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Die Gartenlaube (1898)/Heft 8

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[228 c]

8. Heft. Preis 10 cents. 21. April 1898.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[228 d]

Inhalt.
Seite
Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (1. Fortsetzung) 230
Des Sachsenkönigs Jubelfest. Mit Abbildungen 234
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
Lebende Statuen und künstliche Menschen im Volksglauben und auf der Bühne. Von Felix Vogt
236
Das alte Serail in Konstantinopel.
Von Ernst v. Hesse-Wartegg. Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen
242
Die Herstellung der Briefmarke 247
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (7. Fortsetzung) 248
Wie das erste Deutsche Parlament entstand. Ein Rückblick von Johannes Proelß.
Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
     IV. Das Vorparlament (Schluß)
254

Blätter und Blüten: Das Denkmal des Prinzen Friedrich Karl in Metz. (Mit Abbildung.) S. 259. – Was alles auf einen Quadratzoll geht. S. 259. – Mutterliebe. (Zu dem Bilde S. 237.) S. 259. – Eine Verhaftung. (Zu dem Bilde S. 240 und 241.) S. 260. – Nachbarschafts- und Versöhnungsfeste. S. 260. – Kipfenberg. (Zu dem Bilde S. 253.) S. 260. – Erste große Wäsche. (Zu dem Bilde S. 249.) S. 260. – Acetylengasmotoren. S. 260. – Dankopfer der Liebe. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 260.

Illustrationen: Abbildungen zu dem Artikel „Des Sachsenkönigs Jubelfest“. König Albert von Sachsen. S. 229. Die Ankunft des Kronprinzen Albert von Sachsen in dem eroberten Lager von Beaumont am 30. August 1870. Von O. Gerlach. S. 233. – Prinz Albert von Sachsen begrüßt am 13. April 1849 das sächsische Schützenbataillon bei Düppel. Von O. Gerlach. S. 235. – Mutterliebe. Von Ludw. Beckmann. S. 237. – Eine Verhaftung. Von Jos. Weiser. S. 240 und 241. – Abbildungen zu dem Artikel „Das alte Serail in Konstantinopel“. Die Pforte des Heils. S. 242. Der Janitscharenbaum. S. 243. Der persische Goldthron in der Schatzkammer des alten Serails. Der Bagdad-Kiosk. S. 244. Das alte Serail in Konstantinopel. Von W. Hoffmann. S. 245. Die Wohnung der kaiserlichen Witwen. S. 246. – Erste große Wäsche. Von E. Wagner. S. 249. – Kipfenberg und die Teufelsmauer. Von M. Zeno Diemer. S. 253. – Abbildungen zu dem Artikel „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“. H. Wesendonck. W. Schaffrath. S. 254. Karl Vogt. H. K. Jaup. Der Fackelzug auf dem Roßmarkt in Frankfurt a. M. zu Ehren des Vorparlaments. Von Braun. S. 255. Franz Raveaux. J. G. Heckscher. Jacob Venedey. S. 256. A. v. Soiron. S. 257. General Friedrich von Gagern. Friedrich Hecker im Insurgentenkostüm. S. 258. – Das Denkmal des Prinzen Friedrich Karl in Metz. S. 259. – Ein fröhlicher Zecher. Von H. Knoechl. S. 260.

Hierzu Kunstbeilage VIII: „Dankopfer der Liebe“. Von A. Roslin.




Kleine Mitteilungen.


Die mechanische Benutzung der Meereswellen ist ein Problem, mit dem sich die Technik schon seit länger als zweihundert Jahren beschäftigt, denn bereits 1693 wurde ein englisches Patent auf eine diesen Gegenstand betreffende Erfindung genommen. Aber die Zahl der in dieser Richtung gemachten Erfindungen wetteiferte bisher mit ihrer Wertlosigkeit, bis es kürzlich dem Engländer Morley Fletcher gelang, einen Wellenmotor zu konstruieren, der die unermeßliche Energie der Meereswellen mit praktischem Nutzen in Arbeit umzusetzen vermag. Wenn man sich eine mittels einer Eisenplatte am Meeresboden befestigte Eisenstange und, an dieser gleitend, einen schweren und großen Schwimmkörper vorstellt, so wird der letztere, solange das Wasser in Bewegung ist, von jedem Wellenberg gehoben, mit jedem Wellenthal gesenkt werden, ohne jedoch die festverankerte Stange verlassen zu können. Nun ist nichts leichter, als einen derartigen Schwimmkörper zum beweglichen Pumpencylinder, die Stange aber an ihrem oberen Ende zum Kolben auszubilden, und damit ist der Fletchersche Wellenmotor in seinen Grundzügen fix und fertig. Er besteht aus einer eisernen, im Innern cylindrisch geformten Schwimmboje, die unter dem Einfluß der Wellen an einem in der Nähe des Strandes fest auf dem Meeresgrunde verschraubten Kolben auf und ab gleitet und je nach der Wellenhöhe Schwingungen bis zu 3 m und darüber ausführen kann. Bei jeder Hebung saugt die Boje eine bedeutende Wassermenge in sich auf, um sie bei der darauffolgenden Senkung unter großem Druck wieder auszupressen. Der Druck, unter welchem die Ausströmung stattfindet, hängt von dem 200 Centner und noch mehr betragenden Gewicht der Schwimmboje ab und kommt mindestens dem Druck einer 10 bis 13 m hohen Wassersäule gleich. Diese ausströmende Wassermenge kann nun durch Rohrleitungen zum Land geführt oder aber auf der Boje selbst zur Krafterzeugung verbraucht werden. So hat man den Motor von Fletcher zur Leuchtboje ausgebildet, indem das ausgepreßte Wasser eine kleine, schnelllaufende Turbine und diese wieder eine Dynamomaschine in Bewegung versetzt, deren Strom auf der Spitze der Boje von einem System elektrischer Glühlampen verbraucht wird. Eine solche Leuchtboje wurde bereits bei Dover mit gutem Erfolge in Thätigkeit gesetzt und bedurfte zur Erzeugung eines hellen Lichtes nur einer Wellenhöhe von etwa einem halben Meter.

Die Goldproduktion der Welt in den Jahren 1896 und 1897. Nach dem von Rothwell herausgegebenen Werke „Mineral Industry“ bezw. nach den Schätzungen der bedeutendsten amerikanischen Statistiker betrug die Goldproduktion der Erde im Jahre 1896 etwa 900 Millionen, im Jahre 1897 dagegen schon 962½ Millionen Mark. Den größten Anteil an diesen ungeheuren Summen tragen natürlich die eigentlichen Goldländer, nämlich Vereinigte Staaten von Nordamerika, Australien und Transvaal, und zwar produzierten sie im Jahre 1896 216 Millionen Mark, 180 Millionen Mark und 172 Millionen Mark, im Jahre 1897 dagegen schon 222 Millionen Mark, 203½ Millionen Mark und 2213/4 Millionen Mark. Die übrigen Länder erzeugten zusammen im Jahre 1896 332 Millionen Mark, im Jahre 1897 dagegen nur 3151/4 Millionen Mark.

In früheren Jahren war die produzierte Menge Gold bedeutend geringer, sie betrug in den Jahren 1881 bis 1890 durchschnittlich nur etwa 440 Millionen Mark, also noch nicht einmal die Hälfte. Erst seit 1891, der Entdeckung des Goldreichtnms von Transvaal, datiert dieser ungeheure Aufschwung, der vielleicht schon in diesem Jahre die Milliarde übersteigen wird, falls die über Australasien und das Klondykegebiet verbreiteten Nachrichten sich nur einigermaßen bewahrheiten.

Ueber den Geruchssinn der großen Wegschnecke. Daß viele Tiere, und unter diesen namentlich die Hunde, einen außerordentlich scharf ausgeprägten Geruchssinn besitzen, ist bekannt. Neu dagegen dürfte die Thatsache sein, daß auch die große Wegschnecke (Limax maximus) mit einem für ihre Verhältnisse sehr guten Geruchssinn ausgestattet ist, der ihr bei Aufsuchung ihrer Nahrung jedenfalls ausgezeichnete Dienste leistet. Durch folgende hübsche Beobachtung erbringt L. G. Adams den Beweis dafür, daß die genannte Schnecke ihre Nahrung wirklich zu riechen vermag. Er sah eine solche Schnecke in einer Entfernung von sechs englischen Fuß auf eine Platte zukriechen, auf der sich Knochen und Bohnen, die Ueberreste einer Hundemahlzeit, befanden. Nun nahm er, nachdem die Schnecke die Platte fast erreicht hatte, letztere weg und stellte sie wiederum in gleicher Entfernung hin; ohne zu zaudern kroch das Tier darauf zu. Nachdem es ein Stück des Weges zurückgelegt hatte, nahm Adams die Platte von neuem fort und stellte sie in einer anderen Richtung etwa acht Schritte entfernt von der Schnecke nieder. Letztere wendete augenblicklich und kroch gerade auf die Platte zu. Wiederholungen des Versuches hatten ein gleiches Resultat, immer wendete sich das Tier sofort nach den Resten der Mahlzeit hin. Bei all diesen Versuchen war die Möglichkeit, daß die Schnecke den Gegenstand erkennen konnte, ausgeschlossen, da die Schnecke im Grase kroch, so daß ihr jede Aussicht versperrt war. Sie konnte also nur durch ihren Geruch geleitet werden. Dr. –dt.     

Preisgekrönte Haushaltsmaschinen. Bei der großen Fülle von neueingeführten, recht verschiedenwertigen kleinen Haushaltsmaschinen erscheint es als ein glücklicher Gedanke der Veranstalter der Berliner Nahrungsmittelausstellung im November 1897, eine Konkurrenz für die leistungsfähigsten derartigen Maschinen auszuschreiben. Eine Kommission von bewährten Technikern, Chemikern und sehr erfahrenen Hausfrauen untersuchte und probierte die von 19 Ausstellern dargebotenen 46 Maschinen und verlieh den Ehrenpreis an den Brat- und Backapparat „Lucullus“ der Firma A. C. Bautz, Breslau. Dieser Apparat ist nach dem Referat von Frau Heyl ein selbständiger Brat- und Backofen von verblüffender Einfachheit, welcher die bisherigen Uebelstände des Gasherdbratofens beseitigt und mittels eines Metallschlauches an jede Gasleitung einfach angeschlossen werden kann. Die Braten werden vortrefflich in kurzer Zeit, ebenso alle Bäckereien, für welche die Hitze aufs gleichmäßigste zu regulieren ist. Gasverbrauch in einer Stunde 4 Pfennig.

Sehr verbesserte Gasherde mit Backapparat liefert dann die Firma Kickow & Co. in Berlin. Die Bäckerei war zwar nicht so gleichmäßig, aber die Braten ebenso gut wie durch den „Lucullus“. Anderswo werden jedenfalls ähnliche Verbesserungen auch bereits angestrebt werden, es empfiehlt sich aber, weil eben hier die schwache Seite der Gasherde ist, beim Kauf von solchen durchaus auf vorgängiger Probe von Braten und Backen zu bestehen!

Als vorzüglicher Apparat wurde ferner mit Ehrenpreis ausgezeichnet die Fleischhackmaschine „Unikum“ von F. Wieneke, Berlin SW., Markgrafenstraße 20. Sie erfüllt am vollkommensten alle Anforderungen an Vielseitigkeit und arbeitet in verschiedener Feinheit.

Die Patentkaffeemühle von A. Püschner in Görlitz, Modell G. G. 2, wurde als diejenige ermittelt, welche den höchsten Prozentsatz an Kaffeeextrakt ergiebt.

Das Alexanderwerk in Remschcid stellte die beste Fruchtpresse aus und erhielt einen Ehrenpreis, dann wurden noch durch Preise ausgezeichnet die Firma Schröter & Surish, Berlin, für eine sehr sinnreiche Brotschneidemaschine und Frau Professor Böhmer in Warburg i. W. für einen vortrefflichen Kochtopf „Heureka“, welcher Gemüse, Kartoffeln etc. in Dampf siedet, aber durch ein feines Röhrchen Salzwasser darüber spritzt. Alle die letztgenannten Apparate haben sehr mäßigen Preis.

Es wird künftig in Berlin im Anschluß an die Haushaltsschule des Pestalozzi-Fröbelhauses eine dieser Jury ähnliche ständige Kommission sich bilden, bestehend aus ersten Autoritäten auf dem Gebiet der Hygieine, Technik und Chemie, um neue Erfindungen für das Hauswesen auf ihren Wert zu prüfen. Hier ist also dann die unparteiische Instanz, bei welcher sich die deutschen Hausfrauen im Zweifelfalle Auskunft und Rat erholen können.

Verstärkung der Fersen und Kappen von Strümpfen. Wer das lästige Strumpfflicken ziemlich lange hinausschieben will, der lasse sich die Mühe nicht verdrießen, gleich die neuen Strümpfe auf der Rückseite der Ferse und Kappe zu bestechen. Mit Stopfnadel und weicher Wolle, senkrecht aufwärts, immer einen Stich aufnehmen und zwei liegen lassen, dann bei der nächsten Reihe den zweiten aufnehmen, bei der dritten den dritten und immer zwei dazwischen liegen lassen, so daß ein schräges Streifenmuster entsteht. Tritt sich diese Fadenlage allmählich ab, so kann sie erneuert werden, ehe das äußere Gestrick zerreißt. Es ist diese Art der Verstärkung wegen ihrer großen Schmiegsamkeit dem Beistricken eines Fadens oder dem Musterstricken, welches beides die Ferse härter und steifer macht, entschieden vorzuziehen.

[228 e]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. Els.

DANKOPFER DER LIEBE
Nach dem Gemälde von A. Roslin

Die Gartenlaube 1898. Kunstbeilage 8

[229]

König Albert von Sachsen.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph N. Perscheid in Leipzig mit Randzeichnung von R. E. Kepler.

[230]

Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

 (1. Fortsetzung.)

Wenige Wochen später hielt eines Vormittags ein geschlossener Mietswagen vor dem Portal des Schlosses. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, um Leute herbeizurufen, es kam aber niemand. Er mußte vom Bocke steigen und den Schlag öffnen. Zwei alte Damen verließen das Gefährt und glitten leise und schweigend wie Schatten durch die Halle über den Gang mit den vergitterten Fenstern und den großen feuchten Flecken an den Mauern. Vor der Treppe hielten die beiden einen Augenblick an. Sie bebten vor unterdrückter Gemütsbewegung und atmeten schwer. Langsam ging’s die Stufen hinauf, an der Thür vorbei, die zu den Gemächern der verstorbenen Herrin führte, weiter bis zur Wohnung Kosels. Noch immer ließ niemand sich blicken. Im Vorzimmer begegneten die Schwestern der ersten menschlichen Seele. Ihre irdische Hülle hatte den Umfang eines mäßigen Bierfasses, trug ein braunes Jackett, eine weiß und rot gestreifte Weste und chamoisfarbige Filzpantoffeln. In einen großen Lehnsessel zurückgelehnt, schlief sie, schon bei hellem Tage, den süßen Domestikenschlaf.

Charlotte streifte die kolossale Gestalt mit einem mißbilligenden Blick und sagte: „Natürlich,“ und als sie in das nächste Zimmer kam, das kläglich unaufgeräumt war und in dem alles nach Besen und Staubtuch schrie, sagte sie abermals: „Natürlich!“

Renate aber seufzte schmerzlich: „Armer Mensch, wie’s bei ihm aussieht!“

Nun rührte sich’s im großen, anstoßenden Wohngemach, zu dem die Flügelthür offen stand; ein Sessel wurde gerückt, Felix erschien auf der Schwelle.

„O, o, die Tanten!“ sprach er halblaut und verneigte sich höflich und fremd. Sein schönes Gesicht war dunkelrot, er befand sich in der peinlichen Verlegenheit, die ihn beim Wiedersehen nach längerer Trennung, auch von seinen nächsten Verwandten, ergriff.

Die Schwestern ließen ihre Rührung nicht aufkommen, stellten einige gleichgültige Fragen und verlangten dann, die Kinder zu sehen.

„Die Kinder?“ In dem Augenblick schien er sich zu besinnen, daß er welche hatte. „Die Kinder, ja. Die Buben – wo die nur sein mögen? Im Garten, oder im Meierhof vielleicht. Kopetzky weiß es vielleicht und ist vielleicht so gut und holt sie.“

Kopetzky war sehr überrascht, als er hereingerufen und ihm mitgeteilt wurde, welche Erwartung man auf ihn setzte. Er versprach gar nichts, und als die Damen, von Kosel begleitet, sich auf den Weg machten, um die Kleine zu besuchen, blickte der treue Diener ihnen voll stiller Empörung nach und murmelte: „Jetzt geht die Weiberwirtschaft und ’s Putzen wieder an.“

Um zu der Kleinen zu kommen, mußte man eine lange Zimmerreihe durchschreiten. Den Saal, der fünf hohe Bogenfenster hatte, und vortrefflich gemalte Säulenstellungen, grau in grau, und dazwischen allerlei mythologische, etwas gespensterhaft dreinschauende Figuren. Das Musikzimmer, den großen Salon und dann den kleinen, in dessen einem Fenster der Schreibtisch Friederikens stand. Kein zierliches Möbelstück, ein Schreibtisch, an dem ernst gearbeitet worden war, auf dem noch die großen Wirtschaftsbücher lagen, die sie gewissenhaft und genau geführt und die gewiß seit ihrem Tode nicht aufgeschlagen worden waren. Im Schlafzimmer nebenan alles noch wie einst. Das Doppelbett unter dem seidenen Baldachin, die Toilette ihm gegenüber, der Ankleidespiegel in der Ecke. Dieses Zimmer war besser gehalten als die übrigen, man sah auch, daß es in Benützung stand.

„Du schläfst noch hier?“ fragte Charlotte.

„Immer noch,“ erwiderte er und errötete neuerdings.

„Und die Kleine wohnt nebenan, wie früher?“

„Wie früher.“

„Stört sie dich nicht?“

„Die hört man gar nicht, die ist sehr still, wird bald ganz still sein,“ versetzte er und machte dazu seine gewöhnliche Miene sorgenvoller Heiterkeit, wegen der seine Frau ihn oft geneckt hatte.

„Armer Mensch, armer Mensch!“ flüsterte Renate, erschrak über die unwillkürliche Aeußerung ihrer Teilnahme und schritt rasch auf die Thür des Kinderzimmers zu. Sie öffnete sich, ein Schrei des Jubels erscholl. Apollonia rannte den alten Damen entgegen, küßte ihre Hände, konnte sich vor Freude nicht fassen.

„Daß Sie nur endlich da sind! Mit welcher Sehnsucht hab’ ich Sie erwartet! Endlich, endlich! Wie oft hab’ ich gedacht: Wenn Sie sie nur noch am Leben treffen!“ – Sie deutete auf Elika, „die Kleine, Gott im Himmel …“ rief sie und brach in lautes Schluchzen aus.

„Ja, Poli, ja,“ sagte Kosel, „aber geben Sie acht, sehen Sie die arme Kleine.“

Die arme, ja wirklich, die arme Kleine.

Sie saß, schneeweiß gekleidet, auf einem Teppich in der Mitte ihrer wohlausgepolsterten Gehschule. In ihrem durchsichtig bleichen Kindergesichtchen sprach sich Schrecken und Empörung über den lärmenden Freudenausbruch ihrer Wärterin aus. Ihre großen, blaßblauen Augen betrachteten die schreiende Apollonia strafend und vorwurfsvoll, aber sie regte sich nicht, und es kam kein Laut über ihre schmalen bleichen Lippen. Sie war schwach und so winzig! Die Kopfhaut schimmerte durch die spärlichen, hellblonden, an den Enden leicht gelockten Haare, der Mund, die feine Nase, die hohe Stirn waren merkwürdig ausgebildet, was bei dem kümmerlichen kleinen Wesen den Eindruck der Zwerghaftigkeit machte. Noch seltsamer, unheimlich fast, war die nachdenkliche frühreife Klugheit, die aus den Zügen des zarten Antlitzes leuchtete, und das resignierte Leiden, das über ihnen lag wie ein trübender und – verklärender Hauch.

Bei den alten Damen löste sich jede Empfindung, die das Kind ihnen einflößte, in grenzenloses Mitleid auf. Sie knieten nieder und sprachen zu der Kleinen liebreich und zärtlich. Sie hatte den Kopf gesenkt, warf von unten herauf einen scheuen Blick nach ihnen und bedeckte plötzlich die Augen mit den Händen, deren gelbliche dünne Fingerchen an die Klauen eines jungen Vogels mahnten.

„Nicht anschauen die arme Kleine,“ sagte sie, „nicht anschauen!“


Die Schwestern gingen in den Sibyllenturm. Ihre Reiseeffekten waren inzwischen hinaufgeschafft worden, der Schloßwärter und seine Frau schossen herum und bejammerten, daß die Damen ihre Ankunft nicht angekündigt hatten, sie würden zu ihrem Empfang alles bereit gefunden haben.

Während die Leute die Zimmer im zweiten Stocke bewohnbar machten, warteten Renate und Charlotte im ersten, in dem schönsten Gelaß des Turmes. Ein hoher, ovaler, edel gewölbter Raum, der seinen schlanken Pilastern und den zierlichen Stuccaturen an den Wänden und an der Decke ein festliches Aussehen verdankte. Jetzt freilich sah es darin nicht sehr einladend aus. Die köstlichen Empiremöbel in der Mitte zu einem Berg aufgeschichtet, die Friese und Säulenkapitäle von Guirlanden aus Spinnenweben umrankt. Und die Luft, halb Rumpelkammer und halb Kellerluft, war dumpf und muffig, und es roch nach Mäusen.

Charlotte langte einen Sessel vom Möbelberg herunter, staubte ihn, so gut es ging, mit dem Taschentuche ab und stellte ihn für die Schwester hin.

„Ich wollte nichts sagen,“ sprach Renate sich setzend, „um niemand Unannehmlichkeiten zu machen, aber das Erstaunen über unser Kommen ist kurios.“ Sie gebrauchte da, was sie ungern that, einen ihrer stärksten Ausdrücke: „Es kam mir schon ganz eigen vor, daß wir keinen Wagen aus Velice auf der Station fanden. Wir haben uns doch bei Felix angesagt, du und ich.“

„Er wird unsere Briefe nicht gelesen haben,“ erwiderte Charlotte. „Ich habe auf seinem Schreibtisch einen Haufen uneröffneter Briefe liegen gesehen. Die unsern werden dabei sein.“

Renate schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht glauben. [231] Für so gleichgültig und herzlos kann ich ihn nicht halten, den Armen.“

„Arm, ja, das ist er! und überhaupt – eine Armut herrscht in dem Hause, seit sie fort ist, die den andern so viel gegeben hat, daß man sie alle für reich halten konnte … Sie fort! … der Kopf, das Herz, die Seele tot. Warum? warum hat dieses schöne Lebenslicht erlöschen müssen? – Damit ein trübes Flämmchen entfacht werde, das keinem zur Freude und sich selbst zum Leid kurze Zeit hindurch ein armseliges Flackerdasein führen könne auf der Welt … Wer auch da eine weise und gütige Vorsehung anzubeten vermag …“

„Charlotte!“ fiel die Schwester ihr ins Wort. „Ein Menschenauge und Gottes unerforschliche Wege … wie du nur …“

Sie wurde unterbrochen. Auf der Treppe war’s plötzlich laut geworden. Es polterte, es dröhnte, es kam im Sturmgalopp heraufgesprengt in nägelbeschlagenen Schuhen. Die Thür öffnete sich, drei rosige, pausbäckige Kindergesichter guckten herein. Die Buben stürzten mit ausgebreiteten Armen auf die Tanten zu und riefen durcheinander:

„Grüß euch Gott, grüß euch Gott, alte Tanten! Wir haben uns schon so gefreut!“

„Ihr kommt aber spät,“ sagte Joseph und hatte auf einmal die Miene eines Richters angenommen.

„Sehr spät,“ wiederholte Leopold voll einschmeichelnder Liebenswürdigkeit, und der kleine Franz stotterte nach mit schwerer Zunge:

„Ja, sej spät!“

Ein neuer Ansturm von Zärtlichkeiten bricht los, die Fräulein haben Mühe, ihm standzuhalten. Noch größere Mühe haben sie, nicht auszubrechen in helle Wonnethränen. Ein Vermächtnis der Verstorbenen, diese in den Herzen der Kinder wach erhaltene Liebe zu den alten Verwandten. Den Schwestern ist, als sei der warme leuchtende Frühling hereingebrochen in die trübselige Stube.

Und wie der wirkliche Frühling meistens pflegt, war auch dieser sinnbildliche auf feuchten Sohlen gekommen. Die drei Jünglinge hatten an den ihren pfundschwere Stücke des fruchtbaren Lehmbodens von Velice hereingetragen, und sie selbst waren von unten bis oben mit Lehmspritzern bedeckt.

„Woher kommt ihr?“ fragte Renate, und ihre Stimme bebte vor Rührung. „Ihr seid voll Lehm, geliebte Kinder.“

Woher sie kamen? Nun, aus dem Meierhof. Im Meierhof wird der Brunnen repariert, da haben sie mitgeholfen.

„Das heißt,“ sagt Joseph, „Leopold und ich haben mitgeholfen. Der Kleine hat sich nur wichtig machen wollen. Immer will er sich wichtig machen. Bei einem Haar,“ und um die Feinheit dieses Haares recht zu bezeichnen, sprach er im höchsten Falsett, „bei einem Haar wär’ er ins Wasser geplumpst. Aber der Brunnenmeister hat ihn noch erwischt.“

„Ueberall plumpst er hinein,“ versicherte Leopold. „Vorgestern in den Teich, weil er eine Katz’, oder wer weiß was, hat herausziehen wollen.“

Joseph lachte: „Und dann hat er sich an einen Baum angehängt und hat sich geschaukelt zum Trocknen.“

Der Kleine hatte den Spott seiner Brüder mit scheinbar philosophischer Ruhe hingenommen. Im Wortstreit zog er immer den kürzeren und pflegte auch meist nur handgreifliche Argumente vorzubringen. Während Joseph und Leopold sprachen, hatte er sie abwechselnd angesehen, als ob er mit sich zu Rate ginge. Plötzlich schoß ein heißer Blick aus seinen dunklen, tiefliegenden Augen, er war entschieden, sprang den Ältesten, Stärksten an und schlug ihm mit der kleinen, breiten Faust, so derb er konnte, ins Gesicht.

Die Tanten erschraken, Joseph zuckte die Achseln. Er hatte den Knirps ausgelacht, der Knirps hatte sich gerächt, jetzt war alles in Ordnung.

Bald darauf herrschte Frieden und die Kinder richteten alles zu einem behaglichen Plauderstündchen ein. Die Glasthür des schmalen runden Balkons wurde geöffnet und Fauteuils für die Tanten zu ihr hingerückt. Sie müssen doch sehen, wie die Bäume des Gartens ihnen „Grüß Gott“ zunicken, und die Aussicht müssen sie genießen, auf den Hostein, auf dem vielleicht schon in einigen Jahren eine große Kirche erbaut werden wird. Der Herr Pfarrer glaubt es, und der Herr Kaplan weiß es bestimmt.

Vom Dorfe her ertönte das Geläute der Aveglocke. Die drei erhoben sich zugleich und verrichteten ihr Gebet, nicht gerade in Andacht hinschmelzend, aber in guter Haltung und mit großem Ernste.

Nachdem die religiöse Pflicht erfüllt war, machte Franz einen Freudensprung, Leopold rief:

„Ach was wir froh sind, daß ihr wieder da seid, liebe Tanten!“ und Joseph versicherte:

„Wir haben, seit die gute Mama tot ist, niemand und niemand.“

Wieso? Sie hatten den Papa. – Ach, von dem Besitz schienen sie nicht viel zu halten! Und mit Elika wird’s nächstens aus sein, und der Herr Kaplan und der Lehrer, keins kann eine Geschichte erzählen und ein Märchen schon gar nicht, wie Tante Charlotte fünfzigtausend weiß. Die Poli höchstens so ein paar alte Geistergeschichten …

„Pah!“ Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung – „bei denen einem nicht einmal gruselt.“

Franz hatte die Arme gekreuzt und machte sein trotzigstes Gesicht. Ein Bild der Kraft, das derbe Bürschlein, und komisch der Kontrast zwischen seiner keimenden Männlichkeit und seiner lallenden Sprache: „Gjuselt einen nicht einmal!“

„Aber Kinder,“ meinte Charlotte, „wenn ihr Geschichten und Märchen gern habt, nehmt doch ein Buch und lest!“

Die Buben hoben die Köpfe. Ein Lächeln blitzte über drei Gesichter, ein dreifaches: „Ach nein!“ wurde mehr gegähnt als gesprochen, und Franz erklärte aus seiner eigenen und der Seele seiner Brüder heraus:

„Tante, lesen, das intejessit uns absolut nicht!“

So? und was interessierte sie denn? – Was? – Alles! Sie wurden ungeheuer mitteilsam und schwatzten sich satt. Sie erzählten vom Tod der guten Mama, und wie schön sie im Sarge war. Ihren Ring hat sie am Finger gehabt, und wie man ihr ihn hat wegnehmen wollen, hat der Papa geschrieen, so laut wie er nie schreit: „Lassen, lassen!“ So ist sie mit ihrem Ring begraben worden. Und die Leute haben gesagt: „Die Kleine sollt’ man ihr auch mitgeben, die ist so schwach, die wüßt’ nichts, die möcht’ am Herzen der Mutter einschlafen und im Himmel aufwachen. Aber das ging doch nicht, und man muß warten, bis sie von selbst stirbt, und so lange sie noch lebt, muß man halt alles thun, was sie will. Und wenn man’s einmal nicht thut, o, da wird die Poli gleich grob! Und neulich hat die Kleine fahren wollen und Joseph hat sie gezogen – im Garten, im Korbwagen, und nie war’s der Kleinen schnell genug. So ist Joseph gerannt, immer schneller, immer schneller, bis er umgeworfen hat.“

„Den Wagen?“ rief Renate, „und die Kleine war drin im Wagen?“

„Nein,“ erwiderte Joseph sehr gelassen, „wie ich umgeworfen hab’, war sie nicht mehr drin.“

„Sie ist herausgestürzt und hat sich weh gethan und hat geweint?“

„Weh gethan, ja, sie hat ein ganz kleines, rosenfarbiges Blutstropferl gehabt, da auf der Wange … Aber geweint? o die! gelacht, mich ausgelacht … O die! wie die einen auslachen kann, wie die lustig sein kann!“

Franz hatte so angestrengt nachgedacht, daß es ihm augenscheinlich weh that. Jetzt stieß er einen tiefen Seufzer aus und sagte:

„Sie weiß, daß sie bald sterben muß, da will sie geschwind noch ein bißel lustig sein.“


Einige Tage später sagte Charlotte zu ihrem Neffen: „Lieber Felix, deine Buben sind famose Buben. Sie kennen alle Vögel, Bäume, Pflanzen, jeder von ihnen ist eine kleine wandelnde Naturgeschichte. Sie können ackern, mauern, tischlern, sägen, striegeln, satteln, aber lesen und schreiben können sie nicht.“

Nicht lesen und schreiben? Wie meinte das die Tante? Wie sollten sie nicht lesen und schreiben können, da ihnen der Schullehrer schon seit mehreren Jahren Unterricht giebt? Und so oft Herr von Kosel den Mann zufällig begegnet und ihn fragt: „Sind die Buben brav?“ erhält er zur Antwort: „Sehr brav.“

[232] Charlotte beschloß, einmal an einer Lehrstunde teilzunehmen, und führte am nächsten Tage ihren Vorsatz aus.

Schloß Velice bildete ein regelmäßiges, einstöckiges Viereck; in der Ecke, dem Sibyllenturm schräg gegenüber, befand sich das riesige sogenannte „Bubenzimmer“. Es hatte einen tiefen Alkoven, in dem, durch Waschtische getrennt, die Betten der drei standen, und glich am Morgen, nach der beendigten Toilette seiner Bewohner, mehr einem See als dem Aufenthaltsort auf dem Festland lebender Wesen. Das eigentliche Zimmer bot den Anblick chaotischer Zustände. Auf den ersten Blick entwirren, was da alles durcheinander lag und hing und hervorquoll aus den offen stehenden Schränken und Laden, war unmöglich. Ein Sammelsurium von Werkzeugen, zertrümmerten Möbeln und Spielsachen, getrockneten Pflanzen, aufgespießten Käfern und Schmetterlingen, Mineralien, Waffen, Musikinstrumenten bedeckte die Tische, den Fußboden, die wenigen Sessel, die noch auf ihren vier Beinen standen. An dem breiten Pfeiler zwischen den Fenstern, links vom Alkoven, lehnte ein Kanapee und diente in diesem Augenblick dem Schullehrer als Lagerstätte. Er war ein mittelgroßer, derb gebauter Mann, mit kurzem Hals und wuchtigem Kopf, von dem die Ohren wie ein paar Fledermausflügel abstanden. In seinem flachen Gesichte fehlte nicht eine Schattierung vom lichten bis zum gebrannten Ocker; er sah verbittert und böse und sehr gescheit aus. Seinen Anzug bildeten weite dunkle Beinkleider, eine abgetragene Czamara und ein rotgestreiftes Flanellhemd mit tintenbeklecksten Manschetten. Er las laut aus einer böhmischen Grammatik vor, indes seine Zöglinge munter Federball spielten. Sie zählten eben hundert, als Charlotte eintrat, und begrüßten sie voll Freude und riefen ihr zu:

„Spiel’ mit, Tante! spiel’ mit!“

Sie dankte, sie war nicht gekommen, um sich zu unterhalten, sondern um der Unterrichtsstunde zu assistieren.

Die arme Tante, der Unterrichtsstunde? o je, da kam sie zu spät, die Unterrichtsstunde war gleich vorbei.

„Wir sind fertig,“ sagte der Lehrer, der aufgestanden war, und klappte sein Buch zu.

„War das jetzt eine Unterrichtsstunde?“

„Zu dienen, Gnädige.“

Die Buben warfen ihre Raketten hin und stürmten in den Garten. Gern wäre der Lehrer nun entschlüpft, doch bequemte er sich, zu bleiben, weil ihn das Fräulein so sehr höflich darum bat. Um aber seine Ungeduld und das Opfer, das er brachte, zu markieren, warf er fortwährend sehnsüchtige Blicke nach der Thür.

Eine Verlegenheitspause entstand. In ihrem altjüngferlichen Respekt vor jedem männlichen Wesen fand Charlotte nicht gleich das rechte Wort, um die Bedenken, die sich in ihr erhoben hatten, schonend genug auszusprechen. Endlich begann sie in bescheidenem Tone:

„Ich bitte um Entschuldigung, Herr Lehrer; ich möchte nur fragen, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn die Knaben sich zum Unterricht zu Ihnen, Herr Lehrer, an den Tisch setzen und lieber nicht Federball spielen würden.“

Er lächelte. Charlotte behauptete später, es sei ein so grüngelbes Lächeln gewesen, wie sie in ihrem ganzen Leben keines gesehn hätte, und erwiderte: „Sie thun’s nicht, sie setzen sich nicht …“

„Auch nicht, wenn Sie es ihnen befehlen?“

Dazu besitze er kein Recht, lautete seine Antwort. Der gnädige Herr habe ihm vielmehr aufgetragen, die jungen Herren spielend zu unterrichten.

„Das heißt aber nicht, daß die Kinder während des Unterrichts spielen sollen.“

„Sie legen es so aus, sie sagen: ,So hat der Papa es gemeint‘. Ich käme da schön an, wenn ich von ihnen Fleiß verlangen würde wie von den Kindern gemeiner Leute.“

Es fiel ihm denn auch nicht ein. Er gab seine Unterrichtsstunden, das war seine Sache; daß die jungen Herren nichts lernten, war ihre Sache. Und wozu brauchten sie „da“ zu lernen? Hatten sie „da“ nicht ohnehin alles, und würden es ihr Leben lang haben, eine schöne Wohnung und schöne Kleider und gutes Essen. Warum sollten sie auch noch Wissen haben? Dieser einzige Reichtum, der nicht vererbt werden kann, den sich jeder selbst erwerben muß, bleibe ihnen nur vorenthalten, bleibe der Henkel, an dem der Arme, der etwas weiß und versteht, sie faßt und von sich abhängig macht.

In dem Sinne sprach er eine Weile weiter und breitete allmählich sein ganzes Innere vor ihr aus. Welch’ ein Inneres! wie so ganz erfüllt von dem kläglichen Haß, der seine Wurzeln im Neide hat. Wieder eine Armut, auf die man in diesem Hause stößt, dachte Charlotte und empfand tiefes Mitleid und sagte in ihrer Großherzigkeit und ihrer Gerechtigkeitsliebe:

„Ihre Auffassung ist sehr merkwürdig, Herr Lehrer, aber eine gewisse Berechtigung will ich ihr nicht absprechen. Nur eins, Herr Lehrer, muß ich Ihnen gestehen, ich würde einen Mann, der diese Anschauungen hat, nicht gerade zum Instruktor meiner Kinder machen, wenn mir der Himmel welche geschenkt hätte.“


Ein trauriger Tag auf Schloß Velice. Die Kleine hatte einen der Schwächeanfälle gehabt, die sogar Frau Apollonia Budik in Bestürzung versetzten. Aber Elika erholte sich und verlangte nach ihren Brüdern. Sie kamen und rauften miteinander um den besten Platz zunächst am Gitterbettchen der Schwester, was ihr zwar Vergnügen zu machen schien, von Frau Budik jedoch nicht lange geduldet wurde. Sie mußten sich alle drei schön in eine Reihe setzen, und Joseph erzählte Geschichten, die Leopold und Franz über alle Begriffe dumm fanden, die aber der Kleinen gefielen. Sie hörte ganz zufrieden zu, bis sie einschlief.

Der schwere Augenblick, auf den man sich immer gefaßt machte und vor dem man immer zitterte, war einmal wieder in die Zukunft verlegt worden. Im Hause atmeten alle freier, als die momentane Gefahr für das Leben des Kindes glücklich vorüberging. Es wird noch trauriger werden, wenn sie fort sein wird. Man hat sich an den Anblick des blassen Geschöpfchens gewöhnt, die Kühlsten, die Gleichgültigsten fühlten eine warme teilnehmende Regung, wenn sie an ihnen vorbeigetragen oder vorübergeführt wurde in ihrem Korbwägelchen. Sie hatte etwas in ihrer Miene, das sagte: Seid gut mit mir, ihr werdet nicht mehr lange Gelegenheit dazu haben. Jedem flößte sie Erbarmen ein und machte niemand Mühe. Stundenlang konnte sie in ihrer Gehschule sitzen, mit einer Puppe, einem Schächtelchen, einem Knäuel spielen, oder eine ganze Weile hindurch laut- und bewegungslos mit weitgeöffneten Augen vor sich hinschauen.

„Wie der Papa. Sie denkt auch, lauter gescheite Sachen,“ sagte dann Frau Budik, deren Zuneigung für ihren Gebieter sich, nach dem Tode seiner Gattin durch Mitleid verstärkt, zu einer Art Fanatismus ausbildete. „Sie würde gewiß ein eben solcher Engel und ebenso gescheit werden, wie er ist, wenn sie am Leben bliebe.“

Dem traurigen Tage folgte ein trübseliger Abend. Das Nachtmahl war vorüber, das Kindervolk schlafen gegangen; man hielt, was Charlotte die Orgie der familienüblichen Langweile nannte, im Schreibzimmer Kosels ab.

Renate saß neben dem Herrn Pfarrer auf dem Kanapee hinter dem runden Tische und arbeitete an einem Wunderwerke der Strickkunst, einem Prachtkleidchen für ein beneidenswertes Dorfkind. Ueber ihr schönes, sanftes Gesicht glitt von Zeit zu Zeit ein Schatten resignierter Müdigkeit. Sie beugte sich vor, die schweren Lider fielen zu, aber nur einen Augenblick. Sofort hatte sie sich aufgerichtet und strickte bedächtig weiter. Der Pfarrer, ein alter, freundlicher Herr mit rundem slavischen Gesichte und kahlem Haupte, war nicht viel munterer. Er zog sehr oft die Tabaksdose aus der Tasche seines langschößigen Rockes und schnupfte ohne rechtes Bedürfnis und ohne rechten Eifer. Sein Gegenüber bildete Kosel und das Renatens die im stillen rebellierende Charlotte.

Ihr war jedes Talent zu Handarbeiten versagt, und doch hatte sie einen wahren Abscheu gegen den Müßiggang; stillsitzen und nichts thun verursachte ihr Pein, und diese Pein rief aggressive Gefühle gegen ihre Umgebung, natürlich nur die unbelebte, hervor. Gegen den faden, runden Tisch, auf dem die fadeste Lampe stand, unter deren grünem Schirm ein Hanswurst in Gähnkrämpfe verfiele! Gegen das ganze Zimmer, gegen die blaugrauen Ueberzüge der Möbel und die flachen blanken Stahlknöpfe in den Stepplöchern! Hat man je etwas so Albernes gesehen wie blanke

[233]

Die Ankunft des Kronprinzen Albert von Sachsen in dem eroberten Beaumont am 30. August 1870.
Nach einer Originalzeichnung von O. Gerlach.

[234] Stahlknöpfe als Möbelschmuck? Gegen den riesigen Schreibtisch, auf dem immer große Unordnung herrschte und an dem nie ein vernünftiges Wort geschrieben wurde. Ach Gott, nicht einmal ein unvernünftiges! … Langweile! Langweile! Sie kauerte auf aschgrauen Flügeln oben an der Decke, und sobald Menschen eintraten in das Zimmer, das sie zu ihrem Wohnort erkoren hatte, ließ sie sich hinuntergleiten an den Wänden und fiel ihnen auf die Brust.

Nun suchte der Herr Pfarrer die Feindin zu bekämpfen und das Gespräch aufzufrischen. „Haben die Herrschaften schon gehört,“ fragte er, „daß der Herr Bornholm einmal wieder angekommen ist aus Neusüdwales und in Valahora umgeht?“

„Sie sprechen von ihm wie von einem Gespenst,“ erwiderte Renate, und Herr von Kosel, der Harmlose, der Schweiger, öffnete seinen Mund zu den unguten Worten:

„Wenn er nur schon eins wäre!“

Sein einziger Haß, dieser Herr Levin Bornholm, der ein Lotterleben führte, dieser moderne Frechling, der einen nicht grüßte, nicht an Gott glaubte, nie eine Kirche betrat. Er gehörte auch gar nicht hierher, war als Kind mit seinen Eltern vor fünfundzwanzig Jahren aus Schweden gekommen. Warum die Familie ausgewandert war, wußte man nicht und war voll Mißtrauen und auch voll Neid. Bornholm, ein rauher, düsterer Geselle, schien wohlhabend und hatte Valahora, als es nach dem Tode seines letzten, zu Grunde gegangenen Besitzers unter den Hammer kam, viel zu billig erworben. In allem Anfang schon – Kosel setzte das umständlich auseinander – verfeindete sich der nordische Bär mit der ganzen Nachbarschaft, warf den Leuten Prügel vor die Füße, zettelte Grenzstreitigkeiten an. – –

Das Thema Bornholm war eines der wenigen, die Kosel mit Interesse ergriff und nicht wieder losließ. Die Schwestern wußten jeden Satz auswendig, der nun kommen, und daß der Herr Pfarrer nach dem Worte „Grenzstreitigkeiten“ sagen würde:

„Bah, bah, bah! An den paar Streifen Feld ist ihm nichts gelegen. Er wollte Zank und Hader erregen und gemieden werden, daran lag ihm … Wegen der Frau!“ Und nun richtete der gute Pfarrer seine Augen auf die Damen und sein blinzelnder Blick machte sie aufmerksam: Geben sie acht, jetzt kommt’s: „Aus Eifersucht,“ fuhr er mit geheimnisvoll gesenkter Stimme fort. „Es sollte ihr niemand in die Nähe kommen außer der alten Alwilde, der Dienerin, die sie mitgebracht hatten. Er war eifersüchtig auf sein eigenes Kind, auf eine Blume, an der sie gerochen hat, auf ihren Seelsorger war er eifersüchtig. So ein Protestant!“

Er Protestant, sie Katholikin. Daß sie ihn aber auch geheiratet hat, ich hab’ es nie begriffen,“ sprach Renate, die immer im richtigen Augenblick in das Tonstück einfiel. „Arme Frau, sie hat gebüßt, sie hat viel gelitten.“

„Vielleicht doch nicht ganz unschuldig,“ sagte Kosel, und der Pfarrer erwiderte eifrig:

„Verzeihung, ganz unschuldig!“

Sein Widerspruch blieb unbeachtet: „Ja, die Geschichte mit dem jungen Schweden, der plötzlich hier aufgetaucht ist, und den Bornholm geschwind wieder auf die Eisenbahn gebracht hat.“ Auch Kosel hatte nicht das Bewußtsein, daß er gar Wohlbekanntes vorbrachte. Wenn er es aber gehabt hätte, würde ihn das nicht gehindert haben, einmal im Zuge, fortzufahren in seinem langsamen Tempo: „Sie sind zusammen abgereist, und als Bornholm zurückgekommen ist, hat er gehinkt. Hat eine Kugel in der Hüfte gehabt und zeitlebens behalten. Er hatte sich mit dem Schweden duelliert und ihn erschossen, vermutet man. Gewiß ist nur, daß er seine Frau nachher bis zu ihrem Tod im Schloß gefangen gehalten hat. Ja, die Geschichte mit dem Schweden,“ wiederholte Kosel und blickte so aufmerksam vor sich hin, als ob ein ganzes Panorama an ihm vorüberzöge.

„Er war ein furchtbarer Mensch, dieser alte Bornholm,“ rief Charlotte. „Lassen wir ihn aber jetzt in Frieden ruhen.“

„Der Sohn ist, fürchte ich, ärger als der Vater,“ murmelte Renate im Halbschlafe. In wachem Zustande würde sie eine solche Anklage nicht über die Lippen gebracht haben.

„Ich weiß es nicht, möchte es aber nicht glauben,“ versetzte der Pfarrer. „Am Totenbett seiner Mutter hat er sich sehr gefühlvoll gezeigt. Man hätte freilich auch ein Stein oder – Gott verzeih’ mir’s – der alte Bornholm sein müssen … Eine Märtyrerin … Als ich gerufen worden bin, um ihr die letzten Tröstungen zu spenden, war ich jung; jetzt bin ich alt. Bei einem Sterben wie dem ihren bin ich nie mehr gewesen. Kein Sterben – eine Himmelfahrt!“

„Aber die Geschichte mit dem Schweden,“ sagte Kosel. Sein Gedankenapparat hatte eine Stockung erlitten; er war beim letzten Satz stehen geblieben.

Die große Pendeluhr am Pfeiler hob zum Schlagen aus: Freundin, schlag Zehn! rief Charlotte sie im stillen an; verkündige die Stunde der Erlösung! Die Angeflehte schlug, aber – was? Schnöde Neun und dann Eins. Ein Viertel nach Neun. Drei Viertelstunden hat man noch sitzen zu bleiben und zu thun, als ob es nicht anders sein könnte! Warum so thun? Weil’s Hausbrauch ist. – Was ist Brauch? was erhebt sogar die blödsinnigste Einrichtung zum Brauch? – das sklavische und gedankenlose Festhalten an ihr.

O, den Mut haben, zu protestieren! „Nein“ zu sagen zu der öden Tyrannei, sich zu erheben, Gute Nacht zu wünschen und in sein Zimmer zu gehen, wo die vielen Rechenbücher warten und wo es Arbeit in Hülle und Fülle giebt. Charlotte hat den Mut nicht und nicht die Kraft, die Ordnung der Dinge umzustürzen, aber sie hat anarchistische Gefühle, und die dämonische Macht, die den Arm des Bombenschleuderers leitet, brennt ihr auf der Zunge.

„Felix,“ sagt sie plötzlich, „deine Buben brauchen einen Hofmeister.“

(Fortsetzung folgt.)

Des Sachsenkönigs Jubelfest.

(Mit den Bildern S. 229, 233 und 235.)

Zwei Jubeltage sind König Albert von Sachsen in diesem Jahre beschieden. Siebzig Jahre werden am 23. April verflossen sein, seit er das Licht der Welt erblickt hat, und am 29. Oktober wird ein Vierteljahrhundert seiner Regierung sich vollenden. Am 23. April sollen beide Jubiläen zusammen gefeiert werden, und ganz Sachsen hat sich zu diesem schönen Doppelfeste bereitet. An des Sachsenkönigs Jubeltag wird aber auch das gesamte deutsche Volk im Herzen freudigen Anteil nehmen, denn es blickt zu ihm dankbar empor als zu einem der großen Helden, die im Feuer der Schlachten die deutsche Einheit zusammenschmiedeten.

Welche Erinnerungen knüpfen sich nicht an die kriegerische Laufbahn dieses deutschen Fürsten!

„Die Armee war meine erste Jugendliebe,“ hat König Albert selbst bei seinem fünfzigjährigen Armeejubiläum im Jahre 1893 gestanden. In der That hatte er schon als Knabe reges Interesse für das Heerwesen gezeigt, als Offizier mit Pflichteifer die Manöver mitgemacht, bis frühzeitig die Stunde kam, da er ins Feld rücken durfte. Das geschah im Jahre 1849, und der Befreiung Schleswig-Holsteins galt König Alberts erste Kriegsfahrt.

Vom Reichskriegsministerium in Frankfurt erging am 3. März 1849 an die sächsische Regierung die Eröffnung, eine Brigade in voller Kriegsstärke zu stellen. Schon Mitte März waren die Truppen, 6418 Mann, 1421 Pferde und 16 Geschütze, marschbereit; Generalmajor v. Heintz wurde zu ihrem Kommandanten ernannt und seinem Stabe Prinz Albert, damals Artilleriehauptmann, zugeteilt. In dem Feldzuge gegen die Dänen hat er die Herzen der Soldaten rasch gewonnen und die erste Feuertaufe mit Auszeichnung bestanden.

Es war am 13. April beim Sturm auf die Düppeler Schanzen. Als morgens 7 Uhr der Geschützkampf den Höhepunkt erreichte, so berichtet Dr. Paul Hassel in seinem Werk „König Albert von Sachsen“, sprengte der Prinz, begleitet von dem Rittmeister v. Senfft, auf seiner weißen Stute Stella zu dem sächsischen [235] Schützenbataillon. Er wurde von seinen Landsleuten mit lauten Hurrarufen begrüßt. Der begeisterte Empfang lenkte jedoch die Aufmerksamkeit der Dänen auf das Bataillon, und dieses wurde nun aufs heftigste beschossen. Prinz Albert harrte aber bei der Truppe aus, bis er auf den wiederholten ausdrücklichen Befehl des kommandierenden Generals v. Prittwitz zu dem Standorte des Hauptquartiers auf dem Mühlenberge bei Düppel zurückkehrte.

Prinz Albert von Sachsen begrüßt am 13. April 1849 das sächsische Schützenbataillon bei Düppel.
Nach einer Originalzeichnung von O. Gerlach.

Ueber die tapfere Haltung des Prinzen schrieb später Moltke in seinem Werke über den Dänischen Krieg: „Einen sehr guten Eindruck machte das Erscheinen des jungen Prinzen Albert von Sachsen vor den sächsischen Truppen in einem Augenblicke, wo diese in heftigem Feuer standen. Seine ruhige Besonnenheit und sein anspruchsloses Wesen erwarben ihm schon damals die Liebe und Achtung aller und verkündeten im voraus die Eigenschaften, welche ihn später als Feldherrn auszeichneten.“

Wie Prinz Albert selbst aber über die Bedeutung jenes Krieges und seine Pflichten dachte, erhellt aus einem Briefe, den er vom Kriegsschauplatze nach Dresden richtete. „Der Krieg hier“ – heißt es darin – „hat, abgesehen von Recht und Unrecht, das schwer zu erklären, für mich eine höhere Bedeutung; es ist das erste Zusammenwirken der deutschen Stämme zu einem Ziele, es ist dies der wahre Weg zur Einigung, und diese Bahn zu eröffnen, ist es Pflicht, namentlich des Fürsten, vorauszugehen, und gelte es das Leben, denn, liebster Freund, die Monarchie stirbt nicht durch den Tod eines Gliedes, aber Deutschland geht zu Grunde, wagt es nicht durchzukämpfen.“ Ausgezeichnet mit dem Kreuze des sächsischen Militär-St. Heinrich-Ordens und dem preußischen Orden pour le merite, kehrte er von dem Feldzug nach Dresden zurück.

Als nach dem Tode des Königs Friedrich August im Jahre 1854 der Vater des Prinzen, König Johann, den Thron bestieg, übernahm Kronprinz Albert den Vorsitz im Staatsrate, widmete sich aber nach wie vor mit regem Interesse der Armee. Zum Generallieutenant und 1857 zum General ernannt, war er Kommandant der sächsischen Infanterie, und als der Krieg 1866 unvermeidlich wurde, erhielt er das Kommando der gesamten sächsischen Armee. Auch in dem Feldzuge auf Böhmens Gefilden blieb Kronprinz Albert bei und mitten unter seinen Soldaten bis zuletzt, wie er es ihnen verheißen und zugesichert hatte in dem beim Beginn des Krieges erlassenen Tagesbefehl. Seine Armee zeichnete sich durch Tapferkeit und strenge Mannszucht selbst unter den mißlichsten Umständen aus, und wenn auch die Schlachten bei Gitschin und Königgrätz verloren gingen, der Ruf und die Ehre der alten Rautenbanner blieben gewahrt.

Nach dem Friedensschlusse erhielt Kronprinz Albert im Norddeutschen Bunde das Kommando über das 12. (sächsische) Armeekorps. Dann kam die glorreiche Zeit, da im Kriege gegen Deutschlands Erbfeind die deutsche Einheit gewonnen werden sollte. Mit ihrem Kronprinzen an der Spitze, rückten die Sachsen ins Feld; Schulter an Schulter mit Preußens Garde, Bayern und Württembergern focht das sächsische Armeekorps mit Auszeichnung in den großen Entscheidungsschlachten und trug seine Banner bis an die Ufer der Maas und Marne. Kronprinz Albert entschied mit seinen Sachsen am 18. August 1870 die heiße Schlacht bei Gravelotte durch die Erstürmung des stark befestigten Dorfes St. Privat la Montagne im Verein mit den preußischen Garderegimentern. Am folgenden Tage übernahm er den Oberbefehl über die neugebildete Maasarmee, deren Stärke 70000 Mann Fußvolk, 116 Schwadronen Reiterei mit 16247 Pferden und 288 Geschütze betrug. Mit dieser Armee erfocht er eine Reihe glänzender Siege. Bei Beaumont überfiel er und vernichtete am 30. August das französische Korps de Failly. Unsere Abbildung S. 233 zeigt uns die Ankunft des Kronprinzen in dem eroberten Lager, das der Feind in voller Uebereilung im Stich lassen mußte. Der Kronprinz nimmt gerade eine Mitteilung des Generalstabschefs der Maasarmee v. Schlotheim entgegen. Zwei Tage darauf schlug er im Verein mit der 3., vom nachmaligen Kaiser Friedrich geführten Armee die große Entscheidungsschlacht bei Sedan. Während der nachfolgenden Einschließung von Paris hielten seine Truppen die Ostfront der Hauptstadt umklammert, [236] gleich einer undurchdringlichen eisernen Mauer, die mehrfachen Durchbruchsversuche der Franzosen blutig zurückweisend.

Als Generalfeldmarschall kehrte Kronprinz Albert im Sommer 1871 aus dem Felde heim und hielt am 11. Juli an der Spitze der sächsischen Truppen seinen Einzug in die festlich geschmückte Stadt Dresden. Jubelnd wurde er überall begrüßt, denn der siegreiche Feldherr galt als eine der festesten Stützen des neu geeinten Reiches.

Seit jenen ruhmreichen Tagen durfte das deutsche Schwert in der Scheide ruhen, und als nach dem Tode seines Vaters am 29. Oktober 1873 König Albert den Thron Sachsens bestieg, war es ihm vergönnt, in einer langen Reihe von Jahren seinem Volke als Friedensfürst Glück und Segen zu bringen.

König Albert, der ungemein viel liest, aber kein großer Freund von vielen und langen Reden ist, nimmt mit sehr regem Interesse allezeit Kenntnis von neuen Bestrebungen auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft, des Handels und Gewerbefleißes. In seiner Residenzstadt Dresden, welche in den letzten zwei Jahrzehnten einer völligen Umgestaltung zu einer modernen Großstadt entgegengeführt wurde, ist während seiner Regierung keine Wanderversammlung irgend welcher Körperschaft von Bedeutung abgehalten worden, ohne daß sie von dem Monarchen mit seiner Gegenwart beehrt worden wäre. Wiederholt hat König Albert die verschiedenen Provinzen seines Landes bereist, um sich an Ort und Stelle von dem Stand der Industrie und der Verwaltung zu überzeugen. Das warme Mitgefühl des Königs für das Wohl und Wehe seines Volkes treibt ihn auch rasch auf den Platz, wenn sich da oder dort ein Unglück ereignet hat. Er will in allen solchen Fällen immer mit eigenen Augen sehen und ordnet oft an Ort und Stelle an, was ihm nützlich und nötig erscheint.

In dem Bestreben, Notstände zu lindern, wird er eifrig von seiner treuen Lebensgefährtin Königin Carola unterstützt. Unter König Alberts Regierung hat Sachsen auf allen Gebieten des Staats- und Volkslebens, in Handel und Wandel einen bedeutenden Aufschwung gewonnen.

Aber auch über die Grenzen seines Landes hinaus macht sich der Einfluß König Alberts in ersprießlicher Weise bemerkbar. Nach den Errungenschaften der Jahre 1870 und 1871 verband ihn mit Kaiser Wilhelm I aufrichtige Freundschaft, als teueres Erbe ist sie auch auf die Nachfolger des letzteren übergegangen, und es ist wohl bekannt, wie König Albert bestrebt ist, in allen politischen Fragen die Eintracht der deutschen Völker und ihrer Fürsten zu fördern.

So hat er in doppelter Weise, als Feldherr und als Friedensfürst, zu Deutschlands Heil gewirkt, und diese hohen Verdienste um des Vaterlandes Wohlfahrt gestalten seinen Jubeltag zu einem Festtag des deutschen Volkes. D.     


Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Lebende Statuen und künstliche Menschen im Volksglauben und auf der Bühne.
Von Felix Vogt.

Zu den verbreitetsten Arten des Aberglaubens gehören die belebten Statuen, denen sich als eine Unterart die künstlichen Menschen zugesellen. Dieser Aberglaube ist uralt, und schon von vielen heidnischen Götzenbildern wurde behauptet, daß sie sich bewegten und lebten. Zu dieser Täuschung haben nicht wenig die Künstler beigetragen. Sie streben auch heute noch alle danach, den Eindruck des Lebens hervorzurufen, und es ist ihnen eine Genugthuung, wenn der Beschauer eines ihrer Werke ausruft: „Die Augen dieses Bildes scheinen mich anzusehen“, oder: „Diese Statue scheint Leben zu atmen“. Für eine lebhafte Einbildungskraft, die noch obendrein mit abergläubischen Vorstellungen erfüllt ist, kann von da aus leicht der Schritt zu dem Wahne gemacht werden, daß diese Bilderwerke und namentlich die Statuen, welche die ganze äußere Körperlichkeit darstellen, in der That reden und sich bewegen und andere Lebensfunktionen ausüben können.

Weil dieser Wahn einen künstlerischen Ursprung hat, spielt er denn auch in künstlerischen Hervorbringungen eine besondere Rolle. Es liegt hier ein Fall vor, wo ein Aberglaube, der an sich ebenso thöricht ist wie jeder andere, dennoch einen glücklichen Einfluß ausgeübt hat, indem er die Schaffenskraft der Dichter und in noch höherem Grade die der Tonkünstler befruchtet hat. Man könnte daher den Satz aufstellen, daß die Tragödien und Komödien des Aberglaubens zwar als bedauerliche Verirrungen des Menschengeistes anzusehen sind, daß dagegen der Aberglaube in der Tragödie und Komödie sich oft als ein förderndes Element erwiesen hat.

Den künstlerischen Charakter des Aberglaubens, daß Statuen lebendig werden können, erkennt man recht deutlich schon in der ältesten und zugleich am meisten behandelten Geschichte dieser Art. Es ist dies der antike Mythus von Pygmalion. Diese Sage gehört nicht zum alten griechischen Bestand. Wir finden sie weder bei Homer noch in der attischen Tragödie. Ein gewisser Philostephanos von Kyrene, ein Bädeker des Altertums, fand sie etwa zweihundert Jahre vor Christi Geburt auf der Insel Cypern, und aus seinem Reisebericht nahm sie der römische Dichter Ovidius Naso in sein großes Gedicht der „Verwandlungen“ auf. Nach dieser Sage gab es in alter Zeit auf Cypern einen König Pygmalion, der mit seinem Herrscherberufe den des Bildhauers verband. Der König war aber nicht nur Bildhauer, sondern auch ein hartnäckiger Junggeselle, weil er alle Frauen und Mädchen von Cypern für leichtsinnig und verderbt hielt. Da sie ihm keine Neigung einzuflößen vermochten, schuf er für sich eine ideale weibliche Gestalt aus Elfenbein, und diese gewährte ihm eine solche Freude, daß er sich nicht mehr von ihrem Anblick trennen konnte, sie wie eine lebende Person küßte, beschenkte und mit ihr zu reden suchte. An einem Feste der Aphrodite flehte hierauf der königliche Künstler die Liebesgöttin an, ihm eine Gattin zu verleihen, welche dem von ihm gefertigten Elfenbeinbilde vollständig gleiche. Als er nun aus dem Tempel nach Hause zurückkehrte und wieder seine Statue umarmte, fühlte er, daß sich das kalte Elfenbein erwärmte und seine Härte verlor. Die Göttin hatte sein Gebet über Erwarten erfüllt, indem sie die Statue selbst belebt hatte. Der König heiratete die zur sittsam errötenden Jungfrau umgewandelte Figur, und sie gebar ihm den Paphos, welcher der gleichnamigen Stadt, die ein berühmtes Heiligtum der Aphrodite enthielt, den Namen gab.

Diese Legende vom Pygmalion und der belebten Statue hat namentlich die Komponisten angezogen. Für das Drama mutete das Wunder doch dem Zuschauer zuviel guten Glauben zu, aber die Musik war aufs beste dazu geeignet, die unglaubliche Verwandlung durch stimmungsvolle Begleitung zu vermitteln. Und Künstler und Publikum gaben sich um so lieber der Einbildung hin, als diese wunderbare Geschichte den höchsten Triumph der Kunst überhaupt versinnbildlicht. Das Kunstwerk erscheint da so vollkommen, daß ihm von der Gottheit aus diesem Grunde wahres Leben verliehen wird.

Schon unter den allerersten Versuchen einer deutschen Oper finden wir daher einen „Pygmalion“ von Conradi in Hamburg im Jahre 1693. Sieben Jahre später bringt Labarre einen „Pygmalion“ in Paris zur Aufführung. Die Musik ist schlecht, aber der Stoff bleibt so anziehend, daß der berühmte Rameau im Jahre 1748 den gleichen Text nochmals komponiert. Kurz zuvor hatte der Italiener Romanesi dem antiken Stoff die satirische Wendung gegeben, die sich bis heute auf der Bühne erhalten hat. Schon bei Romanesi wird nämlich die belebte Statue, die er Agalmeris nennt, ihrem Schöpfer und Gatten bald durch ihre Gefallsucht lästig, bekehrt sich jedoch vor dem letzten Fallen des Vorhangs zu besseren Gefühlen. Sogar der berühmte Philosoph Rousseau, der in seiner Jugend versucht hatte, als Opernkomponist aufzutreten, wurde von dem Stoffe in reiferen Jahren so gefesselt, daß er fast wider Willen zum Theater zurückkehrte und im Jahre 1775

[237]

Mutterliebe.
Nach einer Originalzeichnung von Ludw. Beckmann.

[238] auf der Bühne der Comédie Française ein Monodram mit Musikbegleitung unter dem Titel „Pygmalion“ aufführen ließ. Er kehrte darin zur antiken Einfachheit zurück, brachte aber als Philosoph den neuen Zug hinein, daß sich die belebte Statue stufenweise ihres Ichs bewußt wird. „Das bin ich!“ flüstert sie bei jeder neuen Wahrnehmung ihres Gesichts, ihres Gehörs und ihres Tastsinnes. Wenn ich nicht irre, ist Rousseau auch der erste, welcher die bei Ovid namenlose Statue „Galathée“ getauft hat. Dieser Name hat sich um so hartnäckiger erhalten, als er falsch geschrieben ist. Die Griechen kannten nur die Nereïde Galateia, um welche der eifersüchtige Polyphem den Hirten Akis erschlug, und schrieben den Namen nie mit einem th.

Von Conradi bis auf Rousseau zählen wir sechs bekannte Opern „Pygmalion“, nach ihm deren neun und den Schluß bilden die französische „Galatée“ (man erlaube uns, das schmarotzende h zu entfernen) von Massé und die deutsche „schöne Galatea“ von Franz von Suppé. Beide erfreuen sich noch heute einer robusten Gesundheit, obwohl die französische Galatée schon sechsundvierzig und die deutsche dreiunddreißig Jahre zählt. Die französischen und die deutschen Textdichter haben die Satire des alten Italieners vervollständigt. Ihre Galatée führt sich so schlimm auf, daß Pygmalion die Götter anfleht, sie wieder zum toten Bilde erstarren zu lassen, und diese dem enttäuschten Künstler den Wunsch gewähren. So wurde aus dem Stoffe, den noch Rousseau mit tiefem Ernst behandelt hatte, eine leichtgeschürzte Operette, und da Suppé in seiner Musik lustiger und ausgelassener ist als Massé, der wenigstens für den Pygmalion eine ernste Barytonarie geschrieben, so verdient die deutsche Galatea den Vorzug vor der französischen, deren scheinbare Ehrbarkeit an Langweile grenzt. Die antike Sage ist in diesen modernen Possen ebenso mißhandelt worden wie Orpheus und Helena in den bekannten Stücken Offenbachs, aber es ist doch noch etwas Poesie übrig geblieben, denn die Belebung der schönen Statue auf den heißen Wunsch des Künstlers wird selbst bei Suppé nicht ganz ins Lächerliche gezogen. Man könnte sich kaum denken, daß seine Galatea anders als durch eine bildschöne Sängerin dargestellt wird, welche für den antiken Faltenwurf gewachsen ist. Die Rolle ist ja auch eigens für die Geistinger geschrieben worden, welche diese Forderung vollständig erfüllte. So hat sich selbst in diesen Possen, die nur geschrieben zu sein scheinen, um über einige Eigenschaften des weiblichen Charakters billige Witze zu machen, der Aberglaube der alten Kyprioten, welche ihren Ahnherrn Paphos von einer belebten Statue abstammen ließen, als fruchtbar erwiesen. Und wer weiß? wenn es sich ein neuerer Komponist einfallen ließe, aus Pygmalion wieder den Helden eines ernsten Musikdramas zu machen, so würde er vielleicht damit durchdringen – hat doch die grausame Parodie des „Orpheus in der Unterwelt“ nicht einmal in Paris den ernsten „Orpheus“ zu töten vermocht, denn im vorletzten Winter rettete das Meisterwerk Glucks nicht nur künstlerisch, sondern auch materiell die Direktion der Komischen Oper durch sechzig gut besuchte Vorstellungen.

Das christliche Gegenstück zu der heidnischen Galatea bildet der Steinerne Gast, der eine Erfindung des erzkatholischen Spaniens ist und dem Molière eine halbe und Mozart eine ganze Unsterblichkeit erworben hat. Es ist kein Zweifel, daß der fromme Mönch Tellez, genannt Tirso de Molina, der im Jahre 1610 als der erste in seinem Stücke „El burlador de Sevilla, ó el convidado de piedra“ den Spötter von Sevilla und den Steinernen Gast einander gegenüberstellte, selbst an die Möglichkeit glaubte, daß ein kaltes Marmorbild belebt werden könne, um einen frechen Sünder, wie es sein Don Juan Tenorio war, zu bestrafen. Er und seine Zuschauer hatten es darum durchaus nicht nötig wie wir, wenn wir den schaurigen Klängen von Mozarts zweitem Finale lauschen, den „Mann von Stein“ als ein Symbol des schlechten Gewissens zu betrachten. Es ist nicht mehr zu ergründen, ob Tellez eine schon vorhandene Sage benutzte oder die höchst drastische Bestrafung seines Bösewichts selbst erfand. Das erstere ist wahrscheinlicher, aber sehr alt kann die Sage kaum sein, denn sie setzt einen Gebrauch voraus, der schon eine stark fortgeschrittene Kultur verrät, den Gebrauch nämlich, auf dem Grabe eines hervorragenden Mannes sein Standbild in ganzer Figur und natürlicher Größe zu errichten. Es ist dabei jedoch zu bemerken, daß die auf deutschen Bühnen übliche Reiterstatue weder von Tirso de Molina, noch von Molière, noch von Daponte und Mozart vorgesehen ist. Sie fällt dem ungeschickten deutschen Uebersetzer von Mozarts Text zur Last, der „O statua, gentilissima del gran Commendatore“ also übertrug: „Herr Gouverneur zu Pferde, ich neige mich zur Erde.“ Solcher Statuenschmuck auf Gräbern ist sogar in unseren heutigen Großstädten nicht allzu häufig und wäre im spanischen Mittelalter unerhört gewesen. Die Sage setzt also bereits den künstlerischen Aufschwung der Renaissance voraus. Don Juan ladet in verwegenem Spotte das Standbild des von ihm ermordeten Gouverneurs zum Abendessen ein. Der Gouverneur nimmt die Einladung an, erscheint in Don Juans Wohnung, fordert ihn umsonst zur Reue auf und zwingt ihn darauf, ihm in die Hölle zu folgen. Heutzutage interessiert uns freilich an der Don Juan-Sage vor allem der Charakter dieses Helden, den man nicht mit Unrecht den Faust der Südländer genannt hat; aber im siebzehnten Jahrhundert machte vor allem seine originelle Bestrafung Eindruck. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit fand der „Burlador de Sevilla“ in und außerhalb Spaniens Verbreitung. Zehn Jahre nach seinem Erscheinen besaß Italien bereits eine eigene Bearbeitung. Im Jahre 1657 brachten die italienischen Schauspieler ihren Convitato di pietra nach Paris, und zwei Jahre darauf ließ ein gewisser Villiers eine französische Bearbeitung als „Le festin de pierre ou le fils criminel“ aufführen. Dieser Mann hatte mit einer solchen Hast gearbeitet, daß er sogar im Titel einen Uebersetzungsfehler stehen ließ. Er machte aus dem italienischen Gast (convitato) ein Gastmahl (festin) und versteinerte auf diese Weise die ganze bunte Gesellschaft, die Don Juan bei seinem Nachtessen um sich schart. Der offenbare Unsinn des „steinernen Gastmahls“ verhinderte jedoch den Erfolg nicht, und der Titel bürgerte sich dermaßen ein, daß Molière, als er im Jahre 1665 für seine eigene Bühne einen „Don Juan“ schrieb, um dem der italienischen Komödie Konkurrenz zu machen, den Fehler absichtlich beibehielt. Schon Molière ist es aber mit dem Steinernen Gaste nicht mehr recht ernst, denn er verdirbt uns absichtlich den schreckhaften Eindruck der Höllenfahrt, indem er den Diener Sganarelle am Schlusse nach dem Verschwinden seines Herrn um seinen rückständigen Lohn jammern läßt. „Mes gages, mes gages!“ ruft er als echte Bedientenseele aus und reißt uns damit aus unseren Illusionen.

Von da an ist der Steinerne Gast nicht mehr zur Ruhe gekommen. Zehn Jahre nach Molières Stück wandelte er über die englische und im Jahre 1700 zum erstenmal über die deutsche Bühne. Ein Ballett von Gluck und fünf Opern gingen dem „Don Juan“ Mozarts voraus, der nun schon hundertundelf Jahre lang alt und jung erfreut und wohl noch lange erfreuen wird. Selbst in Paris, wo man lange Zeit des Molièreschen Stückes wegen zum Werke Mozarts kein rechtes Zutrauen faßte, ist sein Ansehen so groß, daß die beiden Opernbühnen, die Große und die Komische Oper, im letzten Winter den „Don Juan“ fast gleichzeitig wieder aufnahmen und beide ihre Rechnung dabei fanden.

Daß die belebte Statue des Gouverneurs auch heute noch zur Don Juan-Sage gehört und nicht mehr von ihr getrennt werden darf, so sehr auch alle Theatergänger davon überzeugt sind, daß Stein Stein bleiben muß und nicht Fleisch werden kann, geht daraus hervor, daß der ältere Dumas, als er im Jahre 1836 einen Don Juan ohne Steinernen Gast auf die Pariser Bühne brachte, damit Schiffbruch litt. Er versicherte umsonst, daß auch sein Don Juan de Maraña, der am Schlusse seine Frevelthaten bereut und von seinem guten Engel, der die Gestalt einer Nonne angenommen, in den Himmel geführt wird, auf einer alten spanischen Sage beruhe, die ebenso berechtigt sei wie die von Don Juan Tenorio; man fand seine Schwester Martha außerordentlich fad neben dem steinernen Gouverneur und nahm es seinem Don Juan übel, daß er nicht Charakter genug hatte, bis ans Ende ein verstockter Bösewicht zu bleiben. Ganz anders ging denn auch der bedeutende spanische Dichter Zorilla vor, als er acht Jahre nach Dumas den alten Nationalstoff seiner Heimat in einem Versdrama erneuerte. Ihm war es an der einen Statue nicht einmal genug. Er läßt auch die Dona Ines (die Donna Anna der Oper) und ihren Verlobten [239] durch Don Juans Schuld zu Grunde gehn, und ihre Statuen beleben sich ebenfalls im letzten Akt, um den Frevler in die Hölle zu stürzen. Damit traf er sehr genau den Geschmack des spanischen Publikums. Sein „Don Juan“ ist eines der beliebtesten Stücke geblieben und wird in den meisten Theatern Spaniens des erbaulichen Schlusses wegen regelmäßig am Allerseelentage gespielt.

Der Steinerne Gast hat sich auch in unserem skeptischen Jahrhundert noch lebenskräftig genug erwiesen, um eine Tochter zu erzeugen, die auf französischen und deutschen Provinzbühnen noch hie und da zu finden ist. Wir meinen die Marmorbraut in Herolds „Zampa“, der im Jahre 1831 in Paris entstand und sich rasch auf allen Opernbühnen einbürgerte. Es ist möglich, daß der Textdichter des „Zampa“ in Sicilien, wohin er seine Handlung verlegte, eine Sage von einer die Untreue rächenden weiblichen Statue aufgefunden hat, aber ohne das Beispiel des Don Juan würde sich Herold wohl kaum erkühnt haben, diesen Stoff zu ergreifen. Die „fromme Alice“, welche der Seeräuber und Herzensbrecher Zampa hat sitzen lassen, öffnet zwar nicht den Mund zum Singen oder Sprechen wie der Gouverneur im „Don Juan“, aber wirkt andere Wunder. Da ihr der Ungetreue zum Hohn einen Trauring an den marmornen Finger steckt, schließt sie die Hand, und mit keiner Gewalt kann der Räuber ihn zurücknehmen. Später errettet sie durch ihr Erscheinen die unglückliche Camilla vor der Umarmung des Räubers und zieht diesen mit sich in die Versenkung. Obschon weder Zampa ein so vollständiger Charakter ist wie Don Juan, noch seine Marmorbraut so entscheidend eingreift und so verständlich ist wie die Statue des Gouverneurs, hat der Stoff doch dem Komponisten ausgezeichnete Dienste geleistet. Besonders gut gelang dem französischen Tonsetzer die Scene, wo dem Zampa nach dem Wunder der geschlossenen Marmorhand das übermütige Trinklied in der Kehle stecken bleibt, zu dem er seine Genossen fortreißen will, damit sie den peinlichen Vorfall vergessen. In der Schlußscene dagegen hat Herold nichts gefunden, um uns über den ziemlich lächerlichen Eindruck hinwegzuhelfen, daß die marmorne Alice als eifersüchtige Liebhaberin unter der Thür des Schlafgemachs erscheint, in welches Zampa seine letzte Eroberung zu schleppen sucht. Hier ist seinem Textdichter und ihm selbst sowohl der Glaube des alten Tirso de Molina, wie die Phantasie Mozarts abhanden gekommen.

Nahe verwandt mit den lebenden Statuen sind die künstlichen Menschen, die zuerst in den abergläubischen Vorstellungen der Völker spukten und später künstlerische Verwendung fanden. Sie unterscheiden sich von den lebenden Statuen dadurch, daß sie von vornherein zur Täuschung geschaffen werden. Als ältestes Vorbild kann die antike Pandora gelten, wie sie in den Dichtungen des griechischen Dichters Hesiodos auftritt. Pandora ist zwar kein menschliches, sondern ein göttliches Kunstprodukt, aber nach Hesiod haben sich bei ihrer Hervorbringung die Olympier mit höchst menschlicher Bosheit benommen. Zeus wollte nämlich den Prometheus dafür strafen, daß er den Menschen das Feuer verschafft hatte. Daher ließ er von den Göttern ein weibliches Wesen zusammensetzen, dem Aphrodite Schönheit, Pallas Verstand und Kunstfertigkeit und Hermes die Fähigkeit zu lügen und zu betrügen verleihen mußten. Sie sandte er dem Bruder des Prometheus, dem leichtsinnigen Epimetheus, zu, der trotz der Warnung des Bruders vor den Geschenken des Zeus die Pandora und die verschlossene Truhe, die sie mitbrachte, zu sich nahm. Insgeheim öffnete diese hierauf die Truhe, aus der alle Übel herausdrangen und sich unter den Menschen verbreiteten. Diese böse Pandora machte jedoch unter den Griechen nicht viel Glück, weil sie ihren optimistischen Anschauungen wenig entsprach. Sophokles scheint sich in einem verloren gegangenen Satyrdrama über den Gegenstand lustig gemacht zu haben, und diese komische Färbung kehrt immer wieder, wo die Dichter späterhin künstlich erzeugte Menschen auf die Bühne brachten. Goethe hat zwar zweimal ein ernstes Pandora-Drama zu schreiben begonnen, worin er die pessimistische „Allesgeberin“ des Hesiod ins Optimistische zu übertragen gedachte, aber er brachte es auch beim zweitenmal nicht über den ersten Akt hinaus. Im zweiten Teile des „Faust“ schuf er sich später seinen eigenen Kunstmenschen, den fürwitzigen Knaben Homunculus, den der Famulus Wagner auf chemischem Wege in einer Retorte hervorgebracht hat und der Faust und Mephistopheles als Wegweiser zur klassischen Walpurgisnacht dient. Dort zerschellt er freilich gar bald am Muschelwagen der Galatee, da er über seine Kräfte hinaus für die antike Schönheit erglüht. Leider gehört aber der Homunculus zu den rätselhaftesten Elementen des zweiten Teils des „Faust“. Er hat den Goethephilologen mehr Pein als den gewöhnlichen Sterblichen Wonne verursacht und blieb daher ohne jegliche Wirkung auf spätere Dichter.

Viel glücklicher war ein anderer Kunstmensch, der vielleicht später als Goethes Homunculus entstanden ist, aber sehr viel früher öffentlich bekannt wurde. Es ist die von E. T. A. Hoffmann erfundene weibliche Automatenfigur Olympia im „Sandmann“, welche so trefflich ausgeführt ist, daß sie dem Helden der Novelle eine tiefe Leidenschaft einflößt und ihn zum Wahnsinn und Selbstmord treibt. Hoffmanns bewegliche Phantasie knüpfte hier an eine historische Thatsache an. Im Jahre 1738 hatte der geniale Mechaniker Vaucanson in Paris zum erstenmal einen Automaten vorgeführt, der auf einer Flöte einige einfache Melodien blies. Es war die erste Spieldose. Auch Hoffmanns Olympia ist vor allem ein musikalischer Automat. Sie singt mit wunderbarer Sicherheit und Fertigkeit. Aber noch wunderbarer ist, daß sie prächtige ausdrucksvolle Augen hat, und dies wird von Hoffmann mit der ihm eigenen Vorliebe für das Grauenhafte so erklärt, daß der entsetzliche Coppelius dem Automaten die blutigen Augäpfel eingesetzt hat, die er einem seiner menschlichen Opfer ausgerissen. Warum hat aber diese Olympia Hoffmanns so viel Glück gemacht? Darum, weil auch hier der Aberglaube im Spiel war. Für Hoffmann waren nämlich alle diese Spukgestalten, die er schuf, im Augenblicke, da er sie zu Papier brachte, keine Märchengebilde, sondern er glaubte so fest an sie, daß er sich selbst vor ihnen fürchtete. Er schrieb regelmäßig nachts, nachdem er im Weinhause stark gezecht hatte, und wenn er dann den schrecklichen Coppelius oder den Mönch Medardus oder eine ähnliche Gestalt unter die Feder bekam, so weckte er seine gutmütige Frau, damit sie sich mit ihrem Strickstrumpf neben ihn setze und ihn durch ihre Gegenwart beruhige. Nur, weil er selbst an die verführerische Schönheit seiner Olympia glaubte, machte sie auch auf seine Leser einen so starken Eindruck. In Frankreich war die Wirkung Hoffmanns noch größer als in Deutschland. Hier war es denn auch, wo seine Automate mit Vorliebe auf die Bühne verpflanzt wurde. Adam, der Komponist des „Postillon“, widmete den künstlichen Menschen zwei Opern, die lange gespielt wurden, „La Poupée de Nuremberg“ und „Les Pantins de Violette“. Delibes fand in der Tochter des Coppelius, die er „Coppelia“ nannte, den Stoff zum besten Ballett, das in den letzten fünfzig Jahren in Paris entstanden ist. Damit nicht genug, griff der alternde Offenbach nochmals die Geschichte auf und machte aus ihr den zweiten Akt seiner komischen Oper „Les Contes d’Hoffmann“, welche vielleicht nicht seine glücklichste, aber sicher seine ernsthafteste Leistung geblieben ist. Delibes’ „Coppelia“ wirkte hinwiederum auf Wien zurück und ließ dort Bayers „Puppenfee“ entstehen, welche seit einigen Jahren über alle deutschen Bühnen geht.

Die letzte Bearbeitung der lebenden Puppe lieferte endlich Paris vor zwei Jahren in der Operette „La Poupée“ von Planquette. Hier war freilich die Sache recht geistreich umgedreht. Ein Weiberfeind, der sich einer Erbschaft wegen verheiraten mußte, ließ sich mit einer Automatenfigur trauen, aber die Tochter des Mechanikers spielte die Rolle der Figur und bekehrte den Hagestolz durch diesen frommen Betrug zur Liebe.

Die lebende Statue ist ein künstlerischer, die Automatenfigur, welche tanzt, spricht und singt, ein wissenschaftlicher Aberglaube. Beide liegen heute dem einigermaßen gebildeten und verständigen Menschen völlig fern. Deshalb sind sie denn auch im Theater fast nur noch in musikalischer Umkleidung möglich, denn die Musik besitzt die Gabe, uns am leichtesten aus der Wirklichkeit in das Wunderland des Märchens zu versetzen. Sollen wir sie auch in dieser Gestalt verdammen? Sollen wir nicht vielmehr einem Wahne Dank wissen, der unseren Dichtern und namentlich unseren Tonsetzern den Stoff zu so viel teils erschütternden, teils erheiternden Scenen geliefert hat?


[240]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Eine Verhaftung.
Nach dem Gemälde von Jos. Weiser.

[241] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[242]

Das alte Serail in Konstantinopel.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen.

Die Pforte des Heils.

Auf der schmalen Halbinsel zwischen dem Bosporus und dem Goldenen Horn baut sich das alte Stambul in zauberhafter Schönheit auf. Hunderte großer Paläste, mächtiger Kuppeln und schlanker, zarter Minarets erheben sich über das weite Häusermeer der Türkenstadt und spiegeln sich in den blauen Fluten der Meeresstraßen wieder, die es umspülen.

In märchenhafter Pracht liegt dieses Konstantinopel mit seinen halb europäischen Vorstädten Pera und Galata vor den Augen des Beschauers, und der Weltfahrer wird in seiner Erinnerung vergeblich suchen, in welchem Weltteil, welchem Lande er ähnliche Pracht geschaut. Schon in vorchristlichen Zeiten galt dieses Stückchen Paradies zwischen Asien und Europa, zwischen dem Schwarzen und Mittelländischen Meere als der herrlichste Besitz; jahrhundertelang war es die glänzende Hauptstadt des großen byzantinischen Reiches, und etwa zur selben Zeit, als Kolumbus dem alten Europa eine neue Welt entdeckte, ging dieses herrlichste Kleinod Europas, Byzanz, an die asiatischen Eroberer verloren. Während viereinhalb Jahrhunderten ist es die Residenz der turkestanischen Fürsten geblieben, welche als Herrscher des osmanischen Reiches viele Generationen hindurch die halbe mohammedanische sowie die halbe christliche Welt bekriegten, welche die Reiche Europas von ihrem Schlosse aus in Bann hielten. Sie besiegten Kaiser und Könige, Schahs und Sultane und Republiken, und der Glanz ihres Hofes, die Macht ihrer Soldateska überstrahlte Jahrhunderte hindurch alles, was die Alte Welt bis zu ihrem Kommen gekannt hat.

Unwillkürlich sucht der Beschauer Konstantinopels zunächst die Residenz der langen Reihe von Großsultanen, welche seit Mohammed-el-Ghazy, dem Bezwinger von Byzanz, hier geherrscht haben. Er sucht zwischen den himmelragenden Moscheen und gewaltigen Ringmauern und Türmen und Palästen nach jenem Herrschersitze, auf welchem jahrhundertelang die Geschicke des östlichen Europas und des westlichen Asiens gelenkt wurden, er sucht nach einer Art Kreml oder Tower oder Alhambra, nach jenem alten Serail, dem Stolz und der Perle von Stambul. Aber er sucht vergeblich! Während die Alhambra im äußersten Südwesten Europas ein Schmuckkästlein maurischer Baukunst, der Kreml im Nordosten ein gewaltiges Schloß voll asiatischer Pracht und der Tower im Nordwesten eine mittelalterliche Zwingburg mit hohen Türmen und zinnengekrönten Mauern ist, zeigt sich der Sitz des glänzenden türkischen Fürstenhofes im äußersten Südosten Europas wie ein Lustgarten, in welchem Frauenlaunen einige zierliche Lusthäuser, Bäder, Kioske, Terrassen etc. erstehen ließen!

In solcher Weise erscheint wenigstens das alte Serail dem Beschauer vom Bosporus aus (vergl. Abbildung S. 245). Von dem ungeheuren Kuppelbau der Sophienmoschee senkt sich der Bergrücken, auf welchem Stambul liegt, allmählich in eine flache Spitze auslaufend, gegen die blaue Wasserfläche, und diese an drei Seiten von ihr umflutete Landzunge wird von großen Gärten eingenommen, zwischen deren dunklen Cypressen- und Myrtenbäumen und ungeheuren Platanen eine Reihe von verschiedenen Gebäuden hervorleuchtet, mit kleinen Kuppeln und Domen, und überhöht von einem Turm, der aussieht wie der Turm einer deutschen Dorfkirche.

Das Serail war einst die Wiege der Osmanen in Europa, es hat ihre Glanzepoche gesehen ebenso wie ihren Niedergang. Fünfundzwanzig Sultanen hat es als Residenz gedient, es war ein Palais, ein großes Feldlager, eine Festung und ein Heiligtum, der Mittelpunkt eines Weltreiches und einer Weltreligion.

Wohl aber hat kein anderer Ort der Erde so viel von den schlimmsten Leidenschaften der Menschen gesehen, von Neid und Eifersucht, Ehrgeiz und Habsucht, in keinem sind so zahlreiche Verbrechen und Morde begangen worden, Morde zwischen Brüdern, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen Herrn und Diener! Die ganze Geschichte des osmanischen Reiches ist von hier aus geleitet worden, die Laune einer Odaliske hat ganze Provinzen in Armut gestürzt, auf den Wunsch eines schönen Mädchens wurden blutige Kriege gefochten, und das alte Serail ist heute der Friedhof nicht nur einer ganzen Reihe fremder Völkerschaften, sondern auch der einstigen Größe des osmanischen Reiches und seiner Fürstenherrlichkeit!

Selbst als Residenz der Sultane dient es nicht mehr, denn die furchtbaren Tragödien, welche der Thronbesteigung Mahmuds II im Jahre 1808 vorausgegangen waren, veranlaßten diesen Fürsten, den Palast von Tscheragan, am Bosporus gelegen, zu seinem Wohnsitz zu machen. Sein Nachfolger Abdul-Medschid erbaute den feenhaften Palast von Dolmabagdsche, und der jetzt regierende Abdul-Hamid verlegte seine Residenz noch weiter weg von Stambul, nach dem Yildiz-Kiosk, der auf den Höhen östlich von Pera inmitten ausgedehnter Palastanlagen versteckt ist. Heute wohnen im alten Serail nur die Witwen der Sultane.

Aber die wichtigsten und geschichtlich interessantesten Gebäude des alten Serails sind doch stehen geblieben. Sie werden heute von Palastwachen, schwarzen und weißen Eunuchen, noch gerade so streng bewacht wie zur Zeit der früheren Sultane, und nur ganz bevorzugte Reisende erhalten mittels kaiserlichen Firmans die ungemein schwer zu erwirkende Bewilligung, das Serail zu besichtigen.

Die meisten werden bei der Durchwanderung des alten Sultanssitzes enttäuscht, ernüchtert, denn auch um die drei großen Höfe desselben erheben sich nicht stolze Paläste in anspruchsvoller, reicher Architektur oder Gebäude von besonderer Zierlichkeit und Eleganz, sondern nur weitläufige, niedrige, höchstens einstöckige Bauten in großer Zahl, als wären sie die zu Stein gewordenen Zelte eines großen Feldlagers, wie es die Vorfahren der osmanischen Dynastie in früheren Zeiten besaßen, als sie noch die Häuptlinge eines turkestanischen Nomadenstammes waren. Und doch wurde ich hier mehr gefesselt, mehr erschüttert als in den reichsten Palästen des fernen Orients, in Indien, Siam, China, Japan – nicht der traurigen Gegenwart, sondern der aller Beschreibung spottenden gewaltigen, erdrückenden Vergangenheit wegen.

Gleich das erste und äußerste Thor, das Bab-Humayun, der berühmten Fontäne vom Sultan Achmet und der Sophienmoschee gegenüber gelegen, ruft diese Vergangenheit zurück, denn zu beiden Seiten dieses im halb arabischen, halb persischen Stil aus schwarzem und weißem Marmor erbauten Thores zeigen sich noch die Nischen, in welchen am Morgen die blutigen Kopfe jener Staatsmänner oder Hofwürdenträger aufgehängt wurden, die in der vorhergehenden Nacht gefallen waren. Auf den Vorplatz aber wurden die Leichname der Gehenkten geworfen, und zwischen diesen hindurch begaben sich die glänzenden, farbenprächtigen, goldstrotzenden Reihen von Ministern, Generalen, Garden täglich nach dem Serail an den Hof des Sultans! Die Pforte, an der heute einfache türkische Soldaten stehen, wurde damals von [243] Kapidschis bewacht, einer Leibgarde, aus Söhnen von Paschas und Beis zusammengesetzt, die in reichen Uniformen prangten. Ringsum standen die Massen des türkischen Volkes, bewundernd, erwartungsvoll, erschrocken, oder passierten, ein Gebet für den Padischah murmelnd, die Pforte, um scheu einen Blick in das Innere des weiten Hofes zu werfen, welchen nur Bevorzugte betreten durften.

Ganz wie früher zeigt dieser „Janitscharenhof“ genannte Platz einzelne Baumgruppen und nahe der in ein Arsenal verwandelten altgriechischen Kirche der heiligen Irene auch jene ungeheure Platane, unter welcher die Enthauptungen stattgefunden haben (vergl. die untenstehende Abbildung). Ihr kaum von zehn Männern zu umspannender Stamm ist gespalten, und sie mag aus der Zeit des griechischen Kaiserreichs stammen, aber ihre Krone ist frisch und reichbelaubt. Ist doch der Boden, auf dem sie steht, mit so viel Blut gedüngt worden!

Neben der ehrwürdigen alten Irenenkirche befindet sich die kaiserliche Münze, und früher erhoben sich rings um den heute verwahrlosten, einsamen Hof die kaiserlichen Stallungen, in welchen Hunderte der prachtvollsten Rosse aus silbernen Krippen fraßen; die Bäckerei mit zweihundert Bäckern, welche das Brot für die Tausende von Hofangestellten bereiten mußten; die Wohnungen für die Sklaven, das Hospital des Serail und die Kasernen der wachthabenden Janitscharen. Den ganzen Tag über herrschte hier das regste Leben, ein fortwährendes Kommen und Gehen, vom frühen Morgen an, da zweiunddreißig in reiche Gewänder gehüllte Muezzins auf den Minarets des Serails das Allah il Allah sangen, bis zum späten Abend, da die prächtigen Janitscharenwachen die Thorschlüssel den Offizieren überbrachten. An der gegenüberlegenden kahlen niedrigen Mauer des Janitscharenhofes zeigen zwei feste Türme die Pforte an, welche in den zweiten Hof des Serails führt und, wie früher so auch noch heute, nur jenen offen steht, die mit einem kaiserlichen Firman versehen sind. Von Hausoffizieren und Adjutanten des Großsultans empfangen, durchschritt ich das von Militärwachen besetzte Thor, das Jahrhunderte hindurch so viele Minister und Großwürdenträger des Reiches erbeben machte (vergl. Abbildung S. 242). Bab-el-Salaam, „Pforte des Heils“, wird es genannt; aber fürwahr, von den Tausenden und aber Tausenden, die es durchschritten haben, ist nur den wenigsten wirklich Heil widerfahren. Die Hände in den weiten Aermeln versteckt, gesenkten Hauptes, stumm und zitternd begaben sich an den großen Diwantagen die zu den Ministern oder zum Padischah Befohlenen durch diese Pforte, wußten sie doch nicht, ob sie dieselbe wieder lebend verlassen würden!

Der Janitscharenbaum.

Hier an dieser Pforte befand sich auch die Wohnung des Scharfrichters und gleichzeitig eine geheime Richtstätte. Heute noch bildet sie eine Art Tunnel, dessen Ausgänge auf beiden Seiten durch schwere Thore geschlossen werden, und unter dem Thorweg befindet sich ein mit einer Fallthüre bedecktes Verließ, das durch einen unterirdischen Gang mit dem Diwanssaal in Verbindung steht. Häufig wurden Persönlichkeiten, die bei den Mächtigen in Ungnade gefallen waren, hier beim Verlassen des Diwans festgenommen; die beiden Thore fielen in das Schloß, in der Dunkelheit fühlten die Gefangenen plötzlich eine Schnur um den Hals und binnen wenigen Augenblicken waren sie ins Jenseits befördert, ohne daß ihr Leichnam jemals zum Vorschein kam. Die Gesandten und Hofchargen und Offiziere, welche draußen angsterfüllt warteten, bis sie zur Audienz befohlen wurden, hörten wohl die Angstrufe der Sterbenden, aller Augen wendeten sich nach den geheimnisvoll geschlossenen Thoren, aber wenn diese wieder geöffnet wurden, war alles vorbei.

Jenseit des Bab-el-Salaam dehnt sich der zweite Hof des Serails aus, heute ebenso einsam und verlassen wie der erste; ein breiter, von ungeheuren alten Cypressen beschatteter Weg durchschneidet die weiten Rasenbeete und führt in gerader Linie zu dem dritten Thore, dem Bab-es-Seadet, „Thor der Glückseligkeit“. Rings um den weiten Platz ziehen sich Bogengalerien mit Säulen aus weißem Marmor und überhöht von einer Reihe kleiner Kuppeln. Einige Thüren in diesen zierlichen, mit Mosaik und Malereien reich geschmückten Galerien führen zu weitläufigen, aber niedrigen Gebäuden, in welchen sich früher die Archive, die Depots für die Ceremonientrachten, die Zelte und Waffen, sowie die Wohnung des schwarzen Großeunuchen befanden. Zur Rechten gewahrte ich den Eingang zu den kaiserlichen Küchen, in welchen heute noch die Mahlzeiten für die Harems der verstorbenen Sultane bereitet werden. Im Hofe selbst steht nur noch ein geräumiger Pavillon, welcher den Diwanssaal, d. h. den Sitzungssaal des obersten Staatsrats, enthält.

Welche Scenen hat dieser Diwanssaal nicht noch vor einigen Jahrzehnten gesehen! Noch ist heute dort alles so wie damals. Derselbe Diwan zieht sich die Wände dieses mit vergoldeten Arabesken geschmückten Saales entlang, und über dem Sitz des Großveziers gewahrte ich in der Dämmerung das kleine vergitterte Fenster, an welchem Soliman der Große und nach ihm die ganze Reihe von Padischahs die Verhandlungen ihrer Minister anhörten. Ein geheimer Gang führte von dort nach den kaiserlichen Gemächern.

Der Diwan wurde hier fünfmal in jeder Woche mit echt orientalischem Pomp abgehalten. Um den Großvezier nahmen die anderen Minister und Staatsräte Platz, während hinter ihnen Sekretäre und die Scharfrichter standen, die bei keiner dieser Gelegenheiten fehlen durften – alle waren in ebenso malerische wie kostbare Gewänder gehüllt, mit gewaltigen weißen Turbanen auf den Köpfen und reichgeschmückten Säbeln oder Dolchen im Gürtel. Die Verhandlungen dieses schrecklichen Tribunals wurden mit leiser, einförmiger Stimme geführt, niemand wagte eine Bewegung, und selbst dem Unschuldigsten, der in diesen halbdunklen Saal vor seine Richter geführt wurde, mußte bei dem Anblick dieser ernsten, starren Gestalten unter dem Kreuzfeuer von hundert Augen der Mut sinken. Das Verhör war kurz, und obschon das Todesurteil ebenso leise gesprochen wurde, fiel es häufig doch wie ein Donnerschlag auf die Anwesenden. Ein Zeichen, und die Schergen stürzten sich wie der Blitz auf die Opfer – Janitscharenagas und Spahigenerale, Kaimakans und Emire fielen unter den Dolchstichen ihrer Mörder oder zuckten unter dem Würgen mit seidenen Schnüren, während die Minister ruhig und unbeweglich das schreckliche Schauspiel mit ansahen. Die Leichname wurden auf den Vorplatz geschleppt, das Blut abgewaschen, die Schergen traten wieder auf ihre Posten, der [244] nächste Beschuldigte wurde vor die grausamen Richter geführt. Aber während sie hier scheinbar gleichgültig mit Leben und Tod spielten, erbebten sie bis in die Seele, denn, unsichtbar für sie, lauschte über ihnen der Großherr selbst, und die geringste Unzufriedenheit, das Spiel einer Laune, konnte im nächsten Augenblick ihren eigenen Kopf kosten.

Der persische Goldthron in der Schatzkammer des alten Serails.

Die Wohnung des Großherrn befand sich im dritten Hofe, jenseit der Heiligen Pforte, Bab-es-Seadet, die vier Jahrhunderte lang jedem Christen, ausgenommen souveränen Fürsten und Botschaftern, verschlossen war und die das Volk nur leise flüsternd, von geheimer Furcht erfüllt, nannte; vergeblich pochten Tausende von hochstehenden und mächtigen Reisenden an dieses Thor des „Königs der Könige“, hinter welchem der ganze Glanz und Reichtum dieses märchenumwobenen Hofes ihre Augen geblendet hätte, wo Hunderte der schönsten Frauen des Erdballs den Launen des mächtigsten Fürsten der Alten Welt dienten, und wo Festlichkeiten oder entsetzliche Greuelthaten miteinander abwechselten, so erhaben oder so erbärmlich, daß sie die Sagen von Tausend und einer Nacht im Vergleich zu ihnen verblassen machen. Dort schwang der Padischah selbst sein juwelenbesetztes Schwert, und das Schwert allein war sein Recht. Aber auch diese willkürlichen und blutdürstigen Despoten zitterten vor der Macht der Janitscharen, die manchmal mit ihren Schwertern und Morgensternen wuterfüllt sich den Weg bis zum Heiligen Thore bahnten, und gerade der Platz vor demselben, wo heute in der sonnigen Einsamkeit Eidechsen umherrascheln, war der Schauplatz der schrecklichsten Blutscenen. All die Kreaturen des Machthabers, die Haremsfrauen und schönen Sklavinnen, die Prinzen und Pagen und Minister, zitterten, wenn sie zur Nachtzeit die Keulenschläge hörten, mit welchen die zügellosen Janitscharen die ersten zwei Thore zertrümmerten, und wenn ihr wütendes Geschrei irgend ein Opfer verlangte, um an diesem ein vermeintliches Unrecht zu rächen. Und die Umgebung ihres Padischah, dieses mächtigsten Herrn, dieses „Bruders der Sonne“, war ohnmächtig gegen seine Janitscharen. Vergeblich wurden mit Geld gefüllte Säcke unter die heulenden Aufrührer geworfen, vergeblich flehten, versprachen, drohten Scheichs und Minister, Generale und Ulemas, vergeblich zeigten ihnen die auf den Tod erschreckten Sultanas ihre unschuldigen, weinenden Kinder. Selbst die Großherren erschienen in eigener Person vor diesen Wütenden, um für ihre Beamten Gnade zu begehren, aber auch vergeblich: sie verlangten ihre Opfer, um sie auf ihre Lanzen zu spießen, mit ihren Schwertern zu zerhauen; und in ihrer Ohnmacht, um sich selbst zu retten, mußten die Padischahs nachgeben. Die Thorflügel der Heiligen Pforte öffneten sich, und mit schlotternden Knien erschienen die mächtigsten Minister, die liebsten Günstlinge der Sultane, um von den Janitscharen in Stücke gehauen zu werden. Hier vor dem Bab-es-Seadet war es, wo Murad III seinen Liebling Mehemmet unter tausend Schwerthieben fallen sah, wo Murad IV seinen Großvezier Hafiz den Dolchen der Janitscharen preisgab und Selim III gezwungen wurde, seinen ganzen Diwan zu opfern!

Und diese Pforte heißt „Pforte der Glückseligkeit“! Mir graute es bei der Erinnerung an all diese Unthaten, als ich zwischen den Reihen von schwarzen und weißen Eunuchen hindurchschritt, welche noch heute die Thorwache besorgen. Ich befand mich nun im Herzen des alten Serails, im dritten Hofe, aber statt der orientalischen Pracht, statt reich ornamentierter Paläste mit Balkonen und Veranden sah ich auch hier nur kleine einstöckige, geradezu ärmliche Gebäude ganz unregelmäßig in dem weiten begrasten Hofe verstreut, wo sie eben die Tageslaune der Padischahs entstehen ließ. Selbst der Thronsaal, in welchen ich zunächst geführt wurde, ist unansehnlich, wohl der kleinste, den ich in den Fürstenschlössern der verschiedenen Erdteile gesehen habe. Kaum über den Erdboden erhöht, zeigt er an seinen Wänden herrlichen Mosaikschmuck und vergoldete Arabesken, und zu den Seiten der Eingangspforte stehen zwei schöne Fontänen.

Der Bagdad-Kiosk.

Ihr gegenüber erhebt sich der Thron der Sultane in der Form eines Bettes, auf welchem die Fürsten mit untergeschlagenen Beinen Platz nehmen. Ueber dem Throne wölbt sich auf vier leichten Säulen aus vergoldeter Bronze und mit Edelsteinen geschmückt der Baldachin. An den vier Ecken prangen goldene Kugeln mit goldenen Halbmonden darüber, während von ihnen Roßschweife, das Symbol der militärischen Oberhoheit der Sultane, herabhängen. Sonst ist der kleine Raum leer, nur im Hintergründe gewahrte ich in dem farbigen Dämmerlichte, das die mit Glasmalereien bedeckten hohen Fenster spenden, einen reizenden Kamin, von einer vergoldeten, reich geschmückten Kuppel überhöht. Der ganze Thronsaal würde den Besucher kalt lassen, wenn nicht so große und blutige Ereignisse mit ihm verknüpft wären, und schaudernd dachte ich an die blutenden Leichen der siebzehn Brüder Mahommet’ III, die dieser hier vor seinen Augen abschlachten ließ! Groß und klein, vom erwachsenen Mann bis zum zarten Säugling, wurden sie hergebracht, um dem Blutdurst ihres ältesten Bruders zum Opfer zu fallen, und ich glaubte, in den Nischen, in dem Gewirr der zarten Arabesken, in dem Dunkelrot des Mosaiks noch ihr Blut kleben zu sehen! Wie viele Köpfe von Großvezieren, wie viele Leichen von Provinzgouverneuren, Walis, Agas und Generalen haben auf dem Marmorboden zu Füßen der grausamen Großherren gelegen!

Mit Schrecken wandte ich mich von dieser Folterkammer, in

[245]

Das alte Serail in Konstantinopel.
Nach einer Photographie gezeichnet von W. Hoffmann.

[246] welcher die Sultane ihren Thron errichtet haben, nach dem auf der anderen Seite des Hofes gelegenen Gebäude, welches das Interessanteste des alten Serails, die Schatzkammer, birgt. Unter den Kolonnaden dieses ansehnlichen Baues prangen kostbare Waffen der verschiedensten Art, deren Beschreibung allein ein Buch füllen würde. Der ganze Stab des Hofmarschallamtes, etwa dreißig Sekretäre und Adjutanten, scheint bei fremden Besuchen der Schatzkammer aufgeboten zu werden. Staunen erfaßte mich, als ich den durch beide Stockwerke reichenden, mittleren Saal betrat, denn er ist bis an das Dach hinauf mit den kostbarsten Schätzen gefüllt, wie sie Aladin mit seiner Wunderlampe kaum schöner und reicher gesehen hat. Die mächtigen Glaskästen strotzen von den herrlichsten Goldgefäßen, Schmucksachen, Schwertgriffen, Waffen, Geschirren, Dosen, Vasen, Kästchen, Statuen, Decken, Sätteln, Turbanen, Spiegeln und tausenderlei Gegenständen, die alle mit den wundervollsten Edelsteinen bedeckt sind. Rubine und Saphire von der Größe der Taubeneier, Diamanten, Perlen und Smaragde liegen in kleinen Häuflein zusammengeworfen, Decken von mehr als zwei Quadratmetern Größe sind mit den schönsten Perlen besät, daß man kaum den Stoff unter ihnen erkennen kann, an Dolchen prangen Handgriffe, aus einem einzigen Smaragd bestehend, fingerlange Figürchen besitzen als Rumpf eine einzige Perle, aus faustgroßen Türkisen wurden Trinkgefäße geschnitten, die hier neben goldnen Wasserkrügen stehen, so dicht mit Rubinen besetzt, daß sie, aus einiger Entfernung betrachtet, ganz rot erscheinen. Dabei ein Glühen und Blitzen und Funkeln und Strahlen überall, daß das Auge geblendet wird! Das kostbarste Stück dieser Sammlung dürfte der von den Persern erbeutete Thron sein, der ganz aus reinem Golde besteht und mit den herrlichsten Edelsteinen bedeckt ist (vergl. Abbildung S. 244). Wohin man sich auch wenden mag, in die Nebensäle, auf die Galerien, überall blitzen die kostbarsten Geschmeide im Werte von vielen Millionen! Sie bilden aber nur einen Teil des Juwelenschatzes des Sultans; denn mehr noch von den gleißenden Geschmeiden blitzen an den Nacken und Armen der Haremsdamen in den Gärten jenseit des Goldenen Horns, im Yildiz-Kiosk.

Die Wohnung der kaiserlichen Witwen.

Für die Mohammedaner enthält das alte Serail jedoch einen noch größeren Schatz als all diese hier in Gold und Edelgestein aufgestapelten, nutzlosen, toten, kalten Millionen. Als ich verwirrt und geblendet aus der Schatzkammer trat, zeigte man mir auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes den Pavillon Hirka-Scherif-Odassi, in welchem das größte Heiligtum des Islam, die heilige Fahne des Propheten und sein Mantel, aufbewahrt wird. Einmal im Jahre, am fünfzehnten Tage des Rhamadanfestes, werden diese Gegenstände unter dem denkbar größten Ceremoniell in Gegenwart des Sultans aus ihren kostbaren Hüllen genommen und dadurch geehrt, daß der Sultan sowie alle Hofwürdenträger und Großen des Reiches den Saum des Mantels küssen. Nach jedem Kusse wird der Mantel mit kostbaren Seidentüchern abgewischt, und diese selbst bleiben den Teilnehmern an dieser Ceremonie zur Erinnerung. Möge die heilige Fahne des Propheten noch lange Jahre in ihren vierzig seidenen Umhüllungen bleiben, denn ein furchtbarer, fanatischer Glaubenskrieg würde entbrennen, wenn sie jemals wieder entfaltet werden sollte!

Nicht weit von diesem Kiosk erhebt sich ein zweiter, ohne Fenster und mit einer eisernen Thür verschlossen. Er ist der berüchtigte Vogelkäfig, in welchen die Sultane ihre Brüder und Vettern einsperrten, um ihnen so die Möglichkeit zu nehmen, nach ihrem Thron zu trachten. Dort weilten sie wie Lebendigbegrabene, bis der Ruf der aufständischen Janitscharen sie zu Sultanen machte, oder – bis der Scharfrichter sie aus dem Wege räumte. Hier war auch Sultan Abd-ul-Aziz eingesperrt während der wenigen Tage, die zwischen seiner Thronentsetzung 1876 und seinem tragischen Tode lagen. Er war der letzte Sultan, der diesen Kiosk bewohnte. Wer mag ihm in Zukunft noch folgen? Hier war es auch, daß Ibrahim der Schreckliche 1648 seinen Tod fand. Seiner Blutthaten müde, rissen seine Agas ihn von dem Thron und zerrten ihn in dieses Gefängnis. Hier ließen sie ihn in Gegenwart von zweien seiner Frauen und seines ganzen Hofes erdrosseln!

Rings um diesen Kiosk schreitend, gelangte ich in den reizendsten und intimsten Teil des alten Serails, in jenen Blumengarten, darinnen die Privatwohnungen der Sultane,der kaiserlichen Prinzen und der Haremsdamen gelegen sind. Eine ganze Reihe von geheimnisvollen Kiosken in verschiedenen Stilarten, mit bedeckten Veranden, mit verhängten Fenstern und verschlossenen Thüren erhebt sich dort im Schatten uralter Platanen und Cypressen, umgeben von üppigen Blumenbeeten, von Marmorterrassen und Springbrunnen, heute verlassen, aber noch vor einem Menschenalter der Schauplatz so üppigen, glänzenden und reichen Wohllebens, wie wohl nirgend anders im weiten farbenprächtigen Orient. Hier in diesen Miniaturpalästen wohnten Hunderte der schönsten Frauen, welche das große türkische Reich aufzuweisen hatte. Aus allen Provinzen bis weit hinein nach Asien und Afrika wurden die Schönsten der Schönen, die begehrenswertesten, reizendsten, geistreichsten ausgesucht als Spielzeug und Zeitvertreib des Großherrn. Hier hauste die Sultana Valide, die Mutter des Padischah, mit ihrem Hof von Hunderten von Ustas (Hofdamen) als angesehenste und oberste des ganzen Harems; hier besaß jede der vier Kadina (offizielle Frauen des Padischah) ihren entzückenden Kiosk mit einem Heer von Intendanten und Sklavinnen; hier wohnten die Unterfrauen oder Gediklu, von denen die zwölf schönsten den Dienst beim Sultan verrichteten, mit hundert Schagirt oder Novizen, welche von eigenen Lehrern in Musik und Tanz und Märchenerzählen unterrichtet wurden. Inmitten dieser üppigen weiblichen Welt, umgeben von allem Glanz, allen Genüssen, welche das Herz sich nur wünschen konnte, lebte der Großherr wie in einem Garten der Hesperiden. Aber je mehr diesen Sultanen von allen weltlichen Freuden zu Gebote stand, desto unzufriedener, unglücklicher waren sie, und selbst bis in diese geheimsten Stätten der Hofhaltung drangen die Intriguen und hatten Verbrechen der schrecklichsten Art im Gefolge. Viele von den Palästen und Kiosken sind längst verschwunden, und von den berühmten Schönheiten, den armenischen oder georgischen oder griechischen Odalisken, deren Launen den Sultan und durch ihn [247] ein gutes Stück der Alten Welt regierten, ist kein Stäubchen mehr übrig. Nur einer der Kioske ist noch in seiner ganzen Pracht erhalten, der von Murad erbaute Bagdad-Kiosk (vergl. Abbildung S. 244), in dessen entzückenden Räumen ich mir im Geiste die Herrlichkeiten und Reize der verschwundenen Haremswelt vor Augen zaubern konnte. Ganz im türkisch-persischen Stile gehalten und ebenso eingerichtet wie zur Zeit der großen Sultane, als hätten sie und ihre Favoritinnen ihn erst gestern bewohnt, führt er das einstige Hofleben des alten Serails viel lebhafter vor Augen als der letzte Kiosk, der mir gezeigt wurde, jener von Abd-ul-Medschid. Dieser schon von der abendländischen Kultur beeinflußte Sultan ließ ihn in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts ganz nach dem Muster unserer modernen Sommerpaläste erbauen und mit reichen französischen Möbeln einrichten. Hier in diesen modernen Räumen wurden uns auf Befehl des Sultans in goldenen juwelenbesetzten Tassen Kaffee und Fruchtwässer dargeboten, und, kaiserliche Cigaretten rauchend, konnten wir auf der Terrasse des Kiosks das wunderbare Panorama von Konstantinopel genießen, das sich von keinem Aussichtspunkte so schön zeigt wie von hier.

Ringsum herrschte Ruhe, keine Seele zeigte sich auf den einsamen schattigen Wegen des weiten Gartens, in dessen Mitte wir uns befanden, aber dennoch lenkten sich meine Blicke unwillkürlich nach den verschiedenen Bosketts, um irgendwo den Arm, das Kleid einer Haremsdame zu entdecken, oder nach den verschlossenen Pavillons, ob sie nicht doch noch von schönen Odalisken bewohnt seien. In einem derselben, der in üppigem Grün versteckt ist (vergl. Abbildung S. 246), wohnen ja noch heute die Witwen der Sultane.

In Wirklichkeit ist das Los der Sultansfrauen traurig, ebenso wie das der Tausende und aber Tausende ihrer Vorgängerinnen, und würden sie die Geschichte dieser Räume kennen, die mit blutiger Schrift auf jeder Mauer, jedem Stein geschrieben steht, sie würden das größte Elend dem traurigen Prunke vorziehen, der sie jetzt umgiebt. In denselben Räumen verbargen vielleicht in vergangenen Zeiten Sultanas ihre thränenden Augen in goldstrotzenden Kissen, um nicht ihre in Blut schwimmenden Kinder zu sehen, die auf Gebot des Großherrn in ihrer Gegenwart getötet wurden; in denselben Räumen wüteten die Janitscharen, rissen die Sultansfrauen bei den Haaren aus ihren Verstecken und stießen ihnen das Schwert in den Leib; in denselben Räumen herrschte inmitten der Pracht nur Neid, Haß und Eifersucht, und ein Augenblick des Wahnes wurde mit einem Leben voll Bitterkeit und Unglück bezahlt, das auch die kostbarsten Geschmeide, die feinsten Gewänder und ein Heer von Dienern nicht gutmachen konnte. Mahmud II floh diese herrlichen, verfluchten Räume und Sultan Abd-ul-Hamid II verlegte, wie schon oben erwähnt, seinen Wohnsitz noch weiter weg, in neue Paläste, in ein neues Serail. Wollte er hier ein neues Leben beginnen? Die Geschichte der letzten Jahre, die Niedermetzlung der Armenier, die fragwürdigen Zustände am Hofe des Sultans geben die Antwort. Oder trägt er keine Schuld daran? Ist er nicht selbst vielleicht der Sklave seiner Umgebung, der Sklave der Ueberlieferungen? In der modernen Zeit sind diese Ueberlieferungen aus der alten despotischen Zeit nicht mehr zu halten, und wie lange wird es dauern, bis das alte Serail ebenso verschwunden sein wird wie der griechische Kaiserpalast, aus dessen Trümmern es gebaut wurde! Dieselben stummen, unvergänglichen Steine, die den Griechen und den Osmanen gedient haben, werden vielleicht in nicht zu ferner Zeit neuen, der Humanität gewidmeten Bauten dienen, und den fremden Touristen, welche die herrlichste aller Städte im kommenden Jahrhundert besuchen werden, wird man nur noch die Stelle zeigen können, wo das alte Serail, die Residenz von fünfundzwanzig Sultanen, einstens gestanden hat.


Die Herstellung der Briefmarke.

Es giebt in der Welt kein weiter verbreitetes Wertpapier als jene kleinen bunten Zettelchen, mit denen der civilisierte Mensch seine Postbehörden für die schnelle und richtige Beförderung seiner Brief- und Paketsendungen bezahlt. Ihre Herstellung muß daher in den Kulturstaaten in einem um so größeren Umfange betrieben werden, als jede Marke sofort nach der ersten Benutzung entwertet wird, während andere Wertpapiere nacheinander in tausend Hände kommen, bevor die allmähliche Abnutzung sie diesem Dienste entzieht. Vor wenigen Jahren hatte die Post von Frankreich eine Jahreseinnahme von 135 Millionen Mark, die englische Post nahm 200, die deutsche 230 und diejenige der Vereinigten Staaten 285 Millionen Mark ein, die allenthalben durch den Verkauf von Briefmarken und sonstigen Postwertzeichen im Betrage weniger Cents oder Pfennige eingebracht wurden. Die Anzahl der Briefmarken, welche diesen ungeheuren Werten entsprechen, dürfte sich in den genannten vier Staaten auf zwölf Milliarden (12 000 000 000) Stück belaufen, von denen ein Dritteil auf die Vereinigten Staaten entfällt und jedes Jahr von neuem hergestellt werden muß. Die Herstellungskosten beliefen sich in dem letzteren Staatenverbande alljährlich auf 150000 Dollar (600000 Mark), in welcher Summe neuerdings noch eine Ermäßigung eingetreten ist, nachdem die Regierung der Vereinigten Staaten die Fabrikation ihres Markenbedarfs aus Privathänden in ihre eigene Verwaltung übernommen hat. Die bei dieser Gelegenheit eingerichtete und mit den neuesten technischen Fortschritten ausgerüstete Markendruckerei der Union ist es nun, von welcher wir unseren Lesern ein Bild geben wollen.

Vorher sei es jedoch gestattet, einiges über die ihren Zwecken aufs beste entsprechende Briefmarkenfabrikation der Deutschen Reichspost mitzuteilen.

Die Reichsdruckerei zu Berlin ist die Anstalt, in deren Räumen neben Reichskassenscheinen und Reichsbanknoten auch die Briefmarken das Licht der Welt erblicken. Wir sehen, nachdem wir uns die Erlaubnis zur Besichtigung der betreffenden Räume erbeten haben, zunächst die Maschine, in der das von den Rollen laufende Papier das stets wieder sichtbar zu machende geheime Wasserzeichen erhält. Daran reiht sich eine Gummiermaschine, ein Trockenraum, in dem die endlosen Papierstreifen mehrmals langsam hin und herlaufen, eine Maschine zum Glätten und endlich zum Aufrollen des noch immer im Ganzen befindlichen Papieres. Erst jetzt wird dasselbe in Bogen für je 400 Marken zerschnitten und geht unter die Markendruckmaschine, welche jedem Bogen, wenn er mit Zehnpfennigmarken bedeckt wird, einen Wert von 40, bei Zwanzigpfennigmarken aber von 80 Mark im Handumdrehen erteilt. Mit der Herstellung der meistbegehrten Zehnpfennigmarken ist eine Maschine tagaus, tagein vollauf beschäftigt. Aber die Marken sind mit dem Druck noch nicht zur Ablieferung fertig, es fehlt ihnen noch die Perforierung. Von Mädchen bediente Maschinen versehen die Bogen mit jenen Reihen kleiner Löcher, welche die einzelnen Marken voneinander trennen und das Abreißen erleichtern, dann werden die Markenbogen nebst dem Ausschuß zur Buchung abgeliefert. Eine möglichst weitgehende Arbeitsteilung, welche dasselbe Stück nacheinander durch viele Hände gehen läßt und eine starke gegenseitige Kontrolle zur Folge hat, ist die Vorbedingung, um bei der Fabrikation Unterschleife zu verhüten.

Doch wir kommen jetzt auf die neue Markenfabrik der Unionsregierung in Washington zurück.

Da auf die saubere und vollendete Ausführung des Markendruckes in den Vereinigten Staaten viel Wert gelegt wird – man betrachte nur die 1893 in ungeheuren Mengen in Umlauf gesetzten, hübschen Columbischen Marken, von denen jede einzelne ein kleines Kunstwerk des Kupferdruckes ist – so erfordert naturgemäß die Herstellung der Platten, von denen die Marken später abgedruckt werden, besondere Sorgfalt. Die Kupferplatten, welche beim Drucke als Matrizen dienen, sind mit der sauberen Gravur von je 400 in Reihen angeordneten Briefmarken bedeckt, deren Abdruck zunächst auf einen großen Bogen erfolgt, der dann wieder in vier kleinere Bogen, zu je 100 Marken, zerschnitten wird. Jede von den sechs Pressen, welche augenblicklich in der amerikanischen Bundesdruckerei im Betrieb sind, arbeitet mit vier Platten gleichzeitig, vermag also mit einem Schlage 1600 oder in jeder Minute 16000 Marken zu drucken. Arbeiten alle Pressen gleichzeitig, so können in jeder Stunde etwa 60000 und an jedem Tage 600 000 Bogen (zu je 100 Marken) hergestellt werden, die als Postwertzeichen die Kleinigkeit von 5 Millionen Mark darstellen. Allerdings wird selten mit solchem Hochdruck gearbeitet.

Auf den Pressen selbst nun gehen die verschiedensten Prozesse fast ohne Mithilfe des Arbeiters, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich. Eine „endlose“ Kette ergreift die Kupferplatte, schiebt sie unter eine mit Farbstoff (Karmin oder Ultramarin) imprägnierte Walze, und die Farbe ist in einem Augenblick über die ganze Platte verbreitet, welche sich bereits weiterbewegt und nun unter ein automatisch sich drehendes Reibekissen gelangt. Hier wird die Farbe in die gravierten Vertiefungen hineingerieben und, nach einem abermaligen Vorrücken der Platte, der Ueberschuß an Farbstoff durch einen Arbeiter mit einem geschickten Handgriff beseitigt. Auch zu dieser Manipulation giebt es nur einige Sekunden Zeit; schon wird die Platte weitergeführt und gelangt jetzt in die eigentliche Presse, wo ein Mädchen bereits einen Bogen ausgebreitet hat, der im nächsten Augenblick mit 400 überaus sauberen Markenabdrücken bedeckt ist. Da jede Maschine vier Platten besitzt, so spielen sich die geschilderten Prozesse in ununterbrochener Folge und mit bewunderungswerter [248] Schnelligkeit ab. Die Bogen werden den Arbeitern in bestimmter Anzahl zugezählt und kontrolliert; um Unterschleifen vorzubeugen, muß auch jeder Bogen Ausschuß abgeliefert werden.

Natürlich ist die Herstellung der Marken mit dem bloßen Druckprozeß noch nicht erschöpft. Frisch, wie die Bogen aus der Presse kommen, wandern sie zu Haufen, zwischen Pappen einzeln ausgebreitet, unter eine hydraulische Presse, aus der sie glatt und gerade wieder hervorgehen. Und nun wird die Wanderung in eine Reihe weiterer Maschinen schleunigst fortgesetzt. Von Mädchen hintereinander, und zwar mit der Bildseite unten, auf ein endloses Tuch gelegt, gleiten die Blätter zunächst zwischen Walzen hindurch, deren obere, stark erwärmt und mit Klebestoff versehen, eine dünne Gummischicht über die Rückseite der Marken ausbreitet; ohne Aufenthalt geht es weiter, durch den Bereich eines elektrischen Ventilators, der die feuchten Bogen trocknet, und in die Hände eines Arbeiters; dieser häuft die ihm zugeführten Bogen in Stöße und übergiebt die letzteren abermals einer hydraulischen Presse zum Glätten. Nachmals müssen nun die Bogen einzeln vorgenommen werden und gelangen in die Perforiermaschine. Endlich geht der Bogen noch über ein Messer, das ihn in vier kleinere Bogen à 100 Marken zerschneidet, und jetzt erst kann das Sortieren und Verpacken zu Bündeln von je 100 Bogen oder 10 000 Marken erfolgen. 400 000 solcher Bündel verlassen in jedem Jahre die Briefmarkendruckerei der Vereinigten Staaten; die Kosten, welche ihre Herstellung verursacht, belaufen sich auf 416 000 Mark. so daß die Anfertigung von je hundert Briefmarken einen Pfennig kostet. Gegen die frühere Herstellung in Privatwerken werden jetzt etwa 200 000 Mark im Jahre gespart. Bw.     


Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (7. Fortsetzung.)

Auf der Landstraße fährt ein Wagen, eine altmodische Kalesche mit Halbverdeck, plump und schwer wie man sie jetzt nicht mehr baut. Davor gespannt sind zwei dicke wohlgenährte Ackerpferde, braun und glänzend wie die Kastanien; der Lenker ist ein Knecht im Sonntagsstaat, nur die Mütze mit einer Silbertresse giebt ihm ein wenig das Ansehen eines Herrschaftskutschers; neben sich hat er einen Reisekorb und einige Schachteln und Taschen. Im Fond des Gefährts sitzen zwei Frauen, die Pastorin aus Wartau und Christel Mohrmann; sie haben sich die Hand gegeben und sprechen kein Wort, aber sie sehen sich mitunter an, und dann lächeln sie trübe.

Es ist ein Tag in der Mitte des Oktobers; die Obstbäume an der Chaussee sind ihrer Früchte beraubt und die Felder liegen kahl. Im Walde, an dessen Grenze sie eine Strecke lang dahinfahren, ist das Laub schon im Verfärben, glühendrot hängt die Eberesche an den Zweigen. Weit in der Ferne zieht sich das Gebirge hin, blau verschleiert, und hier und da brennt auf den Aeckern ein Kartoffelfeuer, und sein opalfarbener Rauch erfüllt die Gegend mit scharfem brenzligen Geruch.

Die dicken Gäule bringen mit ihrem gemütlichen Trab den Wagen doch endlich dem Ziele näher. Als sie ihn eine Anhöhe hinangeschleppt haben, sagt Christel zu der Schwester: „Dort drüben liegt Bärenwalde, Lotte, und das spitzige Dach nicht weit von der Kirche, das ist der Rödershof!“

Die Pastorin nickt. „Wie hübsch das Dorf daliegt, Christel, und wie stattlich! Die Gegend ist überhaupt schöner als bei uns, wo alles so flach und eben aussieht.“

„Ja, es ist schön hier und einsam, das Nest liegt ja weit genug ab von der großen Heerstraße. Freilich, solchen Boden wie Wartau giebt’s hier nicht, aber dann hätte ich den Rödershof auch nicht bezahlen können, Lottchen. Das dort sind meine Felder,“ sie deutet nach links hinüber, „und wenn ich vom Hofe hinaustrete, bin ich gleich auf eigenem Grund und Boden. Haben wir morgen schön Wetter, dann fahre ich dich hinaus, Lottchen.“

Die Pastorin nickt stumm; sie streift mit einem ängstlichen Blick die Schwester. Diese hat so etwas Stilles, so Strenges in den Augen, ihr Gesicht ist schmal geworden und in dem blonden Scheitel schimmern bereits einige weiße Haare. Wie muß sie sich gegrämt haben, die arme; ihr Schicksal war freilich auch danach.

Der Wagen fährt jetzt auf der Dorfstraße dahin; die Kinder, die eben aus der Schule kommen, schreien Christel ein „Daag!“ zu und die Weiber reißen die Fenster auf und sehen hinterher – die Rödersche hat ja wahrhaftig Besuch! Bis jetzt haben sie alle gemeint, die stehe allein in der Welt; keine Katze ist bei ihr gewesen, geschweige denn wer von der Verwandtschaft oder Freundschaft, so lange sie den Hof hat, und das war im verwichenen August ein Jahr.

Nun ist das Gefährt in einenn Thorbogen eingelenkt, den zwei plumpe Sandsteinpfeiler in der Mauer bezeichnen, und durchmißt einen Baumgarten, der das Haus umgiebt, einen alten Fachwerkbau, dessen hohes spitzes Dach über die beiden großen Linden hinausragt, die zur Seite der Hausthür stehen. Es ist kein Bauernhaus, dieses ziegelgedeckte sturmfeste Gebäude, es hat vielmehr einen herrschaftlichen Anstrich und sieht fast malerisch aus. Vor Jahren war Rödershof ein Vorwerk der großen Rüstorffschen Güter und fiel bei der Erbteilung einer älteren Schwester zu, die sich dieses Haus hinstellte, um ihre einsamen Tage hier zu beschließen. Laut der über der Hausthür angebrachten Jahreszahl ist es einhundertundsechsunddreißig Jahre alt.

Die Pastorin sieht ganz erstaunt auf dieses stattliche Anwesen, sie hat sich das alles so anders vorgestellt und sich Christel in einer Bauernkate gedacht, alle die Tage her, seitdem sie schrieb: „Ich habe mit meinem Kapital, das der Anwalt mir auszahlte, ein kleines Gut gekauft, so eins, das man hierorts ‚Klitsche‘ nennt; sobald ich eingerichtet bin, müßt ihr mich besuchen.“

Ein Mädchen in weißer Schürze und mit freundlichem jungen Gesicht ist jetzt aus der Thür getreten, heißt die Aussteigenden willkommen und wird der Pastorin vorgestellt: „Das ist Marie, Wirtschafterin, Köchin und Stubenmädchen in einer Person, liebe Lotte; und nun tritt ein, Schwester! Nicht wahr, Marie, das Mittagsessen ist bald fertig? – Geh nur in die Küche, ich besorge sonst alles und zeige meiner Schwester auch die Fremdenstube.“

Sie sind eine stattliche breite, aus Eichenholz gefügte Treppe emporgestiegen. Die Stufen sind in der Mitte schon ausgetreten, aber die dicken Säulen des Geländers könnten erst gestern fertig geworden sein, so unverändert und fast wie neu schauen sie aus. Der Vorsaal droben ist groß und geräumig; die Thüren aus Eichenholz, mit einfachen Zieraten versehen, vermutlich von derselben Künstlerhand, die das Treppengeländer schnitzte. Eine altmodische, sehr schadhafte, mit modernen Fetzen ausgebesserte Tapete bedeckt die Wände, der Boden ist mit Gips ausgegossen und ebenfalls stark ausgetreten. Aber trotzdem mutet es heimelig an; die Balken an der Decke sind so breit und ungefüg, sie scheinen zu sagen: wir sind stark, wir können schützen und decken vor Wetter und Unbilden, wer unter uns wohnt, hat Frieden.

Die Pastorin fühlt so ähnlich, indem sie sich umsieht. Christel öffnet eben eine Thür zur rechten Hand, der Gast tritt in das einfache Zimmer, und hier innen küssen und umarmen sich die zwei Schwestern zum erstenmal wieder, seitdem Christel ohne Lebewohl von Wartau gegangen ist.

„Hab’ Dank, daß du gekommen bist, Lotte, ich hatte so rechte Sehnsucht! Aber, siehst du, ich kann ja doch nicht zu euch.“

„Nein, Christel, nein, das kannst du nicht. – Robert läßt dich grüßen, er und die Kinder. Gottlob, daß ich dich gesund wiedersehe; wie haben wir doch immer mit Sorgen an dich gedacht, alte gute Christel!“

Christel geht nicht darauf ein; sie küßt nochmals die Schwester. „Mach’ dir’s bequem, und dann komm’ herunter! Linker Hand ist die Wohnstube; du mußt bald etwas Warmes essen, Lottchen.“ Dann ist sie gegangen und die Pastorin allein. Sie steht und sieht sich mit feuchten Blicken um. „Lieber Gott,“ sagt sie, „so allein in diesem weltvergessenen Winkel! Und sie konnte doch früher nicht leben ohne jemand zu haben, für den sie sorgte und schaffte. Doch wie nett sie es hier sich gemacht hat trotz alledem! Da ist ihre alte Kommode, die sie als Mädchen schon hatte, und dort der Spiegel, den sie von Mutter als einziges sich ausbat, als sie Hochzeit hielt; alles andere hat sie von ihren Spargroschen angekauft,

[249]

Erste große Wäsche.
Nach einer Originalzeichnung von E. Wagner.

[250] gekauft, das ganze bißchen Ausstattung. Das steht ja wohl nun unten, denn das hat sie ja auch zurückbekommen mit ihrem kleinen Vermögen – möcht’ wissen, ob er ihr dafür Zinsen gezahlt hat! Ihr Geld war ja doch der Grundstein seines jetzigen Wohlstandes. Ach, ich möchte vieles wissen, aber fragen kann man sie doch nicht danach.“

Sie streicht sich seufzend über den braunen schlichten Scheitel und geht dann nach unten. Als sie in das Wohnzimmer tritt, deckt Christel eben den Tisch; sie ist in einer großen leinenen Schürze und in einem sehr einfachen grauen Lüsterkleid. „Du mußt wirklich recht vorlieb nehmen,“ sagt sie mit frischer Stimme, „bist bei einer einfachen Bauernfrau, Lottchen, aber deinen Lieblingsbraten bekommst du doch; Nachbar Wendlandt hat Hühner geschossen.“

Es ist ein großes Zimmer mit alter, schon vielfach ausgebesserter Vertäfelung an den Wänden und mächtigem Balkenwerk unter der Decke. Um den riesigen Kachelofen von grüner Farbe – das einzige, was Christel für ihr eigenes Behagen angeschafft hat – zieht sich eine Ofenbank wie in einer richtigen Bauernstube. Er ist ein wenig angeheizt, und das macht es sehr gemütlich in dem niedrigen Raum. Die getäfelte Diele ist spiegelblank und Christels alte Möbel stehen wirklich hier unten, auch der Raritätenschrank, den sie als Mädchen schon besaß; sie sehen ganz stattlich aus. Ein paar Familienbilder hängen oberhalb der Vertäfelung an der einfach weiß getünchten Wand; in der tiefen Fensternische steht der Nähtisch, und über ihm hängt der Vogelbauer mit einem lustigen, goldgelben Mätzchen. Durch die mit einfachen Gardinen verhängten Fenster scheint die blasse Oktobersonne.

Marie kommt eben mit der Suppenschüssel. „Heute wird’s der Frau aber schmecken,“ sagt sie lächelnd, „wo sie nicht allein am Tische zu sitzen braucht; da wird die Frau auch nicht so schnell fertig sein wie sonst, wo man meint, es sei gar nicht möglich, daß sie gegessen hat.“

„Ja,“ nickt Christel, „das kannst du erleben, daß ich heute länger sitzen bleibe. Komm’, Lotte,“ und hinter ihren Stuhl tretend, spricht sie das Tischgebet.

Der Pastorin stehen schon wieder die Thränen in den Augen. „Ganz allein sitzt du hier beim Essen?“ fragt sie.

Christel bejaht. „Mittags immer.“

„Ach Gott, ach Gott, wie hältst du das nur aus, Christel? Mir schmeckte so allein kein Bissen.“

Christel sieht sie an. Ich habe Schwereres ausgehalten, sagen ihre Augen.

„Es ist nicht so schlimm, Lottchen,“ tröstet ihr Mund, „versalze dir die Suppe nur nicht mit deinen Thränen.“

Aber die Pastorin schluchzt immerfort, und endlich, als man beim Nachtisch ist, der aus Eierkuchen und geschmorten Pflaumen besteht, bricht sie in die Worte aus: „Warum bist du denn nicht lieber in Dresden geblieben und lebst von deinen Zinsen? Konntest ja Zimmer vermieten, oder so was? Großer Gott, Christel, hier mußt du ja tiefsinnig werden!“

„Lotte, du weißt ja gar nicht,“ sagt die Schwester, und sie legt den Löffel auf den Teller und schiebt diesen langsam zurück, „du weißt ja nicht,“ wiederholt sie, „wie ich mich gesehnt habe nach diesem Alleinsein, nach Luft, nach Arbeit, nach so viel Arbeit, daß ich gar nicht zum Denken kommen kann. Ich sollte da in Dresden müßig sitzen in einer Mietswohnung, ich, die, seit ich erwachsen bin, immer auf dem Lande war? Ich sollte da müßig sitzen, in einer engen Stube, ich, die überhaupt nur ruhig werden kann unter Gottes freiem Himmel, die ich keinen Atem kriege vor Bangigkeit beim Müßigsein?“

Sie ist ganz rot geworden; sie steht auf, stößt den Stuhl zurück und reckt die Arme, als müsse sie sich wehren gegen jemand, der sie in diese Mietswohnung schleppen will. „Lotte, bedenke doch,“ fährt sie fort, „wie ich an das Wirtschaften gewöhnt bin! In meiner Sehnsucht, in meinem Gram, da bin ich immer nur hinausgeflüchtet aus der Stube, bin umhergewandert in der Umgebung Dresdens, alle Tage, meilenweit. Nur keinen Menschen sehen, nur Einsamkeit, Luft! Und dann kam der Tag, wo die Gerichte uns endgültig losgesprochen hatten voneinander, und da, an dem nämlichen Tage kaufte ich mir ein Billet und fuhr ein Stück vom Böhmischen Bahnhof aus. Ich nannte eine Station, ein kleines Städtchen an einer Zweigbahn, von dem ich kürzlich hatte sprechen hören. Der Zufall fügte, daß auch gerade ein Zug dorthin abging. Bis ans Ziel fuhr ich gar nicht mit, in Dittsdorf stieg ich aus und lief auf gut Glück die Chaussee nach Bärenwalde zu. Wie ich da mitten im Dorfe stand, wurde mir so elend zu Mute, ich bekam starkes Kopfweh mit Schwindel und sah mich nach einer Bank um, wo ich ausruhen könnte. Das Thor zu dem Rödershof stand offen und ich schleppte mich bis hier herauf, nach der Bank unter der Linde; und da saß ich und saß, bis es dämmerig wurde, kein Mensch kam, alles öde, das Gehöft war wie ausgestorben. Endlich ging ich in die Hausthür hinein und fand eine alte Frau in der Küche, die Kartoffeln schälte, die übrigen Hausgenossen und das Gesinde war wohl auf den Feldern. Sie ließ ihre Arbeit, führte mich in diese Stube und holte mir ein Glas Milch, um das ich bat; dann setzte sie sich in den Lehnstuhl und klagte mir sehr geschwätzig, daß alle ihre Kinder in die Stadt gezogen seien, keins wolle den Bauern spielen, und ihre jüngste Tochter habe sich nun auch vor acht Tagen mit einem Lehrer in Dresden verlobt. Wenn sie den Hof nur erst verkauft hätte, sie wolle es in die Zeitung setzen lassen.

Ach, und es war so still hier und so friedlich, und die Alte weinte so heiße Thränen um ihr schönes Gütchen, auf dem sie so glücklich gewesen, lange Zeit. Es überkam mich gleich eine starke Sehnsucht, hier zu bleiben. Ich fragte nach diesem und jenem, und die Frau zeigte mir eifrig das Anwesen. Das alte Haus gefiel mir so gut mit seinem herrschaftlichen Anstrich, den acht großen Stuben und Kammern, dem Bodenraum und den tiefen Kellern. Daß hinter den Eichentäfelungen die Mäuse raschelten, das störte mich nicht, und ebensowenig der vernachlässigte Fußboden und die ausgetretenen Treppenstufen. Ich hatte nur den Eindruck, als könnte man hier geborgen sein vor allen Stürmen. Ich mußte auch den Hof, die Stallungen sehen; das war alles nicht so recht in Ordnung, aber der Viehstand nicht schlecht. Und da kam mir immer stärker der Gedanke, hier hinein möchtest du dich flüchten, und so unabweisbar wurde diese Vorstellung, so überzeugend, daß ich die alte Frau bat, vorerst noch nichts in die Zeitung zu setzen, ich wollte mir’s überlegen, ob ich das Gütchen nicht an mich bringen könnte. Ich habe dann mit dem Doktor gesprochen, und er und mein Anwalt sind mit hinausgefahren, haben gesehen, Erkundigungen eingezogen, und so ist’s gekommen. Wenn etwas mich aufrecht erhält, Lotte, dann ist’s meine altgewohnte Arbeit, und nun gräme dich nicht um mich, du hast selbst genug Sorgen,“ schließt sie und bringt dem Vogel ein Blättchen Salat.

„Aber Robert meint, so ein kleines Gut wirft gar nichts ab, und du könntest dabei nicht bestehen,“ beginnt kleinlaut die Pastorin von neuem, „und die Unbotmäßigkeit der Leute –“

Christel lächelt. „Ich will freilich keine Schätze sammeln, Lotte; frag’ Robert, ob er denn so wenig die Christel noch kennt! Ich habe, denk ich, Talent, auszukommen und zusammenzuhalten, und Aerger mit den Leuten, Lotte, den giebt’s nicht bei mir; du weißt ja, ich kann allerwege gut mit ihnen auskommen. Zuerst haben sie freilich im ganzen Dorfe gelacht, und meine Knechte mit, über das ‚Weibsen‘, das den Bauern spielen will; dann merkten sie, daß ich’s verstand; jetzt kommen sie schon zu mir und fragen mich um Rat. Nein, Lottchen, sorge dich nicht, und nun halt ein wenig Mittagsruhe; wenn ich zur Vesperzeit vom Hofe hereinkomme, weck’ ich dich, und dann habe ich einige Stunden Zeit zum Schwatzen bis gemolken wird, und du erzählst mir von daheim.“

Als gegen fünf Uhr das Kaffeegeschirr abgeräumt ist, sitzen die Schwestern zusammen auf dem Sofa und die Pastorin beginnt ihren Bericht. Sie spricht von ihrem Manne und von sich, von der Verlobung ihrer Aeltesten, und wie ihnen die Beschaffung der Aussteuer so schwer werde; sie spricht von der Schwester, die noch immer böse ist auf Christel und auch auf Pastors, weil – nun ja, sie ist eben böse. Sie meldet die Ereignisse von jeder einzelnen Familie in Wartau und weiß ganz wunderliche Auswege zu finden, wenn sie einmal der Pfad der Rede auf Schloß Wartau zuführt; sie redet zuletzt schon von der ganzen Nachbarschaft, und Christel hört stumm zu.

Endlich schweigt die Pastorin, und da fragt Christels verschleierte Stimme durch die Dämmerung: „Warum sagst du [251] gar nichts von ihm, Lotte? Ich möchte doch wissen, wie es ihm geht und ob er glücklich ist.“

„Du willst – von ihm – von Mohrmann?“ sagt die Schwester.

„Ja, Lotte! Ich denke ja fortwährend an ihn; ich gehöre nicht zu denen, die da verächtlich thun, wenn ihnen ein Leid geschah durch den Mann, den sie lieben, so als ob sie ihn haßten und ihn eigentlich all ihr Lebtag nicht gemocht hätten. Ich gestehe dir ganz offen, jede Minute meines Lebens ist er mir gegenwärtig, ich denke immer, ob er denn glücklich ist und gut versorgt. Also sprich nur ruhig von ihm, Lotte!“

„Du lieber Gott,“ seufzt die Schwester. „So bist du nun, und er, der weiß ja wohl gar nicht mehr, daß du existiert hast –“ will sie sagen, verschluckt es aber. „Was soll ich da reden?“ fragt sie dann, „das thut dir ja nur weh; laß uns lieber –“

„Mir thut noch weher, gar nichts mehr von ihm zu hören,“ antwortet leise die einsame Frau.

„Na, wie du willst. Er hat sie also geheiratet, das Fräulein Edith; sie haben den Superintendenten aus der Stadt gebeten, sie zu trauen, weil sie natürlich Robert nicht darum angehen konnten. Es ist eine kleine Hochzeit gewesen, ich glaube, nur die Altwitzens und ein paar Freunde der alten Fräuleins als Trauzeugen. Sie sind auch nicht in die Kirche gekommen; im großen Saal ist die heilige Handlung vollzogen worden, na – das ganze Schloß ist ja umgebaut und restauriert, die Heine sagt: ,feenhaft!’ Aber es hätte auch ’nen Groschen gekostet – Fräulein Tonette hat alles angegeben. Der Brautstand soll ja so ein bißchen sonderbar gewesen sein, und jetzt sieht man das Ehepaar auch nicht viel zusammen. Die junge Frau fährt jeden Tag hoch vom Bock ihren Dogcart, hinten auf den Diener. Sie haben natürlich, als sie von der Hochzeitsreise kamen – ja so! – Also, denke dir, diese Edith hat doch zu sonderbare Ideen: ließ sich in einem schwarzen Sammetkleid trauen, so’n junges Ding! Und dann gingen sie nach Venedig und da herum. – Siehst du, darüber habe ich mich auch so geärgert, Christel, mit dir ist er nie gereist, aber da kommt nun so eine kleine Gans und –“

Christel hat ganz stumm gesessen; jetzt legt sie beschwichtigend die Hand auf den Arm der Pastorin. „Wenn sie ihn nur glücklich macht, Lotte, das andere, das ist – – weißt du davon nichts?“

„Nein, das weiß ich nicht, natürlich nicht. Wer kann in einen Menschen hineinsehen, Christel? Er kommt mir sehr ernst aussehend vor, und die Heine sagt, er wäre nicht mehr so freundlich wie früher. Aber natürlich – jetzt, da soll er ja strahlen, jetzt, wo der Bube da ist, der – der –“

Sie hält erschrocken inne, denn die Schwester ist emporgeschnellt, wie vom Biß einer Schlange.

„Um Gotteswillen,“ schreit die nervöse Pastorin, „was ist dir denn?“ Aber Christel antwortet nicht, nur so ein dumpfer Laut kommt aus ihrer Kehle, und im nächsten Augenblick ist sie in die Schlafstube verschwunden und schließt hinter sich zu.

„Ach du liebe Zeit,“ jammert die Zurückbleibende leise, „hätt’ ich doch nur gar nicht gesagt, daß sie ein Kind haben auf dem Wartauer Schloß! Da thut sie so still und vernünftig, und nun fällt sie wohl gar noch in Ohnmacht. Christel!“ ruft sie an der Thür, „Christel, mach’ auf! Sei doch vernünftig, Kind!“

Aber Christel hört es gar nicht; sie sitzt in dem alten Sessel vor ihrem Bette und beißt die Lippen sich blutig und will mit schluchzender Seele Herr werden über ihr armes hungerndes neidisches Herz. Nicht in der Stunde, da sie den unseligen Brief las, nicht in der, wo sie Wartau verließ für immer, hat sie diesen heißen Schmerz empfunden wie jetzt. Ach, sie ist so schlecht, so schlecht, sie gönnt der andern nicht das Glück! Sie möchte sterben in diesem Augenblick! Sie will nicht weiter leben in dieser Oede, sie ist ja gar nicht so stark wie sie thut, ist gar nicht so resigniert wie sie selber geglaubt; sie ist ein einsames, elendes verstoßenes Geschöpf!

Und so sitzt sie lange, lange, nichts weiter fühlend als den heißen brennenden Schmerz in ihrer Seele.

Dort an der Thür klopft es jetzt mit hartem Finger. „Die Abendmilch ist herein!“ schreit Marie.

Christel taumelt empor und kühlt die Augen mit Wasser, und streicht das verwirrte Haar. „Weiter!“ sagt sie, „immer weiter, so lange es geht, aber – wozu eigentlich?“ Und als ihre Arbeit im Milchkeller gethan ist, wirft sie ein Tuch über den Kopf und wandert über den Hof ins Freie hinaus, und dort steht sie unbeweglich und sieht zum Himmel empor, an dem Millionen Sterne funkeln. Und da erst kommt allmählich ein wenig von ihrer alten Ergebung und Demut zurück.

Als sie zurückkehrt, ist sie äußerlich so ruhig wie immer, aber ihre Augen sind heiß vom Weinen, und an den Schläfen schimmern dunkelblau die Adern.

„Verzeih mir, Lottchen,“ bittet sie, „ich hatte – mir war auf einmal so schlecht geworden. Und nun erzähle mir noch rasch – ist die junge Frau gesund? Und wie alt ist denn jetzt der Junge?“

Die Pastorin streichelt ihr die Hand. „Zehn Tage just,“ sagt sie mitleidig, „und sie sind alle putzmunter. Und nun laß doch, Christel!“

„Ach nein, ich bin ja wieder ganz wohl, Lotte; hast du gehört, wem er ähnlich sieht?“

„Ihm nicht! meint der Doktor; schlägt in die Wartausche Familie, und aufgezogen wird er wie ein Prinz. Eine Amme haben sie, und eine Kinderfrau, und Fräulein Tonette thut, als sei sie die leibhaftige Großmutter – na, überhaupt – – ich kenne ja Mohrmanns Vermögensverhältnisse nicht so genau, aber er muß sehr reich sein, wenn er das Leben aushalten will, wie er es jetzt führt.“

Christel sieht sie ganz erschreckt an. „Ach ja,“ sagt sie, „er kann’s schon aushalten, Lotte, aber – er ist doch sonst so einfach und so sparsam.“

„Er – ja! Aber die Damen! Ach, geh’ her, Christel, laß uns von andern Dingen reden, bitte, bitte! Was kümmern dich die Wartauer noch? Ich habe mir, indes du draußen warst, das Haus angesehen; es ist so nett altmodisch, aber die drei schönen großen leeren Zimmer droben thun mir leid; du hast ja nur diese zwei hier unten eingerichtet außer der Gaststube?“

„Ja! brauchte ich denn mehr, Lotte?“

„Nein, du nicht, aber –. Ich wüßte schon was ich thäte, Christel, ich nähme mir junge Mädchen ins Haus und lehrte sie die Landwirtschaft! Da hättest du noch viel mehr Arbeit und wärst nicht so allein, dächtest nicht soviel an Vergangenes und überhaupt –“

Christel sieht nachdenklich an der Schwester vorüber, dann schüttelt sie den Kopf. „Ich habe meine Einsamkeit lieb; laß sie mir, Lotte.“

„Aber es brächte was ein, Christel.“

Da sieht Christel sie wieder an mit dem wehen Blick von vorhin. „Wozu? Ich habe genug für mich – allein.“




Am folgenden Tage lernt Frau Pastorin die Wirtschaft kennen, fünfzehn schmucke Kühe, vier Pferde, dazu Schweine, Hühner, Enten, Gänse, und die Scheuern und Kornböden wohlgefüllt. Auf der Tenne wird noch nach alter Art mit dem Flegel gedroschen, der Dreischlag klingt anheimelnd über den stillen Hof. Die Gespanne sind auf dem Felde, im Milchkeller schlägt Christel selbst die Butter aus; der Buttermann sitzt schon droben im Hausflur und wartet auf die herrliche frische Ware.

Rödershof-Butter ist so beliebt, versichert er, er könne gar nicht genug schaffen. Ein Schock Eier nimmt er obendrein mit; er bezahlt bar und Christel streicht gelassen das Geld ein.

Die Morgenmilch wird verbuttert; die Mittags- und Abendmilch geht in großen wohlversicherten Blechkannen nach Dresden. Christel erklärt der Schwester dies mit matter Stimme; sie hat die Nacht wenig geschlafen, auch ihr Aussehen und ihre Bewegungen sind müde.

„Bist du krank?“ fragt die Pastorin.

„Warum denkst du das?“ fragt Christel.

„Ich meine nur so – gestern warst du anders.“

„Das machte die Freude, dich zu sehen, Lottchen,“ weicht Christel aus. „Ich bin ganz gesund, ganz gesund!“ Und sie holt ihre Bücher und zeigt der Schwester, daß sie trotz allem schweren Anfang schon einen kleinen Ueberschuß hatte im letzten Jahre.

„Ach, mein liebes Christel,“ beginnt die Pastorin wieder, [252] „das ist ja alles recht gut und schön, aber daß du nachher gar so einsam bist, wenn du dich müde geschafft hast, das ist mir ein trauriger Gedanke.“

„O, ich habe auch Verkehr,“ lächelt Christel, „könnte ihn wenigstens haben. Pastors sind nette Menschen und Oberförsters auch, und der Gutsbesitzer Wendlandt ist ebenfalls ein ganz gebildeter Mann, leider ist seine Frau gestorben, kurz bevor ich herkam. Diese Leute alle fordern mich immer so freundlich auf, sie zu besuchen, kommen auch manchmal zum Nachfragen her, und später, wenn ich erst so recht in der Reihe bin mit der Wirtschaft, dann halte ich vielleicht mit; sie haben nämlich so eine Art Kränzchen. Jetzt überfällt mich noch immer gerad’ unter frohen Menschen mein Unglück so schwer, ich werde dann nur immer stiller. Nein, sorge dich nur nicht, Lotte: ich halte mir jetzt auch wieder unsere alte liebe ‚Gartenlaube‘ und lese auch sonst, sogar gelehrte Sachen. Ja, du wirst dich wundern, Lotte,“ und sie holt ein Buch vom Gesims der Vertäfelung, „da schau: ‚Die Königin des Tages‘ von M. W. Meyer. Ach du, da lernt man sich klein fühlen und seinen Schmerz als unbedeutend erkennen der großen unendlichen Schöpfung Gottes gegenüber.“

„‚Die Sonne und ihre Planeten, populäre Vorträge‘,“ liest verwundert Frau Pastorin. „Das hätte ich dir nie zugetraut, Christel!“

Christel lächelt und beginnt eben die Einnahmen und Ausgaben des Tages in ihr Buch einzutragen. Dann deckt Marie den Tisch zum Abendessen, ein Knecht schlägt draußen die Läden vor die Fenster, es ist so traut, so heimelig hier innen beim Lampenschein am warmen Ofen und der tickenden Schwarzwälder Uhr an der Wand.

Marie setzt vier Teller auf den Tisch. „Du mußt entschuldigen, Lotte,“ sagt Christel, „der Meier ißt abends hier mit, und die Marie auch, sie müssen etwas voraus haben vor den zwei Knechten und der Stallmagd,“ setzt sie erklärend hinzu, „wegen dem Ansehen, dem Respekt.“

Ein alter Mann von ungefähr sechzig Jahren tritt dann ein und setzt sich nach dem Abendgebet mit herzu; Marie, die eine Schüssel neuer Kartoffeln, sowie Hering, Schinken und Bier aufträgt, nimmt ebenfalls ihren Platz ein. Zuerst ist es ganz stumm am Tische, die Leute essen langsam und schweigend; ab und zu richtet Christel ein freundliches Wort an die Pastorin.

Als endlich der alte Mann gesättigt ist und sein Bier mit einem langen Zuge ausgetrunken hat, sagt er kurz: „Die Kartoffeln sind aufgeschlagen um fünfundzwanzig Pfennige, Frau.“

„Dann wollen wir sie hingeben, Hoch.“

„Die Frau hat wieder mal recht gehabt, als sie noch warten wollte,“ antwortet er, „hätt’s nicht geglaubt, daß sie heuer so gut in Preis kommen, die Kartoffeln. Wann soll ich sie hinüberfahren, Frau?“

„Nächste Woche, in den ersten Tagen. Das Fohlen kann mitlaufen bis Dittsdorf.“

„Verkauft, Frau?“

„Ja, heute früh an Reinhardt.“

„Ordentlich was gekriegt, Frau?“

„Mehr als Sie prophezeiten,“ lächelt Christel.

Der lächelt auch, ein listiges, schlaues Lächeln, das in diesem Fall besagen will: die läßt sich nicht ausfragen, alter Schwede, spar’ deine Mühe! Er erhebt sich und sagt: „Gute Nacht, beisammen!“

„Gute Nacht, Hoch!“

Und nun geht auch Marie, nachdem sie den Tisch abgeräumt hat, kommt aber wieder mit einem großen Korb voll Handarbeiten und setzt sich mit an den Tisch.

„Für die Dorfbewohner zu Weihnacht,“ erklärt Christel und beginnt eifrig zu nähen. „Du kannst heute abend zu deiner Pate gehen,“ sagt sie dann zu dem Mädchen, „um zehn Uhr bist du wieder daheim.“

„Dank schön, Frau!“

„Wie komisch die Anrede klingt,“ bemerkt die Pastorin, als das Mädchen sich entfernt hat.

„Ja, wie sollen sie mich denn aber nennen, Lotte? Frau Mohrmann? – Das kann ich nicht hören, und beim Vornamen will ich mich doch nicht rufen lassen von meinen Leuten.“

„Ja, du hast recht, Christel.“

Und nun sprechen sie noch von ihrer Kinderzeit, nur Wartau vermeiden sie.

Gegen Acht schlägt der Metallklopfer der Hausthür auf seine Platte, Christel erhebt sich und verläßt die Stube. Die Schwester hört, wie sie im Flur öffnet und wie eine Männerstimme fragt, ob man nicht störe. Gleich darauf tritt Christel wieder ein, hinter ihr ein großer schlanker Mann, so um die Fünfzig herum, mit stillem, aber intelligentem Gesicht, der sich etwas unbeholfen vor der Pastorin verbeugt.

„Liebe Lotte, das ist Herr Gutsbesitzer Wendlandt, mein Nachbar. Setzen Sie sich doch, Herr Wendlandt, und – womit kann ich dienen?“

Der Angeredete wird verlegen. Er habe keinerlei Anliegen, sei nur da vorübergegangen und die Lampe habe so freundlich durch die Ausschnitte der Läden geblickt; da habe er gedacht, die Frau Nachbarin sei just so allein wie er und freue sich vielleicht über eine Ansprache.

Christel sieht den Mann groß und zerstreut an, aber sie antwortet keine Silbe. Die Pastorin blickt von einem zum andern und plötzlich ist sie mit ihm im Gespräch. Er erzählt vertrauensvoll alle seine Schicksale – vier Kinder sind ihm gestorben, und zuletzt auch die Frau im Wochenbette, das Würmchen aber lebt. Es sei traurig in einem Hause, wo die Frau fehle.

Christel verläßt einen Augenblick die Stube, die Blicke des Mannes folgen ihr; als sie wiederkommt, trägt sie Bier und Gläser. Es ist mal so auf dem Lande, die Gastfreundschaft muß bewirtet werden. Sie hört gerade noch, wie er sagt: „Ja, die Frau Mohrmann – das ist ’ne Frau!“

Mit einem eigenartig kühlen Zug um den Mund bietet sie die Erfrischung an und bringt dann das Gespräch auf unpersönliche Dinge. Die Pastorin ist ganz erstaunt, wie der einfache Mann erzählen kann. Er ist dazumal vor Paris verwundet worden, hat lange gemeint, seinen Gutshof nicht mehr wiederzusehen, so schwer lag er danieder. Er spricht über Politik und über Steuern, über die schlechte Lage der Landwirtschaft wie ein Buch. Ab und zu sagt Christel ein Wort dazu, und als es zehn Uhr schlägt, erhebt sich der Gast.

„Wenn Sie mir erlauben wollten, wieder einmal abends vorzusprechen,“ sagt er zu Christel an der Hausthür, als er ihr zur „Gute Nacht“ die Hand schüttelt.

„Ach, lieber Wendlandt,“ antwortet sie, „ich bin noch nicht heraus aus meiner Trauer. Sie wissen wohl, ich habe meinen Mann verloren, anders wie Sie Ihre Frau, aber doch verloren, und ich weiß, ich werd’ mich nie davon erholen. Es giebt so viel lustige Menschen auf der Welt, gehen Sie zu denen – ich bin eine müde, traurige, einsame Frau und tauge nicht zum Schwatzen und Gemütlichsein – – nehmen Sie es mir nicht übel, ich spreche wie es mir ums Herz ist.“

Er läßt ihre Hand nicht los. „Nein, nein,“ murmelt er, „auch Sie müssen wieder anders ins Leben sehen, auch Sie, Frau Nachbarin!“

Aber sie entzieht ihm die Rechte gewaltsam. „Geben Sie acht, Herr Wendlandt, die Stufen sind ungleich und es ist dunkel,“ sagt sie herb, „Gute Nacht!“ Rasch und heftig schließt sie die Thüre hinter ihm und stößt den Riegel vor, daß es schallt. Mit großen unruhigen Augen kommt sie ins Zimmer zurück. Die Pastorin sitzt da und lächelt; zu sagen wagt sie nichts. Christel redet noch von ein paar gleichgültigen Dingen. Dabei räumt sie die Gläser ab und ergreift endlich die Lampe.

„Willst du nicht schlafen gehen, Lottchen? Komm’, ich leuchte dir hinauf.“

Wie sie oben sind, steckt Christel das Licht an auf dem Nachttischchen der Schwester, bleibt dann nach dem üblichen Gutenachtkuß an der Thüre stehen und schaut mit leeren Blicken an der Schwester vorüber. Die Pastorin kann sich abermals eines Lächelns nicht erwehren; sie hat noch etwas auf dem Herzen, denkt sie – der Wendlandt! Und in Zeit weniger Minuten hat sie sich ein Zukunftsbild ihrer Schwester ausgemalt, das an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Ja, warum auch nicht? Warum soll Christel sich nicht trösten an der Seite eines andern über die herben Täuschungen ihrer ersten Ehe?

[253]

Kipfenberg und die Teufelsmauer.
Nach der Natur gezeichnet von M. Zeno Diemer.

[254] „Du, Lotte,“ klingt’s jetzt zaghaft an ihrem Ohr, „sag’ doch –“

„Was denn, Christel?“

„Wie heißt er denn?“

„Wer?“

„Antons Kleiner.“ Christel ist rot geworden und putzt an ihrer Kerze.

„Er ist doch noch gar nicht getauft!“ ruft die Pastorin etwas enttäuscht und schüttelt den Kopf über das sonderbare Wesen der Schwester.

„Ach ja, freilich!“ antwortet Christel, „Gute Nacht, Lotte!“

Schlafen kann sie auch in dieser Nacht nicht. Seit gestern hört sie beständig ein Schlummerliedchen vor ihren Ohren, seit gestern schaukelt immerfort eine Wiege vor ihren Augen, und vor der Wiege liegt ein Mann auf den Knieen und staunt sein Kind an, seinen und Ediths Sohn, wie ein Wunder. Und aufstöhnend drückt sie den Kopf in die Kissen. Jetzt erst, das weiß sie genau, jetzt ist sie ganz aus seinem Herzen verdrängt, von jetzt ab wird kein einziger seiner Gedanken die kinderlose verstoßene Frau in der weiten Welt suchen.

Ach, wie einsam, wie unglücklich ist sie seit gestern!

(Fortsetzung folgt.)


Wie das erste Deutsche Parlament entstand.

Ein Rückblick von Johannes Proelß.
Mit Illustrationen nach gleichzeigen Lithographien und Holzschnitten.
IV.0 Das Vorparlament. (Schluß.)

Es war eine erlauchte Versammlung patriotischer Männer, die sich zum „Vorparlament“ in Frankfurt zusammengefunden hatte und nun die Bänke im Schiff der Paulskirche füllte. Die jugendliche Idealgestalt der Germania, die aus einem Kolossalgemälde über der schwarz-rot-golden drapierten Rednerbühne auf sie herabgrüßte, verhieß ihnen die Verwirklichung des politischen Ideals, dem sie einst ihre Jugend, dann ihr Mannesleben geweiht hatten. Gar viele, welche sich im Kampfe gegen das Metternichsche System seit den Karlsbader Beschlüssen als „Märtyrer und Pioniere“ des deutschen Nationalbewußtseins rühmlich hervorgethan hatten, waren dem Rufe gefolgt, den der Heidelberger Ausschuß der „Siebener“ an sie gerichtet hatte. „Nicht bloß aus deutschen Gauen,“ berichtet W. Zimmermann, „auch aus England, aus der Schweiz, aus Frankreich und aus Belgien kamen deutsche Männer: sie hatten dort, mancher seit den dreißiger Jahren, als Flüchtlinge gelebt. Andere waren kaum erst den Kerkern entstiegen; viele, die in der Jugend wegen des schwarz-rot-goldnen Bandes und der Idee gelitten, die jetzt als die allgemeine und herrschende erschien, sahen sich nun in Frankfurt wieder, nach zehn, nach zwanzig, nach dreißig Jahren. Es war großenteils die deutsche Burschenschaft mit ergrauenden, wohl auch mit grauen Haaren, die in der Mainstadt zusammenkam, und viele kamen noch mit dem Ideal ihrer Jugend in den Frankfurter Römer.“ Gerade diesen erschien der Sturz Metternichs und die gleichzeitige Einführung eines wahrhaft freisinnigen Verfassungswesens in allen deutschen Staaten als ein so außerordentlicher Triumph ihres Strebens, daß mit der Sicherung der erlangten Freiheit durch eine einheitliche Bundesverfassung ihnen die Erfüllung der patriotischen Wünsche gewährleistet schien, für die sie gestritten und gelitten hatten.

H. Wesendonck.
Nach der Lithographie von F. Hickmann.

W. Schaffrath.
Nach der Lithographie von Schertle.

Dieser Stimmung entsprach das Programm, das der Siebener-Ausschuß als Grundlage für die Verhandlungen vorbereitet hatte. An der Spitze desselben stand der Welckersche Verfassungsentwurf, der ein Bundesoberhaupt mit verantwortlichen Ministern, einen Senat der Einzelstaaten und ein aus freien Wahlen hervorgehendes Volkshaus – das Parlament – vorsah. An den letzten Punkt des Entwurfs, die „Verbürgung der volkstümlichen Freiheitsrechte“, knüpfte das Programm noch die folgenden Vorschläge: Der Beschluß der Einberufung der konstituierenden Nationalversammlung auf obigen Grundlagen erfolgt durch die um Vertrauensmänner verstärkte Bundesbehörde (den „Bundestag“). Ein aus gegenwärtiger Versammlung zu wählender permanenter Ausschuß von 15 Gliedern ist beauftragt, den Vollzug der Einberufung zu betreiben. Wenn innerhalb vier Wochen von heute der Zusammentritt nicht erfolgt ist, so tritt diese Versammlung am 3. und 4. Mai hier wieder zusammen. Im Falle der Dringlichkeit kann der Ausschuß die Versammlung auf einen früheren Termin zusammenberufen.

So hatte der Siebener-Ausschuß auch Garantien für die Ausführung der Beschlüsse der Versammlung vorgesehen, und wie Welcker seine Zugehörigkeit zum Bundestag, so hatten Gagern und Römer ihre Stellung als Minister benutzt, um sich im voraus der Majorität im Bundestag zu versichern, auf daß dieser für ein Zusammenwirken mit dem Vorparlament und seinem Ausschuß gestimmt sei.

Kaum aber hatte Mittermaier als Präsident der Versammlung die Debatte über das Programm der „Siebener“ eröffnet, da stürmte behend Struve auf die Tribüne und brachte eine Zusammenstellung der „Rechte des deutschen Volks“ zur Verlesung, deren sofortige Anerkennung er verlangte. Und in schärfster Zuspitzung hallten die Forderungen der „entschiedenen“ Republikaner in den Raum, als deren letzte Struve mit erhobener Stimme verkündigte: „Aufhebung der erblichen Monarchie und Ersatz derselben durch freigewählte Parlamente, an deren Spitze freigewählte Präsidenten stehen, alle vereint in der föderativen Bundesverfassung nach dem Muster der amerikanischen Freistaaten!“ Und weiter rief er: „Deutsches Volk, dieses sind die Grundsätze, mit deren Hilfe allein, unseres Erachtens, Deutschland glücklich, geachtet und frei werden kann! Deutsche Brüder in Ost und West, wir fordern euch auf, uns in dem Bestreben zu unterstützen, euch die einigen und unveräußerlichen Menschenrechte zu verschaffen! Wir werden in Frankfurt a. M. vereinigt bleiben, bis ein freigewähltes Parlament die Geschicke Deutschlands leiten kann. Mittlerweile werden wir die erforderlichen Gesetzesvorlagen entwerfen und durch einen freigewählten Vollziehungsausschuß das große Werk der Wiederherstellung Deutschlands vorbereiten!“

Es war der von ihm mit Hecker geplante Versuch, zu gunsten ihres republikanischen Ideals die Versammlung zu überrumpeln. Mit einem Anhang von 15 Gesinnungsgenossen, vornehmlich aus Baden, Sachsen und der preußischen Rheinprovinz, wollten sie nach dem Pariser Vorbild von 1789 die Permanenz des Vorparlaments durchsetzen und von dessen Tribüne aus das Feuer der Revolution in ganz Deutschland schüren. An eine geordnete Diskussion über das „Siebener“-Programm war nun nicht mehr zu denken. Die [255] unvermeidlichen Konfliktsfragen „Reform oder Revolution“, „konstitutionelle Monarchie oder Republik“ drängten mit Ungestüm auf Entscheidung. Der Kampf war entfesselt, dessen Ausgang die bisherigen Führer der Bewegung für immer auseinander reißen mußte. Heinrich Laube hat in seinem Buch „Das erste deutsche Parlament“ die Leidenschaft, mit der Welcker in diesem Kampfe das Programm der „Siebener“ verteidigte, als Rechthaberei, und die Vermittlungsversuche des alten Itzstein zwischen den Parteien als Machenschaften verurteilt; er that es ohne die Kenntnis der sich jetzt tragisch zuspitzenden Vorgeschichte des Kampfes,

Karl Vogt.
Nach der Lithographie von Ph. Winterwerb.

H. K. Jaup.

ohne Ahnung davon, in wie hohem Grade die Herzen dieser Männer an dem Kampfe beteiligt waren. Welcker sah durch das stürmische Vorgehen der „entschiedenen“ Republikaner den großen Plan der Bundesreform, wie er ihn seit der Jugendzeit in der Seele getragen, um dessen willen er neuerdings mit Widerstreben selbst Mitglied des „Bundestags“ geworden war, gerade im Augenblicke seiner endlichen Verwirklichung bedroht; Itzstein, der seinerseits wohl die Republik für die wünschenswerteste Staatsform hielt, aber fühlte, daß die deutschen Zustände für ihre Verwirklichung zur Zeit nicht reif seien, sah mit Trauer die schöne Gemeinschaft Gleichstrebender in Trümmer gehen, als deren Leiter er sich bisher mit Stolz hatte fühlen dürfen.

Im Anfang der durch Struves Antrag entfesselten Debatte hielten sich die persönlichen Stimmungen noch zurück. Es zeigte sich sofort, daß für die Erklärung, die jener verlangte, in der Versammlung wenig Neigung war. Auch die Anhänger Struves, welche, wie der Sachse Schaffrath, für die Verweisung des Antrags an eine Kommission eintraten, bekannten sich nicht direkt zu dem Inhalt desselben, und selbst Hecker vermied es, für die Proklamierung der Republik zu sprechen. Er begnügte sich, mit dem ihm eigenen Feuer der „Permanenz“ der Versammlung das Wort zu reden. Er berief sich auf das Volk – es erwarte, daß die Versammlung beisammen bleibe, um jeden Versuch einer Reaktion zu verhindern. „Wenn wir nicht beisammen bleiben,“ rief er unter dem Beifall der Galerien, „und so nicht die einzige Drohung, die uns auf legalem Wege zu Gebote steht, gebrauchen, so haben wir die Sache der Freiheit um fünfzig Jahre zurückgeschoben!“ Mit Schärfe kritisierte er dann das „Siebener“-Programm und das Verfahren, die Oberhauptsfrage an die Spitze zu stellen. Er fand darin erfolgreiche Unterstützung durch den Rheinländer Wesendonck aus Düsseldorf. „Man soll nicht mit dem Dach anfangen,“ rief dieser, „ehe man ein Fundament hat, und nicht die Rechte der Fürsten zur Diskussion bringen, ehe von den Rechten des Volkes die Rede ist!“ Lebhaft trat Bassermann im Interesse der „Reform“, der Frankfurter Reinganum vom demokratischen Standpunkt aus für eine Durchberatung sowohl des

Der Fackelzug auf dem Roßmarkt in Frankfurt a. M. zu Ehren des Vorparlaments.
Nach einer gleichzeitigen Zeichnung von Braun.

[256] „Siebener“-Programms wie des Struveschen Antrages ein. Die meiste Zustimmung aber fand der Bayer Eisenmann, der sich, nachdem er unter dem absoluten Fürstenregiment so viele Jahre hatte leiden müssen, mit Wärme für den Wert der konstitutionellen Monarchie aussprach. Er brachte die von der Mehrzahl geteilte Empfindung zum Ausdruck, daß die Versammlung, in welcher Norddeutschland und Oesterreich viel geringer vertreten waren als die südlichen Mittelstaaten, in der z. B. aus Baden 72, aus Hessen-Darmstadt 84, aus ganz Preußen 141, aus Hannover nur 9 und aus Oesterreich nur 2 Abgeordnete saßen, nicht den Willen der ganzen Nation genügend verkörpere, um über die künftige Verfassung Deutschlands entscheidende Beschlüsse zu fassen. Es handle sich darum, die Möglichkeit herbeizuführen, daß eine legislatorische Beratung hierüber stattfinde. Die Frage, wie das deutsche Parlament am schnellsten hergestellt werden könne, sei die Aufgabe der gegenwärtigen Versammlung. In diesem Sinne sprachen auch Wiesner aus Wien, Jaup aus Darmstadt und von demokratischer Seite Karl Vogt aus Gießen. Der letztere schlug vor, man solle beschließen, die konstituierende Nationalversammlung möge „souverän“ entscheiden, ob sie die Monarchie oder die Republik wolle, ihr Beschluß werde für alle maßgebend sein. Dies trieb Welcker zu einer heftigen Einsprache. Er war durchdrungen davon, daß die „Reform“ nur zu retten, die Revolution nur dann zu vermeiden sei, wenn ein Beschluß des Vorparlaments sich bestimmt gegen die Republik ausspreche, bevor der Wahlkampf für das Parlament sich des Schlagworts bemächtige. Er erklärte, der Vorschlag Vogts sei nicht so harmlos wie er scheine. „Es giebt Leute,“ rief er, „die wollen, daß wir alle achtunddreißig Regierungen absetzen, und die meinen, wir könnten dies. Ich meine dagegen, wir können es nicht, und ich will es auch nicht!“ Da meldet sich wieder Vogt zum Wort. „Der Herr Abgeordnete – oder vielmehr der Herr Bundestagsgesandte Welcker“ – beginnt er mit scharfer Betonung, da unterbricht ihn ein Entrüstungssturm, der nicht enden will, von den Galerien wird gegen diesen gelärmt, und der Präsident sieht sich genötigt, die Sitzung für eine Weile aufzuheben. Das Ergebnis der Debatte aber war, daß sowohl die Beratung des Antrags Struve wie die des „Siebener“-Programms durch die Annahme des Antrags Eisenmann verworfen wurde.

Franz Raveaux.
Nach der Lithographie von Schertle.

Doch zuvor hatte Heinrich v. Gagern Gelegenheit, seinen Standpunkt in wirksamer Rede zu wahren, und der Beifallssturm, den sie weckte, sicherte diesem den Sieg. Er schloß sich im Prinzip dem Antrag Eisenmann an, erklärte aber, daß die heutige Versammlung doch nicht jene Grundsätze unberührt und unausgemacht lassen dürfe, auf deren Basis Deutschland sich künftig gestalten solle. „Glauben Sie, daß wir die Grundsätze verkündigen sollten, die Herr v. Struve in seinem Antrag uns vorlegte? Glauben Sie, daß wir es in einem Augenblick thun sollten, wo es gilt, praktische Aufgaben zu lösen, Deutschland zu vereinigen und für den Fall eines Krieges zu kräftigen? Glauben Sie, daß das der Weg wäre, den Kredit wieder zu heben und die Nahrungslosigkeit zu beseitigen, die auf uns alle drückt?“ Er nahm für die Versammlung das volle Recht der Volkssouveränität in Anspruch, verwarf aber das der Revolution; er rief: um der Einheit willen gelte es jetzt, sich um die Prinzipien der Freiheit zu scharen, mit denen das Prinzip der Monarchie im Staate bestehen könne. „Sprechen Sie die Ansicht dieser Versammlung aus, damit sie in Deutschland wiederhalle, in Preußen, an der Nord- und Ostsee, in Oesterreich und bis nach Ungarn hin, die Ansicht, daß wir an der Monarchie festhalten, daß wir zwar eine Versammlung bilden, welche die Freiheit will und um des Volks und der Volkssouveränität willen besteht, aber dem Prinzip der Monarchie im Staate treu bleibe und zugleich der Notwendigkeit der Durchführung einer Einheit huldige!“ Von diesem Moment an war Heinrich von Gagern der Führer der konstitutionell gesinnten Majorität, als welcher er auch im weiteren Verlauf der viertägigen Redeschlacht das Feld gegen die Versuche der Heckerschen, das Vorparlament zum Werkzeug der Revolution zu machen, siegreich behauptete.

In Hecker und Gagern traten sich hier in gewinnender und echt deutscher Verkörperung die beiden Prinzipien entgegen, die jetzt zu einem Kampfe auf Leben und Tod in dem freiheitlichen Aufschwung des Vaterlands aneinander geraten waren. Friedrich Hecker, der warmblütige Pfälzer, sechsunddreißigjährig, ein Liebling des Volks wegen seines mannhaften Eintretens für dessen Interessen auch in sozialer Beziehung, von schwärmerischer Begeisterung erfüllt für ein unklares Staatsideal, vertrat den Freiheitsrausch eines jüngeren Geschlechts, in dem die Lieder Herweghs und Freiligraths wiederklangen und das im Handumdrehen – wie die Wiener Studenten Metternich gestürzt hatten – über den Trümmern der vermeintlich morschen deutschen Throne einen Freistaat allgemeiner Volksbeglückung errichten wollte. Heinrich v. Gagern, der tapfere Hesse, in der Vollkraft reifen Mannesalters, aufgewachsen als Sohn eines liberalen Staatsmannes der Steinschen Schule, in der Jugend ein Mitkämpfer gegen Napoleon bei Waterloo, dann ein Mitgründer der deutschen Burschenschaft, als hessischer Beamter und Volksvertreter ein Opfer der Reaktion von 1832, brachte seine unverbrauchte, in der Zurückgezogenheit des Landlebens bewahrte Frische dem Vaterland dar, als der befähigtste von seinen Schicksalsgenossen für ein gleichzeitiges Wirken als Volksfreund und als Staatsmann.

J. G. Heckscher.
Nach der Lithographie von Schertle.

Jacob Venedey.
Nach der Lithographie von Ph. Winterwerb.

Der weitere Verlauf des ersten Tags schien die Gegensätze beschwichtigen zu wollen. Die feierliche Ansprache Robert Blums, welche zur Mäßigung mahnte, wurde auf allen Seiten beherzigt. Die Mahnung, um der zu schaffenden Einheit willen Einigkeit zu bewahren, klang dann am Abend auch unter dem Beifall von Tausenden vom Balkon des „Englischen Hofs“ auf den Roßmarkt herab, als die Frankfurter Turner und Sänger dem Präsidium des Vorparlaments einen großartigen Fackelzug darbrachten und auf die Begrüßungsreden von Mappes und Jucho die Mitglieder des Präsidiums Mittermaier und Itzstein, Dahlmann und Sylvester Jordan begeisternde Ansprachen hielten. Und herzerhebende Einhelligkeit herrschte am zweiten Beratungstag bei den Beschlüssen, welche für die Wahlen zum Parlament das allgemeine gleiche Stimmrecht einführten, herrschte bei den Kundgebungen für Deutsch-Oesterreich, Schleswig-Holstein und Polen. Da weckte die Frage, wie die Wahlen zum Parlament durchzuführen seien, aufs neue den Streit. Wesendonck stellte den Antrag, ein Ausschuß von fünfzig Mitgliedern solle mit der Aufgabe betraut werden, direkt bei den einzelnen Regierungen den Wahlakt durchzusetzen. Dieser Antrag sah von der Vermittelung des Bundestags ab, welche das „Siebener“-Programm vorgeschlagen hatte. Sofort tauchte auch die Heckersche Forderung der „Permanenz“ wieder auf und es zeigte sich, daß selbst unter den Gemäßigten sich viele für ein Zusammenbleiben der ganzen Versammlung bis zur Konstituierung des Parlaments hatten einnehmen lassen. Aber Welcker, der die revolutionären Endziele Struves nicht aus dem Auge verlor, trat nunmehr mit Entschiedenheit für den Antrag der „Siebener“ ein, daß ein [257] Ausschuß eingesetzt werde, der die Einberufung des Parlaments in Gemeinschaft mit dem Bundestag betreibe. „Freunde,“ rief er, „wir wollen, daß unsre Beschlüsse auch Kraft und Nachdruck haben. Sie können heute oder morgen, da oder dort eine kleine Revolution oder einen Straßenkrawall anfangen, allein darum gehorcht man Ihnen noch nicht in Sachsen oder in Berlin. Wir leben in einer Zeit der Not, wo die ganze Gesellschaft auseinanderfallen will und nach innen und außen Unordnung und Anarchie das Land bedrohen. In solcher Zeit ist es notwendig, das letzte Band des Zusammenhalts heilig zu achten.“ Bei diesen Worten unterbrach Beifall den Redner, dem sofort von den Galerien ein betäubender Lärm folgte. Doch Welcker fuhr unbeirrt fort: „Wir haben kein anderes gesetzliches Organ als den Bund und deshalb wiederhole ich, man muß sich daran halten.“ Leidenschaftlich erwiderte Hecker, daß es gerade seine Absicht sei, durch die Permanenz der Versammlung den Bundestag ganz zu beseitigen. Unter dem dröhnenden Beifall der Galerien hielt er, mit Robert Blum um die Wette, strenge Abrechnung mit dem alten Bund, dem Bundestag Metternichs. „Wenn der Bundestag,“ gab er Welcker zurück, „Arm in Arm mit dem Ausschusse geht, so ist die beste Maßregel des Ausschusses nicht nur verdächtigt im Volk, sondern in die Acht erklärt. Darum suchen wir uns, wir, das lebendig hier versammelte Volk, wir, die wir als Geschäftsführer der Nation aufgestellt sind, nicht an ein morsches, verfallenes Gebäude mit unserm Ausschuß anzulehnen!“ Vergeblich mahnten Gagern und Itzstein, man solle sich doch an den neuen Bundestag halten, der Metternichsche sei tot. Auch die „Vertrauensmänner am Bundestag“ – trotz Uhland, Jordan, Dahlmann – genügten Hecker nicht. Ihm trat Venedey entgegen, einer von denen, die erst kürzlich aus dem Exil heimgekehrt waren; er warnte davor, das Muster der Pariser Revolution nachzuahmen. Und schließlich drang die Ansicht des Hamburgers Heckscher durch, daß die Versammlung zur Verwirklichung ihrer Beschlüsse des Verkehrs mit den bestehenden Einzelregierungen des Bundestags gar nicht entraten könne. So wurde der Gegenantrag Gagerns, daß ein permanenter Ausschuß von 50 Mitgliedern den Bundestag bei Wahrung der Interessen der Nation und bei Verwaltung der Bundesangelegenheiten bis zum nahen Zusammentritt der konstituierenden Versammlung selbständig beraten solle, mit 368 gegen 148 Stimmen angenommen.

A. v. Soiron.
Nach der Lithographie von H. Hasselhorst.

Und noch einen dritten Versuch der „Entschiedenen“, ihr Ziel zu erreichen, mußte Hecker abgeschlagen sehen. Auf Vermittelung Itzsteins hatten sie sich am Abend des 1. April mit den gemäßigteren Demokraten, wie Blum, H. Simon, Jacoby, Vogt, zu dem Antrag geeinigt, daß der am nächsten Tage zu wählende Ausschuß der Fünfziger nur dann mit dem Bundestag arbeiten könne, wenn dieser sich zuvor von den verfassungswidrigen Ausnahmebeschlüssen der Jahre 1819 und 1832 ausdrücklich losgesagt und die Männer aus seinem Schoße entfernt habe, die zur Hervorrufung und Ausführung derselben mitgewirkt hatten. Die Republikaner gaben dem Antrag aber die Form, die Versammlung möge erklären: bevor der Bundestag die Gründung des Parlaments in die Hand nimmt, solle er sich in der bezeichneten Weise regenerieren, was, wie Itzstein dann in der Debatte hervorhob, wider die Abrede war. Bassermann bemerkte sofort die Absicht der ehemaligen Genossen und erklärte, nachdem Zitz aus Mainz den Antrag begründet, mit dem Geiste desselben sei er ganz einverstanden, aber die Fassung desselben sei nichts andres als ein neuer Versuch, die Permanenz der ganzen Versammlung zu erzwingen. Er wies darauf hin, daß, bevor der Bundestag die gewünschte Forderung ganz erfüllen könne, eine geraume Zeit verstreichen müsse. Er veränderte daher die Form, so daß der Antrag nur noch die Voraussetzung aussprach, daß der Bundestag, indem er die Gründung des Parlaments in die Hand nimmt, auch die Verpflichtung übernehme, die gewünschte Regeneration zu vollziehen. In der nun folgenden stürmischen Debatte sprach Uhland das beschwichtigende Wort: „Wenn der Frühling Sprossen treibt, fällt das alte Laub von selbst ab.“ Struve aber erklärte, der Antrag sei der letzte Versuch, ob er und seine Anhänger überhaupt noch weiter mit dieser Versammlung wirken könnten. Die Drohung half nichts; der Bassermannsche Antrag ward angenommen. Da erfolgte das Unerhörte. Wie der erzürnte Achill erhob sich Hecker und entfernte sich mit den „Entschiedenen“ aus der Kirche. Blum, Itzstein, Vogt, Wesendonck und viele andere, welche mit zu den Unterzeichnern des Antrags gehört hatten, blieben dagegen auf ihren Sitzen. Und mit stürmischem Beifall ward die Erklärung des Kölner Demokraten Raveaux aufgenommen: in diesem ernsten Augenblicke sei es für den Vaterlandsfreund heilige Pflicht, den Saal nicht zu verlassen.

Die Absicht der Ausgetretenen aber war, durch den dramatischen Vorgang auf das Volk zu wirken; sie erwarteten von diesem eine entschiedene Bewegung zu ihren Gunsten, welche die Auflösung der jetzigen Versammlung herbeiführen sollte, an deren Stelle sich dann die republikanische Minderheit als „Vorparlament“ in Permanenz erklären könnte.

Als am andern Morgen die Sitzung begann, war jedoch Mittermaier als Präsident bereits in der Lage, zu verkündigen: der Bundestag habe die Beschlüsse der Versammlung, die Wahl zum Parlamente betreffend, angenommen und ebenso die Bedingungen, unter denen der Fünfziger-Ausschuß mit ihm zusammen wirken wolle. Schon hätten die noch anwesenden Gesandten, die an den Reaktionsbeschlüssen und ihrer Ausführung beteiligt waren, ihre Entlassung eingereicht. Da bot sich „Vater“ Itzstein an, die Abtrünnigen zur Rückkehr zu bewegen. Sylvester Jordan, Stedmann und Venedey unterstützten den Antrag. Noch einmal verstand es der greise Führer, seine Macht über den „verlornen Sohn“ auszuüben. Das letzte Mal! Hecker kam mit seinem Anhang zur Wahl des Ausschusses zurück in die Paulskirche. Aber wenn er durch sein brüskes Auftreten die Durchführung seiner Pläne hatte erzwingen wollen, so erreichte er nur das Gegenteil des Erstrebten. In seiner Abwesenheit war, auf Betreiben Biedermanns, Venedeys und Jaups, eine Erklärung der Grundrechte und Forderungen des deutschen Volkes angenommen worden, die im Gegensatz zu Struves radikalem Manifeste das Mindestmaß deutscher Volksfreiheit bedeuten sollte. Als ein Produkt der Verständigung zwischen den Demokraten und Konstitutionellen gelangte ferner der folgenreiche Antrag des Mannheimers v. Soiron zur Annahme, daß die Beschlußnahme über die künftige Bundesverfassung einzig und allein der vom Volk zu wählenden konstituierenden Nationalversammlung zu überlassen sei, wobei es ihr freistehe, später mit den Regierungen eine Verständigung zu suchen. So war das Prinzip der Volkssouveränität ganz ohne Mitwirkung der „Entschiedenen“ von der Versammlung ausgesprochen worden. Und als dann, nach ihrem Eintreffen in der Paulskirche, die Wahlen für den Fünfziger-Ausschuß vollzogen wurden, in welchem sich unter dem Vorsitz Soirons, Blums und Abeggs mit vielen der süddeutschen Volksmänner, die wir in Hallgarten, Heppenheim, Heidelberg tagen sahen, zahlreiche Norddeutsche zusammenfanden, da erhielt weder Struve noch Hecker genügend viel Stimmen für die Mitgliedschaft – die ganze Gruppe der entschiedenen Republikaner ging leer aus.

Damit war für sie der Würfel gefallen. Struve und Hecker eilten mit den Ihrigen nach Hause, um den von Fickler im „Seekreis“ bereits zum Ausbruch vorbereiteten bewaffneten Aufstand im ganzen Großherzogtum zu organisieren. Doch schieden sie von Frankfurt nicht etwa mit dem Gefühl von Besiegten. Außerhalb der Paulskirche war Hecker der Held des Tages gewesen. Seine entflammenden Reden hatten in der Masse des Volkes stürmischen Wiederhall gefunden. Er schritt mit der Ueberzeugung zur Schilderhebung, daß – wie er später erklärte – der geplante Waffengang ein „wahrer Festzug“ sein und es keines Schwertstreichs, keines Schusses bedürfen werde, um dem bewaffnet sich erhebenden Volk den Sieg zu erringen. Ebenso war er fest überzeugt, daß ganz Deutschland dem Beispiele Badens, das ja bisher immer vorangegangen sei, auch jetzt folgen werde. „Es gehörte nichts dazu als der Mut der That zu dem Mut des Worts. Das stehende [258] Heer wäre bei einem Aufstand in Masse dem Volk nicht entgegengetreten, und es wäre dann unter flatternden Fahnen der Republikaner die Wahl zur konstituierenden Versammlung vorgenommen worden; ein Nationalkonvent voll großartiger Energie und schöpferischer Kraft hätte im Bündnis mit Frankreich Europa neugestaltet.“

Doch von den Tausenden, die Hecker jetzt zujubelten, als er im badischen Oberland in den Volksversammlungen die Republik proklamierte, von all denen, die sich nach seinem Vorbild „Heckerblusen“ und „Heckerhüte“ zulegten, folgten nur wenige dem Ruf zu den Waffen, als es ernst werden sollte. Die Verhaftung Ficklers, die am 8. April auf dem Karlsruher Bahnhof Karl Mathy veranlaßte, gerade als jener nach Konstanz zur Schilderhebung abreisen wollte, hatte schon vorher dem Unternehmen das Rückgrat gebrochen. Mathy, der Vertreter von Konstanz im Landtag, hatte eben Kenntnis von den Verhandlungen Ficklers mit Herwegh erhalten, der in Paris aus deutschen, aber auch französischen und polnischen Arbeitern eine Hilfslegion organisiert hatte, die bereits auf dem Wege nach Straßburg war. Das Herannahen dieser Hilfslegion stiftete zudem Zwietracht zwischen Struve und Hecker. Der letztere blieb seinem Versprechen treu, keine Hilfe aus Frankreich annehmen zu wollen, während Struve gerade die größten Hoffnungen auf diesen Zuzug setzte. In Wirklichkeit war die Herweghsche Schar ein schlecht bewaffneter Haufe, der sich bei Dossenbach einem Angriff richtiger Truppen in keiner Weise gewachsen zeigte. Ebenso ging es den tausend Aufständischen aus dem Schwarzwald und vom Bodensee, die, zum Teil nur mit aufrechtstehenden Sensen bewaffnet, am 20. April, dem Gründonnerstag dieser bewegten Osterzeit, unter Heckers Leitung auf der Höhe bei Kandern den Truppen des Generals Friedrich v. Gagern entgegentraten. Der Tod dieses Mannes, den beim Ausbruch dieses Gefechts sogleich die ersten Kugeln hinrafften, hat auf dies beklagenswerte Nachspiel des Vorparlaments einen düsteren Schatten geworfen.

General Friedrich v. Gagern.

Friedrich von Gagern, der älteste Bruder Heinrichs, stand als General in niederländischen Diensten; patriotische Begeisterung und der Drang, an der Neugestaltung Deutschlands auf dem Gebiet der Heeresorganisation mitzuwirken, hatten ihn bestimmt, Urlaub zu nehmen und in die Heimat zu eilen. Die badische Regierung gedachte ihm den Oberbefehl über die ganze Bürgerwehr zu; auf Vermittelung von Welcker und Bassermann, den Vertretern Badens am Bundestag, übernahm er zunächst das Kommando eines Kontingents der Bundestruppen, die gegen die Pariser Legion und den badischen Aufstand mobilgemacht wurden. Er übernahm die Führung in dem Glauben, er werde mit Hecker, dem früheren Freund seiner Freunde, zu einem friedlichen Ausgleich kommen. Er bemühte sich redlich darum. Auch als sich beide mit ihren Truppen auf der Waldlichtung der Scheidegg zwischen Kandern und Schlächthaus kampfbereit gegenüberstanden, trat er nochmals vor, um die Aufständischen zum Niederlegen der Waffen zu bestimmen. Vergeblich. Er wandte sich nun, bestieg sein Pferd, erhob den Säbel und eröffnete den Angriff – da traf ihn schon das tödliche Blei. Die Gegner der Revolutionäre behaupteten später, die Schüsse seien auf den General schon vor der regulären Eröffnung des Gefechts abgegeben worden. Das ist nicht zu beweisen und man wird es nicht glauben. Erklärlich aber ist, daß das auf diese Art vergossene Blut Gagerns die unheilbare Feindschaft besiegelte, in die sich von nun an in Baden die Konstitutionellen und die Republikaner verstrickt sahen, die vorher im Kampf gegen Metternich so treue Waffenbrüder gewesen waren. Hecker, der den Truppen auf der Scheidegg nicht standhalten konnte, floh nach der Schweiz, dann nach Amerika. Die Volksphantasie aber bemächtigte sich seiner Gestalt mit noch heute nachwirkender Sympathie. An Struve dagegen, der bei Säkkingen über die Grenze entwich, um zu günstigerer Zeit wiederzukehren, heftete sich die Verantwortung für das planlose Unternehmen. Doch beiden Männern war es gleich ihrem Kameraden Sigel, der bei Freiburg nach tapferem Kampf unterlag, und vielen ihrer Mitkämpfer vom Schicksal vergönnt, später als Bürger des nordamerikanischen Freistaats ihre Freiheitsliebe ebenso zu bewähren wie ihr treues Festhalten an deutscher Bildung und an deutschem Wesen.

Dem Sieg, den die „Reform“ im Vorparlament errungen hatte, ist es auch zu danken gewesen, daß die Propaganda der „entschiedenen“ Republikaner zu einer allgemeinen deutschen Revolution, die doch nur der Reaktion in die Hände gearbeitet hätte, damals nicht geführt hat. Er hatte weiter die gute Wirkung, daß die sämtlichen deutschen Regierungen zur Ausführung der Beschlüsse des Vorparlaments sich bereit fanden. Der Fünfziger-Ausschuß, der noch um sechs Oesterreicher verstärkt ward, fand bei dem regenerierten Bundestag, dem Graf Colloredo vorstand, großes Entgegenkommen. Die Einberufung eines ersten Deutschen Parlaments als gesetzlicher Vertretung des Gesamtwillens der Nation bei Begründung der erstrebten Reichseinheit war erreicht. Die Regierungen schrieben die Wahlen aus, wie es das Vorparlament verlangt hatte: nach allgemeinem gleichen Stimmrecht, auf je 50 000 Einwohner ein Abgeordneter. Wenn in der Mehrzahl der Einzelstaaten indirekte Wahl und nicht direkte stattfand, so geschah dies in Uebereinstimmung mit einem Beschluß der Versammlung, welcher beide Wahlarten freistellte, nachdem nicht nur Welcker und Römer, sondern auch Karl Vogt dies aus praktischen Gründen empfohlen hatten. Nur der Termin des Zusammentritts ward auf Wunsch Preußens vom 1 Mai auf den 18. Mai – mit Rücksicht auf die gleichzeitigen preußischen Landtagswahlen – verlegt. Um so eifriger war König Friedrich Wilhelm IV dabei, die Wünsche des Vorparlaments zu erfüllen, welche die Aufnahme von Ost- und Westpreußen, der deutschen Hälfte der Provinz Posen und von Schleswig in den Deutschen Bund verlangten. Am 24. März hatte sich Schleswig-Holstein von Dänemark losgesagt, nachdem König Friedrich VII die Einverleibung Schleswigs in Dänemark dekretiert hatte. Friedrich Wilhelm IV, der inzwischen noch die liberalen Rheinländer Camphausen und Hansemann zu verantwortlichen Ministern ernannt hatte, unterstützte die provisorische Regierung in Kiel und schickte ihr preußische Truppen zur Hilfe. Es war der erste Schritt nach dem Ziel, der Krone Preußen das verloren gegangene Ansehen zurückzuerobern.

Friedrich Hecker
im Insurgentenkostüm.
Nach einem 1848 vielverbreiteten Bilde.

Das „Siebener“-Programm aber, dessen Beratung das Vorparlament unter dem Terrorismus Struves abgelehnt hatte, ward zum Kern jener Reichsverfassung, die in unserer nationalen Geschichte als idealer Gewinn des wirklichen ersten Deutschen Parlaments fortgewirkt hat. Am 18. Mai 1848 trat dieses in der Frankfurter Paulskirche zusammen.

Welche Rolle in ihm den Männern zufiel, deren Verdienste um sein Zustandekommen wir in den hiermit zum Abschluß gelangenden Artikeln nach zum Teil wenig benutzten Quellen geschildert haben, soll an dieser Stelle noch in einem besonderen Aufsatz dargelegt werden. Die Kämpfe, welche das Parlament ins Leben riefen, waren auch für sein Schicksal entscheidend. Die Oberhauptsfrage ließ sich auch hier nicht lösen. Das eherne Gesetz der Geschichte hat später bewiesen, daß sie eine Machtfrage war, für die es nur eine kriegerische Entscheidung gab. Doch diese erfolgte in jener Richtung, die schon die Mehrzahl der patriotischen Denker und Dichter des „Vormärz“ [259] im Gegensatz zu dem Träger der preußischen Krone angestrebt hatte. Und von dem „Heidelberger“ Verfassungsentwurf rühmt Gustav Freytag in seiner Biographie Karl Mathys mit Recht, er habe „den Weg vorgezeichnet, auf welchem die deutschen Angelegenheiten seitdem vorwärts getrieben wurden, bis jene Forderungen in der Hauptsache durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes für 30 Millionen Deutsche zum Grundgesetz des neuen Staates erhoben wurden“. Auf ihr fußte dann die Verfassung des Deutschen Reichs, das die deutschen Völker mit ihren Fürsten im gemeinsamen Sieg über Frankreich glorreich erstritten. „Die politischen Gedanken,“ sagt Freytag vom Inhalt jenes ersten Entwurfs einer deutschen Verfassung, „wird niemand das Werk eines einzelnen zu nennen wagen, denn sie wuchsen zu gleicher Zeit in Tausenden herauf; aber unvergänglich soll das Andenken der Führer bleiben, welche sie zuerst auf den Weg der praktischen Ausführung gebracht und aus dem Reich unbestimmter Ideale in die Wirklichkeit eingeführt haben.“ Und fürwahr, auch all die anderen tapferen Männer, die im März 1848 den alten Polizeistaat in Trümmer legen und dem Rechtsstaat die Grundlagen sichern halfen, verdienen ein dankbares Erinnern. Der Segen der„Märzerrungenschaften“ blieb trotz der ihnen bald genug folgenden traurigen Reaktion dem deutschen Volk unverloren!


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Blätter und Blüten.



Das Denkmal des Prinzen Friedrich Karl in Metz. (Mit Abbildung.) Untrennbar ist mit der neueren Geschichte der Stadt Metz der Name des am 15. Juni 1885 verstorbenen Prinzen Friedrich Karl verbunden, des kühnen Bezwingers der jungfräulichen Festung und des Neubegründers der deutschen Moselwacht. Unter allen Schlachten, die der Prinz geschlagen hat, stellte er die von Vionville selbst in die erste Linie. Hier ward der Schlüssel zur Festung Metz, der auch die Thore von Sedan öffnete, gewonnen. Mit Recht durften es deshalb deutsche Männer unternehmen, dem Prinzen Friedrich Karl innerhalb der Mauern von Metz ein Denkmal zu errichten. Freien Muts bewilligte hierzu der deutsche Bürgermeister von Metz, allen Gegenströmungen trotzend, einen der schönsten Aufstellungsplätze. So konnte der Denkmalsausschuß, dessen Seele der aus der Schule des großen Feldherrn hervorgegangene Kommandeur des XVI. Armeekorps, General der Kavallerie Graf v. Häseler war, am 20. März d. J., dem 70. Geburtstage des Prinzen, sein Werk durch die feierliche Enthüllung des in unserer Abbildung wiedergegebenen formvollendeten Denkmals krönen. Dieselbe vollzog in Vertretung des Kaisers der Sohn des im Denkmal Verherrlichten, Prinz Leopold von Preußen.

Das Denkmal des Prinzen Friedrich Karl in Metz.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Eugen Jacobi in Metz.

Auf granitnem Unterbau und einem Sockel aus schwedischem Syenit erhebt sich das Standbild des Feldherrn in sprechender Aehnlichkeit. Am Sockel lesen wir die einfache Inschrift „Friedrich Karl“, auf den Schleifen eines am Fuße des Denkmals befestigten bronzenen Lorbeerkranzes die Namen Düppel, Königgrätz und Vionville, welche an die glorreichen Waffenthaten des verewigten Prinzen erinnern. Im Kranze ruht der Marschallstab. Das Denkmal schaut hinaus über das Moselthal nach der Feste „Friedrich Karl“ und weiter gen Westen nach den Schlachtfeldern, auf denen die Tapferen ruhen, die für das Vaterland gefallen sind.

Das Bronzestandbild ist eine Musterschöpfung des Münchener Professors v. Miller, aus dessen Erzgießerei auch das Metzer Reiterstandbild Kaiser Wilhelms hervorgegangen ist. Seitwärts von diesem auf der herrlichen Esplanade von Metz, dort, wo der ehedem als Gouvernementsgebäude errichtete Justizpalast einen trefflichen Hintergrund bildet, fand auch das Prinz Friedrich Karl-Denkmal seinen bevorzugten Standpunkt.G. F.     

Was alles auf einen Quadratzoll geht. Schon in vergangenen Jahrhunderten hat es Kleinkünstler gegeben, deren Streben danach ging, auf eine möglichst kleine Fläche möglichst viel zu schreiben oder zu zeichnen. So befindet sich im Grünen Gewölbe zu Dresden ein Kirschkern, auf dessen Oberfläche mehr als hundert Zeichnungen, meist Männerköpfe, so gut eingeritzt sind, daß man sie mit Hilfe eines Vergrößerungsglases ausgezeichnet zu erkennen vermag. Verfertiger dieses Stückes, das August dem Starken überreicht wurde, war ein einfacher Drechslerlehrling.

Nach Erfindung der Postkarte war namentlich diese Gegenstand der Bestrebungen von Schreibkünstlern. So hat einer derselben auf eine einzige Postkarte Schillers „Lied von der Glocke“ und „Taucher“ geschrieben, ein anderer hat diese Leistung durch Hinzufügung des „Handschuhs“ noch übertroffen. Wie unendlich weit bleiben aber alle diese Leistungen der menschlichen Handarbeit gegen die der Feinmechanik zurück. Vor kurzem berichtete Prof. Hörmann von der Technischen Hochschule in Berlin, daß in England eine Schreibmaschine konstruiert worden sei, mit der man imstande ist, auf eine Glasplatte von der Größe eines englischen Quadratzolles die ganze englische Bibel nicht nur einmal, sondern 22 mal so niederzuschreiben, daß die Schrift mit Hilfe eines guten Mikroskops leicht lesbar ist. Die Sache klingt unglaublich, namentlich wenn man bedenkt, daß die ganze englische Bibel etwa 31/2 Millionen Buchstaben enthält, aber dennoch verhält sie sich so, wie folgende genaue Ueberlegung und Rechnung zeigt. Schon vor Jahren war es mit Hilfe der Präcisionsmechanik möglich, die Länge eines Millimeters in tausend Teile zu teilen. Mit solchen, auf Glas eingeritzten Maßstäben mißt man unter dem Mikroskop u. a. die Größe der Bakterien, deren Länge und Breite häufig ja noch weniger als 1/1000 mm beträgt. Heute vermag man ihn sogar in 2000 Teile und darüber einzuteilen. Bleiben wir jedoch bei der Tausend-Teilung stehen! Mit derselben ist man imstande, ein Quadrat, dessen Seiten je 1 mm lang sind, in 1000 mal 1000, d. h. 1 Million kleine Quadrate zu zerlegen. Ein englischer Zoll ist nun etwa 25 mm lang, ein Quadratzoll also 25 X 25 = 625 Quadratmillimeter groß. Diese 625 Quadratmillimeter, nach der Tausend-Teilung geteilt, enthalten also die Summe von 625 Millionen kleiner Quadrate. Greift man nun schon ziemlich hoch und nimmt sogar an, daß ein einziger Buchstabe den Raum von 8 solchen kleinen Quadraten beansprucht, also gewiß nicht zu wenig, so kommen auf 1 Quadratmillimeter nicht weniger als 125 000 Buchstaben, und auf einen Quadratzoll 625 mal 125000 = 78125000 Buchstaben. Da nun die englische Bibel, wie schon bemerkt, aus 31/2 Millionen Buchstaben besteht, so würde man sie thatsächlich sogar etwas über 22 mal auf die Fläche eines Quadratzolls zu schreiben imstande sein, denn 31/2 mal 22 ist erst 77; es bleiben also von den 625 Quadratmillimetern sogar noch 9 unbeschrieben. Dr. –dt.     

Mutterliebe. (Zu dem Bilde S. 237.) Der rohe Kampf ums Dasein, der in der Tierwelt unaufhörlich wütet, zeitigt auch Thaten selbstloser Aufopferung, die das menschliche Herz tief zu rühren vermögen. Die Eltern- und vor allem die Mutterliebe ist es, welche viele [260] Tiere sozusagen zu Helden macht, wo es gilt, die eigene wehrlose Brut gegen räuberische Ueberfälle zu verteidigen. Mutterliebe kommt auch in dem Kampfe zur Geltung, den das stimmungsvolle Bild von Ludwig Beckmann uns vorführt. Der herrschsüchtige Schwan ist wohl ein kräftiger Vogel, der sich zu wehren versteht, immerhin ist aber auf festem Lande der Fuchs ein ihm überlegener Gegner. Und doch setzt sich die Schwanenmutter tapfer zur Wehr und achtet nicht auf die Gefahr, die ihr droht, da sie ihre Küchlein beschützen will. Aug’ in Auge stehen sich die Feinde gegenüber und der drohende kräftige, zum Stoß bereite Schnabel hält Meister Reineke in gebührender Entfernung. Sicher wird es der bedrohten Familie gelingen, die Flut zu erreichen; in das tiefe Gewässer wird ihr der Fuchs nicht gern folgen wollen und am Ufer das Nachsehen haben. *      

Eine Verhaftung. (Zu dem Bilde S. 240 und 241.) Es war eine traurige Zeit, als Deutschland nach den unglücklichen Schlachten bei Jena und Auerstädt unter die französische Fremdherrschaft sich beugen mußte. Erhebend war aber in ihr das Beispiel der Männer, die das Volk zu einer neuen Erhebung aufriefen. Vielen von ihnen war es nicht vergönnt, den endgültigen Sieg der Gerechtigkeit zu erleben; frühzeitig starben sie den Heldentod als Opfer des Gewaltherrschers, der alle auf Befreiung und Erhebung Deutschlands gerichteten Bestrebungen mit dem glühendsten Haß verfolgte. – In jene schwere Zeit der Bedrückung versetzt uns das wirkungsvolle Bild von J. Weiser. Der junge Mann, der in dem alten Landsitz im engen Kreise der Verwandten seine Hochzeit hält, hat an den Vorbereitungen zur Bekämpfung der Fremdherrschaft teilgenommen. Der Feind hat es erfahren, und er ist als Hochverräter und Verschwörer geächtet. An der Hochzeitstafel wird der Verfolgte verhaftet, von der Seite seiner ihm soeben angetrauten Gemahlin in die Kerkerhaft abgeführt. Fürwahr, sprechender könnte das schwere Joch, das damals auf dem deutschen Volke lastete, kaum dargestellt werden! Wohl hat für all jenes Unrecht dem Feinde die Stunde der Vergeltung geschlagen, aber Erinnerungen an jene trübe Zeit müssen wachgehalten werden als mahnende Warnung für spätere Geschlechter. *      

Nachbarschafts- und Versöhnungsfeste. Seit Jahrhunderten pflegt man in gewissen Orten des Rheinlands und Westfalens einmal im Jahre ein Fest zu feiern, an dem das Kriegsbeil begraben wird: man vergißt geschehene Unbill, man versöhnt sich. Bald sind es ganze Orte, bald nur bestimmte Straßen, welche das Nachbarzehren, auch Nachbargelag genannt, begehen. Eine kirchliche Feier, bestehend in gemeinschaftlichem Gottesdienst, bildet in der Regel die Einleitung, später findet dann das eigentliche Fest, bestehend in gemeinsamem Essen, Trinken, in Vorträgen u. dergl., statt. Derartige Feste werden in Camp am Rhein, in Coesfeld, namentlich aber in Münster i. W. gefeiert. Hier giebt es mehrere St. Peter-Bruder- oder Nachbarschaften, so genannt, weil sie den Apostel Petrus zum Protektor erwählt haben. Diese Vereinigungen sind zum Teil uralt. Die Gründung der Spiekerhofs-Nachbarschaft in Münster i. W. fällt nachweislich in das Jahr 1571, und zum Teil sind noch genaue Nachrichten und Schriftstücke aus dieser Zeit vorhanden. Nach und nach haben sich für die Begehung dieser Feste, über die Aufbringung der Gelder, oie Festordnung, ja über die Speisen und Getränke, bestimmte Regeln herausgebildet. Fremde dürfen sich im allgemeinen nicht daran beteiligen. Bd.     

Ein fröhlicher Zecher.
Nach dem Gemälde von H. Knoechl.

Kipfenberg. (Zu dem Bilde S. 253.) Nördlich von Ingolstadt erstreckt sich die Altmühlalp, ein Teil des Fränkischen Jura. Durchflossen von der fischreichen Altmühl, ist sie nicht nur durch landschaftliche Reize, frische Wiesengründe und dunkle Wälder, ausgezeichnet, sondern bietet den Blicken des Wanderers auch zahlreiche Baudenkmäler längst vergangener Zeiten. Diese Gegend gehörte einst zum Grenzgebiet römischer Besitzungen in Germanien, und die Welteroberer führten auch durch sie den berühmten Grenzwall (Vallum Hadriani), der an vielen Stellen durch Kastelle noch besonders befestigt war. Ueberreste dieser Mauer sind noch heute vorhanden; sie zog sich dahin durch Berg und Thal, durch Flur und Wald. Das Volk hat in diesem Bau, „dessen Anfang und Ende niemand kannte“, ein Werk böser Geister erblickt und ihm den Namen „Teufelsmauer“ beigelegt. Als die Herrschaft der Römer zusammengebrochen war, standen die Kastelle verödet, bis sich deutsche Ritter in der wald- und schluchtenreichen Gegend niederließen und die ehemaligen römischen Festungen in Burgen umwandelten. So war auch Kipfenberg im Altmühlthale einst eine römische Niederlassung und auf der Stelle der Burg befanden sich namhafte Befestigungen. Aus der Römerzeit stammt noch der unverwüstliche Turm, der die Burg überragt. In unmittelbarer Nähe der Burg senken sich die Ueberreste der „Teufelsmauer“ ins Thal und reichen bis in die Häuserreihen des Ortes Kipfenberg. Wie Karl Kugler in seiner Schrift „Die Altmühlalp“ berichtet, gehörte Kipfenberg einst der Familie derer von Kropf oder Steuma. Dann ging es im Jahre 1301 in den Besitz des Hochstifts von Eichstätt über und wurde von einem fürstbischöflichen Pfleger verwaltet. Das Volk erzählt sich allerlei Schauergeschichten über geheimnisvolle Ereignisse, die sich in den Verließen des Schlosses zugetragen haben. Im Anfange des 15. Jahrhunderts wurden in Kipfenberg viele Raubritter aus dem fränkischen Adel gefangen gehalten und manche von ihnen sollen in den Gewölben der Burg die Todesstrafe erlitten haben.*      

Erste große Wäsche. (Zu dem Bilde S. 249.) Ein köstliches Gefühl, seine schönen spitzenbesetzten Leinwandschätze so recht nahe der großen Straße aufzuhängen, damit die nachmittags zum Waldwirtshaus pilgernden Kleinstädterinnen sehen, wie gediegen die Aussteuer der jungen Förstersfrau ist! Sie hat tüchtig mitgeholfen beim Waschen wie beim Hängen, denn die paar Jahre in einem Geschäft der Residenz haben ihrer frischen jungen Kraft nichts geschadet, im Gegenteil! Und jetzt heißt es, fix zu Ende kommen; in einer Viertelstunde wird der Mann da sein und sein Essen verlangen! … Daß er schon hinter der Leine steht und sein hübsches fleißiges Weibchen voll Vergnügen beobachtet, das merkt sie in ihrem Eifer nicht. Aber Waldmann, der Verräter, schnuppert bereits an dem schönen Vorhang herum, und ehe die nächste Sekunde vergeht, wird es mit dem Wäschehängen im blühenden Baumgarten vorbei sein. So wichtig dieses auch ist – sie hat dann entschieden Wichtigeres zu thun! Bn.     

Acetylengasmotoren. In dem Artikel über das Acetylengas, der in Halbheft 1 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ erschienen ist, wurde auch die Frage der Verwendbarkeit des Acetylens zum Betrieb von Gasmotoren erörtert. Der Verfasser meinte, daß die heftigen Stöße, die dieses Gas bei seinen stürmischen Explosionen äußert, dieser Verwendung einstweilen noch hinderlich seien, sprach aber die Hoffnung aus, daß es in Zukunft gelingen werde, zweckentsprechende Motoren zu bauen. Wie wir erfahren, baut die Motorenfabrik von Moritz Hille in Dresden-Löbtau schon jetzt Acetylengasmotoren, die ebenso ruhig, geräuschlos und stoßfrei arbeiten wie die mit gewöhnlichem Leuchtgas btriebenen. – Es freut uns, auch diesen Fortschritt der deutschen Technik zur Kenntnis unserer Leser bringen zu können. *      

Dankopfer der Liebe. (Zu unserer Kunstbeilage.) Was hat der kleine kluge Amor, der dort in der Ecke von seinem Postament herab mit schlauem Lächeln das Thun seiner Umgebung belauscht, in jüngster Zeit nicht alles erleben dürfen! Wie hat das Schicksal seiner schönen Schutzbefohlenen, die ihn jetzt als glückliche Braut dankbaren Herzens bekränzt, seine siegreiche Allgewalt wieder bestätigt! Wie spröd’ und kühl nahm sie im Anfang die Bewerbungen des Mannes auf, aus dessen Armen sie sich vorhin gelöst, um die Blumen, die er ihr gebracht, dem Gotte, der alles so schön gefügt, als Dankopfer darzubringen! Und wie bald kam es dann doch unter seinem Schutz zu Sehnsuchtsseufzern und schmachtenden Blicken, zu zärtlichem Händedruck, zum ersten Kuß und schließlich zu jenem heimlichen Briefwechsel, für welchen er der getreue Vermittler ward. Hinter seinem Rücken ließen sich die duftigen Liebesbriefchen ja so schön verstecken! Nun, er hat redlich dafür gesorgt, daß ein jedes Billet auch in die rechten Hände kam. Ja, das Fräulein hat alle Ursache, ihm dankbar zu sein; aber der Blumen bedurfte es kaum, ihren Dank zum Ausdruck zu bringen – das Glück, dem sie sich im Glanz ihrer jungen Schönheit mit voller Seele hingiebt, ist für Gott Amor der beste Dank.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Wandtafel für die Kegelbahn.

Wandtafel für die Kegelbahn oder ein Spielzimmer. In den alten tiroler Wirtshäusern findet man diese Tafeln, und zwar sitzen dort oft drei von absteigender Größe in- und voreinander; die größte, zunächst der Wand, ist verschließbar und stellt das Geheimbuch vor. Unsere Abbildung zeigt eine einfache Tafel mit verziertem Deckel zum Schließen. Man läßt eine gewöhnliche große Schiefertafel in einen breiteren Holzrahmen fassen und einen Deckel durch zwei kleine Scharniere an der inneren Kante desselben befestigen. Diesen Deckel verziert man durch Beizen des Randes, in welchem das Schlüsselloch sitzt, und durch Anbringung eines echten oder Scherzwappens; das Dargestellte bezicht sich auf Billard- und Kegelspiel. Natürlich ist Kerbschnitt, Flachschnitzerei, Nagelarbeit ebenso verwendbar wie Brandmalerei.

Auffrischung schwarzer und weiher Schleier. Feuchte Witterung bereitet den Schleierträgerinnen manchen Kummer, denn sie veranlaßt es, daß die Schleier, ganz besonders die beliebten Gitterschleier, ihre Steife verlieren und bei jedem Gebrauch sich mehr verziehen. Es ist in solchen Fällen von Nutzen, einfache Auffrischungsmittel für diese Schleier zu kennen, damit sie ihre Appretur wieder erhalten. Für schwarze Schleier empfiehlt sich ein Eintauchen in eine Lösung von warmem schwarzen Kaffee und Leim. Man drückt die Schleier danach leicht aus und spannt sie in der gewünschten Länge und Breite mit Stecknadeln auf ein reines Tuch, auf dem man sie bis zum Trocknen beläßt. Bei weißen Schleiern wird man mit dem Auffrischen wohl meist auch eine Wäsche verbinden, da nichts leichter schmutzt und dann häßlich aussieht, als weiße Schleier. Das Waschen geschieht am besten in lauwarmem Gallseifenwasser. Man braucht die Schleier nur vorsichtig einigemal ohne Reiben oder Drücken durch dies Wasser zu ziehen, um sie zu säubern. Dann spült man sie gut in klarem Wasser nach und taucht sie darauf in eine warme starke Lösung von Zucker und weißer Gelatine. Das Aufspannen geschieht wie bei den schwarzen Schleiern. Nach diesem Verfahren werden die Schleier wie neu, man erspart also längere Zeit eine Neuanschaffung. L.     

Kinderjäckchen mit Stickerei.

Kinderjäckchen mit Stickerei. Man arbeitet dasselbe aus leichtem, waschbarem Wollstoff in weißer Farbe, languettiert es am Vorderschluß, am unteren Rand, am Kragen und an den Manschetten mit roter oder blauer Waschseide aus und verziert es mit einer leichten Stickerei in Kreuz- oder Stielstichen, wie nebenstehende Abbildung zeigt.

Decke in schwedischer Mosaikarbeit.

Schwedische Mosaikarbeit. Nachdem die nordischen Stickereien auf dem bekannten herrlichen Filztuch eine große Beliebtheit auch in Deutschland fanden, bringt man jetzt eine eigenartige Mosaikarbeit aus Schweden in den Handel. Es ist dies eine Vereinigung von Filztuch mit Leder, und zwar wird ersteres in zwei zum Lederbraun harmonierenden Farben genommen. Zumeist sind es Decken, Läufer, Kissen, Lambrequins, Wandbehänge, Fenstermäntel, auch Mappendeckel etc., welche mit der neuen Mosaikarbeit höchst effektvoll verziert werden können. Die eine Farbe des Filztuches ergiebt den Fond, die andere eine Umrandung desselben. Aus dünnem Rindsleder schneidet man zunächst entsprechend groß gehaltene Einzelfiguren mit einem scharfen Messerchen heraus und verziert sie mit Brandmalerei oder Beizarbeit. Nunmehr klebt man diese Lederfignren mit dickem Leim auf den Fond und nmgiebt die Schnittränder mit einer doppelten Reihe Japangold, indem man dasselbe schnürchenartig darum legt und mit gelbseidenen Heftstichen, die auch das Leder fassen, befestigt. In gleicher Art verdeckt man die Verbindung des Fonds mit der Umrandung, nachdem man beide Stoffe auf der Rückseite in üblicher Weise zusammengenäht hat. Wer die Arbeit noch künstlerischer ausführen will, kann dies durch einige Stickereieffekte in farbiger Seide sehr gut erreichen; im allgemeinen bängt aber der Wert und die Schönheit der schwedischen Mosaik von einer wirkungsvollen Mustervorlage und faltenlosen Auflage des Leders ab.


Im Haus- und Zimmergarten.

Myrsiphyllum asparagoides. In dem Augenblicke, wo in der Bindekunst die Verwendung langstieliger Blumen allgemein wurde, mußte naturgemäß auch für die Herbeischaffung langstieligen Grüns Sorge getragen werden. Die fremdländischen Spargelarten verdanken ihre Beliebtheit ganz besonders dieser neuen Mode; auch das Myrsiphyllum asparagoides ist ihretwegen eine vielverbreitete Pflanze geworden. Der Blumenfreund, welcher im allgemeinen das, was er sieht, auch für seine Zimmer haben möchte, kann mit der Bevorzugung dieser Pflanzen ebenfalls zufrieden sein, denn sie eignen sich für seine Zimmer in hohem Maße. Während er aber die zierlichen Spargelarten als kleine Pflanzen kaufen muß, kaun er sich das Myrsiphyllum leicht und ohne viel Kosten selbst heranziehen. Eine Prise Samen kostet 20 Pfennig. Diese gehen, im Januar, Februar oder März gesät, gut im Zimmer auf, sobald sie in eine leichte Erde gesät werden. Die jungen Pflänzchen entwickeln sich ziemlich rasch. Allerdings sind sie anfangs recht dünn und lassen nicht vermuten, daß sie später Triebe von 1 m Länge und mehr in einem Sommer treiben. Sie müssen bald einzeln in kleine Töpfe gesetzt werden und sind im Laufe des Sommers noch ein- bis zweimal umzupflanzen. Der beste Platz ist das Fenster nach Osten oder Westen.

Myrsiphyllum asparagoides.

50 bis 60 cm lang werden die Triebe hier schon im ersten Jahre. Ueber Winter können die Myrsiphyllen bei 2 bis 3° R. stehen, aber auch im Wohnzimmer Platz finden. Sie haben einen fleischigen Wurzelstock. Aus ihm treiben sie neue Ranken heraus. Bei kräftigem Triebe bedürfen sie reichlich Wasser, öfter auch einen Dungguß. Während der Ruhe sollen sie wenig gegossen werden. Man kann das Myrsiphyllum als Rankpflanze benutzen und die Zweige an den Fensterrahmen hoch leiten; als Ampelpflanze eignet es sich auch, doch ist die erstere Verwendungsart vorzuziehen.

Ein neuer Springbrunnen. Das Wasser bildet einen Schmuck der Landschaft und jeder Garten gewinnt an Reiz, wenn in ihm wenigstens nur ein Springbrunnen plätschert. Für viele Gartenbesitzer wird es darum von Interesse sein, zu erfahren, daß der Parkdirektor Rudolf Reinecken in Greiz „Düsen“ (Springbrunnenaufsätze) erfunden hat, mit deren Hilfe sich schon unter verhältnismäßig geringem Wasserdruck ein origineller und schöner Springbrunnen einrichten läßt. Die Eigenart der neuen Düsen besteht vor allem darin, daß sie bei richtiger Einstellung sehr hübsche Effekte erzielen. Das Wasser zerstäubt nicht in feinen Tropfen, auch wird es nicht als unförmliche, schaumige Massen in die Höhe geschleudert, sondern es löst sich der ganze aufsteigende Strahl in größere und kleinere Kugeln auf, die aus Wasser und Luft bestehen, was einen fesselnden Anblick gewährt. Durch eine besondere Einrichtung läßt sich die Säule der emporsteigenden Wasserkugeln in symmetrisch geordnete Strahlen zerlegen. Dann bietet der Springbrunnen den überraschenden Anblick von Sträußen fliegender, sich gleichsam haschender Kugeln, deren Durchmesser 15 bis 25 mm beträgt. Schon mit einem Leitungsdruck von einer halben Atmosphäre läßt sich ein zwar bescheidener aber interessanter Springbrunnen einrichten. Wo Wasserleitung fehlt, genügt schon ein Druckbassin, das in einer Höhe von 5 bis 10 m über dem zu speisenden Springbrunnen angelegt worden ist.

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Allerlei Kurzweil.


Rösselsprung-Rebus.
Von Erh. Lipka.


Rätsel.

Mit c: so hat’s der Landmann in Gebrauch,
Und steht ein r dafür, gebraucht er’s auch.   E. S.


Wechselrätsel.

Mit b ist es, bald groß, bald klein,
In Hütte, Haus und Schloß zu schauen.
Mit f wird es gemacht aus Stein,
Auch nähen’s an das Kleid die Frauen.
Mit t es ewig weiblich ist –
Ob ihr wohl schon die Lösung wißt?
 F. Müller-Saalfeld.


Dominoaufgabe.

A, B, C und D nehmen je sieben Steine auf. C gat auf seinen Steinen 2 Augen mehr als B, aber 12 Augen weniger als D.

A hat:

A setzt Blank-Fünf aus und gewinnt dadurch, daß er die Partie bei der sechsten RUnde mit Eins-Blank sperrt. B kann nur bei der ersten und fünften RUnde ansetzen. C muß bei der vierten und fünften, D aber bei der dritten, vierten und fünften RUnde passen. Die übrigbleibenden Steine von B haben fünfmal, die von C viermal und die von D siebenmal soviel Augen als die von A. – Die dreizehn Steine der Partie haben 66 Augen.

Wieviel Augen haben die Steine jedes Spielers zu Anfang und Ende des Spiels? Welche Steine behalten C und D übrig? Wie ist der Gang der Partie? A. St.     


Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 7.

1. D b 4 – e 7 0 K h 5 – h 6
2. D e 7 – h 7 + K h 6 – h 7:
3. S h 3 – g 5 ≠

A. 1. . . . . g 6 – g 5
A. 2. S h 3 – f 2 + beliebig
A. 3. D e 7 – h 7, g 7 ≠

Nach 1. …… L e 2 – f 1 folgt 2. T h 2 – g 2: nebst 3. D e 7 – g 5, h 4 ≠, und 1. …… K h 5 – g 4 widerlegt 2. D e 7 – g 5 + K g 4 – f 3 3. D g 5 – f 4 ≠. – Alle übrigen Gegenzüge des Schwarzen erledigt die hübsche Drohung 2. D e 7 – g 5 + T g (2) – g 5 : nebst 3. S h 3 – f 2 ≠.


Auflösung des Königszugs auf dem Umschlag von Halbheft 7.

Was du als wahr erkannt,
Verkünd’ es sonder Zagen,
Nur trachte, Wahrheit stets
Mit mildem Wort zu sagen.
 Betty Paoli.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 7. 0 Michel, Sichel.

Auflösung des Worträtsels auf dem Umschlag von Halbheft 7.       Plombe.

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 7.   Arion, Orion.

Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 7. 0 Ruhe, Ruhm, Ruhr.

Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 6.

Aus einer Vergleichung seiner eigenen Karten mit den aufgelegten Karten des Spielers muß der Gegner in Vorhand ersehen, daß, wenn Mittelhand die r7 hat, der Spieler schon den 4. Stich nehmen muß, daß aber auch, falls r7 im Skat liegt, der Spieler in Schellen gefangen werden kann, wenn Mittelhand Gelegenheit findet, ihre Schellen-Blätter rechtzeitig abzuwerfen. Vorhand muß aber sich die Möglichkeit offen halten, durch Zurückhaltung eines hohen Blattes wieder zum Ausspielen zu kommen, und ferner es möglichst verhindern, daß Mittelhand anstatt seiner Schellen-Blätter die roten abwirft. Bei folgender Kartenverteilung fällt das Null ouvert nicht eher als im 10. Stich. Mittelhand: eK., gD., rZ., rK., rO., sZ., sO., sK., sD. Skat: eD., r7 mit dieser Spielführung:

1) rU.,[1] rK.! r9.
2) gD.! gU., gK.
3) eK., eU., eO.
4) rZ.! r8, rD.
5) gO., sD.! g8.
6) gZ., sK.! g7.
7) g9, sO., s9.
8) e9, sU., e8.
9) eZ., sZ., e7.
10) s7! rO., s8. X



  1. Nicht etwa rD., weil dann Vorhand nicht wieder zum Ausspielen kommt, sondern Mittelhand alle Stiche behält.




[ Auf der unteren Hälfte der Seite 2 Geschäftsanzeigen für den amerikanischen Markt.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.