanken, diese reichlichen Mengen von Brunnengas zur Beleuchtung zu benutzen. Zu diesem Zwecke werden in der oberen gemauerten Brunnenöffnung, in welcher sich das aufsteigende Wasser sammelt, die oben erwähnten Kessel oder Gasometer, deren Größe von einem bis zu mehreren Kubikmetern wechselt, an Ketten und Gegengewichten aufgehängt. In diesen Behältern hat das Gas, welches dem Brunnenwasser nur allmählich in kleinen Bläschen entweicht, am Tage und in der Nacht Zeit, sich zu sammeln, und beim Eintritt der Dunkelheit ist dann der dreiviertel oder ganz gefüllte Gasometer gebrauchsbereit. Ein Brunnen für 400 bis 1000 l stündlicher Wasserlieferung giebt in derselben Zeit 40 bis 200 l Gas ab, d. h. reichlich genug, um den Lichtbedarf eines Bauernhofes von 4 bis 5 Flammen und auch den Brennstoff für die meist noch daneben eingerichtete Gasküche zu liefern. Da das Sumpfgas an sich keine Leuchtkraft besitzt, sondern ähnlich wie ein Spiritusbrenner nur eine schwache blaue Flamme giebt, so bedient man sich zur Beleuchtung meistens der Glühstrümpfe, deren dünnes Gewebe auch durch lichtschwache Gase noch hinreichend in Glut versetzt wird. Das Kochen mit Gas dient neben seiner Bequemlichkeit und Sauberkeit und der Ersparnis an Brennmaterial dazu, den Gasbrunnen auch im Sommer, wenn es mit dem Lichtbedarf zu Ende ist, nicht unbenutzt zu lassen. Die Gasleitung vom Brunnen zum Hause besteht nur aus einem Hahn und einem darübergezogenen Gummischlauch, der den Bewegungen des Gasometers folgt und mit seinem anderen Ende auf ein dünnes zum Hause führendes Gasrohr gestreift ist.

In manchen Fällen wird das Gas, um seine Leuchtkraft zu verbessern, nach allen Regeln der Kunst karburiert, d. h. durch die Aufnahme lichtstarker Substanzen leuchtend gemacht, wie es auch in Gasanstalten häufig der Fall ist. Das geschieht einfach, indem man es vor der Benutzung durch einen Behälter streichen läßt, der zum Teil mit kleinen Stücken von Calciumkarbid oder mit Petroleumäther gefüllt ist. Durch die Vergrößerung der Brunnenanlage läßt sich auch die Gaserzeugung stark vermehren, und da man die letztere umsonst hat, die Anlage von Nortonbrunnen aber sehr billig ist, so werden in vielen Fällen Brunnen gebohrt lediglich zu Beleuchtungszwecken. Der erwähnte Unternehmer hat in Wieringerwaard einen Hof mit einem Gasbrunnen für 14 Flammen ausgestattet, und eine andere demnächst zur Ausführung kommende Anlage ist sogar bestimmt, 60 Flammen zu speisen. Bw.     

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Wohl bekomm’s!
Nach einem Gemälde von E. Rau.

Das Hofgestüt Lipizza. (Zu dem Bilde S. 57.) In der Grafschaft Görz und Gradisca liegt bei dem Dorfe Corgnale eine der interessantesten Gegenden des Karstes. Die Grotte von Corgnale zählt zu den großartigsten Höhlenbildungen Europas und östlich von ihr erstreckt sich die berühmte Höhle von St. Canzian. Nordwestlich von Corgnale aber grünt in der Fels- und Steinwüste eine frische und anmutige Oase, „das kaiserliche Hofgestüt Lipizza“. Dasselbe enthält ein ausgezeichnetes Pferdematerial, das sich durch seine schönen Formen, brillante Gangart und Ausdauer besonders auszeichnet. Hochedle spanische Pferde sowie solche aus der nahen Polesine bildeten die Stammeltern der heute als „Lipizzaner“ weltbekannten Rasse. Später brachte man arabisches Vollblut in das Gestüt. Unser Bild zeigt einige charakteristische rein Lippizaner Stuten und eine Vollblutaraberin. – Der Gestütmeister geht tags über wiederholt in Stall, Koppel und auf der Weide herum, um sich von dem Wohlbefinden seiner Schützlinge zu überzeugen. Die Pferde scheinen sich der Fürsorge ihres Herrn bewußt zu sein, denn sie folgen ihm, sobald er sich zeigt, auf Schritt und Tritt. *     

Cornelia, die Mutter der Gracchen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Unter den großen Staatsmännern des alten Roms ragen die Gestalten der beiden Brüder Tiberius und Gajus Gracchus bedeutsam hervor. In den schweren politischen und socialen Kämpfen, welche am Ausgang des 2. Jahrhunderts v. Chr. in der römischen Republik tobten, waren sie Führer der Volkspartei; aber nur vorübergehend konnten sie Erfolge erzielen und beide fanden in Straßenkämpfen frühzeitigen Tod. Auch ihre Mutter Cornelia zählt zu den berühmtesten römischen Frauen. Sie war die Tochter des Scipio Africanus, die Gattin des Sempronius Gracchus und hatte nach dem Tode desselben die Hand des ägyptischen Königs Ptolemäos ausgeschlagen; sie wollte nicht Rom verlasssen, nicht an den fernen Nil gehen, sondern in ihrer Vaterstadt am Tiber sich ganz der Erziehung ihrer Söhne widmen. Das dankbare Rom hat später der „Mutter der Gracchen“ eine eherne Bildsäule errichtet. Dauernder ist das Denkmal, das sie sich durch den bekannten Ausspruch gesetzt hat, der als ein Zeugnis echten Mutterstolzes und unverderbten Römersinns von den Geschichtschreibern aufbewahrt ward. Das Bild von G. Biermann führt uns die Begegnung der Cornelia mit einer andern Römerin vor, die zu diesem Ausspruch Anlaß gab. Auf ihr prunkvolles Armband zeigt die andere in siegesgewisser Eitelkeit, mit der Frage, ob Cornelia etwas Aehnliches zur Schau stellen könne. Nur Hochmut und Genußsucht spricht aus ihren herzlosen Zügen: Ihr gegenüber tritt Cornelia, auf ihre beiden Söhne zeigend, von denen der jüngere, Gajus, sich an sie schmiegt, während sie den einen Arm auf die Schulter des älteren, Tiberius, legt. „Diese sind mein Schmuck,“ sagt sie mit edlem Selbstgefühl. Mutter und Söhne zeigen denselben Adel der Züge. Doch nicht ohne Wehmut ruht unser Blick auf den beiden prächtigen Knaben, denen so früh schon ein tragisches Schicksal beschieden war. †     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.

Kinderschürze aus bestickten Streifen von Kongreßstoff. Alle Streifen der Schürze sind gleichmäßig bestickt, doch wechseln dabei die Farben der Stickerei regelmäßig ab, so das; immer ein Streifen Zierstiche aus blauem und braunem Stickgarn, der folgende ebensolche aus rotem und olivem Garn zeigt.

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Schürze aus gestickten Streifen von Kongreßstoff.

Diese Töne geben der Schürze ein freundliches Aussehen, ohne eine bestimmte Farbe zu kraß hervortreten zu lassen. Das Ausführungsmuster erklärt deutlich die Stickerei, dabei sind ganze und halbe Kreuzstiche, Vorstiche und Durchziehfäden angewandt. Die Streifen sind mit der Hand zusammengenäht, da die Nähmaschine sie ungleichmäßig zusammenziehen würde.

Wie an der Abbildung ersichtlich, bilden am unteren Rande der Schürze zwei zusammengesetzte Streifen eine eingezogene Garnierung. Einzelstreifen setzen sich zu einem kleinen Latz zusammen. Den übrigen Schmuck der graziösen Schürze übernehmen schmale Moirebänder, deren Farbe mit der Stickerei harmonieren muß. An unserem Modell sind dieselben helllederbraun. Selbstverständlich müssen die Bänder vor der Wäsche abgetrennt werden. M. L.     

Pyroskulptur. Eine neuartige Ausführung der Brandmalerei hat ein österreichischer Jurist, Professor Weißenbach, gefunden und ihr den Namen Pyroskulptur gegeben. Die Neuheit ist allerdings weniger eine Brandmalerei in dieses Wortes Bedeutung, als vielmehr eine Brandarbeit, insofern es hierbei nicht auf eine detaillierte Darstellung komplizierter Muster ankommt, sondern lediglich auf tief und derb eingebrannte Konturen kompakter Motive, die besonders der Fernwirkung zu dienen geeignet sind. Um aber diese rohe Ausführung lebendiger und künstlerischer zu gestalten, brennt Weißenbach den Grund außerhalb des Musters punzenartig mit allerhand Stempeln und Filetten ein und hebt außerdem das Muster von seiner schwarzbraunen Umgebung durch eine zarte Farbengebung ab, so daß ein herrlicher Effekt erzielt wird. Um die schöne Arbeit auch Dilettanten ausführbar zu machen, hat Weißenbach im Verlag von E. Haberland in Leipzig bereits 4 Hefte Vorlagen erscheinen lassen, welche ebenfalls von allen Freunden der Brandmalerei eifrig studiert werden sollten. Aber auch durch Herstellung sogenannter Dekorationsspitzen zum Ausbrennen des Grundes sucht man den zahlreichen Liebhaberkünstlern die Beschäftigung mit der Pyroskulptur zu erleichtern. Es sind dies, wie aus beistehender Abbildung ersichtlich, kleine Brennstempel, welche direkt auf den Platinastift gesteckt, mit diesem heiß gemacht werden und durch einfaches Aufdrücken auf die Holzfläche je nach ihrer Form allerhand Muster einbrennen, Kreise, Spiralen, Nullen, Sterne, Blätter, Kreuze etc. Die Dekorationsspitzen kosten 1 Mark das Stück und werden in 20 verschiedenen Formen geliefert. Da bei dem erforderlichen tiefen Einbrennen der Musterkonturen sehr leicht unsaubere Arbeiten entstehen, die Umgebung der Linien versengt würde etc., schlägt Weißenbach vor, das Holz mit einer Auflösung von Damarharz in Benzin ein paarmal tüchtig einzureiben. In der That erzielt man dadurch stets reine Striche.

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Handhabung der Formen für Pyroskulptur.

Kleines Stuhlkissen. Die Form ist bekannt, entweder ein mit Schleifen an der Stuhllehne befestigtes Kissen oder zwei von derselben Form, nach beiden Seiten über die Lehne hängend und durch Schleifen verbunden. Eine hübsche Dekoration dafür ergiebt sich aus den leicht erhältlichen Resten der englischen Belveteens, der bedruckten Sammete, die oft so reizende Muster zeigen. Man schneidet eine größere Blume sorgfältig aus, beklebt sie aus der Rückseite mit einem Stück gummierten Seidenpapiers, um ihr mehr Halt zu geben, worauf sie vorsichtig zwischen weichem Fließpapier zu pressen ist. Dann heftet man sie mit leichten, feinen Stichen ringsherum auf den Grundstoff des Kissens und überstickt die Ränder zierlich mit Seide in den Farben der Blume, auch Staubfäden, Adern etc. kann man mit Seide erhöhen; ein Seidenvolant bildet den Abschluß. Auch in einfachem Cretonne läßt sich auf diese Weise ein recht hübscher Effekt erreichen.



Hauswirtschaftliches.


Tischläufer aus gekrepptem Seidenpapier. in der Art der bekannten bunten Lampenschirme. Man kann nicht leicht zur Dekoration festlicher Tafeln etwas Hübscheres finden. Die Papierläufer sind in Stücken von mehreren Metern Länge in den größeren Papierhandlungen zu haben und zeigen, meist auf lichtem Grund, graziöse Rand- und Füllmuster. Die Farbe wählt man zum Tischgerät passend; zu allem blauen Service machen sich die blau, rot und gold bedruckten besonders zierlich. Bei guter Behandlung sind sie auch auf dem Familientisch verwendbar.

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Tischläufer aus gekrepptem Seidenpapier.

Verbrannte Braten genießbar zu machen. Jedes Mißlingen einer Speise ist für die Hausfrau ärgerlich, aber niemals ist der Kummer so groß, als wenn sie einen verbrannten Braten verloren geben muß. Bedeutet doch der Verlust dieses großen Fleischstückes eine merkbare Lücke in der ohnehin knapp reichenden Haushaltskasse. Aber wohl nur in den seltensten Fällen wird ein verbrannter Braten völlig unbrauchbar sein; ich wüßte aus langjähriger Küchenpraxis keinen solchen Fall zu nennen, da meist nur die Kruste – mehr ober weniger - wertlos und außerdem die Sauce allerdings völlig, unbrauchbar geworden war. Ein verbrannter Braten läßt sich retten, wenn man die Kruste so weit völlig abschneidet, als sie schwarz ist. Dann wird der Braten mit 1/2 l kochendem Wasser aufs Feuer gesetzt, auf beiden Seiten einige Minuten gekocht, dann nochmals in frisches kochendes Wasser gethan und wieder einige Minuten gesiedet. Durch dies Verfahren entfernt man die kleinen, etwa noch anhaltenden schwärzlichen Teile und auch den brenzligen Geschmack. Der Braten wird darauf getrocknet, leicht gesalzen, mit heißer Butter bestrichen und in frisch gebräuntes Fett gelegt, in dem man ihn nun wie gewöhnlich gar brät. Beim Nachgießen verwendet man etwas Milch und zuletzt einige Löffel kräftiger Bouillon aus Fleischextrakt. Der so behandelte Braten wird allerdings kleiner geworden, im Geschmack jedoch tadellos sein. – Ist es übrigens wirklich einmal vorgekommen, daß ein Braten so total verbrannt ist, daß selbst dies Verfahren ihn nicht retten kann, so kann man doch immer noch das Innerste benutzen, um eine Farce mit allerlei pikanten Würzungen aus ihm zu bereiten. L. H.     

Moorig schmeckende Karpfen zu verbessern. Ein moorig schmeckender Karpfen bereitet alles andere eher als Genuß, und die Enttäuschung für den Hausherrn ist eine sehr schmerzliche. Die Hausfrau kann es den Fischen vorher nicht ansehen, aber immerhin thut sie auf alle Fälle gut, vorsichtig vorzubeugen, wenn sie nicht genau weiß, woher die Fische kommen. Moorig schmeckende Karpfen verlieren ihren häßlichen Geschmack, wenn man ihnen beim Putzen und Schuppen die Kiemen völlig ausschneidet und die leeren Höhlungen wiederholt mit klarem kalten Wasser auswäscht, dem man so viel übermangansaures Kali zugesetzt hat, daß das Wasser eine dunkelrosa Farbe hat. He.     

Schnelligkeitssauce (für alle Sorten Fleischreste zu verwenden). Man zerläßt 50 g Butter, thut einen in Würfelchen geschnittenen, geschälten sauren Apfel, eine ebenso zerteilte kleine saure Gurke und eine geriebene Zwiebel hinein und schmort dies in der Butter weich. Dann giebt man einen Löffel Mehl, eine Prise Pfeffer und Zucker, eine große Messerspitze Liebigs Fleischextrakt, 3 Löffel Tomatenbrei und so viel Wasser hinzu, daß man eine sämige Sauce erhält. Man streicht sie durch ein Sieb. rührt sie heiß, schmeckt nach dem Salz und benutzt sie für alle Reste gekochten und gebratenen Fleisches, mit Ausnahme von Kalbfleisch und Geflügel.

Das Fleisch wird dazu in Streifen, Scheiben oder Würfel geschnitten, in die Sauce gethan und im Wasserbade erhitzt. Man röstet sodann Semmelkrumen in Butter bräunlich, kocht einige Eier härtlich, schneidet sie in feine Würfel und nimmt Kapern. Man verziehrt hiermit abwechselnd das Gericht und giebt Wasserspätzle dazu.

Auf diese Weise erhält man eine sättigende, wohlfeile und dabei von Ansehen und Geschmack gleich treffliche Speise selbst aus einfachen Kochfleischresten. He.     

[68 b]
Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel.
Von Frieda Tschiersch.

Skataufgabe. Von K. Buhle.

Der Spieler in Mittelhand sagt mit diesen Karten

(tr.B.) (p.B.) (c.D.) (c.9) (c.8.) (c.7.) (tr.As) (tr.K.) (p.As) (p.Z.)

Rot(coeur)-Solo an, verliert aber das Spiel, obwohl er die

(tr.Z.)

herausschneidet, denn die Gegner, von welchen der erste in seinen Karten ein Auge mehr hat als der andere, bekommen 60 Augen herein. Müßten aber die Gegner ihre Plätze wechseln oder ihre sämtlichen Karten gegeneinander umtauschen, so würde der Spieler gewinnen, obwohl er die eZ. nicht herausschneiden kann.

Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist in beiden Fällen der Gang des Spiels?

 Wechselrätsel.

Mit a ein Wind voll wilder Kraft,
Mit g ein Wort, das Sorgen schafft,
Mit d kommt es am Schiffe vor,
Mit n erfreut’s Mund, Aug’ und Ohr.       F. M.-S.


 Verwandlungsrätsel.

Mit B das Herz ihr selig pocht,
Mit K man’s in der Küche kocht.


Magisches Quadrat.

In die Felder nachstehenden Quadrats sind vier aus je vier Buchstaben bestehende Wörter so einzutragen, daß diese sowohl von oben nach unten, als auch von links nach rechts gelesen werden können.

1, den Kamönen Unterthan,
Sucht auf der dornenvollen Bahn
Der Bretter, die die Welt bedeuten,
Den Ruhmeslorbeer zu erbeuten.

2 wird von jenen hoch verehrt,
Die noch im Dunkel, abgekehrt
Vom Kreuz, in fernen heißen Landen
Ein wilder Kultus hält in Banden.

3, wetterwendisch, launenvoll,
Treibt es mitunter gar zu toll;
Der Ehemann vor allen Dingen
Weiß wohl ein Lied davon zu singen.

4 such’ im hohen Norden auf,
Dort eilt’s dahin in schnellem Lauf.
Von ihm berichten alte Sagen
Schon aus der Vorzeit grauen Tagen.

Von A nach 2 und von B nach 3, beide sowohl von unten nach oben als auch von rechts nach links gelesen, ergeben wiederum zwei Wörter, und zwar:

0A 2, im Süden ist’s ein Ort,
Einst tobten heiße Kämpfe dort.
0B 3, jenseit des Roten Meeres
Als bergig Land zu suchen wär’ es.
 Oscar Leede.


 Scherzfüllrätsel.

Fügt man in einem Strumpfteil ein,
Wird’s meist von Stahl und Eisen sein.
 F. Müller-Saalfeld.


 Rätsel.

Des Waldes Riesen tötet’s mit dem Zahn,
Entziehst jedoch zwei Strichlein du dem Wort,
So erbt mit seinen Wundern es vom Ahn
Beständig sich zum Enkelkinde fort.


Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 1.
Erst besinn’s, dann beginn’s.


Auflösung der Arithmetischen Aufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 1.
Es wurden 17 Enten, 23 Hühner und 60 Tauben gekauft.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 1.
Vendee.


Auflösung des Vorsetzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 1.

Trotzige Herzen. – 1. Richter, Trichter; 2. Ente, Rente; 3. Schatz, Oschatz; 4. Urban, Turban; 5. Wolle, Zwolle; 6. Rade, Irade; 7. Logau, Glogau; 8. Wald, Ewald; 9. Alma, Halma; 10. Ger, Eger; 11. Uhr, Ruhr; 12. Inn, Zinn; 13. Dom, Edom; 14. Adel, Nadel.


Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 1.
Joppe.




[Verlags- und andere Werbung - wird hier nicht transkribiert]


Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.