Die Gartenlaube (1898)/Heft 5
[132 c]
5. Heft. | Preis 10 cents. | 17. März 1898. |
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Antons Erben. Roman von W. Heimburg (4. Fortsetzung) | 134 |
Erfinderlose. Der Geigenmacher von Absam. Von Karl Wolf-Meran | 142 |
Ein Tag in Arkadien. Von J. Braun. Mit Abbildungen von A. Schmidhammer | 144 |
Wie das erste deutsche Parlament entstand. Ein Rückblick von Johannes Proelß. Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten. III. Märzstürme und Märzerrungenschaften (Anfang) |
147 |
Auf dem Kynast. Historische Erzählung von Rudolf von Gottschall (Anfang) | 151 |
Die redenden Kräuter der guten alten Zeit. Von Rudolf Kleinpaul | 160 |
Blätter und Blüten: Zum zehnjährigen Todestag Kaiser Wilhelms I. (Zu dem Bilde S. 133.) S. 162. – Die Tasso-Eichen in Rom. (Zu dem Bilde S. 137.) S. 162. – Ingeborg. (Zu dem Bilde S. 157.) S. 162. – Der Untergang des amerikanischen Panzerkreuzers „Maine“ (Mit Abbildung.) S. 163. – Der Gnu-Ochse oder Takin. Von Matschie. (Mit Abbildung.) S. 163. – Ein Bildnis Wielands. (Mit Illustration.) S. 164. – Ein marokkanischer Scherif. (Zu dem Bilde S. 161.) S. 164. – Das Lied. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 164.
Illustrationen: Zum zehnjährigen Todestag Kaiser Wilhelms I. Von H. Hidding. S. 133. – Die Tasso-Eichen in Rom. Von R. Püttner. S. 137. – Ein lustiger Fall. Von E. Defonte. S. 141. – Abbildungen zu dem Artikel „Ein Tag in Arkadien“. Von A. Schmidhammer. Bacchus verjagt die Erinnyen. Typen aus dem Festzug. S. 145. Tänzerinnen S. 146. Vom Münchener Künstlerfest: der Aufbruch des Bacchuszuges. S. 152 und 153. – Abbildungen zu dem Artikel „Wie das erste deutsche Parlament entstand“. Initiale. S. 147. J. B. Bekk. Großherzog Leopold von Baden. Die Deputation der Mannheimer Bürger wird bei der Abreise von Damen mit schwarz-rot-goldnen Schleifen geschmückt. S. 148. K. Braun. L. v. d. Pfordten. G. Duvernoy. F. Zitz. Th. Reh. A. Hergenhahn. S. 149. Uebungen der Hanauer Turner. O. v. Wydenbrugk. Fürst Karl von Leiningen. C. Wippermann. König Maximilian von Bayern. S. 150. v. Thon-Dittmer. F. J. Willich. S. 151. – Ingeborg. Von Hans Dahl. S. 157. – Ein marokkanischer Scherif. Von A. Hennebicq. S. 161. – Der amerikanische Panzerkreuzer „Maine“. S. 163. – Der Gnu-Ochse oder Takin. Von Anna Matschie-Held. S. 163. – Ein wiedergefundenes Bildnis Wielands. Von G. O. May. S. 164.
Der Luftdrache im Dienste der Wetterkunde. Wir haben bereits wiederholt von den gelungenen Versuchen berichtet, den Luftdrachen in den Dienst der Wetterkunde zu stellen. Nunmehr hat man in Amerika beschlossen, zwanzig meteorologische Stationen zwischen dem Felsengebirge und dem Atlantischen Ozean mit diesen neuen Erforschungsapparaten auszurüsten. Die Luftdrachen sind mit selbstregistrierenden Apparaten versehen, welche den Luftdruck. die Temperatur, die Feuchtigkeit der Luft und die Geschwindigkeit des Windes aufzeichnen. Dieselben werden täglich bis zu einer Höhe von 1600 m aufgelassen. Auf diese Weise wird man sehr wichtige Aufschlüsse über die Witterungsvorgänge in höheren Luftschichten erhalten. Durch den Vergleich derselben mit den am Erdboden angestellten Beobachtungen wird man in Zukunft das Wetter sicherer voraussagen können.
Kleinbahnen in Preußen. Nach dem Stande vom 1. Oktober 1897 befinden sich in Preußen im ganzen 223 Kleinbahnunternehmungen, die indessen von sehr verschiedener Länge und Ausdehnung sind. Verschieden ist auch die Betriebsart. 4 Bahnen (in Zeitz, Ems, 2 im Wiesbadener Bezirk) haben Seilbetrieb, 47 bedienen sich ausschließlich der Elektricität, 42 benutzen Pferdekraft, 118 Bahnen verwenden nur Lokomotiven und Rowansche Dampfwagen. Gemischten Betrieb mit Pferden und Elektricität haben 7 Unternehmungen, mit Lokomotiven und Pferden fahren 2, mit Lokomotiven und Elektricität ebenfalls 2, eine Bahn hat Gasmotorenbetrieb. Zur Beförderung gelangen vorwiegend Personen, dann aber auch Güter, Pakete und Lebensmittel.
Noch immer herrscht, wie aus diesen Zahlen hervorgeht, die Lokomotive; man sieht aber auch, wie der elektrische Betrieb den Betrieb mit tierischer Kraft überflügelt hat. Nicht uninteressant ist die Spurweite der Kleinbahnen. Die meisten haben die sogenannte normale Spur von 1,435 m, dann kommen Bahnen von 1 m, 0,750 und 0,600 m Spurweite. Daneben gibt es aber noch einer Reihe von Abstufungen.
Zur Erklärung diene, daß man in Preußen dreierlei Bahnen unterscheidet, nämlich Hauptbahnen, Nebenbahnen und die obengenannten Kleinbahnen, von denen letztere meist nur den örtlichen Verkehr vermitteln und besonderen erleichternden gesetzlichen Bestimmungen unterliegen.
Praktische fertige Seidengürtel für Zierschürzen. Die bunten Seidenbänder, welche die kleinen zierlichen Thee- und Tändelschürzen als Schluß meist tragen, erfordern ein Abtrennen und Wiederannähen bei jeder Wäsche, das bei beschränkter Zeit recht lästig wird. Man thut deshalb gut, sich ein oder zwei seidene Bandgürtel für diese Schürzen anzufertigen, welche man nur einfach abzuknöpfen braucht. Man muß allerdings einmal etwas mehr Zeit zur Fertigstellung anwenden, aber man kann sie sich ja nach Belieben wählen, wenn andere, dringendere Arbeit nicht vorliegt, und hat danach die Annehmlichkeit, immer die Schürzen zum Umbinden bereit zu haben. Man näht in den Bund sämtlicher Schürzen an jede Seite ein Knopfloch, schneidet nun aus Seidenband oder Seidenschnur in beliebiger Farbe passende Gürtel und versieht sie an den Seitenenden mit einem kleinen Knopf, so daß man sie beim Gebrauch nur ein oder abzuknöpfen braucht. Diese Gürtel haben sich uns seit Jahren als ungemein praktisch erwiesen. He.
Beförderung von Häusern über Wasser. Nachdem es in Amerika geglückt ist, auf dem Landwege Wohnhäuser, Schornsteine und dergleichen von einem Ort auf einen anderen zu versetzen, machte man dort jüngst den Versuch, zu diesem eigenartigen Transport auch den Wasserweg zu benutzen. Es sollte eine kleine Villa von der Stadt Arcala nach Eureka in Kalifornien versetzt werden. Das Haus war aus Holz gebaut und enthielt zehn Zimmer. Es wurde in üblicher Weise von seinem Grunde auf ein untergebautes Holzgerüst gebracht, und man rollte es auf Walzen ans Meeresufer. Hier wartete seiner ein Floß, das während der Ebbe auf dem Trockenen lag. Das Landhaus wurde auf dasselbe „verladen“, und mit nächster Flut stieß es, von einem Schleppdampfer gezogen, vom Ufer ab. Es wurde 12 km weit über das Meer geschleppt und in der Humboldt-Bai gelandet. Dann brachte ein Dampfwagen die Villa nach ihrem neuen, etwa 3/4 km vom Meeresufer entfernten Standort. Während des Transportes fiel nur der Stuck ab, sonst blieb alles am und im Hause wohl erhalten; nicht eine Scheibe brach entzwei.
Hübsches Gelegenheitsgeschenk. Kein abscheulicheres, die Nerven störenderes Geräusch giebt es, als knarrende Thüren! Das oberflächliche Oelen hilft in den seltensten Fällen, weil der Sitz des Knarrens meist in den Thürangeln ist. So knarrt die Thür lustig weiter, bis einmal der durch das Knarren fast wild gewordene Hausvater eine Energie der Verzweiflung entwickelt und sämtliche Thüren aus den Angeln hebt. Nun kann durch das Einölen der Angeln das Knarren beseitigt werden. Aber ungemütlich genug war’s vorher, und die Hausfrau hätte gern dem Uebelstand selbst abgeholfen. Das gelingt nur durch Unterschieben eines Beils oder noch besser durch den sogenannten Thürheber, ein aus massivem Holz geschnittenes Instrument, das etwa 36 cm Länge, 2 bis 5 cm Dicke hat, und zwar an der dünnsten Stelle 2 cm, an der stärksten Stelle 5 cm dick ist, während seine Breite 4 cm beträgt. Der Heber wird in leicht geschweifter Form geschnitten und erhält unten eine kleine Eisenschiene, die 8 cm lang und 4 cm breit ist und nach vorn abgeflacht gestaltet ist. Diese Platte wird mit Schrauben an dem Holzheber befestigt. Der Heber wird gebeizt und mit Ziernägeln in gefälligem Muster verziert. Oben wird ein Loch eingebohrt und durch dieses eine starke farbige Seidenschnur gezogen, an der man den Heber aufhängt. Will man ihn gebrauchen, so schiebt man den mit der Eisenschiene versehenen Teil unter die Thüre und tritt mit dem Fuß auf das obere dickere, leicht geschweifte Ende. Doch muß man darauf achtgeben, daß nicht zu stark gehoben wird, damit die Thür nicht aus den Angeln fällt. Dieser Heber dürfte ein hübsches Gelegenheitsgeschenk für Geburtstage oder auch Weihnachten bilden. – In Haushaltungsgeschäften giebt es auch sehr praktische aus Eisen gearbeitete Thürheber.
Gute Wintersuppe für den sparsamen Haushalt. Am Abend vor der Zubereitung weicht man 75 g weiße Bohnen und ebensoviel Erbsen ein, brüht sie am folgenden Morgen einmal ab und schüttet sie nebst drei zerschnittenen Möhren, einer zerteilten Zwiebel, einer Stange Porree, einer Sellerieknolle, sechs scheibig geschnittenen Kartoffeln und etwas frischer Petersilie in 50 g Suppenfett und 50 g Butter, in denen man die Zuthaten langsam 10 Minuten dämpft. Man füllt dann 2 bis 2½ l kochendes Wasser über die Gemüse, salzt die Suppe, würzt sie mit Pfeffer und kocht sie zwei Stunden, um sie dann durchzustreichen. Die Suppe wird nun leicht sämig sein. Man giebt Fadennudeln, die man für sich gar kochte, in die Suppe, fügt einen Theelöffel voll Fleischextrakt an und giebt geriebenen Käse und geröstete Brotwürfel dazu. L.
Ein Kochbuch in Versen. Die bekannte Jugendschriftstellerin Marie Beeg hat neuerdings ein hübsches Büchlein herausgegeben, das für junge Mädchen bestimmt ist, die in der Koch- und Backkunst noch nicht geübt sind. Der Titel des Buches lautet:„Das Kränzchen in der Küche“ (München, Karl Haushalter): es giebt Rezepte für solche Gerichte, die sich leicht und billig herstellen lassen und sich für die Bewirtung von Gästen am besten eignen. Diese Rezepte sind aber nicht in trockener Prosa, sondern in Versen abgefaßt. Wir geben eins als Beispiel wieder:
Mandelhäufchen.
6 Eiweiß werden frisch zu steifem Schnee geschlagen,
500 Gramm von Zucker dran gerührt,
500 Gramm geschälte Mandeln länglich
Und feingeschnitten dann dazu geführt,
200 Gramm von Citronat inmitten,
So ist der Teig bereit. Du holst geschwind
Oblaten dir herbei, mein liebes Kind.
Und fügst den Teig in Häufchen hübsch darauf.
[132 e]
[133]
Antons Erben.
(4. Fortsetzung.)
Christel geht neben den Männern, die den schweren Körper ihres Mannes tragen, die Treppe hinunter, ihre Augen haften auf seinen schmerzgequälten Zügen, und als er drunten auf dem Bette liegt, tritt sie helfend zu dem Arzt, der ihn eben entkleiden will. Mit einer raschen Bewegung nimmt sie den unseligen Brief aus der Tasche des Rockes und birgt ihn in der ihrigen. „Was ist jetzt das nötigste?“ fragt sie dann ruhig.
Der Arzt hat eben den Rockärmel aufgeschnitten. „Aether,“ sagt er, „überhaupt den Medizinkasten, dann Eis – Leinwand, Binden –“
Christel geht und kommt rasch mit dem Gewünschten zurück. Anton ist aus seiner Ohnmacht erwacht und starrt auf Christel. „Erschrick nur nicht,“ murmelt er, „es ist nichts – es thut mir nur so weh.“
Sie steht völlig teilnahmlos; da streckt er die gesunde Hand nach ihr aus. „Arme Christel, welche Last für dich!“
Auch hierauf keine Antwort. Er beachtet es nicht, unter der Hand des untersuchenden Arztes stöhnt er auf und preßt Christels Arm in seiner Qual. „Christel, ich halt’s nicht aus!“
„Doch!“ sagt sie heiser, „du glaubst nicht, was man aushalten kann.“
„Und liegen soll ich? Wie lange soll ich liegen, Doktor?“
„Ein Wochener acht bis zehn,“ ist die prompte Antwort des derben Herrn, „und ein Krankenlager wie das Ihre wird – so stelle ich mir vor – ein Vergnügen sein unter Frau Christels Händen.“
„Ja, ich pflege dich, natürlich, ich pflege dich!“ murmelt sie.
Die Schmerzen übermannen ihn so, daß er nichts mehr hört und der Arzt zu Chloroform seine Zuflucht nimmt, um die Untersuchung fortsetzen zu können. Christel hilft ihm. Anfänglich liegt Anton still, dann fängt er an zu schreien, sich zu wehren, endlich wird er ruhiger, aber er spricht – und was er spricht! Christel kann sich kaum auf den Füßen halten vor brennender Scham.
Nach Fränze ruft er, nach Edith – „mein Lieb, mein Leben!“ Er schilt auf Christel, sie soll ihm aus dem Lichte gehen, immer stehe sie da und verdecke Edith. „Geh! Geh!“ schreit er, „ich kann dich nicht sehen, ich kann dich nicht mehr sehen! Bringt sie fort, bringt sie doch fort!“
„Die meisten Menschen schimpfen in der Chloroformnarkose,“ sagt gelassen der Arzt, „die zartesten Damen gebrauchen manchmal Ausdrücke, deren Kenntnis man gar nicht bei ihnen vorauszusetzen wagt, sie haben sie auch thatsächlich im Leben nie ausgesprochen. Lassen Sie sich also nicht irritieren, Frau Christel, diese Edith ist ihm vermutlich in Wahrheit so gleichgültig wie der Spatz auf dem Dache.“
Christel antwortet nicht, sie macht nur eine abwehrende Handbewegung, und als nach längerem Bemühen der Arzt endlich erklärt: „Gott sei Dank, so schlimm ist’s nicht, wie es aussah; Frau Christel, Ihr Mann kann von Glück sagen. Nur das rechte Schlüsselbein ist gebrochen und eine starke Quetschung der Schulter und des Oberarmes vorhanden, mehr schmerzhaft als gefährlich!“ Da atmet sie auf. „Wie lange, glauben Sie, Herr Doktor, daß er damit zubringen wird?“ fragt sie.
„Na, heut’ und morgen kann er freilich noch nicht wieder in eine brennende Scheuer rennen, um den Flederwisch, die Baronesse Edith, herauszutragen, aber –“
„Die Edith?“ unterbricht Christel, während sie den Kranken anschaut, der wieder leise zu phantasieren beginnt.
„Das wissen Sie noch gar nicht?“ fragt der Arzt, indem er kunstgerecht den Verband mit einer Sicherheitsnadel befestigt. „Ich war zufällig zugegen, kam kurz vor dem Ausbruch des Feuers auf den Altwitzer Hof. Die Enkelin ist ein wenig bleichsüchtig, und die Gräfin hatte mich gebeten, mit vorzusprechen. Sie wissen doch, die alte Dame hat jetzt ihre Enkeltochter bei sich, ein ganz merkwürdiges Exemplar eines Backfischs, dieser an und für sich schon merkwürdigen Species. Die beiden Flederwische, die Edith von oben, in der übrigens Rasse steckt, und die lange Blasse, die eine ausgesprochene Vorliebe hat für Tiere, besonders Hunde, sind natürlich bei Ausbruch des Feuers wie besinnungslos hinuntergestürzt und Edith hat der Komtesse geholfen, das Vieh aus den Ställen zu retten. Es ist ja den beiden Mädels zu danken, daß das schwerfällige Pack der Knechte fast alles retten konnte, was da lebt. Die jungen Damen wiesen ihnen erst, daß man den Pferden das Geschirr auflegen muß, um sie überhaupt ’raus zu kriegen; aber ehe das dumme Viehzeug begreift, was es soll, hat ein Gaul nach der Komtesse geschnappt, ein ungebildeter Ackergaul, und sie eklich gequetscht am Oberarm. Das arme Ding war plötzlich kampfunfähig und ich brachte sie in das Herrenhaus. Plötzlich schreit sie Edith zu, die eben vom alten Grafen aus dem immer toller werdenden Tumult geführt wird: ‚Edith, in der Scheuer – der kranke Marko, der kranke Marko!‘ Das ist der große Neufundländer, der die Räude hat und zu welchem mich, in meiner Eigenschaft als Arzt, die Komtesse durchaus schleppen wollte, weil sie zu dem Specialisten der ‚Unvernünftigen‘ nicht genug Vertrauen hat. Und da – die Baronesse sich losreißen, mitten durch den Tumult stürzen, die kleine Thür des Thorflügels der bereits lichterloh brennenden Scheuer aufreißen und in dem Qualm verschwinden, war das Werk eines Augenblicks. Drei bis vier Männer stürzten hinterher, allen voran aber –“
„Mein Mann,“ sagt Christel.
„Ihr Mann,“ bestätigt der Arzt, der sich erschöpft gesetzt hat. Christel sieht erst jetzt, daß er von Rauch geschwärzt ist, daß seine Kleider naß sind.
„Und als er das Fräulein herausgetragen hat, springt er nochmals hinein und zerrt den halberstickten jammervollen Köter heraus und just in diesem Augenblick bricht ein brennender Balken herab und schlägt ihn zu Boden. Er kam bald wieder zu sich und ich nahm ihn in meinen Wagen und brachte ihn her, Fräulein von Wartau und das Unglückskind, die Edith, dazu, die übrigens putzmunter ist und, außer der angesengten Kledasche, keinen Schaden gelitten hat. Nun, Frau Christel, geben Sie mir ein Gläschen Cognac; ich muß nochmal hinüber nach Altwitz; aber auf dem Rückwege spreche ich wieder hier vor; inzwischen wundern Sie sich nicht: ehe er ganz wieder aus der Narkose erwacht, schwatzt er möglicherweise noch mehr dummes Zeug.“
Christel bringt den Cognac, dann besorgt sie trockene Kleidung für den alten Herrn. „Ja, so ein falsch dirigierter Wasserstrahl von der Wartauer Spritze bei zwei Grad Kälte – na, schaden wird’s nicht,“ meint er, „meine Alte muß mir eine kalte Einwickelung machen, probatum est. Auf Wiedersehen, Frau Christel!“
In dem Krankenzimmer ist es ganz still jetzt; Christel sitzt auf einem Stuhl zu Füßen von Antons Bette. Sie hat die Hände ineinander gelegt und sieht an ihm vorüber auf das Nachtlicht, das hinter dem durchsichtigen Porzellanschirmchen zuckt und flackert. Sie kann noch immer nicht klar denken, ihr Kopf schmerzt, wie im Krampf haben sich die Nackenmuskeln zusammengezogen. Das eine nur steht mit unanfechtbarer Gewißheit in ihr fest, daß sie fort muß von ihm. Aber das Wie? Das Wann? Und das schreckliche Bewußtsein ihres Unglücks! Könnte sie doch mit einem einzigen Menschen darüber sich aussprechen, aber mit wem? Mit Schwester und Schwager? Zu letzterem hat sie noch das meiste Vertrauen. Doch bei der Vorstellung, daß sie sagen muß: „Ich will mich von Anto trennen“, fährt eine brennende Glut über ihr Antlitz. Sie hört den Schwager fragen: „Warum, warum, Christel?“ – „Er liebt mich nicht mehr, er hat mich nie geliebt!“
Sie stöhnt dumpf auf. Wär’ sie doch lieber gestorben! Könnte sie doch sterben! Sie schämt sich, sie schämt sich so, ihr ganzes Leben kommt ihr entweiht vor. Das heilige Sakrament, das sie verbunden hat mit ihm, der Altar, vor dem sie mit ihm gestanden, ihre ganze einfache Welt, in der sie so treu gewaltet – besudelt, verdorben! Und die Erinnerung zieht sie zu Boden, die Erinnerung an das, was sie ihm war – ohne seine Liebe.
Sie steht plötzlich auf, rafft ein Tuch vom Sofa und ist [135] mit zwei Schritten an der Thür. Da stöhnt es hinter ihr, und dann hört sie leise und hastig den Erwachenden sprechen: „Christel – der Brief – der Brief in meinem Rock!“
Als sie sich umwendet, starren ihr die noch halb bewußtlosen Augen ihres Mannes entgegen. „Der Brief! Der Brief!“ ruft er.
Sie geht hinüber mit schwankenden Schritten und setzt sich wieder hin. Und mehr und mehr kehrt sein Bewußtsein zurück. „Den Brief – du hast ihn doch nicht gelesen, Christel? Du sollst ihn nie sehen, ich verbrenne ihn gleich – – armes Tier, und ich – und ich! Es geht ja alles vorbei, alles, auch das – Der Brief, wo ist der Brief?“ Er phantasiert noch von dem Hunde, den er gerettet hat – „Zu Hilfe, Karl, nimm du ihn – Christel soll nicht, darf nicht!“
„Der Brief steckt ja in deinem Rock, Anto,“ sagt sie laut mit seltsam veränderter Stimme, „und den Rock habe ich in den Schrank gehängt, hier ist der Schlüssel, Anto.“
Die kraftlose Hand packt den Schlüssel, eine erlösende Ruhe kommt über sein Gesicht. Und Christel geht und holt ihm starken schwarzen Kaffee, wie der Arzt es befohlen hat. Sie muß seinen Kopf stützen, ihm die Tasse halten, und sie zittert so dabei, daß das Porzellan klappernd an die Zähne des Kranken schlägt.
„Arme Christel, solch einen Schreck!“ murmelt er, nun bei vollem Bewußtsein. „Lege dich nieder, ich brauche nichts mehr, ich will ganz still sein.“
Sie schüttelt den Kopf, und als er ruhig mit geschlossenen Augen daliegt, tritt sie in die Fensternische und blickt in den Garten hinab. In dem ungewissen Lichte des halb verschleierten Mondes sehen die kahlen Bäume wie Gespenster aus. Dort drüben, jenseit der Mauer, der schwarze dunkle Strich in der Ferne, das ist der Wald; die verschlungenen Wege des Gartens leuchten herauf wie breite weiße Bänder, und hinter der Orangerie steigt der spitze Kirchturm auf. Ob sie in der Pfarre schon schlafen?
Sie hat eine Sehnsucht nach ihren Leuten wie nie in ihrem bisherigen Leben. An dem Bette der alten verdrießlichen Frau möchte sie niederknieen und schreien: „Mutter, mir ist so weh’ geschehen – lege die Hand auf meinen Kopf, daß er nicht zerspringt vor Jammer! Ich bin heimatlos, ich habe meinen Mann verloren – schlimmer als durch den Tod!“ Mit brennenden Augen starrt sie hinüber, und im Geiste hört sie die alte Frau murmeln: „Aber Christel, meine arme Christel!“
Ob sie hingeht? Ob ihr’s leichter würde, wenn ihr Herz sich ausklagen könnte?
„Pst! Pst!“ tönt’s hinter ihr, und wie sie erschreckt herumfährt, sieht der Doktor zur Thür herein und winkt ihr. Auf den Zehen schleicht sie an Antons Bette vorüber; der liegt still mit geschlossenen Augen.
„Er schläft, Herr Doktor.“
„Lassen Sie ihn, Frau Christel,“ sagt er stockend, „er kann ganz gut eine Weile allein bleiben. Der Diener mag sich hier ins Zimmer setzen für den Fall, daß er irgend etwas bedarf. Sie Frau Christel möcht’ ich bitten, nehmen Sie ein Tuch um und kommen Sie mit mir. Ihre alte Mutter ist nicht ganz wohl, – erschrecken Sie nur nicht – ich – ich –“ Er zuckt die Schultern, er wagt nicht weiter zu sprechen.
Und die Frau vor ihm sieht ihn an mit todblassem Gesichte, mit Augen, groß und leer. Dann nickt sie, sie hat schon verstanden. „Mutter stirbt?“ fragt sie tonlos.
„Sie ist recht krank, Frau Christel.“
„Kommen Sie, Herr Doktor!“
„Mein Wagen wartet, Frau Christel, nehmen Sie etwas Warmes um, es ist windig draußen. Einer Ihrer Neffen hat mich halbwegs Altwitz abgefangen. – Zum Donnerwetter!“ schnaubt er den Diener an, „machen Sie, daß Sie hineinkommen zu Ihrem Herrn, und wenn er nach Frau Mohrmann fragt, so sagen Sie, die hätt’ ich zu Bett geschickt. Ihrem Herrn thut weiter nichts not als Ruhe. Nachher komm’ ich zurück.“
Das kleine Pferdchen des Doktors trabt, so rasch es seine müden Beine und sein hungriger Magen erlauben, durch das Dorf und hält nach einigen Minuten vor der Pfarre. Christel stolpert mehr als sie geht über die Schwelle der Hausthür in den Flur hinein. Das Häufchen der Kinder sitzt bei der Lampe zitternd und schluchzend noch auf; es hat niemand daran gedacht, sie zu Bett zu bringen. Der kleine Anton wankt Christel entgegen. „Großmutter ist gesterbt vorhin,“ berichtet er wichtig, „sie sind alle oben.“ Christel schiebt das Kind zur Seite und steigt die Treppe empor.
Im Wohnstübchen der Verstorbenen sitzt der Pastor auf dem Sofa und hält seine schluchzende Frau an sich gepreßt; Louischen steht am Fenster und weint in ihr Taschentuch. Christel ist plötzlich eingetreten, der Arzt hinter ihr; sie sieht aus, als kämpfe sie mit einer Ohnmacht.
„Mutter?“ fragt sie.
Der Pastor streckt ihr die Hand hin. „Sie ist heimgegangen, Schwester!“ sagt er, ohne seine Frau loszulassen. Der Arzt ist indes in das Sterbezimmer getreten, nach ein paar Augenblicken kehrt er zurück. „Gehen Sie hinein, Frau Christel,“ bittet er mitleidig. Und Christel geht hinein in das kleine weiß getünchte Kämmerchen, in dem das schmale Bett im geschütztesten Winkel steht. Man hat die Fenster schon geöffnet, eine eisige Luft herrscht in dem kleinen Raum; auf der Kommode brennt ein Stearinlicht und flackert im Winde.
In den Kissen liegt friedlich die alte Frau, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, und schläft. – Sie ist keine zärtliche Mutter gewesen, sie hat gar oft gehadert und gescholten, hat geklagt über die Last, die ihr Gott auferlegte als Witwe mit drei Töchtern, aber da innen, im Herzen, da saß sie ja doch, die treuste Liebe der Welt, die echte rechte Mutterliebe.
„Mutter,“ sagt Christel vorwurfsvoll und kauert sich neben dem Bette nieder, „Mutter, jetzt durftest du doch nicht gehen, jetzt hätte ich dich nötiger gehabt als mein ganzes bisheriges Leben hindurch!“ Und ihr Kopf wühlt sich in die Kissen dicht neben der Schulter der Toten, und ein leidenschaftliches, bitterliches Schluchzen erschüttert sie.
Louischen hört es nebenan und kommt herein in das Sterbezimmer. „Aber, Christel,“ sagt sie in ihrer herben Art, „so faß dich doch! Ihr thut am allerschlimmsten, ihr beiden, und wißt doch, wohin ihr gehört, und habt noch einen, bei dem ihr euch ausweinen könnt. – Was soll ich denn sagen?“
Christel antwortet nicht; sie rafft sich nach einer Weile auf und will ohne Abschied fort, aber der Prediger läßt sie nicht. Er faßt ihre Hand und leitet sie neben seine Frau auf das Sofa, und dann holt er einen Stuhl für Louischen. Der Arzt ist gegangen.
„Ihre Zeit war erfüllet,“ beginnt der Geistliche; er ist vor den Frauen stehen geblieben und hat die Hände ineinander gelegt.
„Ja, ja,“ unterbricht ihn die unverheiratete Schwägerin, „wir wissen ja alles, Robert, was du sagen willst, aber darum thut’s doch weh – laß uns ausweinen.“
„Ich wollte nur sagen, liebe Louise,“ fährt er fort und kämpft seinen Unwillen über die Unterbrechung tapfer nieder, „daß man in Augenblicken, da der Tod eine Lücke reißt, fester und näher zusammenrücken, noch inniger und treuer miteinander fühlen und leben soll. Ihr drei Schwestern werdet euch, wenn möglich, noch lieber haben als bisher, denke ich, und ihr beiden, denen Gott einen Lebensgefährten gab, du, Lotte, und du, meine liebe Christel, ihr werdet unserer Louise jetzt die Mutter ersetzen wollen soviel als möglich, werdet ihr den schweren Weg, den sie allein gehen muß, nach Kräften zu erlei – –“
Christel sitzt mit einem Ruck plötzlich hoch aufgerichtet da, der Pastor ist jäh verstummt bei der verächtlichen Handbewegung, die sie macht. „Ich hätte dich morgen bitten lassen, zu mir zu kommen, Robert,“ beginnt sie mühsam, „aber ich finde, es ist besser, ich sage es euch allen noch heute – ich – es ist schon lange mein stiller Kummer gewesen, aber nun muß es ausgesprochen werden – ich – das heißt Anto und ich, wir wollen uns scheiden lassen – wir – er – – “ Sie bricht ab, die Sprache versagt ihr.
Die Worte sind wie ein Blitz eingeschlagen in die kleine Versammlung; unwillkürlich sieht Louischen sich nach der Thür um, hinter der die Tote schlummert, als fürchte sie, ihr Friede werde gestört. Die Pastorin schluchzt nach einem Weilchen noch heftiger als zuvor, der Pastor aber sieht mit gerunzelter Stirn auf Christel, die plötzlich wieder in sich zusammengesunken ist und mit den Fingern an den Fransen ihres Tuches zerrt.
[136] „Ihr werdet euch nicht trennen,“ sagt er laut, „ihr werdet thun nach Gottes Willen und gemeinsam eure Wege weiter wandern, wie ihr gelobt habt vor seinem heiligen Altar, denn was er zusammengefügt, das sollen wir in unserem sündigen, schwachen Meinen nicht zerreißen.“
Christel sieht ihn groß an. „Es muß sein!“ sagt sie kurz.
„Habt ihr euch denn gezankt?“ fragt die Pastorin außer sich. „Ich und wir alle haben gemeint, ihr lebt so glücklich miteinander – ach Gott, wenn Mutter das hätte erleben müssen!“
„Wir haben uns nie gezankt,“ erklärt Christel empört, und als fühle sie, daß sie eine Aufklärung geben müsse, fügt sie hinzu: „aber Anto ist sehr unglücklich, weil wir kinderlos sind, und ich kann nicht sehen, daß er sich weiter so grämt, und deshalb trenne ich mich von ihm.“
Sie steht auf und rafft ihr Tuch empor. „Bitte, sag’ nichts mehr, sag’ nichts mehr!“ fleht sie den Pastor an, der abermals zum Reden ansetzt. „Sieh, es kann doch nichts an meinem Entschluß ändern! Der liebe Gott weiß, daß er aus keinem böswilligen Herzen kommt. – Und sprecht auch nicht darüber, ich habe es euch ja nur anvertraut, weil ich keinen anderen Ort weiß auf der ganzen weiten Welt, zu dem ich fliehen kann, wenn ich Anto verlasse, als euer Haus. Gar nicht lange will ich euch zur Last sein, nur ein paar Tage, nur mit einem Male nicht gleich so meilenfern weg! Vielleicht ist’s gar nicht das Rechte, daß ich euch dies alles erzähle, aber wo soll ich mich denn ausweinen, wenn nicht bei meinen Schwestern? Wann ich komme, weiß ich noch nicht; Anto ist krank, ist verunglückt heute, ihr wißt es ja; an dem Tage aber, wo er meiner Pflege nicht mehr bedarf, da komme ich – nicht wahr, Robert, du jagst mich nicht fort – lieber Robert?“
Es liegt ein solcher Jammer in ihren Worten, in ihrer ganzen Haltung, daß der Mann stumm bleibt; er denkt auch wohl, daß der jetzige Augenblick nicht geeignet sei, um das verirrte Schaf auf den Pfad der Pflicht zurückzuführen. „Ich will dich heimbringen,“ spricht er unsicher.
„Das laß mich besorgen,“ sagt da plötzlich Louischen, „ich fürchte mich nicht, und abkommen kann ich ja jetzt auch, es ruft niemand mehr nach mir hier oben. – Komm’, Christel, wir wollen gehen!“
Und Christel läßt es ruhig geschehen, daß die Schwester ihren Arm in den ihrigen zieht und sie hinausführt auf die Dorfstraße, in die Nacht, wo der Februarwind sie anfällt mit eisigem Atem und ihnen die verweinten Augen kühlt. Anfangs gehen sie stumm nebeneinander, erst als sie in die Allee einbiegen, die zum Gutshofe führt – sie sind hier geschützt vor dem Winde durch die Scheunen, die sich rechts von ihnen hinziehen – sagt Louischen: „Du wirst nicht so dumm sein, Christel, und Ernst machen aus der Komödie!“
„Ich habe euch gesagt, was geschehen wird, Louischen; laß uns nicht mehr davon sprechen, heute, am Todestage der Mutter.“
„Wenn unser Haus heute brennt, würden wir auch löschen,“ ist die Antwort, „und dies ist schlimmer als Brand! Ich will dir etwas sagen, Christel, du gehst nicht von ihm, weil ihr keine Kinder habt, denn das wäre Unsinn; warum du aber gehst, weiß ich – du gehst, weil dein tugendhafter Herr Gemahl –“
„Anto hat sich nichts zu schulden kommen lassen,“ unterbricht Christel sie kurz.
„Weil Anto bis über die Ohren in die Baronesse verliebt ist – aus Eifersucht willst du gehen!“ vollendet Louischen bestimmt.
Christel zieht hastig ihren Arm aus dem der Schwester. „Du mischst dich in Sachen, die dich nichts angehen,“ sagt sie eisig, aber das Herz zittert ihr. Also andere wissen es schon, und nur sie, sie glaubte noch immer!
„So? Meinetwegen! Ich kann dir doch wenigstens vorstellen, welch eine grenzenlose Thorheit du begehen willst, indem du so bereitwillig Platz machst. Glaube nur nicht, daß du ihn durch Edelmut an dich fesselst, mein Kind,“ fährt sie fort, „er läßt dich ziehen und taumelt in die neue Ehe wie die Motte ins Licht, und du – grämst dich zu Schanden irgendwo in der Welt. Ich – wenn ich’s wäre, o ja, ich ginge auch meiner Wege, gewiß ginge ich, aber scheiden lassen würde ich mich nicht! So wie ich mich quälen müßte in Sehnsucht und Leid, so sollte er sich quälen um die, die er liebt und doch nicht zu seinem Weibe machen kann. – Er hat’s verdient um dich, der Schuft, und Schufte sind sie alle, alle, einer wie der andere!“
Christel ist stehen geblieben und betrachtet ihre Schwester mit ganz entsetzten Augen. Das Tuch ist dem alternden Mädchen vom Kopfe geglitten, ihre Augen glühen und ihre Hände haben sich geballt. „Nicht scheiden!“ wiederholt sie, „weggehen – weggehen – ihn allein lassen mit seinem Verlangen nach der andern! Wir können ja zusammenziehen, Christel, nach Leipzig oder Dresden – ich will dich bedienen, will dir helfen; aber laß dich nicht scheiden, ich bitte dich so sehr ich kann – er will ja nichts weiter, der – der – – “
Jetzt packt Christel die Aufgeregte an der Schulter und schüttelt sie wie einen jungen Baum. „Geh heim, du,“ sagt sie fast schreiend, „ich will nichts hören. Ich liebe meinen Mann – verstehst du? Ich liebe ihn, und was man liebt, kann man nicht leiden sehen! Du, du, wie muß es aussehen in deiner Seele!“ Und sie läßt so plötzlich die Schwester los, daß diese wankt, und dann läuft sie in das offenstehende Thor und über den Oekonomie- und Schloßhof und bleibt erst stehen an der Freitreppe, mit zitternden Gliedern, atemlos. Sie vermag kaum das Portal zu öffnen, es schwindelt ihr, und an Antons Bett sinkt sie halb besinnungslos in den Sessel, von dem der verschlafene Diener aufgesprungen ist.
„Christel,“ ruft Anton, der erwacht ist, „um Gotteswillen, Christel, was ist dir?“
Sie fährt empor und zerrt das Tuch von Schultern und Kopf, erhebt sich und bricht dann an seinem Lager zusammen; ihr Kopf liegt neben dem verwundeten Arm. „Verzeih nur,“ murmelt sie, „ich komme vom Sterbebett meiner Mutter!“
Die furchtbaren Aufregungen des heutigen Tages haben sie halb besinnungslos gemacht, aber sie fühlt doch, wie seine gesunde Hand auf ihrem Kopfe ruht, und sie hört, wie er sagt:
„Armes Weib! Gute alte Christel!“
„Ich habe dich lieb,“ flüstert sie, „und was man liebt, das – – “
Und dann ist die starke, unverzagte Christel mit den hellen klaren Augen ohnmächtig geworden.
Am folgenden Tage steht sie wieder fest auf ihren Füßen,
sie hat’s auch nötiger als je, aufrecht zu bleiben. Antons
Pflege, das Begräbnis der Mutter, und dann die Wirtschaft,
sie will doch alles so tadellos als möglich hinterlassen.
Hätte sie nur nichts gesagt zu Schwager und Schwestern, aber ein gesprochenes Wort ist nicht zurückzunehmen, leider! Als gegen Mittag der Pastor kommt unter dem Vorwand, nach dem Befinden Antons zu fragen, und mit ihr sprechen will, sagt sie nur: „Rede mit Anto kein Wort über die Angelegenheit, ich weiß selbst noch nicht, was ich thue; seiner Zeit laß ich dich’s wissen, Robert.“
Der besorgte Mann gelobt Stillschweigen und setzt sich mit einem Seufzer der Erleichterung an Antons Bett nieder. Zeit gewonnen – alles gewonnen, sagt er sich und entfaltet einen Zettel, auf dem er die Todesanzeige der alten Frau niedergeschrieben hat. „Ist’s euch so recht?“ fragt er.
Es ist ihnen recht, denn es ist schlicht und einfach abgefaßt.
„Und wegen der Kosten, Schwager,“ sagt Anton herzlich, „bitte, Christel, besprich dich mit Robert.“
„Für Mutters Begräbnis ist reichlich gesorgt,“ antwortet sie, „sie sparte seit Jahren dafür – ich danke dir, Anto.“
Draußen klopft es jetzt und das Stubenmädchen bringt ein kleines Briefchen an Anton, mit einer schönen Empfehlung von Fräulein Edith. Christel reicht es ihrem Mann und sieht, wie sich sein Gesicht rot färbt. „Bitte, lies es mir vor, Christel,“ sagt er.
Sie nimmt das Kärtchen aus dem Umschlag und liest mit einer Selbstbeherrschung, die ihr später unbegreiflich erscheint:
„Lieber Herr Mohrmann!
Wie geht es Ihnen heute? Es thut mir so furchtbar leid,
daß Sie, um mich und den guten alten Marko zu retten, so schwer
verletzt sind. Tante hat mich gescholten, aber sagen Sie selbst,
ich konnte doch das Tier nicht verbrennen lassen! Wenn Sie
[138] wieder wohler sind, will ich Sie tausendmal um Verzeihung bitten, und Frau Christel auch.
Heute habe ich eine große Bitte – darf Ihr Landauer mich nachmittags zur Station fahren, zu dem Dreieinhalbuhr- Zug? Meine Freundin Emma Zobel kommt mich besuchen, ich freue mich riesig darauf. Frau Christel paßt es gewiß nicht, jetzt mit Fremden zu speisen, deshalb wollen wir oben essen. Ja? Darf ich den Wagen bekommen?
Schönsten Gruß, gute Besserung!
Ihre Edith von Ebradt.“
„Bitte, Christel,“ sagt Anton, „gieb dem Kutscher Befehl, daß er zur rechten Zeit anspannt.“
„Ja, Anto!“ Sie legt das Kärtchen auf seine Decke und geht sofort hinaus. Auch in der Küche ordnet sie noch etwas Besonderes an für das Mittagsessen der Damen, dann tritt sie in die Hinterstube und kramt dort ganz unnützerweise herum, bis die roten Flecken der Erregung auf ihren Wangen verschwunden sind; erst jetzt geht sie wieder zu Anton. Viel Zeit zum Nachdenken, zum Verzweifeln hat sie heute nicht: der Arzt erscheint, dann Graf Altwitz, der Anton danken will für seine treue Hilfe beim Brande. Der alte vornehme Mann ist ganz bewegt, als er an Antons Bett tritt.
„Gottlob,“ sagt er einmal über das andere, „daß es so ablief, lieber Herr Mohrmann, gottlob! Und Sie, meine gnädige Frau, ich hoffe, daß auch Sie den Schrecken bald verwinden werden. Jedenfalls, so lange wir leben, meine Frau und ich, wird das Gefühl tiefster Dankbarkeit nicht verlöschen für Ihren Gatten. Der erste war er auf dem Hofe, der zu helfen kam, gnädige Frau, der allererste! Ja, ja – gute Freunde und getreue Nachbarn!“
Als Christel den Grafen hinausbegleitet, faßt er nochmals ihre beiden Hände.
„Ein Prachtmensch ist er, ein Prachtmensch! Sie können stolz auf ihn sein, liebe gnädige Frau.“
Christel sieht in die feuchten Augen des alten Herrn, wie fragend, forschend. Wenn du wüßtest, denkt sie, aus welchem Grunde er so wahnsinnig hinüberjagte, um als erster anzukommen, du würdest anders reden! „Ich danke Ihnen, Herr Graf,“ spricht sie freundlich.
Eben will sie wieder in das Krankenzimmer zurückkehren, da überfällt Edith sie mit einer stürmischen Umarmung. „O, Frau Christel! Frau Christel!“
Christel stößt sie im ersten Augenblick heftig zurück, leichenblaß im Gesicht. Ebenso schnell faßt sie sich aber, die schönen Augen des Mädchens sehen sie völlig verblüfft an; was kann das harmlose Kind dafür, daß es geliebt wird? „Verzeihen Sie, Fräulein Edith, ich war so erschrocken, ich dachte gar nicht an Sie.“
Edith schöpft Atem. „Bitte sehr,“ sagt sie kühl, „ich wollte Ihnen nur – wollte nur nach dem Kranken fragen –“
„Anto geht es so gut, als es den Umständen nach möglich ist. Danke vielmal, gnädiges Fräulein.“
Edith ist der Ton ungewohnt. So freundlich Christel auch spricht, es klingt etwas heraus, das sie beunruhigt.
„Ich habe sehr viel zu thun, Baronesse,“ entschuldigt sich Christel.
„Warum nennen Sie mich heute nicht Edith oder Ditta, wie sonst?“ fragt das Mädchen.
Aber Christel antwortet nicht, sie ruft nur von der Zimmerthür ihres Mannes her: „Der Wagen fährt pünktlich vor; verzeihen Sie, ich habe Eile.“
Edith beißt mit den Zähnen die Unterlippe und sieht ärgerlich auf die Thür, hinter der die große volle Gestalt der blonden Frau verschwunden ist. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und geht die Treppe hinauf in das Wohnzimmer ihrer Tante, und dort sitzt sie und redet kein Wort. Seit gestern weiß sie nicht mehr, wie ihr eigentlich zu Mute ist, seit gestern, wo er sie in seinen Armen aus dem Dunst und Qualm der brennenden Scheuer getragen, sie an sich gepreßt hat, als wollte er sie erdrücken.
Die ganze Nacht hindurch hat sie schlaflos gelegen vor Freude an diesem Abenteuer, vor Unruhe und dumpfer Gewissensangst. „Edith!“ hatte er gerufen, einfach „Edith!“, aber mit einer Stimme – nie wird sie dieses „Edith!“ vergessen; eine ganze Welt voll Qual und Jubel lag darin.
Sie steht endlich auf und tritt zu der alten Dame, die vor dem Kaminofen sitzt und mit Zeitunglesen beschäftigt ist.
„Fährst du mit zur Station?“ fragt sie, nur um eine Stimme zu hören.
„Ich denke gar nicht daran,“ ist die Antwort, „du würdest auch nicht entzückt davon sein, Kind, ihr habt euch gewiß viel zu erzählen. Uebrigens – kommt der Diener mit?“
„Darum habe ich nicht zu bitten gewagt, Tante!“
„Wer soll dir denn das Handgepäck in den Wagen tragen?“
„Es ist doch ein Packträger da, Tante?“
„Der ungezogene Mensch? Ich danke! Seitdem er das enorme Trinkgeld nicht mehr bekommt, womit dein Großvater die Leute zu verwöhnen liebte, thut der Mensch, als ob er uns nicht mehr kenne; im Gegenteil, er drückt sich sogar, wenn er jemand von uns sieht. Ja, man gilt eben nichts mehr,“ schließt sie mit einem tiefen Seufzer.
„Emma bleibt ja nicht lange, Tante, sie wird nicht viel Gepäck haben,“ sagt Edith. „Freilich, imponieren wird’s ihr nicht.“
„Mein Himmel! So bitte doch, daß der Mensch mitfahren darf, er weiß ja so wie so nicht, wohin mit der Zeit,“ entgegnet Tante Tonette. „Die Frau versteht ja gar nicht einmal, sich bedienen zu lassen. Als ich neulich unten war, putzte sie die silbernen Löffel und der lange Schlaps stand derweil im Hausflur und that schön mit dem Stubenmädchen.“
„Ach, Tante, jetzt, wo Mohrmann krank ist?“
„Mein Gott, was hat das damit zu thun?“ seufzt Tonette, „als ob er seinem Herrn die geringste Handreichung leisten dürfte! Das besorgt doch gewissenhaft Frau Christel höchstselbst? Ich bewundere nur die Geduld des Mannes. In meinem Leben habe ich noch nicht solch ein klettenhaftes Benehmen gesehen wie das ihre, so etwas von spießbürgerlicher Verherrlichung eines Ehemanns. Es muß zum Rasendwerden sein!“ Und Fräulein Tonette steht auf und reißt an dem altmodischen Klingelzug.
Das junge fünfzehnjährige Dienstmädchen erscheint und wird hinuntergeschickt mit einer Empfehlung, und ob Herr Mohrmann erlaube, daß der Diener mitfahre? Es sei des Gepäcks wegen. Nach einem Weilchen stolpert das rotblonde sommersprossige Ding wieder in die Stube. „Frau Mohrmann sagte ‚Recht gern‘,“ berichtet sie.
Fräulein Tonette wendet sich an ihre Nichte: „Na, siehst du wohl? Ich begreife überhaupt nicht, warum du nicht gleich darum gebeten hast. Diese Menschen sind ja einfach selig, wenn sie uns einen Gefallen thun können.“
Um zwei Uhr fährt Edith nach der Station; Kutscher und Diener in Feiertagslivree und im Wagen die federleichte Pelzdecke und das geheizte Fußkissen. Christel steht am Fenster in ihres Mannes Stube und sieht sie abfahren. Anton schläft ein wenig, er fühlt sich matt und angegriffen wie noch nie und klagt über Kopfweh. Es sei von der Chloroformnarkose, hat er Christel getröstet. Aber sie weiß so genau, was es ist – die immerwährende Sehnsucht ist’s, der Kampf in seinem Herzen zwischen Liebe und Pflicht, und der macht stärkere Naturen als die seine elend.
Sie gönnt sich keinen Augenblick Ruhe, sie hat so viel zu
ordnen, aufzuschreiben, zu thun. Uebermorgen ist das Begräbnis
der Mutter, und wenn das vorbei, will sie ja – – fort. Wie
sie es anfangen wird, das weiß sie noch nicht; sie hofft auf einen
Zufall. Drei-, viermal hat sie den Brief überlesen, den Brief
Antons an seinen Freund, und jedesmal ist ihr klarer geworden:
du mußt gehen! Ach, sie hat auch ihren Stolz. Lieber möchte
sie sterben, ehe sie hier bliebe, und sie wird auch sterben, sie
ist nicht imstande, sich vorzustellen, wie sie leben soll ohne ihn,
fern von ihm, der doch der Inhalt ihres Daseins ist. Dann
kommt, wenn sie Wartau verlassen haben wird, etwas, das sie
noch nicht deutlich zu begreifen vermag, etwas Banges,
Entsetzliches; endlos, grau liegt es vor ihr, das Leben, allein, als
geschiedene Frau.
– – – – – – – – – – – – – – –
Edith ist unterdes auf der Station angekommen; sie sieht ganz reizend aus in ihrem schwarzen Trauerkleide und dem hellen Jackett, auf dessen Aermel ein schwarzer Florstreif geheftet ist. Der große runde Hut mit dem einfachen schwarzen Band läßt das schmale Gesichtchen blaß erscheinen wie eine Narcisse; [139] die Augen sind noch glänzender, noch dunkler geworden. Emma von Zobel, eine sehr frische rosige Blondine mit übermütigem kurzen Näschen, fällt der Freundin um den Hals.
„Nett, daß der alte Prinz Julius starb und acht Tage Hoftrauer mir Gelegenheit geben, dich zu sehen,“ jubelt sie. „Uff! Der Mensch hat wahrhaftig auch mal das Ausruhen vom Vergnügen nötig,“ und sie wirft sich übermütig in die blauen Seidenpolster des Wagens. „Aber, Di, du bist ja bildschön geworden!“ ruft sie dann, „so blaß, so interessant – höre du, ich sterbe vor Neugier auf deine Erlebnisse.“
Edith wird rot und lenkt das Gespräch auf anderes. „Du mußt sehr vorlieb nehmen bei uns, Ma,“ sagt sie, „wir sind eben arme Leute.“
„Bis jetzt macht’s mir nicht den Eindruck von Armut,“ ist die fröhliche Erwiderung, und sie weist auf den eleganten Wagen und den Diener, der den Schlag zuwirft.
„Das ist geborgter Glanz,“ lächelt Edith, indem sich der Landauer in Bewegung setzt.
„So? Macht nichts, ich denke es mir einfach romantisch bei euch. O, ich bin so schrecklich gespannt auf deinen Lohengrin!“
„Wirst ihn schwerlich sehen, er liegt zu Bett.“
„Krank? Doch nicht etwas Ansteckendes? Du, Di, laß halten, da kehre ich auf dem Fleck um,“ ruft die erschreckte Freundin.
„Unsinn! Er ist gestern, als er beim Brande in Altwitz retten half, verletzt worden, das ist alles.“
„Ah! Wie war das? Erzähle doch,“ drängt Emma von Zobel, nun wieder im Gleichgewicht.
Edith berichtet in flüchtigen Sätzen der gespannt lauschenden Freundin die gestrigen Ereignisse, und währenddem ist der Wagen das Stück Chaussee entlang gefahren und rollt jetzt schon durch die Dorfstraße.
„Himmel, wie romantisch!“ ruft die kleine Blondine, „dich hat er gerettet? Sag’, Di, bist du wirklich um den Hund hineingerannt in die Flammen, oder wolltest du gerettet sein? Bekenne mal ehrlich, Di!“
„Schäme dich, Ma! So ein armes Tier – natürlich stürzte ich nur des Hundes wegen hinein.“
„Na, sei nur gut, Di, ich werde dein Abenteuer auch gewissenhaft an Edi Waldenberg berichten. Uebrigens, Di,“ sie sieht ihre schöne Freundin nachdenklich an, als sei sie neugierig, wie diese die Nachricht aufnehmen wird, „mit dem Edi – das ist ’ne schöne Geschichte – weißt du schon?“
„Kein Wort,“ versichert Edith wie elektrisiert, „wir leben ja hier wie auf einer wüsten Insel. Also, was weißt du, Ma? Was ist ihm denn passiert?“
„Denke dir nur – sein schwindsüchtiger Bruder, der Majoratsherr, hat sich verlobt!“
Aus Ediths Gesicht schwindet das zarte Rot, das eben noch ihre Wangen färbte; sie wendet den Blick zum Wagenfenster hinaus.
„Und der Edi,“ fährt Ma unbarmherzig fort, „macht seiner künftigen Schwägerin den Hof mit einem Nachdruck – ich sage dir, großartig. Die böse Welt behauptet, das seien die Präliminarien für später, er könne dann, wenn sie Witwe ist, der das ihr ausgesetzte große Wittum zufällt, ohne viel Federlesens sagen: ‚Ich habe dich schon geliebt, als du noch meinem Bruder gehörtest.‘“
„So?“ kommt es langsam von Ediths Lippen. „Wie interessant! Ich habe den Edi gar nicht für so klug gehalten.“
„Du bist ja blaß geworden, Di?“
Das schöne Mädchen antwortet nicht. In diesem Augenblick hält auch schon der Wagen vor dem Schlosse; aber es ist niemand da zur Begrüßung, Fräulein Tonette schlummert ein wenig im Lehnstuhl droben und Christel legt Anton eben eine neue Kompresse auf.
Die jungen Damen steigen nach oben, und auf der Treppe schlingt Emma von Zobel den Arm um Edith. „Du, wirst dich doch nicht im Ernst grämen um den Edi Waldenberg? Ich bitte dich, Di, die Sache ist ja mehr als aussichtslos.“
„Ich mich grämen?“ antwortet Edith, „ich denke nicht daran, ganz wahrhaftig nicht, Ma! Im Grunde ist er doch nur ein schrecklich dummer Junge, der gute Edi.“
Sie bleiben beide stehen und lachen, und dieses silberne Lachen klingt von den hohen Wänden des Treppenflurs wieder, fremdartig, ungewohnt in diesem Hause. Es ist, als ob all die alten nachgedunkelten Porträts der Wartaus aufwachten über diesen ungewohnten Jubel der Jugend und des Uebermuts.
„So,“ sagt abends Ma zu Edith, „jetzt bist du wieder die alte ‚tolle‘ Di, wie wir dich in der Pension nannten.“
Edith hat sich in ihr phantastisches Hauskostüm gesteckt, liegt in einem alten Fauteuil und wippt mit den Füßchen.
„Du kamst mir heute zuerst so wunderlich vor, so pedantisch – das kleidet dich gar nicht, Di. Uebrigens ist’s kein Wunder, denn Tante Tonette scheint mir eine ‚sehr einfache‘ Dame zu sein, und zum Sterben langweilig.“
„Glaubst du?“ fragt Edith und verzieht ironisch den Mund, „wenn du dich nur nicht irrst.“
„Die fließt ja über vor Edelmut! Wie gräßlich rührend zum Beispiel von ihr, daß sie sich Frau Christel anbietet, während des Begräbnisses im Nebenzimmer der Krankenstube zu bleiben.“
„Sehr rührend, es ist wahr,“ bestätigt Edith mit undurchdringlicher Miene.
„Schade, daß Wartau euch nicht mehr gehört; das alte Nest ist einfach himmlisch,“ fährt Emma von Zobel fort, „wirklich feudal! Ein bißchen sehr verblichene Pracht freilich, aber wenn ich mir das schön aufgefrischt vorstelle, Di, und mich hier lebend mit einem netten Mann, im nahen Verkehr mit den vielen Nachbargütern, die erste Rolle als schöne junge Frau spielend, im Winter in der Residenz, oder so – – furchtbar nett! Ich würde bei meiner Dienerschaft die Puderperücken wieder einführen, glaube ich, damit sie zum Stil des Schlosses passen.“
Edith lacht laut auf. „Wenn ich mir Frau Christel vorstelle, von gepuderten Dienern umgeben!“
„Ich sage ja nicht, daß diese Rustica hier residieren soll!“
„Nun, sie thut’s doch aber mal,“ antwortet Edith und schleudert ihren Schuh mit einer Fußbewegung über den Teppich.
„Freilich, Di, ereifere dich doch nicht; ich kann doch nichts dafür,“ schmollt Ma.
Nach einer Stunde haben die jungen Mädchen ihr Lager aufgesucht; Ma schläft sofort ein, Edith liegt mit heißem Kopf in den Kissen und starrt auf den Rokokospiegel, in dessen geschliffenem Glas bläuliche Funken blitzen, die der Mond ihm entlockt, der durch einen Spalt der Vorhänge blinzelt. Plötzlich springt das Mädchen auf und huscht hinüber zu dem Bette ihrer Freundin.
„Ma,“ sagt sie halblaut und rüttelt ihre Schulter, „liebe Ma!“ Und sie kniet vor dem Bette nieder – „Ich muß dir etwas sagen, Ma, mir drückt’s das Herz ab sonst,“ flüstert sie dicht am Ohr der erwachten Freundin, „ich bin furchtbar unglücklich, Ma, ich liebe den Lohengrin!“
„Riesig interessant!“ gähnt Ma, halb noch im Schlummer, „wenn er nur nicht Mohrmann hieße.“
„Ma, spotte nicht!“ schluchzt Edith, „es ist ja so schrecklich, begreifst du denn das nicht? Es ist ja so schrecklich!“
„Das ist dein Ernst?“ fragt jetzt die Freundin und setzt sich völlig aufrecht im Bette.
„Ja! Seit gestern weiß ich es, Ma, seit er mich aus dem Feuer trug.“
„Ich dachte seit heute, wo ich dir vom Edi erzählte?“
Edith überhört das und schluchzt nur noch mehr.
„Geh schlafen, Kind,“ tröstet Ma. „Morgen sprechen wir weiter, wenn’s überhaupt lohnt, darüber zu reden.“
Und Edith sucht das Lager auf und weint sich in den Schlaf, und ihr träumt, daß sie zugegen ist, wie Edi Waldenberg ihre Verlobungsanzeige bekommt. „So, so!“ hört sie ihn sagen, „mit dem Mohrmann, der sich ihretwegen von seiner Frau scheiden läßt?“ Und dann fährt er sich verzweiflungsvoll in die Haare – „Edith, ich liebe dich, warum hast du mir das gethan?“ Und sie muß lachen, ach, so sehr.
Sie hat ganz laut gelacht und erwacht darüber mit heftigem Herzklopfen. Wo ist sie denn? Wie ist ihr denn? Sie liegt in ihrer Schlafstube in Wartau, der Mond blinzelt durch den Vorhang und die Schloßuhr schlägt eben Eins, und unter ihr sitzt Frau Christel am Bette ihres kranken Mannes und Edith sieht sie im Geiste so deutlich vor sich. So fest sitzt sie da und so sicher, die große blonde Frau, wer könnte sie zwingen, von diesem Platz zu weichen? Und Edi – Edi bleibt arm, wenn sein Bruder, der schwindsüchtige Majoratsherr, heiratet, und Edi macht der zukünftigen Witwe schon jetzt den Hof – aus Berechnung! Er [140] hat Edith nie geliebt, der Edi – nie – nie! – Und das, was edle Charaktere vertieft, läutert, emporhebt, das entzündet in dem Herzen des ohne Liebe aufgewachsenen, von Fremden umhergestoßenen Kindes etwas Unheiliges, Düsteres. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles was sein ist,“ das war ihr heute noch beängstigend durch den Sinn gegangen – aber jetzt?
Sie lebt, sie muß leben, sie ist ein armes adliges Fräulein; sie hat nichts gelernt als ein wenig oberflächliches Zeug, und sie will glücklich sein, will ihr junges Dasein genießen! Sie kennt den Eindruck, den sie auf den Mann dort unten gemacht, der sich in den Besitz ihres mütterlichen Stammhauses gesetzt hat, und sie wär’ doch die einzige Erbin gewesen. Gut! Sie wird versuchen, dieses angestammte Heim zurückzugewinnen, die Frau Christel dort unten zum Aufgeben ihres Platzes zu bewegen – der Edi soll sich ärgern, und wie soll er sich ärgern! Verzweifeln soll er, der Mensch, der schlechte!
Was dann wohl aus der Frau wird, der Frau, die so viel Gutes, so viel Freundlichkeiten für das vaterlose und mutterlose Mädchen gehabt, das nur aus Gnade und Barmherzigkeit eine Zuflucht fand in dem Winkel des kargen Haushalts der verarmten Tanten? Bah! Die Frau Christel ist das Arbeiten gewohnt und das Dienen, aber Edith nicht, und sie ist die Geliebte, die einzig Geliebte, sie weiß es genau seit dem Augenblick, wo er sie an sich preßte, so leidenschaftlich, so selbstvergessen – –.
Das Recht des Stärkeren nimmt sie für sich in Anspruch, wie es Brauch ist in der Welt – weiter nichts! So beschwichtigt sie ihr Gewissen. Und die Leute haben ja nicht einmal Kinder! Ja, wenn sie Kinder hätten, denen die Mutter fehlen würde – aber so? Die Sünde ist klein, und ihre Verlassenheit so groß!
Und sie wischt die letzten Thränen um Edi aus den Wimpern und legt sich auf die Seite. „Ma,“ sagt sie im Einschlafen, „Ma, ich liebe ihn, glaube es mir.“
Auf dem Gottesacker sind die Leidtragenden um das offne Grab versammelt, über dem der Sarg steht, in welchem Christels Mutter schläft; die drei Schwestern, die Pastorskinder und eine ganze Menge Leute hinter ihnen; die Männer in wunderlich altmodischen Cylindern, die Frauen mit schwarzen Kopftüchern oder Hüten. Wenn aus dem Pastorhause einer begraben wird, so geht selbstverständlich die ganze Gemeinde mit.
Draußen auf der Landstraße hält der Landauer Mohrmanns. Er ist leer dem Trauerzug nachgefahren, denn Christel hat es vorgezogen, zwischen den zwei Schwestern hinter dem Sarge zu gehen, obgleich es ein häßlicher, naßkalter Februartag ist, dieser Fastnachtsabend, an dem die alte Frau begraben wird. Ein naßkaltes Gemisch, halb Regen und halb Schnee, peitscht der Wind durch die Luft und die meisten stehen da mit aufgespannten Regenschirmen. Der Pastor spricht am offnen Grabe; es ist eine Rede mehr zur Mahnung an eine Lebendige als zur Ehrung der Toten. „Was lernen wir in den Minuten, da wir einen Dahingeschiedenen der Erde wiedergeben?“ fragt er. „Daß wir nimmer genug thun können im Lieben, so lange er unser ist, daß wir treu sein sollen gegen die, die Gott uns gab als Gefährten auf dem dornenreichen Pfad des Lebens, so lange sie mit uns wandern dürfen, seien es Eltern, Geschwister oder Gatten! Sie lehren uns, daß Trotz und böser Wille gegen unsere Lieben, die ja auch nur schwache Menschen sind und irren können wie wir, schlimme Dinge sind, die uns gar bitter weh thun können. Und noch so heiße Reue bringt nicht eine einzige Minute gemeinsamen Lebens wieder!
Liebe Gemeinde, seid freundlich zu einander, übet Geduld, damit, wenn der Tag des Scheidens kommt – und wer weiß, wie nah’ er ist – keine Reue euch klagen lässet: hätten wir doch mehr Liebe, mehr Nachsicht geübt! Ach, wenn er noch einmal neben mir stünde, nie wollten wir murren, nie ihn verlassen!“
Christel sieht den Redner unverwandt an, wie der Redner sie, aber sie schlägt die Augen nicht nieder. Was weiß er von ihren Kämpfen – was versteht er von ihrer Liebe? Hat er denn den Brief gelesen, den verzweifelten Brief Antons? – Christel weiß, was sie zu thun hat; sie wird ihren Weg gehen, unbeirrt. All die schönen Worte sind für sie inhaltsleer, denn sie passen gar nicht auf ihren Fall. Wie gern würde sie ausharren an Antons Seite, aber dann würde er unglücklich bleiben, und das könnte sie nicht ertragen. Auch ist etwas in ihr lebendig geworden, das sie bisher nicht gekannt, etwas Mächtiges, Unabweisbares – der Stolz, der gekränkte, bis aufs äußerste gekränkte Stolz der Frau, die ihre Pflicht that, immer, und nun um einer andern willen aufgegeben wird. Sie will nicht die Wirtschafterin, die Magd sein, und sollte ihr bei dem Scheiden von ihm das Herz brechen!
Wenn sie nur erst fort könnte, fort, so lange der Stolz in ihr lebendig, und wenn sie nur erst wüßte, wie sie fortkommen kann! – Das ist ihre größte Sorge augenblicklich.
„Amen!“ sagt der Geistliche jetzt. „Amen!“ wiederholt sie halblaut. Sie hat gar nicht gehört, wie das Vaterunser gesprochen wurde, obgleich ihre Lippen sich flüsternd bewegten, als betete sie mit. Nun wirft auch sie mit den andern die drei Hände voll Erde in die Gruft hinunter, die Schwestern neben ihr weinen so laut, und die Leute kommen und drücken ihr und den andern die Hände, ihr Schwager auch.
„Ich wollte, du könntest weinen, Christel,“ sagt er mild. „Die Frau soll weinen können an solchem Grabe, als ein Zeichen, daß sie sich unter Gottes Willen beugt: du weißt, Herr, wie es am besten ist, führe du mich weiter! – Aber du bist starr und kalt und deine Miene ist, wie ich sie nicht kenne an dir, trotzig. Geh’ heim, Christel, setze dich an das Krankenlager deines Mannes und nimm seine Hand in die deine, und danket beide dem gütigen Gott, daß ihr noch bei einander seid!“
Er faßt ihre Hand und führt sie dem Wagen zu; Schwester Louise und die Pastorin folgen, von teilnehmenden Frauen umringt. Christel ist es wie eine Erlösung, daß die Schwestern nicht darauf warten, sie noch im Pastorhause zu sehen; sie möchte um keinen Preis mit ihm noch einmal reden über die traurige Angelegenheit.
Am Wagenschlag, im Regen und ohne Schirm, steht auf Christel wartend – Edith von Ebradt. Der Prediger fühlt, wie die Hand der Schwägerin in der seinen zuckt, aber ihr Gesicht verrät nichts, nur um ein wenig bleicher ist’s noch geworden. Das junge Mädchen drückt ihr die Hand und murmelt ein paar teilnehmende Worte, und wie es der Tante leid sei, nicht auch der Feier haben beiwohnen zu können; sie sei erkältet und das Wetter so schlecht.
„Sehr schlecht,“ sagt Christel und sieht an ihr vorüber, „und deshalb ist es am besten, Sie steigen mit ein.“
„Gern,“ antwortet Edith, froh, ihre Kondolation angebracht zu haben, „ich wollt’ Sie gerad’ darum bitten, Frau Christel.“ Sie schlüpft sofort in die rechte Ecke des Wagens und richtet sich ein. Ich habe mir ganz gewiß einen Schnupfen geholt, denkt sie dabei, und das um eine alte Frau, die ich in meinem ganzen Leben nicht sah. Tante ist manchmal zu komisch!
Die beiden fahren heim, ohne ein Wort zu sprechen; Christel schaut aus diesem – Edith aus jenem Wagenfenster. Seit gestern abend, seit sie mit Emma von Zobel gesprochen, hat das Mädchen eine unüberwindliche Scheu vor der großen blonden Frau; sie fühlt sich überhaupt todunglücklich, bedrückt, überflüssig, halb verraten schon in ihrer Schuld. Sie springt sehr hastig auf, als man angelangt ist, sagt kurz „Adieu!“ und läuft in das Haus.
Christel folgt langsam, fragt im Flur den Diener, wie es dem Herrn ergehe, und wundert sich, zu hören, daß Fräulein von Wartau an seinem Lager sitze.
„Noch jetzt?“ fragt sie.
„Jawohl, Frau Mohrmann. Das Fräulein Baronesse kam gleich, nachdem Sie fortfuhren. Zuerst saß sie im Nebenzimmer, aber dann –“
Christel legt ruhig ihre Sachen ab, zieht das schleppende Trauerkleid aus und den grauen Hausrock an. Sie hört im Nebenzimmer die Stimme der alten Dame, aber ohne ein Wort zu verstehen, was ihr übrigens gleichgültig ist, und tritt dann ein. Auf den ersten Blick erkennt sie die nervöse Aufregung des Patienten; er ist heiß, sein Gesicht gerötet, und die Finger seiner linken Hand spielen nervös auf der Decke.
Fräulein von Wartau erhebt sich, drückt dem Kranken die gesunde Hand, spricht ein paar teilnehmende Worte zu Christel und geht dann sehr eilig. Christel tritt an das Krankenbett und fragt: „Wie geht’s dir, Anto?“
[141]
[142] „Danke!“ ist die kurze Antwort.
„Fräulein von Wartau sprach wohl zu viel? Du siehst so erhitzt aus,“ sagt sie und beginnt ein Glas Citronenlimonade zu mischen.
Er antwortet darauf nicht, sondern deutet nach einem Schreiben, das geöffnet auf seiner Decke liegt. „Karl fragt nochmals an, der Taufe wegen,“ sagt er vor Aufregung heiser, „es ist – ich glaube – “
Ihre Hand, die das Glas hält, zittert stark; sie wendet sich halb von ihm ab, damit er es nicht sehen soll.
„Wir können doch nicht beide abschreiben, Christel,“ fährt er fort, „du mußt reisen, Christel, es wäre zu unartig – denke ich –“
„Und wann ist die Taufe?“ unterbricht sie ihn.
„Heute über acht Tage.“
„Und du glaubst, bis dahin wieder so weit zu sein, daß du meine Pflege entbehren kannst, Anto?“ fragt sie weiter.
„Ja, ich denke – und wenn nicht, dann behelfe ich mich eben einmal. Christel, du mußt!“ ruft er so heftig, als habe sie ihm widersprochen. „Und wenn du etwa Anstand nimmst der Trauer wegen, das ist Unsinn! So ein kleines Familienfest, und – deine gute Mutter war doch in den Jahren, wo man – ich bitte dich, mach’ keine Schwierigkeiten, setze dich hin und schreibe, daß du kommst.“
„Aber gewiß, Anto, sofort!“ sagt sie so ruhig, daß es seltsam absticht von seinem heftigen Zureden.
Er hat wohl eine Gegenrede erwartet, er sieht sie wenigstens völlig verblüfft an, da sie aber ohne weiteres in sein Zimmer geht, sich an den Schreibtisch setzt und den gewünschten Brief verfaßt, legt er sich mit dem Ausdruck qualvoller Abgespanntheit zurück und preßt die Hand gegen die Stirn. Es geht nicht mehr so weiter, er kann das Leben so nicht mehr ertragen.
Nach ein paar Minuten kommt Christel zurück. „Ist dir’s so recht, wie ich schrieb?“
Er nimmt das Blatt mit einem langen forschenden Blick auf sie; es ist Christels altes stilles Antlitz, das er erblickt, ein wenig blasser zwar und schmaler als sonst, aber im übrigen unverändert – sie ahnt nichts, nein, sie ahnt nichts! Die Schrift freilich, die ist seltsam, anstatt der sonst so kinderhaften Buchstaben mit den regelmäßigen, gewissenhaft ausgeführten Haar- und Grundstrichen, ist es eine hastige, zitternde Schrift, und der Name darunter: „Christiane Mohrmann“ ist groß hingemalt; wie trotzig stehen die Buchstaben da; ein Handschriftverständiger würde in ihnen einen Charakter von unbeugsamer Energie erkennen.
„Danke sehr,“ sagt er, und Christel geht abermals, um zu couvertieren und die Adresse zu schreiben. Dann giebt sie dem Diener den Brief und tritt in das Wohnzimmer, und dort sitzt sie im Lehnstuhl, auf der Estrade, die Hände im Schoß zusammengefaltet, die Lippen aufeinander gepreßt. Noch acht Tage! Noch acht Tage – dann ist sie heimatlos, liebelos und bettelarm an Glück!
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Erfinderlose.
Als mir die Kunde zukam, daß auf dem Grabe des Geigenmachers von Absam, Jakob Stainers, ein neuer, würdiger Denkstein aufgestellt werden soll und man darangehe, die hierzu nötigen Mittel im Wege der öffentlichen Sammlungen aufzubringen, stieg vor meiner Seele plötzlich ein Bild aus meiner Jugend auf.
Die Stube eines Hofes in unserer Nachbarschaft war gar so behaglich. Das Getäfel war gebräunt vom Alter, vom Rauch der eisernen Latschern[1] und freilich auch von dem Tabaksqualm der Männer, denn es waren außer dem Bauer noch acht Knechte auf dem Hofe und dazu kamen noch die Schuhmacher, wenn sie im Winter auf der Stör[2] arbeiteten, oder die zwei Weber. Weniger qualmte der Schneider mit seinem Lehrburschen, denn der alte Meister vertrug wegen seiner schwachen Augen den Rauch nicht. Rings um den mächtigen Ofen lief eine Bank und in der Ecke spann, so lange ich nur zurück denken kann, die alte Lene. Am Rocken hatte sie ein kleines Haferl mit Wasser, in welches sie jeden Morgen einen Tropfen Weihbrunnen gab, damit das Garn recht ausgiebig werde. Mit dem also geweihten Wasser netzte sie die Fingerspitzen, denn mit der Zunge, wie es die jungen Spinnerinnen machen, wollte es nicht mehr recht gehen. Der übrige Teil der Bank und auch der Stubenboden rings um die alte Spinnerin war des Abends am Samstag immer von den Kindern aus der Nachbarschaft weitum besetzt, denn die alte Lene wußte gar wundersame Geschichten zu erzählen und hatte, um nicht die ganze Woche hindurch geplagt zu werden, ein für allemal die ganze Schar für jeden Samstag Abend eingeladen. Und da hörte ich das erste Mal die Geschichte vom Geigenmacher in Absam:
„Da hat vor langer, langer Zeit in Absam, zelm wo die heilige Gnadenmutter in einer Fensterscheiben erschienen ist und so viele Wunder wirken thut, a Geigenmacher g’lebt. ’s Stainer Jaggele hat man ihn g’nennt. A Geig’n denk’n sich die Leut’ halt, ist a Geig’n, zum Musig machen traurig und lustig, geistlich und weltlich. Aber sell ist nit so. Im Welschland drunt haben Geigenmacher g’lebt, die haben die Instrumenter so künstli g’macht, daß man sie ihnen als Kafschilling mit Dukaten ang’füllt hat.“
Da fiel der Alten zum allgemeinen Aerger ein naseweiser Junge in die Rede: „O jegerl, da hätt’ i alles lei Baßgeignen g’macht!“
„Du hättest überhaupt kein Geig’n machen können,“ zürnte die alte Lene, „weil in dei’m Herz’n die Habsucht wohnt und dieselben dürf’n bei die Geigenmacher lei von Frömmigkeit erfüllt sein. Der Stainer Jaggele ist a fromm und gottergeben g’west. Am liebst’n ist er Feiertags durch Wald und Feld gangen und hat g’lauscht, wie die Nachtigallen singen und flöt’n. Da hat er innerling gebetet: ‚Gelt, lieber Herrgott im Himmel, so weit laßt’s kummen, daß i a Geig’n mach mit so einer süß’n Stimm wie a Nachtigall‘.
Und der liebe Herrgott hat ihm geholf'n. An Engel hat er g’schickt und der hat das Jaggele in Wald naus g’führt zu einer abg’storbnen Haselficht’n. ‚Aus dem Holz mach a Geig’n,‘ hat der Eng’l g’sagt, ‚und laß sie singen zur Ehr’ Gottes.‘ Der Stainer hat g’folgt und Tag und Nacht hat er an der Geig’n gearbeitet. Und wie sie fertig war, ist er mutterseelenallein in Wald naus und hat auf der Geig’n g’spielt. Da sein die Vög’l mäuserl still g’west ringsum, der Inn im Thal hat nit mehr g’rauscht und der Wind ist still g’stand’n; die Welt hat g’meint, a Engerl singt.
Zur selbig’n Zeit ist der Antechrist in der Welt umzogen und die Ketzerei hat gar bis ins Tirol Platz griff’n. Der Kaiser thät’s erlauben, haben sich die Leut’ erschrock’n zug’flüstert. Kurz drauf ist der Kaiser nach Sbrugg (Innsbruck) kommen und kniet halt am Sonntag in der Kirch’. Der Stainer Jaggele war mit seiner Wundergeig’n auf’n Chor und nach der Wandlung spielt er, wie halt öfter, ganz alleinig a Marienlied. Da hat die Engelsstimm’ so mächtig aus der Geig’n herausklungen, daß dem Kaiser in der Kirch’ drunt die Thränen vor Rührung über die Wangen g’rollt sein. Zu der Stund’ hat er feierlich g’lobt, die Ketzerei darf in Tirol nit aufkommen.
Glei aber hat sich der Teuf’l dahinter g’steckt und der Stainer hat gar selber ang’fangen ketzerische Pratingen (Bücher) zu lesen. Er hat nimmer in der Kirch’n g’spielt, hat die heiligen Sakrament g’mied’n und ist alleweil tiefer in Unglauben versunk’n.
Da hat der liebe Gott wieder einen Eng’l g’schickt, der hat dem Stainer mit der Hand ganz still über die Stirn g’strichen, und er ist in Wahnsinn verfallen.
Seit der Zeit hat kein Mensch mehr a solche Geig’n machen können wie ’s Stainer Jaggele auf Absam.“
Das ist die Geschichte des mit Recht berühmten tiroler Geigenmachers, wie sie sich noch zweihundert Jahre nach seinem [143] 1683 erfolgten Tode im Volksmunde erhalten hat. Der hochverdiente Stainerforscher S. Ruf sagt in der Vorrede zu seiner Lebensskizze „Jakob Stainer“ ganz richtig: „Wer es einmal unternimmt, eine Kunstgeschichte Tirols zu schreiben, der wird das Leben und Wirken dieses Künstlers nicht umgehen können.“
Leider ist über das von Sagen und Romantik so sehr umsponnene Leben dieses Künstlers von Gottes Gnaden wenig bekannt. Erst in den letzten Decennien haben gründliche Forschungen, gestützt auf Urkunden, begonnen und noch sind dieselben durchaus nicht als abgeschlossen zu betrachten.
Treffliche Kenner der Musikgeschichte erklären, daß Stainer eine ganz neue Eigenart im Baue der Geigen erfunden habe. Ganz entgegen den Welschen, baute der Künstler seine Instrumente an den Decken, trotz ihrer hohen Wölbung, sehr dick, ließ aber das Holz nach den Backen zu rasch abnehmen und in dünne Ränder verlaufen. Mein Vater, ein eifriger Musiker, wenn auch nur ein Dilettant, besaß eine Stainergeige, die er später an einen Russen verkaufte, dessen Name mir entfallen ist. Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater mir einst das kostbare Instrument zeigte und dabei die Bemerkung machte, die Decke sei so schön gewölbt wie die Brust eines gut gewachsenen kräftigen Mannes. Schon diese Bauart unterscheidet die Stainergeige von jenen der italienischen Meister. Aber auch in der Wahl des Holzes war Stainer äußerst sorgfältig.
Den Bergbewohnern und den Hochtouristen ist es bekannt, wie die Museln, das sind die für Brettersägen behauenen Stämme, hell tönen und klingen, wenn sie zu Thal befördert an den Felsen anschlagen. Nicht minder bekannt ist ein in Tirol heimisches Instrument, das nach alter Bezeichnung das „hölzerne Glachter“ genannt wird und nun unter dem Namen Xylophon fast bei allen Restaurationsmusikkapellen zu finden ist. Man stellt es aus dem sogenannten „singenden Holze“ her. Auf dieses richtete Stainer ganz besonders sein Augenmerk. Er suchte in den Wäldern seiner Heimat vorwiegend altes Holz oder auf der Wurzel abgestorbene Stämme. Das so gewonnene treffliche Material wurde von dem Meister mit außerordentlicher Sorgfalt verarbeitet. Ein Kunststück der Holzschnitzerei ist bei seinen Instrumenten die Schnecke, welche oft auch einen Löwenkopf darstellt.
Was aber Stainers Geigen zu ihrem Rufe verhalf, das war ihr reiner, weicher und flötenartiger Ton. Nach dem Urteile großer Kenner übertrafen sie darin die so berühmten Geigen des Italieners Nicolo Amati und wurden mit der Zeit so kostbar, daß man später Mühe hatte, echte Stainergeigen unter dem Preise von hundert bis dreihundert Dukaten an sich zu bringen.
Dieser hohe Preis hatte zur Folge, daß die Fälschungen der Stainergeigen zahllos wurden. Hatte man im Anfang Stainers Namenszeichnung gefälscht, so wurden die Geigenmacher mit der Zeit so kühn, Zettel mit Stainers Namen und einer Jahreszahl einfach drucken zu lassen.
So ist eine Unmasse falscher Stainergeigen in aller Welt zu finden und über die Echtheit mancher Instrumente entspann sich zwischen Kennern gar oft lang dauernder Streit.
Doch nun will ich dem Leser die Hauptabschnitte aus dem Leben dieses ausgezeichneten Meisters der Geigenbaukunst erzählen. Leider sind die Nachrichten recht dürftig, denn es fehlte in jener Zeit der Chronist. So berühmt die Instrumente waren, so wenig der Beachtung würdig wurde der Verfertiger gefunden. Verworrener wurden überdies die Berichte, als sich die Poesie des Stoffes zu bemächtigen begann, und so mancher Lebensabschnitt Stainers, der als feststehend angenommen wird, ist weiter nichts als die Erfindung des Novellisten. So die Geschichte seiner Jugendliebe mit der Tochter des Geigenmachers Vimerkatti in Venedig, in welcher auch ein zweiter berühmter Instrumentenmacher Tirols, der Orgelbauer Daniel Herz in Innsbruck, eine Rolle spielt. Alle Forscher stimmen darin überein, daß es nie gelungen sei, auch nur die geringste Spur aufzufinden, daß Stainer jemals in Venedig gewesen sei.
Am 14. Juli 1621 wurde Jakob Stainer als Sohn der Eheleute Martin Stainer und Sabina Grafinger in Absam geboren.
Es ist nicht nachweisbar, wann und wo er seine Kunst erlernt hat. Am ehesten ist anzunehmen, daß er eigentlich doch aus italienischer Schule stammt, obwohl er sicher auch in der Heimat reiche Kenntnisse im Instrumentenbau gesammelt hat. Noch heute spielt gar mancher Bergler auf seiner selbstgemachten Zither, und in Tall kenne ich eine Musikgesellschaft, die sich ihre Geigen und Bässe selbst fertigt.
In Stainers Jugendzeit hielten sich am Hofe des Erzherzogs Leopold und der Claudia von Medici in Innsbruck sehr viele italienische Künstler auf, denn die Stadt wurde vielfach von Fürstlichkeiten aus Italien besucht, denen zu Ehren große musikalische Feste gegeben wurden. Dort dürfte Stainer die Bekanntschaft der italienischen Geige gemacht haben, denn seine Erstlingswerke lehnen sich in der Form jener des welschen Meisters Nicolo Amati an. Ich glaube sogar, daß Stainers Jugendarbeiten ganz gewöhnliche Instrumente waren, die er, auf den Jahrmärkten herumziehend, um wenige Gulden verkaufte.
Seine außerordentliche Begabung im Geigenbau ließ ihn die Geheimnisse der italienischen Geigenmacher erkennen, er lernte von diesen Meistern, bis er sie endlich sogar übertraf und die eigentliche deutsche Aera der Geigenbaukunst schuf. Die Klänge der italienischen Geige hatten seinem deutschen Gemüte nicht zugesagt. Er sann, baute und arbeitete und schuf die deutsche Geige. So sagt Dr. Schafhäutl.
Schon mit zwanzig Jahren (1641) war Stainer eifrig mit Geigenmachen in Absam beschäftigt und zog mit seiner Ware auf den Märkten umher, mit ausländischen Kaufleuten Handel treibend. In so jungen Jahren schon unterhielt er ein Liebesverhältnis mit einem Mädchen aus Absam, Namens Margaretha Holzhammer, das er am 26. November 1645 heiratete. Im Jahre 1648 hielt sich Stainer längere Zeit, mit Geigenmachen beschäftigt, in Kirchdorf in Oberösterreich auf. Er wohnte im Hause des Handelsmannes Salomon Huebmer, welchen er auf den Haller Märkten kennengelernt hatte. Dieser Aufenthalt sollte ihm später noch große Unannehmlichkeiten und vielen Verdruß bereiten, da er bei Huebmer einige Gulden Schulden hinterließ.
In demselben Jahre hatte sich Erzherzog Ferdinand, der 1646 die Regierung angetreten, mit seiner Gemahlin Anna von Toskana und seinem Bruder Sigmund Franz mit dem Hofstaate drei Tage in St. Magdalena im Hallthale aufgehalten. Hier wurde Stainer dem Erzherzoge vorgeführt, und dabei fand nicht nur sein Instrument, sondern auch sein Spiel gerechte Bewunderung. Von dieser Zeit an wurde der Künstler öfter in das Hoflager nach Innsbruck berufen.
Damals führten die jungen Eheleute den Haushalt bei den Schwiegereltern. Erst im Jahre 1666 erwarb Stainer von seinem Schwager ein Haus nebst Garten. Sein Ruf und Ruhm fand immer größere Verbreitung. Kunstkenner hatten ihm den Titel „Celeberimus testudinum musicarum fabricator“ („Der sehr berühmte Geigenmacher“) beigelegt, und der Erzherzog ernannte ihn zu seinem Hofgeigenmacher.
Diese Anerkennung ließ den bescheidenen Mann auch in der Achtung seiner Mitbürger und vor allem in den Augen der Geistlichkeit ganz gewaltig steigen, denn aus der einfachen Bezeichnung „Geigenmacher“ wurde selbst in den kanonischen Büchern ein „ehrsamer und fürnehmer Herr“. Mit dem Tode des Erzherzogs Ferdinand Karl verlor aber Stainer einen großen Gönner und es begann für ihn die schlimme Zeit.
Erzherzog Sigmund Franz, welcher nun in der Regierung folgte, entließ alle italienischen Musiker von seinem Hofe.
Dessen Regierung dauerte freilich nicht lange; er starb schon am 24. Juni 1665, und mit ihm erlosch die zweite österreichisch-tirolische Regentenfamilie. Tirol kam an Kaiser Leopold I. In dieser Zeit wurde Stainer vom Gerichte in Thauer vorgeladen wegen seiner in Kirchdorf gemachten und noch immer nicht beglichenen Schulden. Salomon Huebmer war ein strenger Gläubiger; anderseits ist es allerdings verwunderlich, daß der damals in seiner Glanzperiode stehende Meister die im Grunde unbedeutenden Lasten nicht abzuwälzen trachtete. Freilich hatte er für eine starke Familie zu sorgen, denn er hatte neun Kinder, einen Knaben, der frühzeitig starb, und acht Mädchen. Bei der ersten Mahnung Huebmers zahlte Stainer fünfzehn Gulden à conto und versprach mit Revers, den Rest am künftigen Hallermarkte zu tilgen.
Aber schon kurze Zeit nachher wurde er neuerdings beim genannten Gerichte vorgeladen, und zwar wegen der Restforderung des Salomon Huebmer und auch wegen Erstattung aller aufgelaufenen Kosten. Die geforderte Summe war aber so angeschwollen, [144] daß Stainer nicht mit Unrecht sich als hintergangen betrachtete. Der Richter glaubte an die Ehrenhaftigkeit Stainers, nahm für ihn Partei und schrieb dem Kläger, das Gericht Thauer befasse sich nicht mit Eintreibung von Schulden, er möge sich in dieser Angelegenheit nach Hall wenden. Salomon Huebmer gab aber nicht nach und verfolgte seinen Schuldner unnachsichtig.
Er klagte die Schuld nun in Kirchdorf ein und erwirkte wirklich das Recht: sollte die Stadt Hall die Schuld Stainers nicht voll einbringlich machen, so werde auf dem nächsten Linzer Markte der nächstbeste Haller Bürger dafür angehalten. In solchen mißlichen Verhältnissen befand sich Stainer. Allerdings muß man auch die Preise betrachten, mit welchen die Kunstwerke des großen Meisters bezahlt wurden. Gerade in dieser kritischen Zeit unternahm er wieder eine Reise nach Salzburg, wo ihm das fürstliche Zahlmeisteramt für eine „Viola di Gamba“ und für zwei „Viol-Krazzen“ 72 Gulden entrichtete. Für eine Violine zahlte ihm dasselbe Amt 22 Gulden und vier Kreuzer.
Die letzte erfreuliche Nachricht für den bedauernswürdigen Meister war der Erlaß, mit welchem er am 9. Januar 1669 auf seine Eingabe auch von Kaiser Leopold I als Hofgeigenmacher bestätigt wurde, und zwar, wie das Diplom sagt: „weil dem Kaiser des getreuen und lieben Stainers gute Qualität und Experienz des Geigenmachens absonderlichs angerühmt worden sei“.
Stand Stainer bisher „bei geistlich und weltlich Behörd in absonderlich guten Ansehen“, so wurde er nun in eine Angelegenheit verwickelt, die für ihn die nachteiligsten Folgen hatte. Die Jesuiten in Innsbruck und Hall rüsteten sich mit aller Gewalt, um der immer mehr und mehr um sich greifenden Lehre der Reformatoren entgegenzutreten.
Auch Jakob Stainer wurde von der neuen Lehre angezogen, nahm eifrigst teil an der lutherischen Bewegung und machte sich des Verkaufs sektirerischer Bücher verdächtig. Selbstverständlich schützten den Meister weder seine Kunst noch sein Hoftitel vor der Verfolgung, und er wurde zusammen mit einem gewissen Jakob Meringer, Bürger in Hall, ergriffen und ins Gefängnis geworfen. Von seiten der Regierung trafen strenge Verordnungen ein, wie sich das Gericht gegen die zwei Ketzer zu verhalten habe.
Meringer, der Genosse Stainers, wurde über seiner Versicherung, man klage ihn fälschlich als Ketzer an, er sei im Gegenteil immer ein guter Katholik gewesen und er bitte „um gnädiges Verzeihen“, aus dem Gefängnisse entlassen. Stainer aber blieb weiter in Haft und wurde vielen Verhören unterzogen. Erst am 16. September 1669 wurde er auf einen gerichtlichen Bericht an die Regierung, er habe von geistlicher Obrigkeit in betreff des Verbrechens der Ketzerei die Absolution erhalten, aus der Haft entlassen. Der Entlassungsbefehl enthielt zwar den Nachsatz, ihn mit keiner weiteren Strafe zu belegen, welche ihm als kaiserlichem Diener und Hofgeigenmacher nachteilig sein könnte, aber die Gunst der Hof- und Regierungsräte in Innsbruck hatte er für immer verwirkt.
Stainer war sechs Monate in Haft. Er warf sich nun mit neuem Eifer auf die Arbeit. Die einflußreichen Kreise blieben ihm aber verschlossen und seine hohen Gönner wollten nichts mehr mit dem Meister zu thun haben. So fiel der tiroler Meister immer mehr in Schulden, obwohl er einfach und schlicht mit seiner kinderreichen Familie lebte.
Doch Schlag auf Schlag sollte nun aus den Kreisen der Mächtigen in Innsbruck auf ihn niedersausen.
Im Jahre 1677 wurde er aufgefordert, seine Schuld sofort zu bezahlen, welche das Pfannamt in Hall zu fordern habe. Gezeichnet war diese Forderung vom Grafen Albert Fugger. Stainer war nicht in der Lage, dieser Forderung nachzukommen und das Geld aufzutreiben. Er richtete infolgedessen durch die Regierung in Innsbruck ein Gnadengesuch an den Kaiser, daß er ihm diese Schuld „in Gnaden gutmache“, da er sonst durch die vom Pfannamte angedrohte Exekution um Hab’ und Gut käme. Die Stände Tirols hatten gerade zu dieser Zeit dem Kaiser, der sich zum drittenmal vermählt hatte, ein Huldigungsgeschenk von dreißigtausend Gulden überreicht. Stainer setzte also große Hoffnung auf Gewähr seiner Bitte.
Aber durch einen Erlaß vom 18. Februar 1678 wurde ihm dieselbe vom Kaiser kurz abgeschlagen, und zwar mit der Begründung „der Konsequenz und anderer angeführten Ursachen wegen“.
Die Regierungsräte und ihre mächtigen Freunde in Innsbruck hatten eine befürwortende Einbegleitung des Gesuches unterlassen, denn jetzt war ja Stainer für sie der kaiserlichen Gnade unwürdig. Diese Enttäuschung traf den armen Mann schwer. Er fand keine Freude mehr an der Arbeit und irrte tagelang in den Wäldern herum. Noch heute erzählt man sich im Volksmunde, der Geigenmacher von Hall hätte in seiner letzten Lebenszeit so traurig auf seiner Geige gespielt, daß die Leute alle weinen mußten, die ihm zuhörten. Stainer wurde immer scheuer und zog sich von den Menschen, ja schließlich von seiner Familie, die in tiefster Armut lebte, zurück. Der Wahnsinn umnachtete seinen Geist, und erst im Jahre 1683, „am Freitag nach St. Aegidi, vor Sonnenaufgang“, erlöste ihn der Tod von seinen Leiden. So sagt die Inschrift auf dem Gedenksteine an der Pfarrkirche von Absam, welchen der würdige Pfarrer Lechleitner dem großen Landsmanne im Jahre 1842 errichten ließ.
Nunmehr geht man mit dem Gedanken um, dem Meister ein würdiges Denkmal zu errichten. Dabei sollte man wahrlich nicht nur an Marmor und Plastik denken.
Man ist jetzt nur in der Lage, nach dürftigen Daten, wenn sie auch mit großem Fleiß, vorzüglich von S. Ruf, gesammelt sind, über das Leben dieses merkwürdigen Mannes nachzuerzählen. Berufene Kräfte sollten jedoch durch eifrige Forschungen die vielen Lücken ergänzen und zugleich mit der Errichtung des Denkmals sollte ein volkstümlich geschriebenes Buch erscheinen, welches vom Geigenmacher von Absam erzählt.
Ein Tag in Arkadien.
Ein eigenartiger Zauber umgiebt die Münchener Künstlerfeste.
Andere deutsche Städte haben ja auch ihre kostümierten
Künstlerbälle, wenn aber einmal die Münchener Künstlerschaft
sich zu einem ihrer großen Feste zusammenschließt, so ist das
etwas Besonderes, das als solches weit über den Bannkreis
der alten Frauentürme hinaus empfunden wird – das lebende
Kunstwerk eines Abends, seinen Schöpfern so teuer wie ihre
bleibenden Werke, und der augenblicklich begeisternden Wirkung
auf Tausende sicher.
Im kleinsten Kreise entsteht der Gedanke dazu, die nächsten fassen ihn auf und bilden weiter daran. Die Pläne gewinnen Gestalt, die Losung wird ausgegeben, und nun ergreift die fröhliche Bewegung mit ihrem Wellenschlag immer weitere Kreise, beschäftigt wochenlang die ganze Stadt, zieht fremde Gäste herbei, ruft eine ganze Festindustrie ins Leben, und kaum irgendwo wird für den leider allzu vergänglichen Zweck so viel dauernde Mühe und ernsthafte künstlerische Arbeit willig drangegeben. Alle Teilnehmer empfinden es wie eine Art Schöpferfreude, so durch die eigene Person mitzuwirken in dem lebendigen Bild, das nur durch feinsinniges Zusammenhalten entstehen kann und durch die größte Treue in allem Detail einen so überzeugenden Eindruck von Lebenswahrheit hervorbringt.
Die Ältesten erzählen noch von dem herrlichen Dürerfest im Jahre 1840, das Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“ poetisch verklärt uns überliefert hat. Im Jahre 1861 trat, von Meister Schwinds Zauberstab geweckt, unsere ganze Märchenwelt mit ihren schönsten Gestalten ins Leben; das Renaissancefest von 1876 gab der Freude am Wiederaufblühen deutscher Vergangenheit seinen malerischen Ausdruck. Einmal war es „die Herrschaft des Winters“, wobei alles, was dieser an lebensfrohen Erscheinungen mit sich führt, im Festzug erschien – zum Schluß unter einem mächtigen Christbaum Defreggers Kinder, schlafend, von den schönsten Weihnachtsengeln bewacht. Andere Feste voll Schwung und Phantasie folgten, und in diesem Jahre hieß das leitende Wort:
[145] „Ein Tag in Arkadien“. Vorgeschrieben war das antike Gewand für den Saal und die unteren drei Ränge.
Im Künstlerhaus konnte man erfahren, wie das gemeint war. Die Maler hatten Zeichnungen von Kostümen gemacht und Schnitte anfertigen lassen; sie waren jeden Abend dort anwesend, um Rat und Auskunft zu erteilen. Große Figuren standen fertig gekleidet da; die Putzmacherinnen hatten lernen müssen, ganz unmoderne dichte Kränze zu winden; die Friseure, den ohnehin beliebten Knoten in unwahrscheinlichem Maße auf- und auszubauen; aus geringem Material entstand Goldschmuck in guten antiken Formen; selbst die Maskenzeichen waren eine Art von griechischem Gewand, um den Gesamteindruck nicht zu stören. Stoffe und Sandalen gab es zu kaufen, – es war ein Leben und Treiben dort, daß mancher seine in weiser Sparsamkeit begründeten Entschlüsse vergaß, um doch mitzuthun.
Bekanntlich befinden sich die beiden Münchner Theater, das große Schauspiel- und Opernhaus und das Residenztheater, unter einem Dach, ein kurzer Verbindungsgang führt von einer Bühne zur andern, und beide zusammen bieten einen Festraum, wie man ihn in Deutschland wohl nicht zum zweitenmal findet. Er wurde durch Emanuel Seidl mit unvergleichlichem Geschmack dem hellenischen Schönheitsfest angepaßt. Riesenhafte vergoldete Eichenkränze schwebten baldachinartig über dem Zuschauerraum, dessen weite lichtüberflutete Ränge, dicht bevölkert von festlichen Gestalten aller Art, einen glänzenden Rahmen bildeten für alles, was sich im Saal und auf der Bühne abspielen sollte. Das Handinhandgehen der Theaterleitung mit den Künstlern ist bei solchen Gelegenheiten in München von jeher selbstverständlich und war auch diesmal eine mächtige Bürgschaft für das Gelingen des Abends. Der Intendant v. Possart hatte selbst das Einstudieren des Festspiels übernommen.
Mit vielem Geschmack hatte der Dichter desselben, Maler Benno Becker, das Hauptgewicht mehr auf malerische und musikalische Stimmung als auf das Ausspinnen allegorischer Gedanken gelegt, die erfahrungsgemäß im Festtreiben meist zu kurz kommen. Die ungemein wirkungsvolle Musik ist von M. Schillings, dem Komponisten der „Ingwelde“. Franz v. Lenbach, der Präsident der Künstlergenossenschaft, hatte den Entwurf gemacht für Aufbau und Umwandlung der Bühne zu einem in Terrassen ansteigenden griechischen Festplatz mit Tempeln, Götterbildern, Cypressenhainen und der die Bergeshöhe krönenden Akropolis. Das hochragende goldene Standbild der Athene Promachos hatte der Meister selbst gemalt, und noch während der Hauptprobe sah man ihn, den großen Anstreicherpinsel als Scepter in der Hand, seine letzten Befehle geben.
Fanfarenklänge leiteten am Abend des 15. Februar das Festspiel ein, während sich das Haus bis aufs letzte Plätzchen gefüllt hatte – atemlose Erwartung. Der Vorhang hebt sich, und man gewahrt, in tiefer Dämmerung, die Erinnyen mit dem Schlangenhaar, Masken von großartiger Scheußlichkeit, auf den vordersten Stufen lagernd. Da tritt Bacchus (der jugendliche Heldendarsteller des Hoftheaters, Lützenkirchen) hervor und jagt sie mit zürnenden Worten weg, in die Nacht zurück. Dann wendet er sich zum Publikum und fordert alle auf, nach Hellas zu folgen:
„Ich lade bei der Schönheit euch zu Gast,
Und herrlich soll mein süßer Zauber blüh’n.
Vergrabt in Lethes Fluten die Erinn’rung
An alles Schlimme, das da draußen droht,
Und tretet frei ins Reich der Schatten ein,
Denn Schatten steigen auf versunk’ner Völker.
Die Zeit, die rastlos sonst nach vorne stürzt,
Hält ein und wendet gar den Fuß zurück,
Jahrtausende mit flücht’gem Schritt durcheilend.
Und dem entzückten Blick steigt neu empor
Der Griechen Land in seiner Marmorpracht.
Auch sie, die starben – die Unsterblichen,
Zu neuem Leben ringen sie sich auf,
Von des Olympos Höh’n, vom Grund des Meers,
Vom stillen Hades und vom Erdenrand
Wallt Gott und Mensch in dies arkadisch Thal.“
So soll heute das goldene Zeitalter wieder aufblühen und die Freude alle Herzen regieren. Dann schreitet er die Stufen empor und verschwindet in seinem Tempel.
Nun naht ein festlicher Zug, junge Krieger und Frauen gruppieren sich um die Säule und auf den halbrunden Marmorbänken im Vordergrund. „Schönes Volk“ nennt das Programm diese Abteilung, und wahrhaftig, sie verdient den Namen redlich. Künstlersfrauen und andere Damen der Gesellschaft sind dabei, Lenbachs reizendes lichtblondes Töchterlein mitten darunter; die Sängerinnen des Hoftheaters sammeln sich in der weinumrankten Pergola, welche die Bühne nach vorn abschließt, und stimmen ein Tanzlied an; zugleich bewegt sich ein Zug von Tänzerinnen in weißen Schleiergewändern die Stufen herab und beginnt den anmutigsten Reigen, während oben vor einem Tempelchen andere Mädchen ihre Kränze und Vasen als Opfergaben darbringen.
Da tritt Bacchus oben aus dem Tempel und spricht zu seinem Volke.
„Evoë! Ihr Seligen seid mir gegrüßt!
Genießt die Stunde, denn nicht ewig lacht
Das Blau; zu bald nur webt die Wetterwolke
Den grauen Schleier, der das Licht begräbt.
Genießt die Stunde, daß am grauen Tag
Ein Wiederschein verfloss’ner Freude noch
Sein wärmend Rot in eure Herzen gieß’.
Zu euch spricht Bakchos, Sproß des großen Zeus!“
ruft er, indem er die Toga abwirft.
Das Volk jubelt ihm zu, und er fährt fort:
„Evoë! Der Tag ist mein, ich schenk’ ihn euch!
Füllt ihn mit Lust und brausendem Entzücken!
Jauchzt auf, daß sich des Waldes Gott verwundert
Ob des Getöses, das den Hain durchhallt!
Jauchzt auf, daß ihr das Echo tausendstimmig
Vom Schlafe weckt und außer Atem bringt,
Daß auch des ärgsten Griesgrams Lippen sich
Zum langentwöhnten Lachen wieder runden!“
[146] Da eilen die Bacchanten herein, schwingen ihre Kränze und Tamburine und singen ihm in mächtigem Chor entgegen. „Evoë, Evoë!“ hallt es wieder.
Mit klangvoll freudigen Worten heißt Bacchus alles Volk hinausstürmen in die Lande:
„Ich leite euch mit meiner wilden Schar,
Bacchanten, Faune, Nymphen, strömt herbei,
Durchrast in schönem Wahnsinn die Gelände!
Die Welt soll selig sein am Bakchostag!“
Da heben ihn die Faune auf einen reichgeschmückten Thron und tragen ihn auf ihren Schultern die Stufen hinab, mitten in den Zuschauerraum hinein.
Das war der Höhepunkt, als der festliche Zug dahin wogte, voll hinreißender Fröhlichkeit, die rechts und links zündete. Kränze und Blumen flogen von oben herab und wieder empor, Winken, Zuruf, Musik – „Evoë, Evoë!“ von allen Seiten, und lauter Rhythmus und Harmonie in den dahinschreitenden Gruppen, die dem tollen Bacchantenvolk in Ziegenfell und Weingerank folgten, und über allen thronend des Bacchus jugendliche Lichtgestalt mit hochgeschwungenem Thyrsus, dem mit Epheu und Weinreben umwundenen Stab.
Von der Bühne stiegen immer neue Erscheinungen nieder, die anmutige Schar der Priesterinnen, die Philosophen, Diogenes mit der Laterne voran; die bösen Buben von Korinth waren auch dabei.
Orpheus und Euridyke, zwei lichte Idealgestalten, zogen vorbei mit ihrem thrakischen Gefolge, dessen Gewänder erstaunlich getreu den alten Vasenmalereien nachgebildet waren.
Dann kamen die Semiten des Altertums: Assyrer in steifen Prachtgewändern mit dem feierlichen Kopfschmuck trugen und geleiteten das köstlich dargestellte goldene Kalb; ein Zug jüdischer Harfen- und Cymbelnspielerinnen in langen, buntgestickten Mänteln wirkte höchst eigenartig, ebenso wie die ägyptische Gesellschaft, deren Kostüm und Kopfschmuck, bis ins kleinste getreu, in ihrer sanften Farbenpracht wirkliche Kunstwerke waren.
Auch der „Schwarze Walfisch zu Askalon“ hatte Mittel und Wege gefunden, sich in Lebensgröße anzuschließen, begleitet von dem schwarzen „Hausknecht aus Nubierland“, die Sphinx und die delphische Pythia waren erschienen – wer nennt sie alle!
Man müßte Farbe und Klang in Worte umwandeln können, wollte man erzählen, wie das alles wirkte, durcheinanderwogte und sich seines Lebens freute. Es war etwas von bacchischem Jubel übergeströmt in die Gäste; die Françaisen wurden zu wirklichem Tanz; wo sich ein besonders verehrtes Haupt zeigte, tönte ihm „Evoë, Evoë!“ entgegen, die Faune trieben sich fidel und keck überall herum; die Bühne bevölkerte sich immer neu mit wechselnden Gruppen.
Im Residenztheater, wohin man an dem Festabend durch einen Laubgang aus goldenem Eichengezweig gelangte, wurde getafelt, alle Logen waren zu kleinen Speisezimmern umgeschaffen, aus denen mit Blumen und Sektgläsern herunter gegrüßt wurde. Weise Männer stiegen ins Bierstübel zu einem ruhigen Trunk hinab; die Neugierigen drängten zur Pythia hinein, um ein Orakel zu holen, und kamen lachend aus dem Zelt, denn statt dunkle Weisheit zu spenden, hatte die Pythia auf die Frage der Sphinx: „Warum müssen in Griechenland die Frauen besser gewesen sein als heutzutage?“ erwidert: „Weil von der einzigen Xanthippe gar so viel Aufhebens gemacht wird“ – oder, nach dem Unterschied zwischen Catilina und dem heutigen Fest gefragt, die Antwort gegeben: „Catilina war ein schändlicher Abenteurer und das Künstlerfest ist ein schändlich teurer Abend.“
Dies Letztere hatte leider seine Richtigkeit; der Eintrittsobolus ins arkadische Gefilde war für Münchner Begriffe ziemlich hoch bemessen, aber es ging eben nicht anders: die Herstellung dieses wundervollen Architekturbildes erforderte bedeutende Mittel, und der Ueberschuß kommt der Künstler-Witwen- und Waisenkasse zugute.
Die Bedenklichen hatten geringen Besuch und außerdem noch ein allgemeines Fiasko prophezeit, da moderne brillentragende Menschen doch ins antike Gewand nicht passen. Aber gerade das Gegenteil ergab sich: es war erstaunlich, wie dies Kostüm „steht“, wie es die natürliche Bewegung freigiebt und die Körperlinien harmonisch begleitet, statt sie willkürlich zu unterbrechen. Die Schönen waren noch schöner, die Unbedeutenden gewannen an Reiz und Anmut, die Alten an Würde, und die Jünglinge kamen wohl am allerbesten weg.
Unser Maler hat den Augenblick erfaßt, da der Zug über die Stufen der Bühne hinabwogt, während vom Residenztheater her die übrigen Gruppen des Festzugs sich anschließen und die Scene füllen. Weiter giebt er uns (S. 145) das Anfangsbild des Festspiels, Bacchus mit den Erinnyen, dann hier unten drei zierliche Tänzerinnen aus dem Reigen und (S. 145) allerlei andere Typen, wie sie sich am Abend selbst oder des andern Tags im Skizzenbuch zusammenfanden: den Faun mit den spitzen Ohren und Hörnchen und der künstlich verlängerten Nase, den ägyptischen Frauenkopf mit dem seltsamen helmartigen Haarschmuck, von dem zu beiden Seiten Flügel herabhängen, den Griechenjüngling mit „Weinlaub im Haar“ und den Assyrer mit dem gestreiften Kopftuch.
Auch an Humor in der Kostümierung fehlte es nicht ganz. Da schritt ein Krieger in seiner metallnen Rüstung stolz dahin; wenn man ihn etwas näher besah, so erkannte man, daß der Schild aus einer Thürmatte verfertigt war, auf der ein vergoldeter Topfdeckel als Zierat saß, während der kriegerische Kopfputz aus einem Metallreif mit zwei herabhängenden Bierkrugdeckeln aus Zinn bestand.
Prinzregent Luitpold war in der Königsloge erschienen; fast alle jüngeren Mitglieder des Königlichen Hauses nahmen im Maskenzeichen am Feste teil. Die Mitwirkenden des Festspiels trennten sich mit der Parole „Morgen wieder“, denn es kam noch ein Nachspiel dieses wundervollen arkadischen Abends, worin die erhöhte Stimmung von gestern noch fort- und ausklang vor einem zweiten tausendköpfigen Publikum, welchem diesmal, um allen den Eindruck zu gönnen, das ganze Theater zu bescheidenem Preise geöffnet war.
Wieder strahlte die Bühne in vieltönigem elektrischen Licht, es hob sich der zierliche Dionysustempel mit seinem schönen Götterbilde aus der Rosen- und Cypressenpracht heraus wie ein Böcklinsches Bild. Und so wie auf diesem wandelten bekränzte schlanke Frauengestalten die Treppen empor, saßen auf der Mauerbrüstung und sahen dem Reigen zu, der auch am zweiten Abend wieder seine Zauberkreise zog.
In der Pergola standen und saßen diesmal die Würdenträger des Komitees im Scharlachgewand mit den langen goldenen Heroldsstäben, Seidl, Stuck, Pixis, v. Thiersch, v. Miller u. a.; plötzlich, nachdem eben noch Lenbachs hochragende Gestalt hier und dort winkend und ordnend zwischen den Gruppen gewirkt, erstarrte alles zum leblosen Bild – in der Hofloge stand die große Camera, um Aufnahmen zu machen. Dann begann das Licht auf der Bühne milder zu werden, die Gruppen ordneten sich feierlicher und ein Sänger mit der Harfe sprach zu sanfter Musik einen kurzen Epilog: Dank und Huldigung an Pallas Athene, die Schützerin der Kunst. Während die Bühne in rosige Dämmerung versank, strahlte oben die goldene Athene noch in hellem Licht, und dann fiel der Vorhang.
Versunken war der hellenische Schönheitstraum und das Fest zu Ende.
„Aber ging es leuchtend nieder,
Leuchtet’s lange noch zurück.“
[147]
Wie das erste Deutsche Parlament entstand.
Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
Das war ein März, in dem sich der Frühlingsglaube des Uhlandschen Liedes auf alle Lebensverhältnisse übertrug: „Die Welt wird schöner mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag – nun muß sich alles, alles wenden!“ Man sah in Erfüllung gehn, was das Seherwort Ferdinand Freiligraths vier Jahre vorher verkündet, als er den Hoffnungen und Beschwerden des deutschen Volkes in seinem „Glaubensbekenntnis“ die Glutsprache seines Genius lieh:
„Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!
Regt sich’s im Schoß! Dem Bersten scheint sie nah’ –
Frisch, wie sie Hermann auf den Weserwiesen,
Frisch, wie sie Luther auf der Wartburg sah!
Ein alter Trieb! Doch immer mutig keimend,
Doch immer lechzend nach der Sonne Strahl,
Doch immer Frühling, immer Freiheit träumend –
O, wird die Knospe Blume nicht einmal? – –
Der du die Blumen auseinanderfaltest,
O Hauch des Lenzes, weh auch uns heran!
Der du der Völker heil’ge Knospen spaltest,
O Hauch der Freiheit, weh auch diese an!
In ihrem tiefsten stillsten Heiligtume
O küss’ sie auf zu Duft und Glanz und Schein –
Herrgott im Himmel, welche Wunderblume
Wird einst vor allen dieses Deutschland sein!“
Man muß den ganzen Druck der vorausgehenden Winterstarre nachempfinden können, um den Jubel, den die ersten „Märzerrungenschaften“ allüberall im deutschen Volke weckten, wirklich zu begreifen. Man muß den Ueberschwang, den Enthusiasmus dieses Frühlings- und Freiheitsrauschs sich abheben lassen von der Trostlosigkeit, mit welcher Heinrich v. Gagern in die Metternichsche Zeit hineinfragte: „Wo ist bei uns, was der Freiheit gleicht?“ Man muß in den Enthüllungen von Märtyrern der Censur, wie Struve und Held, in den Reden der Vorkämpfer der Preßfreiheit, wie Welcker und Mathy, nachlesen, bis zu welch empörendem Gemisch von Tyrannei und Dummheit die Bevormundung des geistigen Lebens entartet war, um den Jubel zu begreifen, mit dem nicht nur in der Presse, von Schriftstellern und Gelehrten, sondern im ganzen Volke die endliche Gewährung der Preßfreiheit begrüßt wurde. Als im badischen Landtag bereits am 1. März Minister Bekk die Preßfreiheit verkündigte, da war das Karlsruher Ständehaus von einer nach Tausenden zählenden Menge umlagert, in der sich auch zahlreiche Bauern aus dem Schwarzwald und vom Bodensee befanden. Sie waren nach Karlsruhe gekommen, um durch ihre Anwesenheit für die Abschaffung von Robot und Zehnten zu wirken; aber auch für sie war „Preßfreiheit“ ein goldnes Wort; sie waren längst darüber aufgeklärt, was es wert sei, ungestraft drucken lassen zu können, was man von Sorgen und Beschwerden auf dem Herzen hat. Und als nun das erlösende Wort feierlich vom Ministertisch aus in den Ständesaal klang, da „pflanzte sich der Jubel über die Freudenbotschaft aus dem Saal durch die zum Erdrücken vollen Gänge fort und hallte wie ein Echo von der außen harrenden Masse zurück“. Der Vorsitzende Mittermaier sprach sich los von der Geschäftsordnung; mit Thränen im Auge rief er, nach dem Bericht W. Zimmermanns: in solch heiligem Augenblick dürfe man dem Ausbruch des Gefühls nicht wehren! In Wien weckte das kaiserliche Manifest, welches Oesterreich in die Reihe der konstitutionellen Staaten erhob, „eine Begeisterung ohnegleichen, wahre Volks- und Völkerverbrüderungsfeste! Menschen, die sich nicht kannten, umarmten sich weinend vor Freude. Aller Nationalhaß war weggezaubert, es gab keine Böhmen, Ungarn, Italiener, Polen, Deutsche – nur Oesterreicher, ein Herz und ein Sinn!“ Die vor der Universität versammelten Studenten knieten auf offnem Platz zu einem Dankgebet nieder. Als in Berlin, kurz vor dem unglückseligen „Mißverständnis“, das in zwölfter Stunde doch noch den Straßenkampf entfesselte, die beschleunigte Einberufung des Landtags, die Absicht der Bundesreform und das liberale Preßgesetz verkündigt wurden, ergoß sich alsbald aus den Häusern eine jubelnde Volksmenge auf die Straßen, vom Bedürfnis nach gemeinsamer Aeußerung der Freude getrieben. „Einer rief dem andern die frohe Botschaft zu,“ berichtet Rellstab, „eine Umarmung, ein Händedruck folgte dem andern. Selbst Fremde reichten sich die Hand zum warmen Druck, umarmten einander herzlich in diesem alle verbindenden Gefühl höchsten vaterländischen Glückes.“
Da und dort ließen Standesherren sich vernehmen, die freiwillig auf altererbte Privilegien zu Gunsten der Bauern verzichteten; die engen Zirkel der Beamtenwelt öffneten sich einem freieren Verkehr mit dem Bürgertum. Es war die Freude, von der Schiller singt, daß sie die Menschen verbrüdere, daß sie wieder vereine, was die Mode streng geteilt, deren Zauber man auf den tausend Jubelfesten empfand, auf denen die bisher verbotenen Vaterlandslieder nun frei und hell erklangen und die Teilnehmer sich wie neugeboren fühlten im Vorgenuß der Freiheitsrechte, die ihnen so plötzlich gewährt waren! Sie leuchtete durch die Reden, welche in den Bürgervereinen, den Sänger- und Turngemeinden, den nun entstehenden politischen Klubs die neue Zeit dankbar begrüßten; die neue Zeit mit ihrer Gleichberechtigung der Stände und der Konfessionen, mit ihrer Erlöstheit von der unerträglichen Polizeiwillkür, die bisher in Handel und Wandel jede freie Bewegung gehemmt und den Professor und Journalisten, der das „zerstückelte“ Deutschland beklagte, ebenso als Verbrecher hatte behandeln dürfen wie den braven tüchtigen Handwerksburschen, der sein Brot in der Fremde suchte und in jedem deutschen Land, das er außer der Heimat betrat, ein mißtrauisch bewachter „Ausländer“ war.
Und welche schwärmerischen Hoffnungen knüpften sich nicht im Volke an das Symbol der einstigen und der nahenden neuen Reichsherrlichkeit, an das Schwarz-rot-gold, das jetzt ungehindert in den Sälen und an den Häusern als freudig bestaunter Schmuck sich hervorwagte! Noch lebten in der Schweiz, England, Belgien und Amerika viel hundert Deutsche unter dem Drucke des Flüchtlingselends, die nur deshalb zu ihm verdammt worden waren, weil sie ein schwarz-rot-goldnes Band als Zeichen ihrer Sehnsucht nach einem freien einigen Deutschland getragen hatten. Noch bis ins Jahr Achtundvierzig saßen auf deutschen Festungen patriotische Männer gefangen wegen ihrer Teilnahme am Hambacher Fest, auf welchem voreiliger Uebermut eine schwarz-rot- [148] goldne Fahne mit der Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“ gehißt hatte. Und jetzt: wenig Tage nach dem Sieg der Februarrevolution bekamen die vierhundert Mannheimer Bürger, welche als Deputation mit der ersten Sturmadresie nach Karlsruhe zogen, bei der Abreise auf dem Bahnhof von begeisterten Frauen die Brust mit schwarz-rot-goldnen Schleifen geschmückt, ohne daß die Polizei eingriff. Am 9. März wehte bereits vom Frankfurter Bundespalais eine mächtige Fahne in den vom selben Bundestag so schwer verpönten Farben hernieder, und dieser erklärte dieselben für das Abzeichen der neuzubegründenden Nationaleinheit. Am 21. März ritt dann gar der preußische König in schwarz-rot-goldnem Schmuck durch die Straßen Berlins, das preußische Militär erschien mit der in unserem Initial abgebildeten deutschen Nationalkokarde am Helm, und nun stolzierten mit ihr auch alle einher, die bisher die hartnäckigsten Reaktionäre gewesen waren und das Auftauchen der Kokarde zuerst als revolutionären Greuel grimmig verabscheut hatten. Und nach dem Verlauf weniger weiterer Tage konnte das Volk von Wien ein vom Stephansdom herabwallendes Riesenbanner in Schwarz-rot-gold jubelnd als Zeichen begrüßen, daß auch Kaiser Ferdinand seine Zustimmung zu dem Einigungswerk erteilt habe, von dem das Wiener Regierungsblatt jetzt selbst erklärte, daß es von den Vertretern des deutschen Volkes auszugehen habe.
Der wunderbare Siegeszug, den die deutsche Reichsidee in dieser Zeit der Märzstürme und Märzerrungenschaften durch sämtliche Länder des in seinen Grundfesten wankenden Deutschen Bundes vollführte, läßt sich nicht besser verdeutlichen als an diesem Triumph ihres Symbols, des Schwarz-rot-golds der deutschen Burschenschaft. Von diesem Siegeszug schrieb am 19. März Gervinus in der „Deutschen Zeitung“ mit Recht, daß etwas Aehnliches in der Geschichte noch nie erlebt worden sei. Denn was sei der Sieg der Revolution in Paris gegen „diesen unblutigen Triumph des Geistes in dreißig bis vierzig Staaten, wo nicht Eine Form und Ein Geist der Regierung, sondern dreißig bis vierzig ganz verschiedene Elemente von Menschen und Zuständen zu überwinden waren, und wo trotz dreißig Abweichungen der Stammsitte und der herkömmlichen staatlichen Isolierung der Eine Volksgeist Herr geworden ist über allen Partikularismus und den kleinen Kranz von Forderungen überall durchgeführt hat, zu denen Bedürfnis, Einsicht und Ehrgefühl das deutsche Volk reif und fähig gemacht.“
So schrieb Gervinus in stolzer Freude, während die Nachricht von dem nun doch noch in Berlin zum Ausbruch gelangten Straßenkampf nach dem deutschen Süden bereits unterwegs war, den Jubel über den „unblutigen Triumph des Geistes“ zu dämpfen.
Geschwankt zwischen dem Ausbruch des Bürgerkrieges und der friedlichen Lösung hatte aber das Zünglein der Wage überall in Deutschland, bevor es zu den Jubel- und Eintrachtsfesten kam. Nach den ersten Nachrichten vom Sturz des „Julithrons“ wurde in den Residenzstädten die Garnison konsigniert, die Schloßwache verstärkt, mehr Truppen wurden in die Hauptstadt gezogen, an die Soldaten scharfe Patronen verteilt. Im Volke kam es zu stürmischen Auftritten; in den ersten Versammlungen erklang der Ruf Republik; das Verlangen nach Volksbewaffnung führte hier und da zu Angriffen auf Zeughäuser und Waffenläden, in den Wohnungen verhaßter Minister wurden die Fenster eingeworfen, auch in Brandstiftungen äußerte sich der Fanatismus des Pöbels. Auf dem Lande machten in einzelnen Gegenden, namentlich in Franken, dem Schauplatz des großen Bauernkriegs von 1525, darbende Bauern gewaltsame Angriffe auf die Rentämter ihrer Fronherren. Aber das erste Ueberschäumen der Volksleidenschaften fand überall sogleich seine Grenzen in einer zielbewußten Aktion des Bürgertums von zwar drohendem, aber doch gesetzmäßigem Charakter. Dieselben Ereignisse in Frankreich, welche überall in deutschen Landen die vorhandene Unzufriedenheit zu dem Verlangen entflammten, jetzt endlich auch die so lange vergeblich erbetenen Rechte und Erleichterungen mit Gewalt zu ertrotzen, beschworen ja gleichzeitig für das gesamte Vaterland Kriegsgefahren herauf. Und diese mäßigten im Bürgertum den revolutionären Drang zu dem patriotischen Verlangen: zugleich mit der Freiheit im Gesamtvaterland einen Zustand herbeizuführen, kraft dessen es „in Eintracht stark“ ohne fremde Hilfe dem drohenden Angriff Frankreichs siegreich begegnen könnte.
Nicht mit Waffen, sondern mit Adressen wandte man sich, nach dem sofort in Baden gegebenen Beispiel, gegen die Regierungen zur Abschüttelung des längst unerträglichen Joches. In Versammlungen von gewaltigem Umfang, zu denen das erregte Landvolk von allen Seiten herzuströmte, wurden die Forderungen des Volkes unter Hinblick auf die Kriegsgefahr stürmisch geäußert. Die bewährtesten Wortführer der Volksinteressen in den Kammern und in der Presse gaben denselben Form und Richtung. Es trat in Erscheinung, was Welcker in seiner Rede vom 12. Februar offen verkündigt hatte: daß in allen Teilen Deutschlands Männer des öffentlichen Vertrauens bereit seien, beim Ausbruch der unausbleiblichen Krisis im Sinne der Bundesreform durch ein Deutsches Parlament [149] sowohl die Bewegung des Volkes zu leiten als auch den Fürsten mit Rat und That zur Seite zu stehen. Auf der ersten dieser Volksversammlungen, welche bereits am 27. Februar im Mannheimer Aulasaal unter Vorsitz Adam v. Itzsteins stattfand, einigte man sich dahin, zunächst nur die vier dringlichsten Forderungen aufzustellen, um, wie Mathy betonte, durch solches Maßhalten ein gleichmäßiges Vorgehen in allen deutschen Staaten möglich zu machen.
Mit Recht sagte man sich: nur wenn der Sieg der Freiheit ein allgemeiner in ganz Deutschland ist, kann die ersehnte Einheit errungen werden – nur die Bundesreform und eine deutsche Reichsverfassung sichern den Errungenschaften Bestand; und so setzten Welcker und seine Freunde alles daran, daß der gesetzmäßige Charakter der Bewegung durch nichts gefährdet werde und sie sich nicht in dem einen Lande zu Begehren versteige, deren Erfüllung in anderen deutschen Ländern nicht zu erhoffen war. Dieses Ziel ward erreicht; die vier „Mannheimer Forderungen“ – Preßfreiheit, Schwurgerichte, Volksbewaffnung und Nationalparlament – gaben bald der Aktion in allen übrigen Staaten einen gemeinsamen Charakter. Und die Schnelligkeit, mit der in Baden das Ministerium Bekk diesen Forderungen entgegenkam und ihre Genehmigung bei dem Großherzog Leopold durchsetzte, gereichte der Durchführung der Reform im Gesamtvaterlande zum nicht geringen Vorteil. Auch die dann weiter in Baden geltend gemachten Wünsche, vor allem der nach Ablösung der noch bestehenden Feudallasten, nach staatsbürgerlicher Gleichstellung aller Konfessionen und Amnestie für alle politisch Verfolgten, fanden seitens der Regierung schleunige Genehmigung und begannen danach einen Siegeszug durch ganz Deutschland.
Wo, wie in Karlsruhe und Darmstadt, die Kammern tagten, wurden diesen die Adressen meist direkt überbracht, oft in Sturmpetitionen, welchen Tausende das Geleit gaben, um vor den Ständehäusern durch ihre Anwesenheit auf die Beschlüsse einen Druck auszuüben und des Erfolges zu harren. Wo aber, wie fast überall, die Kammern keine Verhandlungen hielten, da trat an die Spitze der Forderungen das Verlangen nach schleunigster Einberufung derselben. Meist zog man mit den Adressen im Chor aufs Rathaus und übergab sie den Vertretern der Stadt zur Uebergabe an den Landesherrn; auch die Sprecher des Magistrats wurden von einem Massenaufgebot zum Schloß begleitet, vor dem man wartete, die Luft mit den Kernworten der hauptsächlichsten Wünsche erfüllend. Besonders in München und Leipzig, in Köln, Breslau, Berlin wurde die in den Rathäusern versammelte Stadtvertretung das Organ der Forderungen des Volkes und der Träger ihrer Vermittelung an die Person des Königs. Immer größeren Umfang nahm die Bewegung an. Aus nah’ und fern liefen im Schloß, beim Magistrat und in den Kammerausschüssen unzählige ähnliche Adressen ein, aus jeder Landstadt, jeder Dorfgemeinde, so daß kein Zweifel blieb, daß das ganze Volk, und nicht nur eine Partei an der Bewegung beteiligt war. Auch die Hochschulen und Akademien, sowohl die Professoren wie die Studenten, nahmen überall aufs lebhafteste teil an diesem Adressensturm.
Der Ton in diesen Schriftstücken war überall dringlich, oft auch drohend, immer aber von echter patriotischer Empfindung durchwärmt. „Der Sturm, der in die Zeit gefahren ist,“ hebt eine derselben an, die wir als Beispiel aus Tausenden herausgreifen, die „Tübinger“ von Ludwig Uhland verfaßte – „hat die politischen Zustände in ihrer ganzen unseligen Gestalt, allen erkennbar bloßgelegt. Es ist nötig in dieser bewegten Zeit, daß Deutschland gerüstet dastehe, nicht um herauszufordern, gewiß aber zu Schutz und Schirm seiner Grenzen. Allein es soll die Rüstung anlegen, den wunden Fleck auf der Brust. Jetzt eben schmerzt er tief und es thut not, daß er rasch geheilt werde … Einem Volke, das von der heiligen Pflicht durchdrungen ist, seinem vielgefährdeten Boden nicht eine Spanne weiter entreißen zu lassen, mangelt die Sicherheit, daß es nicht als ein willenloses Werkzeug diplomatischer Verwicklung die Waffen ergreife; versagt ist ihm das begeisternde Bewußtsein, für eine auch politisch würdige Stellung unter den gebildeten Völkern mit Gut und Blut einzutreten … In geistiger und sittlicher Bildung keinem andern nachstehend, hat das deutsche Volk noch immer nicht von dem Geiste, der in ihm lebt, die Ordnung seiner Geschicke zu erwarten.“ Aus diesen Vordersätzen, denen die Begründung nicht fehlt, ließ Uhland dann das festgefügte Gebäude seiner sieben Forderungen erstehen: 1) Ausbildung der Gesamtverfassung Deutschlands im Sinne eines Bundesstaats mit Volksvertretung durch ein Deutsches Parlament am Bundestage, 2) Allgemeine Volksbewaffnung, 3) Preßfreiheit im vollen Umfang, 4) Aufhebung der Beschränkungen, welche gegen Vereine und Versammluugen zur Beratung öffentlicher Angelegenheiten bestehen, 5) Vollständige Durchführung des Grundsatzes der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege mit allen sich daran knüpfenden Konsequenzen, 6) Vollkommene Herstellung einer wirklichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Bezirkskörperschaften, 7) Revision der Verfassungsurkunde nach den während ihres achtundzwanzigjährigen Bestehens gemachten Erfahrungen, namentlich zum Zwecke der Herstellung einer ungemischt aus der Volkswahl hervorgehenden Abgeordnetenkammer.“
Das Ergebnis der ersten Adressen war nur in wenigen Fällen, wie in Baden, die Bewilligung der Forderungen, in den meisten brüske Ablehnung von seiten der Fürsten. Fast alle lehnten es auch ab, persönlich irgend eine Deputation zu empfangen: das „Volk“ sollte [150] sie nicht in ihren Kabinetten belästigen, die Kabinettsminister sollten den Verkehr mit der Unterthanenschaft auch weiter vermitteln. Das aber lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit gerade auf den Punkt, dessen Durchführung nun zur Hauptsache wurde.
Diese Minister trugen ja die Schuld, daß die Fürsten in Unkenntnis von den Bedürfnissen und Leideil des Volks dahinlebten, sie waren ja die eigentlichen Organe der Reaktion gewesen: man forderte jetzt Beseitigung der mißliebigen Minister und deren Ersatz durch Männer des allgemeinen Vertrauens. Auch diese Forderung erklang in der Karlsruher Kammer zuerst.
Wohl zeigte sich hier der leitende Minister sowie der Landesherr den Reformen geneigt; aber noch befanden sich im Ministerium Männer, die früher Jahre hindurch der Reaktion gedient hatten und deren plötzlich hervortretende liberale Gesinnung unmöglich für echt angesehen werden konnte; Welcker, Itzstein und Hecker betrieben mit Eifer ihren Sturz und erreichten denselben. Schon am 5. März waren in Baden die beiden Reaktionsminister durch liberale Vertrauensmänner, Brunner und Hoffmann, ersetzt.
In anderen Staaten, wo die Kammern nicht tagten und die feindlichen Minister deren stürmisch verlangte baldige Einberufung hintertrieben, ließ sich der beabsichtigte Ministersturz keineswegs so glatt ausführen. Dort mißbrauchten die in ihrer Stellung Bedrohten das Vertrauen ihrer Fürsten, um sie in ihrer Hartnäckigkeit zu bestärken, ja um sie aufzureizen, daß den „Empörern“ mit Waffengewalt entgegengetreten werde. An hohen Offizieren fehlte es nirgends, die in dieser Richtung gleichfalls ihren Einfluß zur Geltung brachten. Der sächsische Kabinettsminister veranlaßte sogar, als die Ablehnung der ersten Leipziger Deputation unter Biedermann dort starke Erregung hervorrief, daß preußische Truppen in der Nähe Leipzigs an der Grenze aufgestellt wurden, um die aufrührerische Stadt einzuschüchtern. Das Gegenteil aber wurde damit bewirkt; der Volkswille siegte. In einer großen Volksversammlung verwies Robert Blum die tobende Menge auf die Verantwortlichkeit der Minister des Königs, und noch war die von ihm vorbereitete Massendeputation nicht zur Abreise nach Dresden gekommen, da hatte der König nachgegeben, die „Reform“ bewilligt und hatte die „Märzminister“ Braun, v. d. Pfordten, Georgi und Oberländer (letzteren für den ablehnenden v. Watzdorf) in die Regierung berufen. Auch in Württemberg, wo sich der König persönlich den zuerst von Römer formulierten Wünschen des Volkes geneigt zeigte, rief die Zähigkeit, mit der sich Schlayer und Maucler im Amt zu erhalten wußten, eine bedrohliche Spannung hervor, die erst wich, als den altbewährten Kämpen der Volksrechte G. Duvernoy, Friedrich Römer, Paul Pfizer und Goppelt das Staatsruder anvertraut wurde.
Dasselbe Schauspiel vollzog sich in Hessen-Darmstadt, wo das auf seinen Karneval verzichtende Mainz sehr kräftig unter der Führung von Zitz in die Bewegung eingriff und Th. Reh im Landtag die Mannheimer Forderungen begründete; hier wurde Heinrich von Gagern, der wie Römer und Goppelt in Heppenheim mitgetagt hatte, der Nachfolger seines alten Gegners, des starrsinnigen Reaktionärs du Thil. Auch in Nassau führte einer der „Heppenheimer“, Hergenhahn, die Volksbewegung zum Siege. Eine Massenversammlung auf dem Theaterplatz in Wiesbaden nahm eine um so drohendere Haltung an, als der Herzog abwesend war. Da er gerade in Berlin weilte, so verbreitete sich das Gerücht, er wolle dort bewaffnete Hilfe erbitten. Doch nach seiner Heimkehr kam alles in glattes Geleis. Hergenhahn wurde Minister. In Weimar war es der Rechtsanwalt v. Wydenbrugk, welcher Führer und Herr der Bewegung blieb; nach einem Tumult vor dem Schloß wurde die Adresse dieses Abgeordneten angenommen und er selbst mit dem Ministerium betraut. Auch in den anderen thüringer Staaten, in Braunschweig, in den beiden Mecklenburg, in den freien Reichsstädten war der Verlauf ähnlich; Oldenburg, das einzige Land, das noch überhaupt keine Verfassung besaß, hatte den Märzstürmen eine solche zu danken.
Einen viel stürmischeren Charakter aber nahm die Bewegung in Kurhessen an, wo Marburg sehr energisch vorging, ja die Stadt Hanau und ihr Bezirk einen förmlichen Kriegszug ausrüstete, um ihren abgewiesenen Forderungen in Kassel Nachdruck zu verleihen. Schon [151] waren die Freischaren, voran die zu einer wohlausgerüsteten Truppe vereinigten Turner, im Begriff nach Kassel zu ziehen, als die Nachricht von dem noch friedlich errungenen Sieg in Hanau eintraf. Nach dem Sturz des Reaktionsministers Scheffer ward dem bisherigen Bürgermeister von Hanau, Eberhard, und dem altbewährten Führer der Liberalen in Kassel, Wippermann, die Leitung des Staatsschiffs anvertraut. In München kam es am 5. zum Zeughaussturm, der zwar unblutig verlief, aber doch dahin führte, daß die bewaffnete Bürgerschaft und das Militär, das übrigens wenig Kampflust zeigte, sich stundenlang zum Schlagen bereit gegenüberstanden. Es waren Leute aus allen Ständen, Studenten, Künstler, Arbeiter, die in der Erregung zur Waffe gegriffen hatten, der Feingekleidete ging neben dem im Scharwerkskittel. „Man sah Waffen hier, die vielen Jahrhunderten angehört hatten, neben Gewehren und Säbeln: Piken, Streitäxte, lange und breite Schwerter, wie man eben solche im Zeughaus vorfand. Prinz Karl selbst brach in ein herzliches Gelächter aus, als er einem kleinen jungen Tambour begegnete, der eine alte Trommel umhängen hatte, mit einem Schlägel aus uralten Zeiten.“
Doch wenn auch König Ludwig mit seinem Volke grollte, weil es ihn kurz zuvor genötigt hatte, die schöne Unruhstifterin Lola Montez aus München zu verbannen – zum äußersten ließ er es nicht kommen. Was der in seinem Schwachsinn gutmütige Kaiser Ferdinand in Wien naiv heraussagte: „Ich laß nit schießen“, blieb auch der Grundsatz der anderen Fürsten; ihm hat auch Friedrich Wilhelm IV bis zum „Mißverständnis“ des 18. März nachgehangen. In München mußte der verhaßte Minister v. Berks, ein Schützling der Montez, dem Unwillen des Volks schließlich doch weichen: der allgemein beliebte Bürgermeister von Regensburg, v. Thon-Dittmer, ein bewährter Führer der Opposition im bayrischen Landtag, trat an seine Stelle. Von besonderer Wirkung auf die Entschlüsse des Königs waren die Vorstellungen des freisinnigen Fürsten v. Leiningen, des Präsidenten der Kammer der Reichsräte, gewesen. Im Sinne der Mannheimer Forderungen hatte ein Petitionssturm aus der Rheinpfalz unter Willichs Leitung gewirkt. Doch als sich Ludwig I nicht in die neue Regierungsweise zu finden vermochte, zog er es vor, abzudanken; sein den liberalen Ideen geneigter Sohn Maximilian übernahm die Regierung. Und auch der hartnäckigste Reaktionär unter den deutschen Fürsten, der König von Hannover, mußte schließlich seinen Trotz beugen. Der Urheber des verhängnisvollen Verfassungsbruchs vom Jahre 1837 hatte sich zu nichts verstanden, auch als am 17. März die Studentenschaft Göttingens ihre Auswanderung antrat – man hatte vorher ihre Zusammenkünfte mit Waffengewalt auseinandergesprengt. Als er aber vernahm, daß Metternich gestürzt und auch in Wien nachgegeben worden sei, da sagte der entsetzte Volksverächter in seinem gebrochenen Englisch-Deutsch resigniert: „Was soll ich machen? Wenn mein kaiserlicher Bruder in Wien hat nachgegeben, ich auch muß nachgeben!“
Ja, auch Metternich mußte dem „Märzsturm“ weichen. Sein System riß im Fallen ihn mit sich nieder. Das war der höchste Triumph im großen „Siegeszug des Deutschen Geistes“, der von Baden seinen Ausgang genommen hatte.
(Fortsetzung folgt.)
Auf dem Kynast.
Hell stand der Mond über dem Kamm des Riesengebirges; der Turm der alten Feste Kynast warf seinen schweren Schatten hinunter in den „Höllenschlund“ und über die Burghöhe war ein breiter Lichtschein ausgegossen; drunten aber über dem Hirschberger Thal lag ein träumerisch Dämmerlicht, Baumgruppen, Häuser, Villen und Gärten verschmolzen zu einem märchenhaften Bilde, hier und dort blitzte im Mondlicht der Zackenbach auf, der sich wie eine leuchtende Schlange hindurchwand.
Das Mädchen, das von der Ballustrade des Burgplatzes aus den Blick über die Landschaft streifen ließ, gab sich nur halb den Träumereien hin, welche der Mondeszauber in ihr erweckte. Mit einer gewissen Spannung sah sie hinab auf den Weg, der aus dem Waldesdunkel heraus durch schattenlose Felspartien zum Vorthor der Burg emporführte. Es war so hell, daß sie von ihrem Standorte aus den ganzen Weg beherrschte, und kein Wachtposten hätte mit schärferem Auge hinunterspähen können, ob irgend eine feindliche Patrouille herangeschlichen kam.
So friedlich der Mondabend war, so sanft die Landschaft gebettet lag in seinem weichen Schimmer – es herrschte keine friedliche Zeit im Schlesierland und nicht selten sah man Waffen blitzen auf den Heerwegen, die in die Berge führten. Es war im Sommer 1807. Bei Jena und Auerstädt war des Großen Friedrich ruhmvolles Heer den Waffen des Korsen erlegen, Breslau war in die Hände der Franzosen gefallen. Doch noch hielt sich Glatz, und das Freikorps des Grafen Götzen, verstärkt durch neue Zuzüge aus den Bergen, kämpfte tapfer mit dem Feind – General Vandamme konnte der Provinz Schlesien nicht Herr werden.
Die Würfel der großen Entscheidungen aber rollten auf den Schlachtfeldern im Osten des Königreichs, wo Preußen und Russen vereint den Kerntruppen Napoleons gegenüberstanden. Gar trüb sah es aus in den preußischen Landen, am trübsten in dem schönen, noch immer durch blutige Kämpfe zerrissenen Schlesierlande: in alle Gemüter warf das traurige Geschick des Vaterlandes seine Schatten.
Auch das Mädchen, das dort an der Ballustrade des Vorplatzes stand, war nicht heiteren Sinnes, obschon die freundliche Kindlichkeit seiner Züge und seines ganzen Wesens auf keine düstere Gemütsart deutete. Hatte wirklich die Trauer um das zertretene Land aus diesen klaren, blauen Augen, von diesen rosigen Lippen das Lächeln verscheucht, das dort heimisch sein mußte? Und waren die Truppenmärsche drunten im Thal wirklich die Ursache, daß das Mädchen so gespannt von der Höhe in die Nacht hinaus spähte?
Da lauschte sie auf. Und gleich danach trat aus dem Schatten des Waldes eine Gestalt hervor, in der Hand den knorrigen Wanderstab, einen Rucksack auf dem Rücken. Ein langer, silberner Bart wallte dem Mann auf die Brust herab; mit rüstigem Schritt klomm der Wanderer die Höhe hinan dem ersten Mauerring zu, der das hochragende Felsennest umgab. Das Mädchen flog ihm entgegen, sie öffnete das Vorthor mit einem Schlüssel des Schlüsselbundes, den sie im Gürtel trug. „Gott zum Gruß, Rübezahl,“ rief sie dem Eintretenden entgegen. Der Alte drückte ihr herzhaft die Hand.
„Ihr kommt von Schreiberhau, Rübezahl! Ein Briefchen von ihm?“
„Muß ich erst auskramen aus dem Sacke hier.“
„So kommt herauf, ruht Euch aus, erquickt Euch mit einem Gläschen Branntwein. Wenn Ihr ein Briefchen bringt, dann ist’s schon gut – er lebt und denkt an mich!“
Der wackere Bergführer, der in Ehren den Namen „Rübezahl“ führte, setzte sich neben das Mädchen an einen Holztisch, von dem aus der freie Blick über die mondhelle Landschaft drunten
[152][153] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [154] schweifte. „Papa ist hier oben,“ flüsterte sie; „er darf von dem Briefe nichts wissen.“
„Oben – jetzt hier zur Nachtzeit?“
„Ja, wir haben uns hier häuslich eingerichtet; in den Stallungen sind ein paar Verschläge zurechtgemacht für Vater, für mich und für die Wirtschaft. Es ist jetzt viel Andrang von Besuchern und immer mit dem Schlüsselbund von Hermsdorf aus in die Höhe klettern und Speis und Trank heraufschaffen .... das ist lästig! Auch ist’s nicht ganz geheuer in jetzigen Kriegszeiten. Vater steht hier oben auf Wache und überschaut das ganze Hirschberger Thal, auch ist ein freier Auslug in die Berge vom Turm. Vater hat Leitern hereingebracht. Ehe die Franzosen sich auf dem Kynast ein Nest bauen, wollen wir doch unsere Truppen hier einquartiert sehen, und hoffen, daß dies bald geschehen wird.“
Der Führer kramte inzwischen in seinem Rucksack, bis er ein Schreiben gefunden hatte, welches durchaus keinem parfümierten Liebesbrief ähnlich sah, sondern durch das grobe Papier und die gekritzelte Aufschrift verriet, daß es aus einem Feldlager stammte. Doch für Klärchen war es wie mit einer Phönixfeder geschrieben und keine Vignette zweier sich schnäbelnder Täubchen auf feinstem Rosablättchen hätte sie freundlicher angemutet und ihr Herz mit süßeren zärtlichen Empfindungen erfüllt als dieser mit einem großen Klecks behaftete Bivouacbrief, den ihr der Bergführer überbrachte.
Während sie las, ruhte das Auge des Alten mit Wohlgefallen auf dem lieblichen Kinde, ja mit Zärtlichkeit und Rührung – sah sie doch der eigenen Tochter ähnlich, die er früh verloren, die oben in der Schneegrubenbaude lange Jahre wirtschaftlich gewaltet, bis sie ihr Herz an einen Fremden hing, der sie entführte und dann verließ, so daß sie sich mit ihrem Kinde das Leben nahm. Die tiefen Furchen in dem Antlitz des ehrwürdigen Mannes deuteten auf dieses schmerzliche Erlebnis.
„O, das wäre schön, das wäre himmlisch!“ rief jetzt Klärchen. „Wenn sich die Zuzüge noch mehren, soll ein Teil der Mannschaften, besonders die Rekruten, hier auf die Burg kommen. Und Ihr habt Robert bei guter Gesundheit getroffen?“
„Der Herr Kandidat ist kerngesund! Die frische Luft bekommt ihm besser als das Sitzen hinter dem Schreibtisch! Er ist ja so ein lateinischer Gelehrter; wie ich so viele mit ihren Ränzchen und Wanderstab über die Berge geführt. Doch so mancher knickte traurig zusammen, wenn er das Hohe Rad erklettert hatte, und es gab welche, die der Sturm umzublasen drohte. Tannen und Fichten konnten sie alle nicht unterscheiden; nur der eine mit der blauen Brille, der sich mit den Blumen im Teufelsgarten am Bramberg unterhielt, der wußte, wie sie alle lateinisch heißen – weiß Gott, wer sie da oben getauft hat! Doch wenn er seine Nase nicht in die Blumen und Kräuter stecken konnte, da war er verdrossen und schimpfte auf das Knieholz. War er selbst doch verkrüppelt wie das herumkriechende grüne Gewürm!“
„Da ist Herr Robert doch ein anderer Mann – nicht wahr?“
„Mein’s wohl. Und die Uniform und der schmucke Jägerhut stehn ihm gar gut, und mit dem Säbel rasselt er, als wär’ er darangeschnallt gewesen von Kindesbeinen an.“
„Ach Gott, wenn sie nur nicht mit den Franzosen handgemein werden!“
„Nun, deshalb rüsten sie sich doch zum Kriege,“ sagte Rübezahl lächelnd.
„Ich ertrüge es nicht,“ versetzte Klärchen, „ihn in Lebensgefahr zu sehen. Doch wir plaudern und ich vergesse, daß Ihr eine Stärkung braucht.“
Das Mädchen ging und kam mit einer Flasche Branntwein und mit Backwerk zurück. Der Vater folgte ihr, die Pfeife im Munde. Dies war der Kommandant des Kynast, der Schlüsselverwalter der Burg, welcher sonst unten im herrschaftlichen Schlosse des Grafen Schaffgotsch wohnte. Es war ein Herr mit gewaltigem Schnauzbart und gutmütigen Augen, bieder und treuherzig dem Anscheine nach. Er hatte einen Anflug gesellschaftlicher Bildung und war, ein Mittelding zwischen Kammerdiener und Kastellan, auch längere Zeit in der Schloßverwaltung beschäftigt gewesen. Sein Töchterchen aber, eine Gespielin der Grafentöchter, hatte durch die Güte des alten Grafen mehrere Jahre die Erziehung einer Breslauer Pension genossen; sie war den Mädchen ihres Standes weit voraus.
Der alte Röger klopfte dem Bergführer herablassend auf die Schulter, ehe er sich zu ihm setzte.
„Nun,“ sagte er, schlau mit den Augen zwinkernd, „was giebt’s denn Neues da drüben im Glatzischen? Ihr seid ja doch ein Pascher, ein Schmuggler, der die Parolebefehle insgeheim herüber und hinüber trägt. Und Ihr huscht oft fort von Eurem Riesengebirge in die Eule und ins Glatzer Land. Habt gewiß lange schon keinen friedlichen Wanderer über die Berge geleitet?“
„Giebt’s denn noch friedliche Wanderer heutzutage?“ meinte Rübezahl. „Es ist unsicher droben auf dem Kamme – vorgeschobene Korps der Franzosen, Tirailleurs, Patrouillen – sie wollen sich den Rücken decken. Leider hab’ ich selbst schon einmal ihnen den Weg weisen müssen.“
„Also – Vaterlandsverräter!“ versetzte Röger schmunzelnd.
„Und dabei trag’ ich in meinen Stiefeln eine Ordre des Grafen Götzen an die Mannschaften in Schreiberhau.“
„Und wie steht’s mit der Festung Glatz?“
„Sie hält sich tapfer; doch Vandamme rückt jetzt selbst in die Grafschaft ein, um das Belagerungskorps zu decken gegen den Grafen Götzen, welcher die Festung gern entsetzen möchte. Hab’ ihn gesehen, diesen Vandamme. Das ist einer – der hat seine Schule in dem verfluchten Paris gemacht, wo sie sich aus den Schädeln der Geköpften, wie es heißt, zutranken.“
„Nun, und hier in Schreiberhau?“ fragte der Kommandant, indem er das dritte Glas schlürfte.
„Ihr werdet hier etwas erleben! Macht Euch darauf gefaßt, daß sie auch Kanonen auf Eure Burg schleppen, es ist dergleichen im Werke. Es wird hier ein Hauptquartier werden; das Dings da mit dem Mauergerümpel wird noch die Ehre haben, sich in eine schlesische Festung zu verwandeln.“
Das schmeichelte zwar dem Ehrgeiz des Kommandanten; er strich sich seinen Schnurrbart mit herausforderndem Kriegsmut; doch es regte sich in ihm auch ein wehleidig Gefühl; er fürchtete, daß sein friedlich Gewerbe Schaden nehmen könnte.
„O, meine Sommergäste!“ rief er.
„Na, die Soldaten sind auch nicht zu verachten,“ tröstete Rübezahl, „es geht was drauf im Kriege. Fräulein Klärchen muß eine Marketenderin werden und mit dem Freikorps ziehen, wenn sie weiter rücken; die Uniform wird ihr gut stehen. Das muß man ja den Französinnen lassen: wenn diese schmucken Dämchen mit dem Bataillone vorbeimarschieren, deren Uniform sie tragen – wer da nicht Durst bekommt, der muß bereits einige Tonnen geleert haben!“
Klärchen hatte ihr Lob nur von fern gehört. Sie hatte wieder eine entlegene Stelle an der Brüstung aufgesucht, um dort ungestört ihren Gedanken nachzuhängen. Jetzt sprang sie plötzlich herbei. „Besuch, ein später Besuch!“
„Wer denn in aller Welt?“ rief der Vater.
„Es sind mehrere Herren und Damen.“
„Da will ich doch selbst das Vorthor öffnen,“ sagte der Kommandant, „sieh’ nur, ob unser Vorrat für die Gäste reichen wird, und suche das Beste zusammen! Nun, wir sind hier nicht auf einem herrschaftlichen Schloß, sondern in einer alten, verfallenen Burg – da muß man vorlieb nehmen!“
Rübezahl zog sich auf eine Steinbank zurück, die neben dem Hauptthor der Burg angebracht war, während Röger das Thor aufschloß und mit devoter Verbeugung die Gäste empfing.
Das war ein lustiges vierblättriges Kleeblatt, diese scherzenden und lachenden Herren und Damen, die von einem späten Mahl zu kommen und den steilen Berg nur benutzt zu haben schienen, um sich etwas auszutummeln.
„Hier wollen wir die Mäntel umnehmen. Wenn auch nur der bleiche Mondschein uns leuchtet, man hat doch etwas Lunge daran wenden müssen und ist heiß geworden! O, dicke Lotte! Sie stöhnen und schwitzen ja, als hätten Sie den Chimborasso erstiegen! Rasch den Mantel um – wer soll mir denn vorlesen, wenn Sie sich Ihre Lunge ruiniert haben? Lotte, Lotte, Sie sind marode zum Umpusten; setzen Sie sich schleunigst, sonst erleben wir eine Ohnmacht!“
[155] Die Dame, die so übermütig sprach, warf der dicken Lotte, offenbar ihrem Gesellschaftsfräulein, den Mantel über, ehe sie sich selbst in den eigenen hüllte, wobei die beiden Herren ihr behilflich waren.
„Ein toller Gedanke, hier so spät herauf zu klettern,“ sagte der eine, welcher Ton und Wesen eines flotten Junkers hatte. „Aber freilich, wenn es gilt, zu erkunden, ob die selige Kunigunde noch immer hier oben spukt, da muß man’s bei Mondschein thun; denn im Lichte der Sonne wird sich das grausame Burgfräulein nicht sehen lassen.“
„Ich habe allen Respekt vor ihr,“ versetzte die junge Dame; „sie hat den Herren der Schöpfung eine harte Nuß zu knacken aufgegeben und viele von ihnen haben dabei nicht nur die Zähne, sondern gar das Leben lassen müssen!“
Klärchen trat näher.
„Was befehlen Sie, gnädiges Fräulein?“
„Thörichter Schnickschnack – was, gnädiges Fräulein! Wir sind Schulfreundinnen, meine Herren, und das närrische Ding da will mich aufs hohe Pferd setzen! Schulfreundinnen – wissen Sie, was das heißt, meine Herren? Das heißt: wir haben zusammen die dümmsten Streiche gemacht, und das knüpft ein schönes Band für das ganze Leben! Im übrigen war sie viel gescheiter als ich und konnte mir in allen Fächern helfen, bis auf das eine, das ich mir schon damals zum Specialfach erkor, die Diplomatie der Liebe! Klärchen, setz’ uns das Beste vor, was du hast, und dann noch etwas Besseres, das, was du bist – setz’ dich dann zu uns!“
Klärchen war von der Freundlichkeit des Fräuleins, das sie lange Zeit nicht gesehen, erfreut und drückte ihr die Hand. „Hier – das ist Kurt von Rohow,“ fuhr diese fort, den einen flotten Begleiter vorstellend, „er ist nur gefährlich, wo feste Grundsätze fehlen, also weder dir noch mir. Er hat zu lange an der Spree gelebt und war in Berlin Fähnrich; ein solcher wird zwar nicht immer General, doch meistens ein Don Juan. Und dieser hier ist Friedrich von Benndorf. Das ist ein schlimmer Heiliger! Wenn der Mond scheint, da geistert es in seinem Kopf; da verwandelt sich ihm alles ringsum in ein Feenmärchen. Der ist viel gefährlicher als der andere. Denn mit Feen macht man wenig Umstände und wir können nicht in Duft verschweben wie die echte Märchensorte, sondern wer uns packt, der hält uns fest! Und dies, meine Herren, ist Klärchen, das echte Mauerblümchen des Kynast, lieblich und duftig und unerreichbar, und wer sie pflücken will, muß, wie die Freier der seligen Kunigunde, in den Graben rutschen.“
Klärchen machte eine leichte Verbeugung und floh dann wie gescheucht von dannen, um für Speise und Trank zu sorgen. Die „dicke Lotte“ hatte sich inzwischen erholt.
„Sie haben mich ja gar nicht vorgestellt, gnädiges Fräulein!“ sagte sie verdrossen, sich aus ihrem Mantel herauswickelnd.
„Sie sind zu vornehm, Lotte! Das liebe Kind könnte sich bedrückt fühlen!“
Ein breites Lächeln glitt über Lottens Züge; sie war ein Fräulein von Dornau, aus einer herabgekommenen Familie, aber sie hatte einen langen Stammbaum und der hing neben einigen Landkarten und einer Karte des gestirnten Himmels mit allen seinen Zweigen und Verästelungen in ihrem Wohnzimmer, und in den Augenblicken traulicher Plauderei mit dem jungen Schloßfräulein wagte sie anzudeuten, daß er noch tiefer in entfernten Jahrhunderten wurzle als derjenige der herrschaftlichen Familie, in deren Dienst sie getreten war. Doch das Schicksal ist ungerecht und es ist oft recht grünes Reis, das versilbert und vergoldet wird.
Das schöne Fräulein hatte indes den Mantel abgeworfen und der Abendluft unerschrocken Hals und Nacken preisgegeben, den das tiefausgeschnittene Kleid unverhüllt ließ. Ja, sie war schön, diese Leontine von Wallwitz; frei trug sie ihr wallendes Gelock, das dunkel war wie das feurig hervorblitzende Auge, das oft in leidenschaftlicher Unruhe hin und herschweifte, die Lippen voll, doch nicht unfein gezeichnet, die Wangen anmutig gerötet. Gesundheit und frische Luft, Aufregung und Uebermut – alles wirkte zusammen, um sie einer vollerblühten Rose gleichzumachen. Die beiden Kavaliere hatten die gleiche Empfindung – das war ein begehrenswertes Weib. Sie waren Nebenbuhler, keiner durfte sich für den Begünstigten halten: wohl aber mußte jeder von ihnen in der jungen Dame eine flatterhafte Kokette sehen, die mit kleinen Gunstbezeigungen bald zur Rechten, bald zur Linken ein Hoffnungsflämmchen entzündete, um es dann bei nächster Gelegenheit wieder lustig auszublasen. Leontine war eine reiche Erbin und alle jungen Edelleute der Umgegend wallfahrteten nach Schloß Giersdorf, wo die schöne Portia Hof hielt.
„Sie werden sich erkälten, Fräulein,“ sagte Lotte, die mit ihrem runden Gesichte aus dem Mantel herausglotzte wie eine Fledermaus, die sich in ihre Flügel gehüllt hat.
„O, mir schadet das nichts,“ versetzte Leontine, „ich bade mich gern in den Elementen, sei’s Luft, sei’s Wasser. Das erquickt mich; ich fühle mich eins mit der Natur und lästig ist mir alles, was sich dazwischen schiebt.“
„Wenn Ihr Herr Vater das sähe, würde er schelten,“ warf Lotte ein.
„Glücklicherweise ist Papa in Breslau,“ sagte Leontine, „mit all seinen Wollsäcken, und er läßt uns nur die geschornen Schafe im Stall zurück. Er ist ein wenig peinlich und ängstlich; ja, meine Herren, er würde auch diesen Ausflug auf die Burg bei Mondschein nicht verstattet haben, noch dazu in Herrenbegleitung, und wäre ich nicht Leontine von Wallwitz, ich würde die Sache selbst nicht in der Ordnung finden. Wäre Papa unten, müßt’ ich allerdings Ordre parieren und ich könnte mich höchstens einmal insgeheim fortschleichen, wenn Lotte ihre beiden schläfrigen Aeuglein zudrückt. Und das thut sie ja bisweilen – auch heute wird sie nur geträumt haben, daß wir zusammen auf dem Kynast waren, und den Traum vergessen, wenn sie sich nachher unten die Augen reibt.“
Lotte nickte zustimmend, sie kam sich in diesem Augenblicke recht wichtig vor. Inzwischen brachte Klärchen Flaschen und Gläser; es war feuriger Ungarwein, wie man ihn oben in den Bauden trank und der wohl über die Grenze gepascht war.
Klärchen setzte sich an den Tisch neben Friedrich von Benndorf, der ihr jedoch wenig Aufmerksamkeit schenkte, da Leontine sein Interesse völlig in Anspruch nahm. Bald klangen die Gläser zusammen und der Feuerwein von den Tokayer Rebenbergen erregte die Gemüter und die Wallungen des Blutes zu leidenschaftlicher Glut.
Jugend, Schönheit, die mondhelle Landschaft, die alte Burg mit ihren vielhundertjährigen Geheimnissen, das alles wirkte zusammen gleich einem berauschenden Zaubertrank. Selbst Klärchen ließ sich von seiner Wirkung hinreißen und ihre Gedanken machten einige Sprünge, zu denen sie sonst nie einen Anlauf genommen hätten.
„Ich hätte meinen Vater gern nach Breslau begleitet.“ fuhr Leontine fort, „doch wenn die Herren ihre Wolle verkaufen, da sind wir ihnen im Wege; da sitzen sie in den Weinstuben oder trinken den Schweidnitzer Schöps im Ratskeller und da wird so viel von Wolle und Schafen gesprochen, daß man darüber selbst drehkrank werden könnte. Und doch war ich den Winter über so glücklich in Breslau! Die Stadt war in den Händen der Franzosen. Das ist für den König von Preußen sehr unangenehm. Doch es sind reizende Menschen, diese Pariser, und selbst die rauhen Kriegsknechte haben Esprit! Ich habe mein Französisch sehr vervollkommnet, es sagt sich alles so nett im Französischen! Da hüpft man über alles leicht hinweg, worüber man im Deutschen stolpert. Und wo diese Herren überall gewesen sind – in Egypten, bei den Pyramiden und Mamelucken, die können etwas erzählen! Unsere Offiziere sprechen nur von Wachtparaden oder höchstens einmal von einer verlorenen Schlacht.“
Die Züge Kurts verfinsterten sich.
„Ich bin nicht eifersüchtig auf die Franzosen,“ sagte er, „sie mögen unseren Frauen gefallen; aber das kann nur ein flüchtiger Eindruck sein, denn es sind immerhin Fremde, in deutschen Herzen werden sie sich niemals einbürgern. Und Sie fühlen sich doch als Deutsche, Fräulein Leontine, obschon man es aus Ihren Worten nicht heraushören konnte?! Ja es hat mich peinlich berührt, daß Sie von Preußen sprachen, als ob dieser Staat Sie gar nichts anginge, als ob Sie droben im Monde lebten!“
„Was kümmert mich die Politik? Die wird dort in Berlin gemacht, heute so, morgen so, je nachdem unsere Staatsmänner mehr oder weniger ausgeschlafen haben. Dabei gehen viele [156] Tausende zu Grunde; das ist recht traurig, aber ich kann’s doch nicht ändern und ins Unabänderliche muß man sich fügen. Wäre ich der Kommandant einer Festung – ich würde mich lieber selbst erschießen, als die Festung dem Feinde übergeben. Doch ich bin nur ein Mädchen und wir armen Dinger haben ganz andere Belagerungen auszuhalten, aber auch wir ergeben uns nicht so leicht.“
„Es ist auch so,“ sagte Friedrich von Benndorf mit schwärmerischem Augenaufschlag, „die Frauen mögen bei Minnehöfen den Vorsitz führen oder bei Turnieren die Preise austeilen, doch sie sollen sich nicht selbst in die Kämpfe mischen, nicht zum Speere greifen und die Gegner aus dem Sattel heben. Da verlieren sie den Reiz, der sie uns so liebenswert macht.“
Lotte hielt den Augenblick für geeignet, eine zustimmende Bemerkung zu machen; sie erinnerte daran, daß auch sie völlig friedfertiger Sinnesart sei. Klärchen aber warf fragende Blicke auf die Schulfreundin; es gefiel ihr gar nicht, daß diese den Franzosen so hold gesinnt war.
„Ich hatte vorher den Dienst quittiert,“ sagte Kurt, „ich lebte ganz der Bewirtschaftung meines Gutes und doch empfand ich hinterdrein bittere Reue, daß ich nicht bei Jena oder Auerstädt mitgekämpft. Jena oder Roßbach, Niederlage oder Sieg – es gilt ganz gleich, wenn man nur tapfer im Feuer steht.“
„Was mich betrifft,“ versetzte Friedrich etwas kleinlaut, „so hab’ ich nie den Soldatenrock getragen. Ich war im Ministerium angestellt, und wenn meine Feder müde war, amtliche Berichte zu schreiben, dann warf sie wohl auch Märchen und Gedichte auf das Papier. Die wunderbaren Augen des jungen Ludwig Tieck hatten mir es angethan, ich war ein Genosse dieses Poeten, welcher die mondbeglänzte Zaubernacht, die wundervolle Märchenwelt heraufbeschworen. Dann erkrankte mein Vater und ich mußte wie Kurt ein Landwirt werden. Wie gern hätte ich im Getümmel einer großen Schlacht bei den Fahnen unseres Heeres gestanden! Aber im fernen Ostpreußen, im Bunde mit den Russen zu kämpfen, das ist nicht mein Geschmack.“
Leontine hatte den Bekenntnissen des romantischen jungen Edelmanns aufmerksam zugehört, auch kein Wort von dem verloren, was Kurt über seine Kampfeslust sprach. Jetzt leuchteten ihre Augen mit einem merkwürdigen, fast unheimlichen Glanze, als sie ihr Glas erhob. „Wir sind hier in dieser vom Mondenlicht und von alten Sagen umsponnenen Burg; hier aber lebt vor allem die Erinnerung an ein gewaltiges Weib, ein dämonisches Weib immerhin, das mit einem bösen Fluch behaftet war, aber ein Weib von stolzer Willenskraft, das seine Schönheit, seine Liebe nur dem Mutigsten preisgeben wollte, der um sie den Todesritt wagte über die hohe Mauer rings um die Burg. Und der Ritter viele huldigten der schönen Kunigunde und büßten es mit dem Leben. Giebt es noch Ritter, die zu ähnlichem Dienste entschlossen sind, die opfermutig um meine Gunst werben wollen?“
„Sehen Sie einen solchen Ritter in mir!“ rief Kurt.
„Und auch in mir!“ stimmte Friedrich ein.
„So leeren wir das Glas auf das Andenken der gewaltigen Kunigunde.“
Alle stießen an.
„Nun,“ versetzte Kurt, „wir sollen doch nicht auch über die Mauer reiten?“
„Nein, dergleichen gehört heutzutage in den Cirkus,“ versetzte Leontine, „die Zeiten haben sich geändert; aber auch jetzt darf eine Frau Preise setzen für ihre Gunst, und ihr Herz und ihre Hand so hoch anschlagen, wie es das Burgfräulein gethan, welches den Freiern die herzbeklemmende Wahl ließ: entweder hier oben bei mir den Himmel oder ohne mich dort unten den Höllenschlund! Und Sie beide hier sind nicht nur meine Ritter, Sie sind meine Freier – ich darf in dieser Stunde dem einen das Geheimnis des anderen verraten, es ist die Liebe zu mir!“
Kurt und Friedrich schwiegen nicht ohne Verlegenheit, dann warfen sie aufsehend einander feindliche Blicke zu.
Doch Leontine fuhr fort: „Ich kann wohl sagen, ich achte Sie beide; Ihre Huldigungen schmeicheln mir, ja mehr, sie ehren mich; doch das Zünglein der Wage schwankt in meinem Herzen, ich bekenne es offen! Mir ist die Leidenschaft fremd, die mich blindlings dem Einen und Einzigen in die Arme führt!“
Beide hörten ungläubig zu. Dies Mädchen mit dem Feuerblick sollte keiner leidenschaftlichen Liebe fähig sein?
„Wohl denn, so entscheide der Mut und das Schicksal! Was haben Sie von dem Grafen Götzen gehört?“
„Noch hält er sich tapfer in der Grafschaft,“ versetzte Kurt.
„Er sucht die Festung Glatz zu entsetzen,“ sagte Friedrich, „er greift die französischen Truppen an, welche die Festung umlagern.“
„Wohl denn, ich verlange keinen Ritt um die Mauer, aber doch einen Todesritt – ich verlangs, daß Sie beide, die um meine Hand sich bewerben, sich sofort dem Freikorps des Grafen Götzen anschließen, und demjenigen, der zuerst verwundet aus diesen Kämpfen zurückkehrt, reich’ ich Herz und Hand!“
„Das ist schön,“ rief da Klärchen, „mein Robert kämpft bereits fürs Vaterland.“
„Doch nein,“ meinte Lotte tiefsinnig, „wenn nun beide unverwundet zurückkehren? Man kann doch keiner Kugel befehlen, daß sie trifft.“
„Dann hat das Schicksal sich geweigert, eine Entscheidung zu treffen, sie ist in meine Hand zurückgelegt.“
„Und wenn der eine von beiden den Tod fürs Vaterland stirbt?“
„So gehört ihm mein Angedenken, doch niemals erhält dann der andere meine Hand.“
Es trat eine längere Pause ein, Kurt und Friedrich saßen nachdenklich da.
Dieser kräuselte sich den Bart und hatte den Kopf auf die Hand gestützt; Kurt sprang auf und ging mehrmals auf und ab, mit den Sporen klirrend, dann trat er an den Tisch.
„Sie sind grausam wie Kunigunde. Doch mein Herz gehört Ihnen und Sie dürfen mich auf die Probe setzen. Ich habe mich zu Ihrem Ritter geschworen und ich halte mir selbst diesen Schwur. Im übrigen mahnen Sie mich an eine Pflicht; ich hab’ es schon öfter bei mir erwogen, ob ich mich nicht dem Grafen Götzen, dem ich befreundet hin, anschließen soll – ich schwankte: nun ist’s entschieden um Ihretwillen. Ich glaube an Ihr Wort!“
„Und ich will nicht zurückbleiben,“ versetzte Friedrich. „Ein frischer, fröhlicher Kampf, sei er auch noch so hoffnungslos – das erlöst von den einsamen Träumereien und der Pulverdampf ist auch ein Gewölk, in dem man seine Göttin erblicken kann; die Kugel, die der Feind uns zusendet, kann uns den Tod, sie kann uns das Leben bringen, das höchste Glück der Liebe!“
Leontine erhob sich und reichte einem nach dem andern die Hand.
„So, mit Handschlag besiegl’ ich mein Versprechen und Ihr – die übernommene Pflicht. Es sind des Königs Fahnen, denen Ihr folgt – doch auch mein Fähnlein weht daneben, klein und unscheinbar, doch auch an ihm hängt euer Eid, wie an dem Königsbanner des schwarzen Adlers. Ihr kämpft für euren König, doch um eure Dame.“
Auch Klärchen hatte sich erhoben; ihr war’s feierlich zu Mute, doch auch freudig und hoffnungsreich, denn es traten ja neue glänzende Kämpfer in die Reihen, in denen ihr Geliebter stritt. Lotte aber sah fragend zu ihrer Gebieterin hinüber und erhaschte dabei einen vielsagenden Seitenblick von ihr.
O, wer wie dies stolze Mädchen mit den Männern sein Spiel treiben könnte; wär’s auch noch so sträflich, es müßte eine köstliche Genugthuung sein!
Noch einmal that der feurige Tokayer seine Schuldigkeit; noch einmal klangen die Gläser zusammen, ehe die Gesellschaft zum Aufbruch rüstete. Der Kommandant näherte sich, um zum Abschied die Honneurs zu machen, und der alte Rübezahl erhob sich von der Bank an der Mauer, auf der er geschlummert hatte, und nahm tief den vom feuchten Nebel durchweichten Hut ab. Klärchen war im Begriff, das Vorthor zu schließen, da eilte Leontine noch einmal zu ihr zurück. „Ich komme morgen auf die Burg, ich muß dich sprechen, du mußt mir einen großen Gefallen erweisen – doch jetzt leb’ wohl! Meine Ritter haben’s eilig, es geht in Kampf und Tod, doch zunächst bergab – leb’ wohl, Klärchen!“ Und Leontine eilte leichtbeschwingt den Kavalieren nach, deren Sporen dem Gestein des Felsnestes Funken entlockten.
[157]
[158] In Warmbrunn, jenem schlesischen Badeorte, der durch die prächtige Schlußdekoration des Riesengebirges einen großartigen landschaftlichen Hintergrund hat, herrschte damals ein buntes Leben. Verwundete Offiziere und Soldaten, preußische sowohl wie französische, suchten Heilung in den schwefelhaltigen Wassern des Wildbades. Es war ein neutraler Boden, so weit der Bann desselben reichte; mochte man sich in den fernen Bergen herumschlagen, hier im Thal des Zacken herrschte ein friedlicher, gesellschaftlicher Verkehr; es war dieselbe Eintracht, die in Lazaretten herrscht, wo Freund und Feind zusammenliegen. Weiter hinein ins Land aber galt der Franzose als Landesfeind; denn seine Herrschaft über die Provinz war auch nach der Eroberung von Breslau keine unbestrittene.
Ueber das schlechte Pflaster des Städtchens rasselte die schmucke Equipage von Giersdorf; sie hielt beim Beginn des großen Promenadenwegs, in dessen Mitte eine Allee zu den Bänken führte, die eine herrliche Rundschau über die Gebirgswelt gewährten. Eine tiefverschleierte Dame trat aus dem Wagen, sah sich nach allen Seiten um und schlug einen Nebenweg ein, der sich durch buschreiche Anlagen schlängelte. Die Vormittagssonne stand schon ziemlich hoch am Himmel, die Anlagen waren menschenleer; es war die Zeit, wo die Badegäste mit ihrer Kur beschäftigt waren oder sich von den Strapazen derselben in ihren Zimmern erholten. Hier und dort gab es wohl einen Spaziergänger, der die schlanke Dame ins Auge faßte; doch sie zog sich zurück in die dunklen, nach dem Schlosse zu liegenden Parkgänge und setzte sich dort auf die Bank unter einer Traueresche, indem sie ungeduldig einige gefiederte Blätter des herabhängenden Gezweigs pflückte. Dann stand sie wieder auf, ging unruhig hin und her bis zu den Krümmungen des Weges, spähte hinaus und kehrte unbefriedigt wieder zu ihrer Bank zurück. Eine Nachtigall flötete im Gebüsch; wollte der alberne Vogel sie verhöhnen? Er hatte sein sicheres Nest und konnte das Glück der Liebe aus voller Kehle in die Lüfte schmettern; ihre Liebe war heimatlos, und wenn sie ins Gebüsch schlüpfte, fand sie nicht ein sicheres Nest, sondern sie pickte nur die Krumen eines karg zugemessenen Glückes auf!
Noch immer kam er nicht – die Uhr vom Kirchturm hatte schon längst, als Leontine noch im Wagen saß, die bestimmte Stunde geschlagen. Es bedurfte dringlicher Verabredungen.
Der Vater kam an diesem Abend aus Breslau zurück; die geheimen Besuche im Schloßpark von Giersdorf waren dann unmöglich geworden. Schon faßte sie den kühnen Entschluß, den vergeblich Erwarteten in seiner Wohnung aufzusuchen – unter dem dichten Schleier würde sie wohl niemand erkennen. Da endlich rauschte etwas im Laube – stürmisch eilte sie dem Geräusch entgegen. An einem Stocke gehend, wenn auch nur unmerklich lahmend, erschien ein stattlich aussehender junger Mann mit feurigem Blick, schwarzen Haaren, schwarzem Kinn- und Knebelbart, nach seiner ganzen Haltung ein Offizier. Doch solche feurige Südländer kämpften nicht unter den Fahnen des schwarzen Adlers, das war ein Truppenführer aus den Legionen Napoleons. Der Erwartete war es und alles Schmollen war vergessen. Leontine schlug den Schleier zurück, sank an seine Brust und tauschte feurige Küsse mit dem Geliebten.
Hauptmann Edmond de Granville stammte zwar aus dem sonnentrunkenen Weinlande der Provence, und doch war er der deutschen Sprache mächtig; denn seine Mutter war eine Elsässerin und von frühester Kindheit an hatte er deutsch sprechen lernen.
„Du kommst so spät?“ sagte Leontine, ihn auf die Bank zu sich niederziehend.
„Ein Kamerad begleitete mich, ich vermochte nur mit großer Mühe ihn abzuschütteln.“
„Sieh’, Edmond, von morgen ab werde ich kaum allein nach Warmbrunn kommen; da wird mich stets mein Vater begleiten, der heute nach Giersdorf zurückkehrt. Und auch im Parke dort können wir uns nicht mehr treffen. Mein Papa treibt sich rastlos in seiner Wirtschaft herum, durchstreift alle Gänge des Parkes, besichtigt bald diese, bald jene Aecker – vor ihm giebt’s keine Geheimnisse.“
„Und da finden sich wohl auch wieder deine Freier ein?“ versetzte der Kapitän in eifersüchtiger Aufwallung, „der Herr von Rohow und der Herr von Benndorf und wie sie alle heißen, die sich bequem mit dir an den Tisch setzen, während ich draußen in Nacht und Nebel warten muß?“
„Nein,“ sagte Leontine lächelnd, „von diesen Herren habe ich mich zunächst freigemacht.“
„Und wie in aller Welt?“
„Ich habe sie ins Schlachtenfeuer hinaus in die Glatzer Landschaft geschickt – doch das Wie ist und bleibt mein Geheimnis. Kannst du aber glauben, Edmond, dieser langweilige Rohow oder gar der schmachtende Benndorf könnten mir gefährlich werden? Nein, Edmond, ich liebe dich, nur dich – glühend, grenzenlos! An dich will ich mich verlieren, durch dich will ich mich gewinnen, denn nur deine Liebe giebt allem Wert, was ich bin und habe. Wer den Rausch nicht kennt, kennt die Liebe nicht; jetzt leb’ ich, da ich dich habe!“
Und sie umarmte und küßte den Geliebten leidenschaftlich, der sich jetzt nicht mehr mit Zweifeln quälte – das Glück der Gegenwart ließ ihn an die frohen Verheißungen der Zukunft glauben. „Und du entführst mich in deine Provence, vielleicht noch ehe der Frieden geschlossen ist! Du bist noch nicht ganz wieder kampffähig, man wird dich beurlauben.“
„Möglich – vielleicht ein Gesuch beim Prinzen Jerome, bei dem ich einen Stein im Brett habe.“
„O, das hab’ ich in Breslau wohl gemerkt, schon am ersten Abend, als wir uns bei seinem Ballfeste sahen. Er unterhielt sich oft mit dir und war recht ,lustik’ – sein Lieblingswort aus unserer Sprache, ich glaube, das einzige, das in seinem Gedächtnis haften geblieben ist neben einigen Mädchennamen, die er nur verstümmelt herausbringt. Doch es war ein schöner Festabend – mir unvergeßlich! Die armen Breslauerinnen, die eingeladen waren, Ratsfrauen und Ratstöchter von den entzückenden Ufern der Ohle, wie kleinstädtisch in dem Gewühl der weltstädtischen Frauen aus Paris, welche in jeder Miene und Bewegung den Stolz zeigten, der großen Nation anzugehören! Und auch wir aus der Provinz, die wir mit alten Wappenschildern Staat machen können, als Kinder schon in unserem Ahnensaal Federball gespielt haben – wir konnten nicht aufkommen gegen diesen Pariser Glanz und den Stolz dieser sich so frei bewegenden Schönheiten, welche Siegerinnen wären auch ohne den Sieg eurer Waffen!“
„Nun, Leontine,“ versetzte der Offizier mit aufrichtiger Bewunderung, „du kannst es aufnehmen mit allen Damen aus dem Hofstaate Jeromes, deren Schönheit doch meist an den Toilettentischen fabriziert wird. Bei dir ist alles Natur, du würdest auch schön sein wie Virginie auf einer einsamen Insel, jene alle würden dort niemals einen Paul finden!“
„Wenn ich für dich schön bin, so bin ich glücklich! Noch sehe ich dich dort im Hatzfeldschen Palais am Fenster stehen, bald hinausblickend in die Nacht, bald das bunte Getümmel mit gleichgültigen Blicken streifend. Du schienst mir so einsam, so stolz, es zog mich unwillkürlich in deine Nähe. Und auch du bemerktest mich; ein Adjutant Jeromes stellte dich mir vor; da verschwand vor meinen Augen die ganze glänzende Gesellschaft – auch der junge Prinz, der vorher an mir Gefallen gefunden und mich mit dem Sprühfeuer seiner Augen überschüttet hatte. Etwas wie Eitelkeit regte sich in mir – das war ein kleinlich Gefühl; ich fühlte nur, daß meine Mitschwestern mich um diese Auszeichnung beneideten. Doch als ich mit dir sprach, da war ich nicht eitel, sondern stolz, es war ein Gefühl, das meine Brust hob, wie ich es noch nie gekannt. Da gingen die andern gleichgültig vorüber, und doch hätten sie gerade da mich beneiden können. Das Licht dieses Abends strahlte in all die Träume meiner Nächte – du warst und bleibst ihr Held!“
„Und auch ich,“ sagte Edmond, „hatte keine Rast, bis wir uns wiedergesehen. Was dazwischen lag, war eitel Jammer, und da fühlt’ ich nichts als den Schmerz einer noch nicht ganz geheilten Wunde. Wie freut’ ich mich auf jede neue Einladung Jeromes! Die Feste drängten sich, ich brauchte nicht lange zu warten; wir fanden stille Plätzchen in den Fensternischen, in den Seitengemächern, und wie schön waren die Begegnungen am Scheitenicher Park! Und nun kommt dein Vater?“
„Er haßt die Franzosen, so oft er auch gute Miene zum bösen Spiel macht und die militärischen Würdenträger mit freundlicher Ergebenheit begrüßt.“
[159] „Wir müssen uns dennoch zu treffen suchen.“
„Ja, Edmond! Ich habe lange über alles nachgedacht. Hier können wir uns nicht sehen, auch nicht in Giersdorf, aber ich weiß einen dritten Ort, wo wir uns treffen können.“
„Und dieser Ort?“
„Die alte Burg Kynast. Mein Vater klettert dort nicht hinauf, das ist ihm zu unbequem, aber mir und meiner Begleiterin erlaubt er, so oft wir wünschen, den Waldberg hinaufzusteigen, den die alte Burgruine krönt. Der Arzt hat mir’s verordnet. Der gute Arzt, wir können jetzt das Rezept brauchen.“
„Und deine Begleiterin?“
„Lottchen ist schweigsam, das weißt du ja; wenn sie nur in aller Ruhe ihren Chartreuse trinken kann, so sitzt sie auch allein am Trompetertischchen und sieht und hört nichts.“
„Und oben die Leute?“
„Die Tochter des Kastellans ist eine Freundin von mir; die muß ich mit ins Geheimnis ziehen und das soll noch heute geschehen. Die alte Burg hat mehrere Höfe und allerlei Verstecke, ein Turmzimmer unten an der Treppe, die zur Zinne in die Höhe führt, und andere verfallene, aber doch zugängliche Räume. Unbequemen Spähern läßt sich da leicht aus dem Wege gehen. Nur daß du französischer Offizier bist, verschweigen wir lieber – sie ist ein deutsches Mädchen von der schwärmerischen Sorte, welche durch anders angestrichene Grenzpfähle aus dem Häuschen gebracht wird. Sei du ein Deutscher aus dem Süden, durch die Kriegswirren hier ins Land verschlagen, vielleicht ein Arzt oder ein Schriftsteller, der die Chronik dieser Tage schreibt, oder noch besser ein Maler.“
Der Franzose erhob sich und gab nur noch leise seine Zustimmung.
„Da kommen schon wieder einige gelangweilte Badegäste,“ fuhr er fort, „welche Stoff suchen für den Kaffeeklatsch. Nimm den Schleier vor – da kommt der Wirtschaftsinspektor vom Schloß; er tröstet die Herrschaft über jede Mißernte mit allerliebsten Histörchen aus dem Badeleben. Ich möchte ihm nicht Ersatz geben für sein verregnetes Heu. Ich bin sehr gern bereit, Warmbrunn überhaupt zu verlassen; meine Badekur ist beendet; ich bedarf nur noch einer Luftkur, und da kann ich den Bergen, dem Kynast und dir näher ziehen, wenn ich nach Hermsdorf übersiedle; dort erreicht mich leicht jeder Brief, jeder Bote, und den Berg zu ersteigen ist mir, mag es mir anfangs schwer fallen, auch eine stärkende Uebung.“
Leontine hatte sich erhoben, wie der Offizier. Beide schritten scheinbar gleichgültig nebeneinander her. Jetzt nickte das Fräulein lebhaft.
„Wohl, du giebst mir deine Wohnung an und ich werde noch heute nachmittag auf die Burg hinaufeilen, ehe der Vater kommt. Hier wird’s in der That belebt in den Schattengängen und es ist das beste, daß ich nach Hause fahre, ehe die hungrige Langeweile vor dem Mittagsessen uns auf Weg und Steg anglotzt. Auf Wiedersehen im Gespensterschloß der schönen Kunigunde!“
Klärchen Röger war in großer Aufregung und mit eigenen kühnen Plänen beschäftigt. Ein Gespräch mit dem alten Rübezahl hatte sie in eine fieberhafte Unruhe versetzt. Einige Andeutungen über die Pläne der preußischen Freischaren, welche der Bergführer dem Vater gemacht, raubten ihr den Schlummer, und als sie in die Mondnacht hinauseilte, sah sie auf dem Platze vor der Burg den alten Mann sitzen, nachdenklich den Kopf in die Hände gestützt. Da der Vater schlief, konnte sie ungestört mit ihm sprechen.
Rübezahl blickte auf; über seine Züge glitt’s wie stille Wehmut, als er das reizende Kind, das ein leichtes Gewand lässig übergeworfen, in seiner unbefangenen frischquellenden Schönheit vor sich sah. Lebendiger als je wurde ihm die Erinnerung an seine Tochter und er vergaß fast, Klärchen zu fragen, was sie zu ihm führe zu so ungewöhnlicher Stunde.
„Ihr müßt mir alles erzählen, Rübezahl,“ sagte sie, „werden die Freischaren drüben bald aufbrechen?“
„Das wird von den Befehlen des Grafen Götzen abhängen. Ich erwarte morgen früh einen alten Kameraden, welcher mir aus der Grafschaft Briefe übergeben wird, die ich dann selbst weiter nach Schreiberhau befördere. Um die Aufmerksamkeit des Feindes zu täuschen, lösen wir Boten uns an bestimmten Stationen ab.“
„Und Ihr geht morgen wieder zu den Freischaren zurück?“
„Sobald ich in Glatz die Depeschen habe.“
Klärchen schwieg einen Augenblick.
„Es werden sich zwar Soldaten und Rekruten auf unserer Burg einquartieren,“ sagte sie dann, „doch wer bürgt mir dafür, daß Robert bei ihnen sein wird?“
„Das kann ich freilich nicht verbürgen, er wird es jedenfalls durchzusetzen suchen.“
„Doch wenn es ihm nicht gelingt – o, es giebt mir einen Stich ins Herz – dann rückt er fort mit den andern Truppen und ich werde ihn niemals, niemals wiedersehn!“
„Doch wie soll ich helfen, Kind?“
„O, ich wüßt’ es schon, ich hab’ einen Plan und mir ist auf einmal so wohl zu Mute, so selig, wenn ich mir’s ausmale, wie ich ihn wiedersehe!“
„Du meinst –“
„Doch es ist nicht der gerade Weg – und das erschreckt mich, ich müßte den Vater täuschen und das fällt mir schwer aufs Herz. Und dann weiß ich auch nicht, Papa Rübezahl, ob Ihr einwilligt. Das ist in meinem Kopfe ein Gedränge von allerlei Gedanken, mir ist ganz wirr zu Mute!“
„Sag’ nur gerade heraus, was du denkst! Bei mir ist alles gut aufgehoben und so gut verborgen in meinem Kopfe wie die Depeschen in meinen Stiefeln.“
„Ach, Papa Rübezahl, ich möchte Euch gern morgen nach Schreiberhau begleiten.“
„Kann ich mir schon gefallen lassen – aber ...“
„Ja, der Vater –“
„Er wird davon nichts wissen wollen.“
„Er darf auch davon nichts wissen und da hab’ ich mir etwas recht Spitzbübisches ausgedacht. Vater wollte mich für zwei Tage aufs Schloß hinunterschicken in unsere Wohnung, damit ich dort Einkäufe von Proviant für die Burg mache. Nun denn, ich werde das in zwei Stunden besorgen und wandere dann mit Euch nach Schreiberhau, wenn Ihr mich mitnehmt, Papa Rübezahl! Der Vater wird kaum etwas davon merken und hinterdrein bin ich auch im schlimmsten Fall auf ein kleines Donnerwetter gefaßt. Das schadet nicht, nach so viel Sonnenschein, der das Herz erquickt hat.“
„Dein Vater weiß noch nichts von deiner Liebe?“
„Er hat andere Pläne mit mir. Der dicke Sohn des Schulzen drunten in Hermsdorf, den soll ich heiraten, weil er der Erbe eines schönen, großen Gutes ist. Der unglückliche Christoph liebt mich, doch wenn er mich mit seinen Anträgen verfolgt, da möchte ich immer weit in die Berge fliehen, denn ich habe einen Abscheu vor ihm. Der Vater aber denkt anders. Der arme Robert dürfte jetzt nicht bei ihm anklopfen. Doch wir zwei haben Geduld und warten auf bessere Zeiten. Wenn wir dem Vater erst einen Kirchturm zeigen, unter dem Roberts Pfarrhaus steht, da wird er schon Respekt bekommen, denn er ist kein Heide.“
„Gut denn,“ sagte der Alte kopfschüttelnd, „eine Verantwortung für deine Hinterlisten und Abenteuer kann ich nicht übernehmen; besser hättest du gethan, mir das alles zu verschweigen. Doch begleiten darfst du mich und in meinem Schutze wirst du sicher sein.“
„Ich danke Euch, Papa Rübezahl,“ sagte sie, ihm herzlich die Hand schüttelnd, „und wann soll ich mich rüsten?“
„Der andere Bote wird bis morgen mittag hier sein, dann können wir uns bald auf den Weg machen; du gehst einige Zeit voraus, um in Hermsdorf alles zu besorgen.“
Klärchen war in einem seligen Rausch; sie merkte gar nicht, daß der kühle Nachtwind sie anfröstelte unter ihrer leichten Bekleidung. Sie hätte den Mondschein mit Händen greifen und ihn überall ausstreuen mögen, wo tiefer, schwerer Schatten lag, daß die ganze Welt so freudig hell würde wie ihr eigenes Herz. Und die schönsten Träume brachte sie mit hinter den Verschlag, wo ihr Lager war, und ob sie wachte oder schlummerte, sie wußte es kaum: es waren dieselben entzückenden Bilder, die vor ihrer Seele gaukelten.
Am nächsten Mittag kam der Bote; es war ein junger kräftiger Bergführer; in einem Winkel des alten Burggemäuers gab er dem würdigen Rübezahl seine Briefe. Sogleich rüstete sich Klärchen zur Wanderschaft. Doch sie hatte kaum das vordere [160] Burgthor hinter sich, als ihr Leontine, die steilen Wege hastig heransteigend, atemlos entgegen kam.
„Ich muß dich sprechen, Klärchen.“
„So muß es hier auf dem Wege sein, denn ich habe Eile.“
„Einen Augenblick nur laß uns dort auf der Bank ruhen; ich habe dir etwas zu erzählen, ein Geständnis zu machen, und dazu muß ich mir ein Herz fassen und vor allem erst zu Atem kommen.“
Klärchen war nicht ohne Neugier, die Beichte der vornehmen Freundin zu hören, und so folgte sie ihr halb widerwillig, halb gespannt auf den Seitenpfad, der zu dem schönen Aussichtspunkte führte.
„Du hast solche Eile – das ist mir sehr unangenehm,“ sagte Leontine, „es handelt sich um Herzenssachen und die kann man nicht so aus dem Aermel schütteln; da kommt eins nach dem andern und man braucht Zeit, um alles richtig zu erzählen. Doch ich will mich kurz fassen,“ fuhr Leontine fort, als sie auf der Bank Platz genommen hatte. „Ich liebe.“
„Jenen Kurt von Rohow, den du in den Krieg schicktest?“
„O, nein!“
„Dann den anderen, den schwärmerischen Friedrich?“
„Nein, auch ihn nicht!“
„So treibst du ein Spiel mit ihnen?“
„Ein Spiel, wenn ich die müßigen Herren zum Kampfe fürs Vaterland mobil machte? Es gilt unter Männern doch einmal für Ehrensache, dafür zu kämpfen, und junge Edelleute dürfen nicht zu Hause sitzen, wenn’s in den Bergen knallt. Jagd oder Krieg, es ist einmal ihr Vorrecht; sie gehen ja immer mit der Flinte herum wie die Briganten in den Abruzzen und der Krieg ist wenigstens eine Abwechslung; ich aber bin sie so auf bequeme Art losgeworden.“
„Das ist unrecht, Leontine!“
„Unrecht? Ich setzte mich zur Wehr gegen ihre Raubgier. Was gelt’ ich ihnen? Sie wollen nichts als mein Geld, mein Hab’ und Gut! O, die Liebe ist anders! Der Mann, den ich liebe, er ist nicht hier im Lande geboren; er weiß nicht, ob ich arm oder reich bin; er selbst aber hat keinen Besitz, weder hier noch anderswo; er kann meinem Vater nicht genehm sein, der für mich einen reichen und vornehmen Freier wünscht.“
„O, das versteh’ ich, eine heimliche Liebe, die sich verbergen muß.“
„Und dazu eben brauche ich deine Hilfe. Noch heute abend kehrt mein Vater von Breslau zurück; Begegnungen mit dem Geliebten in unserem Giersdorfer Park sind dann ausgeschlossen; mein Vater ist ein unruhiger Gutsherr, er ist eben überall, ehe man sich’s versieht. Und deshalb gerade will ich deine Hilfe in Anspruch nehmen. Hier auf die Burg zu kommen in Begleitung meiner Lotte, erlaubt der Vater gern! Das ist der Ort, wo wir uns treffen können, wenn du unser Schutzengel sein willst. Es giebt ja noch Räume im alten Gemäuer, zu denen du die Schlüssel hast, oder wir flüchten uns in einen der Höfe und Zwinger und du warnst uns, wenn lästige Gesellschaft kommt. Vor allem aber bist du verschwiegen wie das Grab und unterhältst die dicke Lotte, wenn sie sich allein zu langweilen anfängt!“
„Das alles ist mir peinlich; ich seh’s voraus: ich muß den Vater täuschen und seine Wachsamkeit hintergehen. Und dazu kann ich mich nur schwer entschließen.“
„Du weigerst dich also?“
„Ich würde mich weigern,“ versetzte Klärchen, „wenn nicht das Eine wäre.“
Und nun brach sie in Thränen aus und Schluchzen und sank der Freundin ans Herz.
„Das Eine?“
„Ja, daß ich so ganz mit dir fühlen kann. Denn auch mir brennt’s heiß im Herzen, ein heimlich Lieben, das ich vor dem Vater verbergen muß. Wie könnte ich dich anklagen, da ich selber schuldig bin!“
„Und so bist du bereit, meinen Wunsch zu erfüllen?“
„Ich werd’s übers Herz bringen wie vieles andere, das mir noch schwerer fällt, doch in den nächsten zwei Tagen ist es unmöglich.“
„Unmöglich?“ rief Leontine, teils erschreckt, teils ärgerlich, auf ein unerwartetes Hindernis zu stoßen. Ihren Wünschen mußte sich alles fügen, sie war gewohnt zu befehlen.
„Auch ich muß dir ein Geständnis machen,“ versetzte Klärchen errötend, „ich will auf zwei Tage nach Schreiberhau. Dort weilt der, dem mein Herz gehört, und auch ich muß das hinter dem Rücken meines Vaters thun.“
„Das ist sehr unrecht von dir,“ sagte Leontine heftig und unüberlegt.
„Und du, Leontine?“
„Das ist etwas anderes. Du bist noch ein halbes Kind; ich bin selbständig, gewohnt, mich frei in der Welt zu bewegen. Du bist immer geführt worden und kannst fallen, wenn du deine eigenen Wege gehen willst! Ich warne dich, Klärchen!“
„Du warnst mich nur, weil es dir jetzt nicht paßt, daß ich die Burg verlasse.“
„Und wenn’s auch so wäre,“ versetzte Leontine, mit dem Fuße aufstampfend, „ich habe einmal keine Geduld, und so lange ihn nicht wiederzusehen, es bringt mich um!“
Leontine erhob sich heftig und warf der Freundin einen sehr bösen Blick zu. Doch es war alles vergeblich, Klärchen zuckte nur leise mit den Achseln.
„Mag es denn sein,“ sagte das Schloßfräulein, indem es vor Klärchen stehen blieb und sie mit überlegenem Lächeln ansah, „wie konnte ich denn annehmen, daß du kleines Ding auch solche Geheimnisse hast? Sieh, sieh – das bescheidene Mauerblümchen vom Kynast, ich hatte ordentlich Respekt vor deiner Unschuld! Nun, wir sind allzumal schwache Geschöpfe. Darf ich also wenigstens auf dich rechnen, wenn du zurückgekehrt bist?“
„Rechne auf meine Freundschaft,“ sagte Klärchen.
Leontine drückte ihr die Hand.
Schweigend schritten die beiden Mädchen die Waldwege des Burgbergs hernieder.
(Fortsetzung folgt.)
Die redenden Kräuter der guten alten Zeit.
Der gelehrte Leibarzt des Fürstbischofs von Würzburg Johann Bartholomäus Adam Beringer hat im vorigen Jahrhundert Versteinerungen für hebräische Buchstaben angesehen und 1726 ein großes Prachtwerk mit einundzwanzig Kupfern herausgegeben, um das Wort des Psalmisten zu illustrieren: Denn so er spricht, so geschieht’s; so er gebeut, so stehet’s da. Die Fossilien waren gefälscht und in der Gegend von Würzburg unter der Erde vergraben worden. Er glaubte, ganze hebräische Worte, ja, den Namen Jehovah selber in den Steinen zu erkennen, und nahm an, daß dies die Lapidarschrift des Schöpfers gewesen sei.
Uns erscheint heutzutage in der Pflanzenwelt vieles als Naturspiel, was in der guten alten Zeit einmal für eine geheimnisvolle Sprache Gottes gegolten hat.
Wenn die Botaniker herzförmige, nierenförmige, handförmig geteilte, fußförmig geteilte Blätter unterscheiden, so wird niemand etwas anderes als ein Naturspiel in diesen Formen sehen. Wenn ein bekanntes Unkraut seiner dreieckigen Schote wegen den Namen Hirtentäschel führt, wenn eine Blume Eisenhut, eine Morchel Tirolerhütchen heißt, so denkt man nicht daran, etwas hinter diesen Bezeichnungen zu suchen. Früher war das anders.
Eine der seltsamsten Verirrungen des Menschengeschlechts, eine phantastische Kombination, die aber weitreichende praktische Folgen hatte und tief in die mittelalterliche Arzneimittellehre eingriff, ja, in der Volksmedizin heute noch spukt, war die Lehre von der sogenannten Signatur der Pflanzen.
Die spezifischen Mittel, d. h. Heilmittel, die gegen bestimmte Krankheiten halfen, sollten nach dieser Lehre besondere Kennzeichen tragen. Jedes Kräutlein hatte eine Form und eine Farbe und eine Beschaffenheit, daß man gleich sehen konnte, wozu es gerade gut war: was auf den Kopf wirkte, glich auch einem Kopfe, was ein herzstärkendes Mittel war, hatte auch Herzform; das Leberblümchen war wie ein „redendes Wappen“, es glich [161] einer Leber, drum galt es als wohlthätig für die Leber; das Lungenkraut heilte die kranke Lunge.
Weshalb mag wohl die bekannte Frühlingsblume, eine Art Borretsch, Lungenkraut genannt und bei Blutspeien, Heiserkeit, Halsentzündung und ähnlichen Gebresten empfohlen worden sein? – Die Blüten sind erst hellrot, dann violett, zuletzt dunkelblau. So ist auch das Blut, das vom Herzen zur Lunge und von der Lunge zurück zum Herzen strömt, bald hellrot, bald dunkelblau, je nachdem es, mit Sauerstoff gesättigt, durch die Pulsadern schießt oder sauerstoffarm durch die Blutadern oder die Venen getrieben wird. In dem genannten Kraute schien also wie in einer menschlichen Lunge ein Austausch zwischen arteriellem und venösem Blute zu erfolgen. Und damit war ihm seine Bestimmung als Hausmittel vorgezeichnet.
Eine Kokosnuß hat Aehnlichkeit mit einem Affenkopfe, bloß deshalb nannten die Portugiesen sie Coco; aber auch schon eine Welsche Nuß besitzt in der mittelalterlichen Ausdrucksweise die Signatur des Hauptes, der Durchschnitt des Gehirns erinnert merkwürdig an den Kern einer Welschen Nuß. Was Wunder, wenn nun die Aerzte in der grünen Schale der Frucht die Signatur der Hirnhaut und in dem bitteren Safte dieser Schale ein „sonderbares Mittel zu den Wunden des Hirnhäutleins“ erkannten? Für ein Specifikum gegen Kopfschmerzen galten ganz nach demselben Systeme die kugeligen Kapseln eines gemeinen Unkrautes, des sogenannten Gauchheil (Anagallis).
Die Thatsache, daß gewisse Pflanzen Aehnlichkeit mit gewissen Körperteilen haben, veranlaßte also zu der Meinung, daß diese Aehnlichkeit ein Fingerzeig der Natur sei, und daß solche Pflanzen eine besondere Heilkraft auf die entsprechenden Organe ausüben. Der Gedanke lag nahe; das Verfahren schien ganz konsequent.
In Wirklichkeit hatte man längst nach diesem Prinzip gehandelt. Von jeher haben die Menschen gewähnt, sich mit dem Genusse eines bestimmten Organes die besondere Kraft desselben aneignen zu können. Die Araber des Atlas fangen den Löwen in Fallgruben und schießen ihn dann zusammen. Wenn er zerlegt wird, bekommt jeder Knabe ein Stück vom Herzen zu essen, damit er mutig werde. Genau so geben die Kannibalen ihren Söhnen vom Herzen des erlegten Feindes zu essen; mit dem Blute des Erschlagenen glauben sie seine Seele in sich aufzunehmen und ihren eigenen Mut zu erhöhen. Der Affe unserer Wälder, das Eichhörnchen, ist im Klettern und Springen Meister. Aequilibristen und Seiltänzer suchen sich daher mitunter Eichhörnchen zu verschaffen und genießen das Gehirn, weil sie der Meinung sind, daß sie dann besser springen können und keinen Schwindel bekommen. Wer hätte nicht schon gehört, daß Fuchslunge, in Wein gewaschen, getrocknet und gepulvert, ein specifisches Mittel gegen Lungenschwindsucht sein soll? Das ist ein Rest der hohen Meinung, die man von den Eingeweiden des schlauen Reineke, namentlich auch von seiner Leber hatte und die nun dazu führte, das berühmte Tier zu essen, seine innere Kraft in sich aufzunehmen, durch den vermeintlichen Ueberschuß dem eigenen Mangel abzuhelfen.
Unzählige thörichte Gebräuche beweisen, daß dies wirklich die Meinung gewesen ist; der Uebergang von den Tieren zu den Pflanzen geschieht dann unmerkbar. Noch jetzt glauben viele Leute, daß Bärenfett den Haarwuchs befördere. Nun ja, es wird nicht immer genau der entsprechende Teil des Tieres genommen, wenn das Mittel nur überhaupt von diesem Tiere herstammt. Das weiße, schwer erhärtende Bärenfett verdankt seinen Ruf als ausgezeichnete Pomade augenscheinlich nur dem Umstande, daß der Bär ein so großes und schweres Fell, einen so zottigen, dichten Pelz hat. Es ist dieselbe Einbildung, die das Klettenwurzelöl als Haaröl in Kurs gebracht hat – die Menschen dachten, sie bekämen nach Gebrauch desselben einen Haarschopf wie die filzigen Köpfchen der Klette. Wird denn nicht sogar der Maiwuchs mit Spiritus aufgesetzt, um den Kopf damit zu waschen? – Die Haare sollen dann wachsen wie die Nadeln. Spargel und Fenchel sind ihres grünen Haares wegen gleichfalls alte Haarverjüngungsmittel.
Schon im alten Rom sind die Läuftchen des Hasen den Gichtkranken zum Genuß empfohlen, Hasenpfötchen jahrhundertelang als Vorbeugungsmittel gegen Podagra getragen worden. Sollte das einen anderen Grund haben als den, daß der Hase gut laufen kann? – Das auf dem Leibe getragene Pfötchen zog die Krankheit an sich und gab dem kranken Beine seine Kraft ab. Der Hasenfuß hat wieder ein Seitenstück im Pflanzenreich, den Geißfuß, das Aegopodium, dessen eckige Stengel mit Ziegenbeinen verglichen wurden, und das nun, weil die Ziegen so gut zu Fuße sind, einen Ruf als Zipperleinkraut erhielt und ebenfalls gegen Podagra im Gebrauch war.
Noch ein drittes Pärchen. Der Biber ist einer der größten Nager; die starken und scharfen Schneidezähne ragen weit aus dem Kiefer hervor. Daher werden diese guten Zähne in Bibergegenden als Mittel gegen Zahnschmerzen betrachtet und den Kindern umgehängt, um ihnen das Zahnen zu erleichtern. Es giebt aber auch ein Kraut, das Zähne zu haben scheint, das [162] ist der sogenannte Zahntrost, eine Art Euphrasia. Demnach mußte es auch dazu dienen, Zahnschmerzen zu stillen, und seinem Namen Ehre machen.
Das war also nicht bloß ein Naturspiel, ein gezahntes Blatt, sondern ein wichtiges Anzeichen! – Man darf dreist behaupten, daß die meisten alten Hausmittel auf solchen Faseleien beruhen und die Hälfte der Medizinflaschen an dieser Quelle gefüllt worden ist, sie haben keine andere Signatur getragen.
In anderen Fällen verriet das Kraut die Krankheit, gegen die es zu brauchen war, direkt, z. B. das Schöllkraut, das einen gelben Saft enthielt, die Gelbsucht und die Sommersprossen. Was hätte wohl die Brennnessel anderes angezeigt als das Sodbrennen und das Seitenstechen? – Noch gegenwärtig pflegt die heilsame Brennnessel in der Umgegend von Leipzig vom Volke gesucht zu werden. Besonders merkwürdig und für die Denkungsart des Volks bezeichnend ist das Johanniskraut oder das Hartheu (Hypericum). Es scheint gleichsam aus tausend Wunden zu bluten; die mit zahlreichen Oeldrüsen durchsetzten Blätter erscheinen, gegen das Licht gehalten, durchsichtig punktiert, und wenn man die Blumen, die ebenfalls schwarz punktiert sind, drückt, so tritt ein roter Saft aus. Ein weißes Taschentuch wird rot gefärbt, gerade als ob Blut darauf gefallen wäre. Aus diesem Grunde diente das Johanniskraut nicht bloß als Zaubermittel, sondern vor allem als Wundmittel gegen Blutungen aller Art; auch in Frankreich, wo man die Pflanze Milepertuis, wörtlich: Tausend Löcher, nennt, nahm sie bisher unter allen Heilkräutern die erste Stelle ein.
Es giebt eigene Naturspiele. Zum Beispiel scheinen zwei Pflanzen verwandelte Schlangen zu sein. Bei der einen haben die Samen die Gestalt eines Schlangenkopfes, daher das Kraut auch Natterkopf heißt (Echium); die andere züngelt wie eine Schlange, daher sie auch Natterzunge, Ophioglossum, heißt. Letzteres ist ein Farn, der eine Aehre wie eine kleine platte spitzige Zunge vorstreckt. Von dem Natterkopf, der auch Blauer Heinrich heißt, benutzt man nun folgerecht Wurzel, Kraut und Samen bei Schlangenbissen, indem man ein schleimiges, kühlendes und erweichendes Mittel daraus bereitet; die „Natterzunge“, in Olivenöl gesotten, ist ein Wundmittel wie das Johanniskraut.
Der Leser begreift, eine wie unsichere Führerin die zufällige Aehnlichkeit auf diesem wie auf manchem anderen Gebiete ist und daß man um so mehr Grund gehabt hätte, den redenden Kräutern zu mißtrauen, je deutlicher die Sprache war, die sie führten. Deshalb ist auch die Wissenschaft von der Signatur der Pflanzen gänzlich zurückgekommen. Heutzutage werden die Heilmittel an ihren Wirkungen erkannt; und so wirkt denn zum Beispiel der Fingerhut, der doch auf den Finger zu weisen scheint, weit sicherer auf das Herz als selbst ein Löwenherz, das man gebraten zu Nacht gegessen hat.
Blätter und Blüten.
Zum zehnjährigen Todestag Kaiser Wilhelms I. (Zu dem Bilde S. 133.) Vor zehn Jahren, unter dem unmittelbaren Eindruck der Alldeutschland aufs schmerzlichste erschütternden Trauerkunde von dem Tode Kaiser Wilhelms I, hat Hermann Hidding sein tiefempfundenes Bildwerk „9. März 1888“ entworfen. Dasselbe stellt den entschlafenen Kaiser dar, wie er von zwei Genien in das Reich des Friedens emporgetragen wird. In diesem Kunstwerke kommt trefflich eine eigenartige von Hidding ausgebildete Behandlung der Reliefplastik zur Geltung. Bisher war es bei Reliefdarstellungen üblich, die Figuren einfach als halbierte Körper darzustellen, Hidding ging aber damit vor, die Gestalten aus der gegebenen Fläche derart organisch herauswachsen zu lassen, daß sie in gleicher Weise malerisch wie bildnerisch zur Wirkung gelangen. Erhält ein so behandeltes Relief noch eine bildartige Umrahmung, so macht es in seinen aufs sorgfältigste berechneten Licht- und Schattenwirkungen den Eindruck eines besonders plastisch herausgearbeiteten Gemäldes, ohne indes den Charakter der reinen Skulptur zu verleugnen. Die von uns abgebildete Apotheose Kaiser Wilhelms I wurde neuerdings vom Künstler in karrarischem Marmor ausgeführt und schmückte als eines der schönsten Stücke die plastische Abteilung der vorjährigen Berliner Kunstausstellung.
Hidding war als langjähriger Meisterschüler von Begas einer der
Mitarbeiter am Berliner Nationaldenkmal; er hat u. a. die Trophäen-
und Wappennischen an den Portalen der Säulenhalle gemeißelt, sowie
die schöne Gruppe „Kunst“ auf der Rückseite der Attika. Er wurde am
9. Mai 1863 zu Nottuln bei Münster in Westfalen geboren und hat
die Akademien von Düsseldorf und Berlin besucht. P. S.
Die Tasso-Eichen in Rom. (Zu dem Bilde S. 137.) Als vor drei Jahren die dreihundertste Wiederkehr von Torquato Tassos Todestag in Italien feierlich begangen wurde, hat auch die „Gartenlaube“ ihren Lesern ein Bild des tragischen Lebensganges geboten, der am 25. April 1595 im Kloster Sau Onofrio am Monte Gianicolo in Rom sein Ende fand. Hier in der stillen Zelle, die den heutigen Besuchern des Klosters als eine Art Nationalheiligtum gezeigt wird, erlöste der Tod den von schwerer Geisteskrankheit gequälten Mann gerade als seine langersehnte Dichterkrönung auf dem Kapitol erfolgen sollte. Noch heute wird an Tassos Todestag alljährlich von den Mönchen des Klosters dem edlen Sänger der ritterlichen Kämpfe um das Grab des Erlösers eine Seelenmesse gelesen im Beisein einer zahlreichen Gemeinde. Die großen schattigen Steineichen aber, die etwas oberhalb des Klosters an einer Stelle des ehemaligen Klostergartens stehen, über die jetzt der Weg zur Höhe des Janiculusbergs führt, sind nach Tasso benannt; hier war sein Lieblingsaufenthalt in jenen letzten Tagen seines Lebens, unter den Zweigen der einen dieser Eichen, die seitdem von Blitz und Sturm arg mitgenommen wurde, entstanden Tassos letzte Verse.
Kein Deutscher, der in Rom weilt, versäumt den Besuch dieser Stätte. Erhielt sie doch von einem Dichter die Weihe, dessen ergreifendes Schicksal durch Goethes Dichtung uns allen innig vertraut ward. Aber noch ein anderer Ruhm lockt den Fremden zu den Tasso-Eichen auf dem Monte Gianicolo, dessen gartenreiche Anlagen die Tiberstadt im Südwesten malerisch umwallen. Schon Martial rühmte die entzückende Aussicht, welche sich vom Mons Janiculus aus über das weite herrliche Rom dem Auge bietet, unter den Tasso-Eichen des Klosters San Onofrio, das am westlichen Abhang des Hügels liegt, erhält diese berühmte Aussicht ihren besonderen Charakter durch die Nähe des Vatikans und des Petersdoms, der mit seiner gewaltigen himmelanstrebenden Kuppel jedes andere Bauwerk Roms hoch überragt. Das stimmungsvolle Bild R. Püttners läßt uns die Peterskirche zwischen den Stämmen der alten Eichen erschauen, während rechts, nahe der Straße, die Gebäude des Klosters Onofrio sichtbar sind. Die Treppe links, neben welcher die eigentliche, vom Blitz versehrte Tasso-Eiche steht, führt zur Höhe hinauf, von welcher seit zwei Jahren das großartige Garibaldidenkmal auf die ewige Stadt niedergrüßt.
Ingeborg. (Zu dem Bilde S. 157.) Längst ist die romantische Dichtung, welche der Schwede Esaias Tegnér aus dem Stoffe der altnordischen „Frithjofs-Sage“ gestaltet hat, durch vortreffliche Uebersetzungen ein Gemeingut der Deutschen geworden. Die poesieverklärten Gestalten des kühnen Heldenjünglings Frithjof und seiner Jugendgeliebten Ingeborg, die ein rauhes Schicksal trennt, bis die Gunst der Götter sie endlich doch vereinigt, genießen bei uns kaum eine geringere Volkstümlichkeit als im Heimatlande Tegnérs. Das stimmungsvolle Landschaftsidyll H. Dahls, das uns auf einsamer Felsenklippe die Tochter König Beles zeigt, vergegenwärtigt uns in getreuer Naturaufnahme die meerumspülte Heimat des berühmten Liebespaars. Das kleine Reich König Beles lag zu beiden Seiten des buchtenreichen Sognefjords im norwegischen Kirchspiel Bergen. Noch heute führt der steile Felsvorsprung am Nordwestgestade den Namen „Balderhöhe“ nach dem Tempel des Gottes Balder, der einst auf seiner Höhe stand. Im Schutze dieses Tempels trafen sich die von den Vätern füreinander bestimmten Heldenkinder heimlich, als nach der Väter Tod Ingeborgs hochmütige Brüder dem Freibauernsohn Frithjof die Hand ihrer Schwester versagt hatten. Von seinem Stammgut Framnäs auf der anderen Seite des Fjords kam der kühne Degen des Nachts auf seinem Schiff Ellide zum traulichen Stelldichein. In diese Zeit heimlichen Liebesglücks versetzt uns der Maler. Das läßt uns getreulich der hoffnungsfrohe Ausdruck der edlen Züge der Nordlandstochter erkennen. Ingeborg weiß: ist der Geliebte auch zur Stunde noch fern jenseit der Flut – wenn erst Sterne und Mond am Himmel stehn, wird sein schnelles Schiff ihn herübertragen zu ihr. Zu den Perlen der Dichtung Tegnérs gehört der Gesang, in welchem er uns seines Helden Gefühle bei solch nächtlicher Meerfahrt durch dessen eigenen Mund schildern läßt:
„Leis gehn die Sterne, wie auf Zehen
Der Liebende zum Mädchen schleicht,
Ellid’ fahr’ zu mit Sturmeswehen,
Ihr blauen Wellen tragt sie leicht!
Es grünen dort des Gottes Haine,
Zu guten Göttern ziehn wir hin;
Der Tempel glänzt im Sternenscheine,
Drin thront der Liebe Königin.“
[163] Der Untergang des amerikanischen Panzerkreuzers „Maine“. (Mit Abbildung.) Die Unruhen auf Cuba dauern noch immer fort, und nach wie vor bringen die Nordamerikaner den Aufständischen Sympathien entgegen. Als darum die Regierung der Vereinigten Staaten beschlossen hatte, Kriegsschiffe nach Cuba zu entsenden, hat dieses Vorgehen in Spanien Anstoß erregt. Die Amerikaner erklärten zwar förmlich, es handle sich dabei nur um einen „freundschaftlichen Besuch“, es lag aber auf der Hand, daß diese Maßregel den Aufständischen neuen Mut einflößen und die weitesten Volkskreise in Spanien in große Erregung versetzen mußte.
Um so peinlicheres Aufsehen erregte darum die Kunde, daß der amerikanische Panzerkreuzer „Maine“ am 15. Februar durch ein furchtbares Unglück im Hafen von Havanna einen jähen Untergang gefunden habe.
Die „Maine“ war ein stolzes Schiff neueren Typs, das erst vor sechs Jahren vom Stapel gelaufen war, ein stark armierter Panzerkreuzer von 6700 Tonnen mit Maschinen von 9000 Pferdekräften, dessen Baukosten über zehn Millionen Mark betragen haben.
Am 15. Februar bereitete man sich im Hafen von Havanna bereits zur Nachtruhe, als plötzlich um 9 Uhr 40 Minuten abends ein mächtiger Knall vernommen wurde. Aus dem Panzerkreuzer „Maine“ stieg wie aus einem Vulkane eine Feuersäule empor, dann kam ein Feuerregen, vermengt mit Schiffstrümmern, die auf benachbarte Schiffe niederfielen und dem Dampfer „City of Washington“ zwei Boote zerschmetterten. Sofort ließen die elektrischen Scheinwerfer ihre Lichtgarben auf das verunglückte Schiff, das im Sinken begriffen war, fallen, und zugleich stießen Boote vom Lande, sowie von dem Dampfer „City of Washington“ und dem spanischen Kriegsschiff „Alfons XII“ ab, um Hilfe zu leisten. Es gelang ihnen aber nur verhältnismäßig wenige mit dem Tode im Wasser ringende Seeleute zu retten. Mit dem Schiff gingen 253 Mann und 2 Offiziere der Besatzung zu Grunde.
Nach den Aussagen der Geretteten wurde die „Maine“ durch eine Explosion vernichtet, die im Mittelmagazin, wo die Sprengladungen für Torpedos aufbewahrt wurden, um 9 Uhr 40 Minuten erfolgte. Das Schiff wurde aus dem Wasser gehoben, barst dann auseinander und sank unter. Der so große Verlust an Menschenleben läßt sich nur dadurch erklären, daß bei der Schnelligkeit, mit der die Katastrophe sich vollzog, von der Mannschaft nur wenige an Deck gelangen konnten und die meisten mit dem zertrümmerten Schiffe in die Tiefe sanken.
Es handelt sich hier um einen der schlimmsten und schrecklichsten Unglücksfälle, die in der letzten Zeit Kriegsschiffen begegnet sind.
Wodurch die Explosion verursacht wurde, ist bisher nicht bekannt geworden. Im ersten Augenblick tauchte der Verdacht auf, daß das Kriegsschiff von den Spaniern in die Luft gesprengt worden sei. Dies rief in den Vereinigten Staaten eine starke Beunruhigung und Erregung hervor.
Bald aber kam man zu der Ueberzeugung, daß diese schwere Beschuldigung unbegründet und das Unglück durch einen Zufall entstanden sei.
Der Gnu-Ochse oder Takin. (Mit Abbildung.) Vor ungefähr fünfzig Jahren erregte die Entdeckung eines sehr merkwürdigen großen Wiederkäuers in den naturwissenschaftlichen Kreisen das größte Aufsehen. Hodgson, dessen erfolgreichen Forschungen man die Kenntnis einer ganzen Reihe von sehr sonderbaren Tieren des östlichen Himalaya verdankt, hatte von den wilden Mischmivölkern, welche in den Thälern des oberen Brahmaputra wohnen, unvollständige Häute und Schädel eines Huftieres heimgebracht, welches die Kennzeichen der verschiedensten Wiederkäuergruppen in sich vereinigte. Er nannte das Tier Budorcas taxicolor, dachsfarbige Ochsengazelle, „ein Mittelding zwischen Schaf, Antilope und Rind“. In den siebziger Jahren gelang es dem berühmten Tibetforscher Père David, mehrere zum Ausstopfen geeignete Felle mit den Schädeln nach Paris zu senden.
Rätselhaft blieb trotzdem die Naturgeschichte dieses eigentümlichen Tieres. Bis zum heutigen Tage hat noch kein Europäer den Takin lebend gesehen und die Meinungen der Zoologen über seine verwandtschaftlichen Beziehungen gehen weit auseinander. Neuerdings bot sich durch die Liebenswürdigkeit meines Pariser Kollegen de Pousargues für das Berliner Museum die längst erwünschte Gelegenheit, ein Exemplar aus einer Sammlung tibetanischer Säugetiere zu erwerben, und heute bildet der Takin eine der größten Zierden des Museums für Naturkunde zu Berlin. Meine Frau hat ein treffendes Bild von dem sonderbaren Stück gezeichnet, welches den Lesern der „Gartenlaube“ untenstehend dargeboten wird. Nach meinen Untersuchungen ist der Takin am nächsten verwandt mit dem Schafochsen, Ovibos moschatus, der heute nur noch in den unzugänglichen Teilen des Nordpolargebietes zu finden ist.
Er ist ein Tier von der Größe einer kleinen Kuh, dessen langgestreckter, mäßig gerundeter Leib auf kurzen, im oberen Teile lang behaarten und dadurch sehr plump erscheinenden Beinen ruht; der untere Teil des Laufes ist auffallend kurz, kürzer als bei irgend einem bekannten Wiederkäuer. Die Hufe sind ziemlich groß und die Afterklauen sehr breit. Der ganze Bau der Beine weist darauf hin, daß das Tier trotz seiner Plumpheit ein gewandter Kletterer ist. Der Kopf trägt durch seine Ramsnase durchaus den Charakter des Streifengnu, nur ist die Muffel einfacher geformt und ganz behaart, wie beim Schafochsen. Auch das Gehörn erinnert an das Gnu. Sehr eigentümlich sind die kleinen dicht behaarten Ohren, welche unter allen Huftieren nur beim Schafochsen in ähnlicher Form auftreten. Die ziemlich lange, äußerst grobe und zottige Behaarung des Körpers ist von einer ganz eigentümlichen, an keinem anderen Huftier nachgewiesenen Färbung und schwer zu beschreiben; ein Gemisch vom Hellgelb bis zum tiefen Braun, hier und da goldig oder oliven überflogen. Der Kopf zum Teil, die Unterseite, der Hinterrücken und der untere Teil der Läufe sind tiefbraun.
Die Mischmi nennen das Tier Takin, bei den Mantsevölkern in Moupin zwischen Kukunor und dem Chamreich heißt es Ye-Mon. Die höchsten und unwirtlichsten Gebirgszüge des östlichen Himalaya sind die Heimat des Gnu-Ochsen. Nach den Erkundigungen von Hodgson und Père David soll er gewöhnlich paarweise oder in
[164] kleineren Gesellschaften leben, im Hochsommer aber zuweilen in großen Scharen beobachtet werden. Im Winter steigt er aus dem Hochgebirge herab zu den mittleren Lagen, wo er schneefreie Stellen findet. Sein Ruf ist ein tiefes grunzendes Blöken, in der Erregung schnauft er laut durch die Nase. Er gilt als sehr gefährlich und soll, gereizt, den Menschen angreifen. Die über das Mischmiland nach Oberassam kommenden Felle sind dunkler als die von Moupin nach Paris gelangten Häute und deshalb glaubte A. Milne-Edwards, daß der osttibetanische Takin zu einer zweiten Art, Budorcas tibetana, gehört. Dieser geographischen Abart ist auch das Berliner Exemplar zuzurechnen. Matschie.
Ein Bildnis Wielands. Das Originalgemälde, welches wir nebenstehend abbilden, galt bis in die neueste Zeit für verschollen. Es stammt von Georg Oswald May und aus demselben Jahre 1779, in welchem der Künstler das später berühmt gewordene Bild des dreißigjährigen Goethe malte. Beide Bilder, die als Pendants zu einander entstanden, wurden von May im Auftrag der Herzogin Elisabeth Friederika Sophia von Württemberg, einer geborenen Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth, ausgeführt, welche bald nach Vollendung derselben, im Jahre 1780, verstarb. Lange Zeit wußte man nicht, wo diese trefflichen Bildnisse hingeraten waren. Das Bild von Goethe tauchte in den dreißiger Jahren in Stuttgart auf, wo es August Lewald, der Herausgeber der „Europa“, bei einem Trödler entdeckte und um billigen Preis erwarb. Im Jahre 1841 ging es in den Besitz des Freiherrn v. Cotta über, was von der eifrigen Goetheforschung nicht unbemerkt blieb. Daß auch das gleichzeitige Bildnis Wielands in den Besitz der Cottaschen Familie überging, wurde erst neuerdings von P. Weizsäcker, dem Verfasser einer besonderen Schrift über die Bildnisse Wielands (Stuttgart 1893, W. Kohlhammer), festgestellt. Ein Stich, den schon 1782 der bekannte Kupferstecher Bause nach Mays Gemälde ausgeführt hatte, erwies sich beim Vergleich mit dem Original als keine getreue Wiedergabe. Eine solche bieten wir nun, mit freundlicher Genehmigung der Besitzerin des Gemäldes, Freifrau v. Cotta in Stuttgart, in unserem Holzschnitt.
Dieses Bild des Oberondichters ist nach dem Urteil P. Weizsäckers eines der besten, die von ihm überhaupt existieren. Es stellt den Dichter im Alter von 46 Jahren in noch ziemlich jugendlichem Aussehen dar. Die Gesichtsfarbe ist frisch, das Gesicht voll und nahezu faltenlos. Nur die später so charakteristisch hervortretenden zwei senkrechten Wangenfalten sind bereits in ihrer Entstehung zu erkennen. Wieland war nicht schön und offenbar schwer zu treffen. In seinen Briefen finden sich wiederholt Klagen über mißlungene Bilder. Dieser Umstand verleidete es dem Dichter auch später, sich malen zu lassen, und so kommt es, daß von Wieland in Anbetracht seiner außerordentlichen Berühmtheit verhältnismäßig wenige Originalaufnahmen vorhanden sind.
Ein marokkanischer Scherif. (Zu dem Bilde S. 161.) „Scherif“, d. h. erhaben, wird von den Arabern ein Nachkomme des Propheten Mohammed genannt. Er erfreut sich im allgemeinen eines besonderen Ansehens, wird „Sidi“ oder „Mulei“, was so viel wie „mein Herr“ bedeutet, tituliert und hat das Recht, den grünen Turban zu tragen. Marokko ist besonders reich an „Schürfa“ (Mehrzahl von Scherif). Die Kaiser jenes Landes sind Nachkommen des Propheten und Schürfa findet man in allen Lebensstellungen; sie haben sich derart vermehrt, daß in manchen Orten die gesamte Bevölkerung fast ausschließlich aus ihnen besteht. Es giebt darunter arme Teufel, die wenig geachtet werden; viele aber gelten als besonders heilig und wunderthätig, und ihnen naht das Volk mit besonderer Ehrfurcht, um ihren Segen zu erflehen.
So angesehen muß auch der Scherif sein, den unser Bild darstellt, sonst hätte die junge Mutter ihr Töchterchen nicht veranlaßt, den Saum seines Gewandes zu küssen. Er ist aber auch sonst eine prächtige Gestalt, in der die Eigenart seines Stammes trefflich zum Ausdruck gelangt.
Das Lied. (Zu unserer Kunstbeilage.) Polyhymnia und Erato im Gewande neuer Zeit glaubt man vor sich zu sehen, die beiden Musen des ernsten Gesanges und des süßen Liebesliedes. Dunkellockig die eine, den schwärmerischen Blick nach oben gerichtet, blondhaarig und blauäugig die andere, eine himmlische Trösterin, deren holde Weisen wie Sonnenstrahlen in bedrückte Menschenherzen eindringen. Die Lorbeerwand im Hintergrunde, wie der zu den Füßen des göttlichen Schwesternpaares hingestreute Zweig vollenden die Allegorie, welche uns hier der Künstler in ernstlieblicher Gestalt verkörpert hat.
[ Verlagswerbung für den vollständigen Jahrgangsband 1897 mit Angabe der wichtigsten beletristischen Beiträge usw. und Hinweis auf den Bezug älterer Jahrgänge. ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Allerlei Winke für jung und alt.
Kissen für ein Herrensofa, aus schwarzem Tuch, der Grund mit goldfarbener Seide ganz gefüllt. Erst umrandet man mit starker gelber Seide die ganze Form, stickt damit auch die Mittellinien der Schwungfedern und die Linien, welche die kleineren Federn voneinander trennen. Den Grund teilt man sich durch wagerechte Linien in gleiche Abstände von 1 bis 1½ cm ein und arbeitet reihenweise mit einem sehr hoch gestellten „Hexenstich“, der eine Art von Gitter bildet (s. Abb.). Der Grund soll um eine Schattierung dunkler sein als die Konturen. Größere Zeichnungen heraldischer Adler sind in Wappenbüchern und unter den üblichen Zeichenvorlagen zu finden. J.
Rundes Tablettdeckchen. Das zierliche Deckchen besteht aus acht großen Stiefmütterchen, die auf einem Grunde von Filetguipüre ruhen. Nachdem man das Muster auf feines Leinen übertragen hat, werden die Blumen in weißem Glanzgarn gestickt, der Stich muß recht tief eingreifen. Das schmale Bandmuster, welches die Stiefmütterchen umschlingt, wird ebenso gearbeitet. Die Kelche und die Schattierungsstriche stickt man in gelber Seide. Wenn die Stickerei vollendet ist, wird sie feucht gebügelt, ausgeschnitten und dem Fond aus Filetguipüre, der in einfachem Füllstich gearbeitet ist, aufgenäht. Sonja.
Gestrickte Kinderschuhsohlen. Die kleinen Schuhe unserer Lieblinge lassen sich durch gestrickte Sohlen haltbarer und wärmer machen. Mit einer vierfach gedrehten guten Strickwolle, am besten wohl in brauner oder schwarzer Farbe, und zwei mittelstarken Nadeln schlägt man so viel Maschen an, als die Sohle breit sein muß; es dürften 22 bis 26 Maschen hierzu genügen. Um Anfang und Ende jeder Maschenreihe zu befestigen, verfährt man genau wie beim Hackenstricken an Strümpfen, man hebt also die letzte Masche jeder Reihe ab und zieht die erste einer jeden neuen Reihe einfach durch, so daß sich ein festes Kettchen bildet. Als Muster kann man jedes Strickmuster verwenden, zum Beispiel zwei rechts, zwei links, oder Würfel, Piqué etc. Hat man die nötige Länge erreicht, so werden die sämtlichen Kettenmaschen aufgehoben und noch einmal 14 bis 20 Touren zwei rechts, zwei links gestrickt, hierauf abgemascht und das Ganze über ein Schühchen gezogen. An der Spitze zieht man die Maschen mit ein paar Fäden fest zusammen und bringt noch ein Schleifchen an.
Scherenfutteral aus Fensterleder. Aus einem Stück weichen, nicht zu dicken Fensterleder macht man drei Teile in der abgebildeten Form und umgiebt den größten derselben recht gleichmäßig mit Bogen, die man mit Bleistift an einem Geldstück nachzieht und dann ausschneidet. Hiernach steppt man mit der Nähmaschine die zwei kleineren Teile auf. Das Ganze verziert man zuletzt mit Hilfe von Pinsel oder Brennstift.
Gestrickte Knabenanzüge. Welche Mutter hätte nicht schon geklagt über den großen Bedarf an Anzügen für ihre Knaben! Das tägliche Sitzen auf der Schulbank, die oft an Wildheit grenzende Belustigung beim Spiel – beides trägt nicht zur Schonung und Haltbarkeit der Kleidung bei, und da die Jungen doch immer „anständig“ einhergehen sollen, so machen sich alljährlich für einen jeden wohl 3 bis 4 Anzüge nötig. Ein Hinweis auf die übrigens in Württemberg und Bayern schon sehr bekannten gestrickten Knabenanzüge dürfte daher vielen Müttern willkommen sein. Außer der Haltbarkeit des Stoffes an sich besitzen sie die Vorteile, daß sie sich leicht dehnen, die Möglichkeit eines Zerreißens also fast ganz ausschließen, daß Aermel und Hosen durch Anstricken verlängert und daß sie ungemein oft gestopft werden können, falls einmal eine Masche irgendwo hängen bleibt oder sonstwie auftrennt. Die graue Farbe ist am praktischsten, sie bleicht niemals, während andere Farben sich mit der Zeit verändern, außer Blau, das jedoch bald glänzend wird. Die Maschen sind denen mittelstarker Wollstrümpfe ähnlich, doch empfiehlt sich angesichts des billigen Preises, zu welchem gestrickte Anzüge feilgeboten werden, eine Selbstanfertiguug wohl kaum. Die Anzüge sind in allen Größen zu haben und tragen sich bequem. Reizend sehen gestrickte Hosen aus mit einer farbigen Bluse dazu.
Gewächshäuser fürs Zimmer. Jeder echte Blumenfreund findet wenig Geschmack daran, sein Zimmer mit blühenden Pflanzen zu schmücken, die er vom Gärtner gekauft hat. Sein Bestreben geht vielmehr dahin, die Pflanzen selbst aus dem Samen zu ziehen und sie zur Blüte zu bringen. Wer ein Gärtchen oder ein kleines Gewachshaus besitzt, der kommt in dieser Hinsicht leicht zum Ziele. Wer aber in seiner Blumenzucht und Blumenpslegc nur auf das Zimmer angewiesen ist, erlebt oft Enttäuschungen.
Einer der wichtigsten Uebelstände, welche die Pflanzenzucht im Zimmer erschweren oder sogar unmöglich machen, ist die große Trockenheit der Luft in unseren Wohnräumen. Das Bespritzen der Pflanzen läßt sich nicht immer durchführen und schafft nur zum Teil die nötige Abhilfe. Man muß danach streben, Pflanzen, die treiben sollen, künstlich eine feuchte Luft zu beschaffen. Das gelingt ganz gut in kleinen Gewächshäusern, die man aus Holzrahmen und Glasscheiben zusammenbaut. In ihnen gedeihen die Sämlinge gut und kommen Pflanzen zur Blüte, die sonst in der trockenen Zimmerluft eingehen. Seit einiger Zeit hat die Handelsgärtnerei von F. A. Haage jun. in Erfurt derartige Gewächshäuser in verschiedenen Größen ausführen lassen und in den Handel gebracht. Sie werden den Blumenfreunden um so willkommener sein, als sie, dank der gefälligen Ausstattung, mit Pflanzen besetzt und auf den Blumentisch am Fenster gestellt, dem Zimmer zur Zierde gereichen.
Unsere gewöhnllche Hortensie sehen wir bald mit blauen, bald mit rosa Blüten die Zimmer und Gärten schmücken. Die Farbenändernng ihrer Blumen ist nicht durch eine bestimmte Art hervorgerufen, sondern allein durch die Behandlung, welche ihr zu teil wurde. Man kann jede Hortensie, die in diesem Jahre rosa blüht, im nächsten Jahre stahlblau blühen lassen, und umgekehrt. Und zwar deshalb, weil die Färbung der Blüten durch bestimmte Zusätze zur Erde beeinflußt wird. Eine Hortensie, welche in gewöhnliche Gartenerde gepflanzt wird, blüht rosa. Setzt man der Erde Eisenfeilspäne im Verhältnis von 1:10 zu, so wird das Eisen in der Erde die Hortensie blau blüheu lassen. Das gleiche geschieht, sobald die Hortensie dauernd mit Wasser gegossen wird, in dem Eisenfeilspäne gelegen haben. Mit eisenhaltiger Moorerde läßt sich ebenfalls eine blaue Blüte erzielen. Am energischsten auf die blaue Färbung der Blüte wirkt aber Alaun. Man braucht davon nur einige kleine Brocken in die Erde hineinzuthun. Viel darf nicht gegeben werden, da Alaun dem Organismus der Pflanze in größeren Mengen sehr schädlich ist und ihn tötet oder so krankhaft macht, daß gelbe Blätter statt der grünen erscheinen. Die Hortensie steht übrigens mit der Eigenschaft, die Blumen nach Maßgabe ihrer Erde verschieden zu färben, einzig da. Andere Pflanzen reagieren nicht auf Eisen und Alaun.
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Wechselrätsel.
Feder, Leiter, Harm, Hera, Herr, Kamm, Lauer, Hast, Ems, Meta, Ringel, Borg, Wied, Halle, Bucht, Volo.
Mit Ausnahme dreier Homonyme ist aus jedem der obigen Wörter dadurch ein neues Wort zu bilden, daß irgend ein Buchstabe gestrichen und durch einen andern ersetzt wird. Nach richtiger Lösung ergeben die gestrichenen und die für sie eingesetzten Buchstaben ein deutsches Sprichwort. (Bei den drei Homonymen wird derselbe Buchstabe wieder genommen.)
Die Buchstaben lassen sich so ordnen, daß die einander entsprechenden langen senkrechten und wagerechten Reihen folgende Bedeutung haben: 1. ein Klettervogel, 2. ein spanischer Feldherr aus dem siebzehnten Jahrhundert, 3. eine Schreibstube, 4. ein Drama aus der „Sturm- und Drangperiode“, 5. ein Zufluß des Baikalsees. A. St.
Rätsel
Feldherr’n sehen von dem Feinde
Sich nicht gern in F – bedroht;
P – ist oft die letzte Rettung
In der höchsten Todesnot.
Scherzrätsel.
Füg’ in eine Negation
Nur ein Wort des Zweifels ein,
Und ein schwergeprüftes Weib
Wird alsbald gefunden sein.
Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 4.
C behielt:
D behielt:
Der Gang der Partie war: I. A 4/4, B –, C 4/3, D 3/6; II. A 6/6, B 6/0, C 0/3, D 3/5; III. A 5/4, B –, C 4/2, D 2/6; IV. A 6/4, B –, C –, D –; V. A 4/1, B 1/3, C 3/2, D 2/0; VI. A 0/4 (= 106).
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 4. Gicht, Gunst.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 4.
Helm, Heim.Auflösung des Bilderrätsels „Die Schlüssel“ auf dem Umschlag von Halbheft 4.
Man beginnt beim Kopfe der Schlange und folgt deren Windungen so, daß man bei jeder Biegung des Körpers, die an einen Buchstaben herantritt, diesen Buchstaben abliest. Am Ende angelangt, geht es in verkehrter Runde zurück, wobei die übriggebliebenen Buchstaben gelesen werden. Das Ganze giebt den Spruch:Auflösung der Ergänzngsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 4.
1) Plewna, 2) Roland, 3) Ikaros, 4) Adagio, 5) Museum. 6) Simson, 7) Freude, 8) Epinal, 9) Sockel, 10) Talent, 11) Efendi.
- 1) Die Buchstaben an erster Stelle: Priams Feste
- 2) Die Buchstaben an vierter Stelle: war gesunken.
- (Schiller, „Das Siegesfest“.)
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