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Die Gartenlaube (1898)/Heft 9

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[260 c]

9. Heft. Preis 10 cents. 5. Mai 1898.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[260 d]

Inhalt.
Seite
Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (2. Fortsetzung) 262
Zu Fuß um die Erde. Das Kloster des Chanbo-Lama am Gänsesee. Reiseskizze von K. von Rengarten. Mit Abbildungen 269
Naturspiele. Von Rudolf Kleinpaul 272
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (8. Fortsetzung) 275
Konrad Wiederhold. Von Alfred Freihofer. Mit Abbildungen 285
Deutsches Vereinswesen in New Nork. Von Max E. Flössel (New York) 287
Blätter und Blüten: Frühling. (Zu dem Bilde S. 261.) S. 288. – Der kaspische Panther im Berliner Zoologischen Garten. Von Matschie. (Zu dem Bilde S. 290.) S. 288. – Ein neues Unterseeboot. (Mit Abbildung.) S. 290. – Der Gertelbachfall im Schwarzwald. Von J. J. Hoffmann. (Zu dem Bilde S. 277.) S. 291. – Feuer im Schiff. Von P. G. Heims. (Zu dem Bilde S. 280 und 281.) S. 291. – Abschied. (Mit Abbildung.) S. 291. – Das Altonaer Denkmal der Erhebung Schleswig-Holsteins vor fünfzig Jahren. (Mit Abbildung.) S. 292. – Unterm Lindenbaum. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 292.
Illustrationen: Frühling. Von L. Wankie. S. 261. – Lustige Fahrt. Von O. Gräf. S. 265. – Abbildungen zu dem Artikel „Zu Fuß um die Erde“. Der Wagen des Götzen „Maidari“. S. 269. Maskentypen von dem Feste „Tsamm“. S. 272. Das Tsammfest im Lamaïtenkloster am Gänsesee in Sibirien. Von Fritz Bergen. S. 273. – Der Gertelbachfall im Schwarzwald. S. 277. – Feuer im Schiff. Von M. Schöne. S. 280 und 281. – Abbildungen zu dem Artikel „Konrad Wiederhold“. Konrad Wiederhold. Der Hohentwiel im Jahre 1643. S. 285. Am Hohentwiel. Von A. Chelius. S. 289. – Der kaspische Panther im Berliner Zoologischen Garten. Von Anna Matschie-Held. S. 290. – Simon Lakes Unterseeboot. S. 290. – Abschied. Von J. Rolletschek. S. 291. – Das Altonaer Denkmal der Erhebung Schleswig-Holsteins vor fünfzig Jahren. S. 292.
Hierzu Kunstbeilage IX:0 „Unterm Lindenbaum“. 0Von F. Simm.




Kleine Mitteilungen.


Mit dem Einzug des Lenzes erwacht die Reiselust in weiten Kreisen des Volkes. Wochen werden allerdings noch vergehen, bis der breite Strom der Touristen und Sommerfrischler in die Berge und an die Seeküste sich ergießen wird, aber schon jetzt wird daheim die Frage: „Wohin reisen wir dieses Jahr?“ lebhaft erörtert. Es ist auch gut, wenn die Reisepläne gründlich erwogen und die Vorbereitungen zur Reise in Muße getroffen werden. Darum bringen wir schon heute einige Winke für die Reisezeit. Wir eröffnen dieselben mit einem Ueberblicke der neuesten Erscheinungen der Reiselitteratur und lassen dann für handfertige Leser einige Anleitungen zur Herstellung von Gegenständen folgen, die auf der Reise diesem und jenem nützen können.

*               *
*

Reiselitteratur. Immer neue Ländergebiete erschließen sich dem touristischen Verkehr in dem Grade, daß es nötig und lohnend wird, ihnen ein besonderes Reisehandbuch zu widmen. So hat Karl Bädeker in Leipzig Spanien und Portugal in die Reihe der Länder eingeführt, die nach seiner altbewährten Methode für das Bedürfnis des Reiseverkehrs in einem der berühmten roten Bände zur Darstellung gelangt sind. Dieses Reisehandbuch für Spanien und Portugal hat langer Vorbereitung bedurft; stellten doch die dort noch herrschenden Zustände einem solchen Unternehmen ganz andere Schwierigkeiten entgegen, als jene Nachbarländer es thaten, mit welchen wir Deutschen seit langem in innigem Verkehr stehen. Das verarbeitete Material der sachlichen Angaben wurde von Dr. Propping während einer fünfmonatigen Reise gesammelt. Als praktischer Ratgeber für einen leichten Ueberblick der Sehenswürdigkeiten, welche in Landschaft und Kunst die Pyrenäische Halbinsel birgt, für die Auswahl des Wichtigsten und Besten, das rasche Auffinden desselben ist das Buch mit seinen 6 Karten, 31 Plänen und 11 Grundrissen eine wahre Musterleistung. Ganz besonderen Wert erhält es aber noch durch die beigegebene Gesamtübersicht der spanischen Kunstentwicklung von Professor C. Justi, welcher ein selbständiger kunstgeschichtlicher Wert innewohnt.

Einen neuen Charakter hat in der Sammlung von „Meyers Reisebüchern“ (Leipzig, Bibliographisches Institut) der Band „Südfrankreich“ von Dr. Gsell-Fels in seiner vierten Auflage erhalten. Sein Haupttitel lautet jetzt bezeichnenderweise „Riviera“; ist doch das Hauptgewicht bei der Neubearbeitung des Stoffes auf eine einläßliche Darstellung der gesamten Riviera von Viareggio über Nervi, Genua, San Remo, Nizza bis Hyères, unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kurgästen, gelegt worden. Auch die anderen Winterkurorte am Südabhang der Alpen sind in das Darstellungsgebiet, ebenso wie Korsika, Algerien und Tunis, hineinbezogen. Mit der Tendenz dieses Bandes verwandt ist der bekannte inhaltreiche Schweizer Kur-Almanach „Die Kurorte und Heilquellen der Schweiz“ von Dr. Hans Loescher, der in zwölfter vermehrter Auflage vorliegt.

Bädekers „Schweiz“, das von allen ähnlichen Handbüchern wohl die größte Verbreitung gefunden hat und in jeder neuen Auflage weitere Vervollkommnung aufweist, ist bereits zur 27. Auflage emporgerückt.

Kleinere Bezirke bringen die „Illustrierten Führer“ von A. Hartlebens Verlag in Wien zur Darstellung. Zu ihnen zählen die vortrefflichen Bände von J. Meurer über „Salzburg und das Berchtesgadener Land“, dessen zweite Auflage 25 Illustrationen neben 5 Karten und 2 Panoramen enthält, und „Wien und Umgebungen“, in fünfter Auflage mit 44 Illustrationen, ferner der Führer durch „Triest und Umgebungen“, in welchem auch Ausflüge nach Görz, Abbazia, nach dem Wörthersee, Klagenfurt und Oberkrain enthalten sind und dessen vierte umgearbeitete Auflage 60 Abbildungen zum Schmuck hat. Dem schönen Kärntner Land mit seinen Seen ist auch ein besonderer Band von Hartlebens „Führern“: Rabls „Illustrierter Führer durch Kärnten“ gewidmet, der in zweiter bedeutend vermehrter Auflage vorliegt. „Bruckmanns illustrierte Reiseführer“ (München, A. Bruckmanns Verlag) sind durch den Band „Steiermark“ von Dr. Gsell-Fels bereichert worden. Das Buch giebt treffliche Auskunft über Land und Leute, giebt Anleitung zur Reise auf achtzehn Hauptrouten und ist mit 70 Illustrationen, dem Plan von Graz und einer Touristenkarte von Steiermark ausgestattet.

Von Peips kleinen Taschenatlanten zur Benutzung auf Reisen (Verlag von Hobbing & Büchle in Stuttgart) ist als völlig neu der „Taschenatlas vom Mittelrhein“ mit 16 Karten erschienen, der sich in der praktischen Einrichtung und handlichen Ausstattung durchaus den vorausgegangenen Peipschen Atlanten von „Berlin und Umgebung“ und „Wien und Umgebung“ anschließt.

Gefütterte Tasche als Sitzkissen. In der Sommerfrische und auf Waldspaziergängen pflegen Damen gern ein Buch oder eine Handarbeit bei sich zu führen, um sich damit an einem lauschigen Plätzchen niederzulassen. Zum Tragen dieser Gegenstände, zugleich aber als weiches Polster für die mitunter recht harten Bänke oder den Sitz im Moose soll eine gefütterte Tasche dienen. Aus Jute- oder Kanevasstoff hergestellt und mit Streifen von Kreuzstichstickerei verziert, ist sie inwendig mit einer Watteschicht und ungebleichter Leinwand gefüttert; auf jeder Seite befindet sich in dem Leinenfutter eine Tasche. Getragen wird das Taschenkissen, dessen Länge einen halben Meter, dessen Höhe dagegen einen Viertelmeter beträgt, an zwei Handhaben von hübscher Schnur oder Borte.

Kofferdecke. Zur Schonung der in die Koffer gepackten Kleidungsstücke empfiehlt sich eine Decke aus Grauleinen oder Fischerleinen. Man umgiebt die Decke mit einer breiten Einfassung aus bordeaux, feuerrot oder marine Satin und verziert die innere Fläche mit einer Stickerei von gleicher Farbe wie die Einfassung, aber in zwei oder drei Abtönungen. Ein Monogramm mit leicht bewegtem Blumenzweig sieht für diesen Zweck wohl am schönsten aus.

Fahrkartentasche. Um die Monatskarten der Eisen- und Straßenbahnen, Rundreisebillets etc. besser und sauberer verwahren zu können, als dies in der bloßen Rocktasche möglich ist, empfiehlt sich die Anfertigung einer besonderen Tasche. Man macht sie aus steifer, mit Leinen überzogener Pappe oder aus Leder und bringt zur Verschönerung des Aeußeren noch ein Muster an, das mit Pinsel und Farbe oder mit dem Brennstift dargestellt wird.

[260 e]

Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.

UNTERM LINDENBAUM
Nach dem Gemälde von F. Simm


Die Gartenlaube 1898. 0Kunstbeilage 9

[261]

Halbheft 9.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Frühling.
Nach dem Gemälde von L. Wankie.

[262]
Nachdruck verboten.  
Alle Rechte vorbehalten.
          
Die arme Kleine.
Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

(2. Fortsetzung.)


Die Wirkung dieser gesprochenen Bombe war sehr groß. Kosel blickte verstört um sich, überall Hilfe suchend gegen das Attentat Charlottens auf seine Selbstbestimmung und Selbstherrlichkeit. Wußte er nicht ohnehin, was jeder in seinem Hause brauchte? war nicht für alles aufs beste gesorgt? war die Einzige, die in derlei Angelegenheiten mitzureden gehabt hätte, nicht für immer verstummt? Traurige Verlassenheit, in der er sich befand, herzbrechende! Nun ja, sie war ja fort, die ihn geliebt, bewundert, und wenn geleitet, rücksichtsvoll und schonend geleitet hatte. Jetzt sollte er nur so ohne weiteres geleitet werden.

Er bäumte sich auf. „Tante Renate! Herr Pfarrer!“ rief er, „sind auch Sie der Meinung, daß meine Buben einen Hofmeister brauchen? Ist denn ihre Erziehung bisher vernachlässigt worden?“

„Vielleicht nur nicht genug überwacht,“ erwiderte Renate mit einem um Entschuldigung bittenden Blick. Und der Herr Pfarrer erklärte in seiner freundlich entschiedenen Weise, er fände, daß es Zeit wäre, einen Erzieher für die jungen Herren zu suchen.

„Suchen? Ja, suchen wäre freilich leicht. Aber wie sieht es mit dem Finden aus, um das es sich dabei doch handelt, einzig und allein?“ … versetzte Kosel. „Suchen – finden! das sagt man so; doch welche Kluft zwischen suchen und finden liegt, bedenkt man nicht.“

Er vertiefte sich in teils ausgesprochene, teils unausgesprochene Betrachtungen über diese Kluft, bis die gute Pendeluhr Zehn schlug und man schlafen ging.

Das Ende war, daß die Tanten suchten und der Neffe glaubte gefunden zu haben. Eines Tages erschien vor Kosel ein langer, hagerer, dürftig gekleideter Mann mit großem Kopf, großen Zügen und einer Fülle grauer, welliger Haare, der einen Empfehlungsbrief vom Herrn Landesschulrat überbrachte. Er verneigte sich ehrerbietig und sagte etwas, aber so leise, daß es unmöglich war, ihn zu verstehen. Seine Stimme und die knochige Hand, die einen Brief und ein Paket Zeugnisse überreichte, zitterte, und dieses Zittern war Herrn von Kosel schmeichelhaft.

„Setzen Sie sich,“ sprach er und las den Brief des Landesschulrats langsam und aufmerksam durch. „Sie heißen Heideschmied, wie ich mit Vergnügen sehe,“ begann er nach beendeter Lektüre und brauchte zum Glück niemand Rechenschaft zu geben von dem Grunde seines Vergnügens.

„Wilhelm Heideschmied,“ flüsterte der Angeredete äußerst beklommen.

„Und Sie wünschen die Stelle eines Erziehers bei meinen Söhnen zu übernehmen …“

„Ich wäre glücklich …“

„Und der Herr Schulrat empfiehlt Sie warm, ja, ja, warm,“ bekräftigte Kosel. „Es freut mich, Sie gefunden zu haben. Aber, Herr Heideschmied …“ Er warf einen Streifblick auf den schüchternen Mann, den ein Schauer nach dem andern durchbebte: „Meine Söhne sind wild, sehr wild.“

„Das ist recht,“ lautete die überraschende Erwiderung, „das ist mir ganz recht, meine früheren Zöglinge waren auch sehr wild.“

„Dann werden Sie wohl eine gute Methode haben,“ bemerkte Kosel und verbreitete sich ein bißchen und mit häufigen Wiederholungen über den Wert einer guten Methode. Heideschmied hörte andächtig zu, blieb immer gleich bescheiden und ehrfurchtsvoll, aber das Zittern legte sich. Es kam auch nicht wieder zum Vorschein, als Herr von Kosel ihn in den Sibyllenturm führte, um den Damen den Erzieher vorzustellen, den er für seine Söhne gewählt hatte.

Die Schwestern waren gewinnend liebenswürdig, und als man in den Garten ging, um die „Buben“ aufzusuchen, vertraute Renate Herrn Heideschmied an:

„Wir wissen, mit wem wir es zu thun haben. Meine Schwester hat Ihretwegen im Auftrage meines Neffen mit dem Herrn Landesschulrat in Korrespondenz gestanden.“

Auf die jungen Herren mußte ein Treibjagen abgehalten werden wie auf Hasen. Endlich kamen sie in Sicht. Joseph und Leopold zu Pferde, Franz, ein Paar störrischer Böcke kutschierend.

„Steigt ab! steig aus!“ rief Kosel. „Kinder, begrüßt den Herrn Hofmeister!“

„Gleich, Papa, gleich!“ gaben sie zur Antwort und stürmten weiter. Heideschmied sah ihnen mit freudig leuchtenden Augen nach und sprach leise: „Es sind herrliche Kinder, ich liebe sie schon.“

– – – – – – – – – – – – –

Nachmittags saß Kosel im Zimmer Elikas, auf seinem gewohnten Platz, einem niedrigen Fauteuil in der Ecke neben dem Fenster, aus dem sich ein Ausblick über den Gruftgarten bot. Er war durch die Straße vom Parke getrennt, der das Schloß umgab, und bildete eine breite, eingefriedete Bucht in die angrenzenden Felder. Das vergoldete Kreuz der Kapelle glänzte im Sonnenschein zwischen den Bäumen und sprühte feurige Funken durch ihre Wipfel, die der Wind leise schaukelte.

Kosel war in eine seiner dumpfen Träumereien versunken. Ja, dachte er, es kommt wirklich vor, daß wer sucht, findet. Da hab’ ich jetzt einen Hofmeister für die Buben gefunden und habe ihn engagiert, habe einen solchen Entschluß gefaßt – ich allein – ohne sie … Aber ... wer weiß? vielleicht nicht ohne sie. Vielleicht war sie’s, die den Mann geschickt hat, vielleicht wacht sie drüben über ihre Kinder und sorgt für sie, und ist noch bei uns, im Geiste … und das ist so viel … so viel …

Aber dieses „viel“ schien ihm doch lang’ nicht genug. Eine brennende, rat- und hilflose Sehnsucht erfaßte ihn gar oft. Er senkte das Haupt und begegnete einem fest und unverwandt auf ihn gerichteten Blick. Dem Blick des Kindes. Elika saß außerhalb der Gehschule auf dem Teppich, ganz und gar als glückliche Mutter. Sie hielt eine Puppe ans Herz gepreßt, eine lag auf ihrem Schoße, ein halbes Dutzend anderer umgab sie im Halbkreis, teils auf Stühlchen sitzend, teils in Wiegen gebettet. In dem Augenblick jedoch hatte sich ihre Aufmerksamkeit von ihnen ab- und Herrn von Kosel zugewendet. Forschend, durchdringend betrachtete sie ihn. Auf einmal ließ sie ihre Puppe zur Erde fallen, und mit Bedacht und mit einer wunderbaren Energie erhob sich das winzige Ding und stand auf seinen Beinchen.

Frau Budik, die sich still in der Tiefe des Zimmers gehalten hatte, um den gnädigen Herrn in seinen Gedanken nicht zu stören, stieß einen Schrei der Ueberraschung aus. Vorgestern erst hatte sie versucht, die Kleine auf die Füße zu stellen, und sie war hin und her gewankt und hatte gewarnt: „Nicht fallen lassen! nicht fallen lassen!“ …

Bei dem Kind kam alles anders als bei andern Kindern. Sie sprach wenig, aber von Anfang an deutlich und verständlich. Einen einzigen Schritt zu machen, war sie bisher unfähig gewesen – und jetzt ging sie, weil sie wollte, weil sie den Entschluß gefaßt hatte – ging geradeswegs auf ihren Vater zu, legte, bei ihm angelangt, die Aermchen auf sein Knie, sah zu ihm hinauf und sagte:

„Armer Papa!“

Er war verwundert, er blickte sie nicht ohne Interesse an. Regungen der Zärtlichkeit für seine Kinder kamen selten bei ihm vor; nun aber empfand er eine Art von wohlwollender und mitleidiger Zuneigung für seine Jüngste, für die unschuldige Muttermörderin. Er ließ die Hand über die Haare des Kindes gleiten.

„Sie ist herzig,“ sprach er zu Frau Budik. „Schad’, daß sie nicht bei uns bleiben soll.“




Es war die Gewohnheit des Nachtwächters von Velice, sich, nachdem er Zehn getutet hatte, in seinen Mantel zu wickeln, auf eine der breiten, steinernen Bänke auszustrecken, die rechts und links vom Portale des Schlosses standen, und einzuschlafen. Wenn er erwachte, gleichviel ob in stockfinsterer Nacht, ob im Morgengrauen, tutete er Elf. Von der Schloßuhr hatte er keine [263] Berichtigung zu befürchten, die ging längst nicht mehr, weil sie entweder sehr krank, oder vielleicht nur nicht aufgezogen war.

Aus seinem ersten, seinem allerbesten Schlaf wurde der Nachtwächter heute durch heftiges Niesen, in das er ausbrechen mußte, geweckt. Er fuhr auf. Das war kein natürliches, innerlich bedingtes Niesen, das war ein tückisch von außen hervorgerufenes gewesen. Jemand hatte ihn an der Nase gekitzelt, sie juckte ihn noch, und nun war ihm, als ob er ein Kichern vernehme. Sehen konnte er nichts, es war sehr dunkel, und nicht ein Stern am Himmel. „Wer da?“ rief er emporschnellend … Stellte ihm jemand ein Bein, stolperte er über seinen Mantel – wer weiß es? – im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und brüllte: „Diebe! Diebe!“

„Still!“ raunte eine Stimme ihm zu, die er als die des jungen Herrn Joseph erkannte, und eine kräftige Hand preßte sich mit solcher Stärke auf seinen Mund, daß er zu ersticken meinte. „Wenn Ihr nicht schweigt, erfährt der Verwalter morgen, wie Ihr Euren Dienst verseht. Dann freut Euch!“

„Herr Jesus, Sie werden mich nicht unglücklich machen wollen!“ stammelte Kaspar.

„Wir werden schon sehen, was ich will. Jetzt sag’ ich Euch nur eins: drüben, auf der andern Seite des Schlosses, wo unsre Zimmer sind, steht ein Fenster offen, und von ihm hängt ein Seil herab. Haltet Wache bei dem Seil. Ich muß es wiederfinden, wenn ich zurückkomme in einer Stunde oder in zwei.“

„Wohin denn, jetzt in der Nacht, Herr Joseph? Sie sollen zu Hause bleiben …“

„Ja, ja! Ihr werdet mir sagen, was ich soll! Mit Gott, Kaspar, und denkt an den Herrn Verwalter!“

Der Kies knisterte nicht lauter, als wenn ein welkes Blatt über ihn hingeraschelt wäre …

„He! he! Herr Joseph!“ Kasper sagte sich, daß er ihm nach, ihn einholen und zurückbringen sollte. Der junge Herr hat nicht herumzulaufen in der Nacht. So zündete der Wächter seine Blendlaterne an und rannte die Scarpe hinauf in der Richtung, von der aus er meinte, das Knistern vernommen zu haben. Aber o je! o je! – fange du den Wind im Felde! Der junge Herr, der die Kraft eines Bären hatte, hatte zugleich die Leichtigkeit einer Schwalbe. Auf den frisch gerechten Wegen war nicht die Spur eines Fußes zu entdecken. Ja, ja, so einer, der auf verbotenen Pfaden geht, springt über die Wege und läuft über die Wiesen. Der Nachtwächter gab die aussichtslose Verfolgung auf und näherte sich wieder dem Hause. Dunkel und totenstill lag der große Würfel da, nur im Sibyllenturm brannte noch Licht. Das fromme Fräulein Renate erwartete wie gewöhnlich die Mitternacht im Gebete. Kaspar ging weiter, die Mauer entlang, sich zu überzeugen, ob wirklich ein Seil von dem Fenster, das Joseph ihm bezeichnet hatte, niederhing. Es war da. Der vermaledeite Bursche hatte sich wirklich an ihm herunterlassen müssen. Wie wäre er sonst unbemerkt aus dem Hause gekommen? – und lief jetzt weiß der Teufel welchen Abenteuern nach.

Früh fängt er an und man muß sagen: da fällt der Apfel weit vom Stamm. Da war der Vater sein Lebtag anders, dem hat die böseste Zunge „nie nichts“ nachsagen können. – Der Joseph indessen … Was das nur sein mag, das den nicht schlafen läßt? Kaspar bringt eine Weile mit Kopfschütteln zu und schüttelt wirklich allerlei Gedanken heraus, die aber sämtlich nichts wert sind. Zuletzt kommt dennoch ein guter. Nach Valahora wird er gegangen sein. Um Valahora schnüffeln s’ immer herum, die jungen Herren, obwohl es ihnen verboten ist, oder gerad’ deswegen … Und jetzt ist ja der Bornholm da, der Teufelsbraten. Und zu dem schleicht er sich. Gut zu wissen, Herr Joseph, so, so! Jetzt verklagen Sie mich beim Verwalter, Herr Joseph!

Kaspar breitet seinen Mantel auf den Rasen aus und legt sich nieder, um das Seil bequemer zu überwachen.

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Der Fußweg von Velice nach Valahora ließ sich von einem guten Geher in fünfundzwanzig Minuten zurücklegen. Er führte zwischen Feldern, am Rand eines Wäldchens vorbei, immer auf und ab über kleine Erdbuckel bis zu dem großen, der steinerne Rippen hatte, und auf dem das dunkle unwirtliche Valahora sich erhob. EIn Haus, das auf einem Berge steht, sagt gewöhnlich: Komm her! Dieser festungsartige Cyklopenbau sagte: Hüte dich! Geh!

Nichts Traurigeres als sein nur mit schmalen Luken versehenes Gemäuer, nichts Häßlicheres als seine jäh abgestumpften Türme; gewaltige Ansätze, kein Aufwärtskommen, Versprechungen, keine Erfüllung.

Es ging steil zum Schloß hinauf über weichen, seidenglatten Grund, zwischen uralten Kiefern bis zum Wallgraben. Die schlanke Jünglingsgestalt, die zwischen den kahlen Stämmen hinschritt, so rasch und unbeirrt als wär’s am Tage, machte, hier angelangt, Halt. Kein Wunder, wenn ängstliche Gemüter sich an der Stelle nicht besonders behaglich fühlen, ’s ist grausig, wie das Wasser gurgelt, mit manchmal fast menschlichen Lauten!

Josephs Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, deutlich sah er vor sich den unförmigen Steinblock sich abheben vom fahlen Himmel. Der Gedanke an all den Jammer und all die Schuld, die von diesen Mauern beherbergt worden, ergriff ihn. Nicht Jammer und Schuld längst vergangener Tage, nein, traurige Schicksale, die sich in naher Vergangenheit vollzogen hatten. Im Schloß von Velice wurde über die Begebenheiten in Valahora nur mit äußerster Zurückhaltung vor den Kindern gesprochen, im Dorfe aber nahm man keine Rücksicht, da erzählte jeder, was er wußte, und that an eigener Erfindung hinzu, was er aufbrachte. Die Kinder hatten von dem jetzigen Herrn von Valahora mehr gehört, als sie zu verstehen und zu begreifen vermochten. Er war für sie eine von den Zauberschleiern der Mythe umwobene Persönlichkeit, zu der es sie allmächtig hinzog, deren Rätsel zu lösen sie brannten. Es kam ein Tag, der sie einander nahe brachte, und seitdem verkehrte Joseph mit Levin Bornholm, so streng ihm das auch verboten war. Im geheimen natürlich, und nur „auf den Raub“, in der kurzen Zeit, die „der Australier“ auf seinem Gute zubrachte.

Als Joseph die Wallgrabenbrücke überschritten hatte und den Vorhof betrat, wurde er so tückisch, so plötzlich von zwei Wolfshunden angesprungen, daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu erhalten. „Kusch Jedén! – Dva kusch! kusch! seid ihr toll?“ rief er, und sobald sie den Klang seiner Stimme hörten, verwandelte ihr feindseliges Knurren sich in jubelndes Gebell und in ein zärtliches Gewinsel.

In der Nähe wurde eines der ebenerdigen Fenster geöffnet, jemand fragte: „Seid Ihr’s, junger Herr?“ und zog sich, nachdem die Antwort: „Ja, Bartolomäus“, erfolgt war, wieder zurück. Auf der schmalen Steintreppe aber, die zum Hofe des Hauses führte, erschien ein Mann, der eine hellleuchtende Lampe in der Hand trug.

Ihr grelles Licht beschien sein gebräuntes Gesicht, seine energischen Züge. Er war nach Pflanzerart bequem und leicht gekleidet, trug lichte Beinkleider und eine weite Jacke, die, auf der Brust offen, das bunte Wollhemd und den Ledergurt sehen ließ. Der breitkrempige Strohhut war tief in den Nacken zurückgerutscht, eine Fülle kurz gehaltenen Gelocks umringelte die Stirn und die Schläfen. „Der Tausend!“ rief er Joseph zu, und in seinem Tone lag etwas Spöttisches und Aggressives, „bist du’s? Was willst du?“

„Dir Lebewohl sagen, du reisest ja morgen. Bleibt’s dabei?“

Bornholm nickte: „Gewiß.“




Sie gingen zusammen die Treppe hinauf und durch einen dunklen Flur in das Zimmer, in dem Bornholm bei seinen kurzen Besuchen in Valahora abzusteigen pflegte. Es war gewölbt und hatte nur ein niedriges, aber breites Fenster mit vielen kleinen in Zinn gefaßten Scheiben. Die Unordnung, die in der Stube herrschte, heimelte Joseph an; die exotischen Waffen und Gerätschaften, die da herumlagen, erregten sein Entzücken. Vieles davon, Wurfkeulen, Spieße, Schilde, Holzschwerter, war sein. Bornholm hatte sie ihm geschenkt, aber er durfte sich dieses köstlichen Besitzes nur verstohlen, nur im Hause des Freundes erfreuen. Der Geber war ja ein verpönter Mann, und mit ihm umgehen oder gar etwas von ihm annehmen, galt in Velice für unehrenhaft.

Joseph nahm einen Bumarang vom Tische, wog und [264] schwang ihn. „O, den schleudern dürfen! auf freiem Felde schleudern, jemand in die Beine, Herrn Heideschmied zum Beispiel, das müßt’ eine Wonne sein!“

„Du hast keinen Grund, dich über ihn zu beklagen,“ sagte Bornholm. „Das ist ein sehr bequemer Mann, und mit einem festen Schlafe gesegnet, wenn du so leicht entwischen kannst.“

„Festen Schlaf braucht’s nicht. Kein Wachthund hätt’ mich gehört. – Also morgen wieder fort, Levin,“ setzte er mit einem Seufzer hinzu, verbesserte sich aber sogleich, da Bornholm diesen Ausdruck des Bedauerns sehr ungnädig aufnahm. „Mir ist’s am Ende recht. Wenn ich weiß, du bist da, und ich darf dich doch nicht sehen, das ist mir das Grauslichste.“

Bornholm stellte einen kleinen Koffer auf den Tisch und fing an zu packen, und Joseph hätte ihm fürs Leben gern seine Dienste angeboten, wagte es aber nicht, sonst hieß es gleich: „Mach’ dich nicht überflüssig,“ in dem Tone, der einem ins Herz schnitt, weil er so deutlich sagte: Was hast du hier zu suchen? Geh deiner Wege! – Und nur das nicht! nur nicht von ihm fortgejagt werden, den er liebte und verehrte, trotz all des Schlechten, das ihm nachgesagt wurde … Ja vielleicht, weil ihm so viel Schlechtes nachgesagt wurde, und weil er sich nie, auch nicht mit einem Worte zu rechtfertigen suchte und nie gegen einen Menschen, und wenn es sein ärgster Feind war, eine Anklage erhob. Er haßte und verachtete die Menschen im großen, die ganze Species. Er schlug auch, so viel hatte Joseph, wie ungern Bornholm auch von sich sprach, im Lauf der Zeit doch aus ihm herausgebracht, einzelne tot. In Herbert River, in Alexandraland hatte er Blut vergossen zu eigener Verteidigung und zu der anderer. Beschimpft hatte er keinen, nicht einmal einen Aschanti, nicht einmal ärgere als Aschanti – die Dorfbuben, die …

Vor Joseph tauchte die Erinnerung an den peinvollsten Augenblick seines jungen Daseins auf, an seine Verzweiflung, seine Niederlage, seine Befreiung … Ein Schmerz, eine Wut – eine Dankbarkeit, so heiß wie sie ihn damals durchglüht hatten, damals vor zwei Jahren, schwellten sein Herz und er rief plötzlich aus:

„Weißt du noch, Levin, meine kleine Kitty, der liebe Hund – weißt du, wie die Buben ihr die Pfoten abgeschnitten und sie gezwungen haben, auf den Stumpfen zu laufen?“ Eine unbeschreibliche Qual verzerrte sein Gesicht, er schluckte, er benetzte mit der Zunge seine trocken gewordenen Lippen.

„Wie ein altes Weib,“ brummte Levin. „Immer die alten Geschichten aufwärmen! Vergiß das!“

„Ich will’s nie vergessen!“ rief Joseph. „Weil ich nicht v ergessen will, daß du mich gerettet hast … Ja, ja, ja! … Ich hab’ sie alle erwürgen wollen … Aber es waren ihrer zu viele. Ich war schon niedergerissen … Hätt’ ich mich nur nicht niederreißen lassen!“ knirschte er – „wie du gekommen bist und mich vom Tod gerettet hast.“

„Vor Prügeln hab’ ich dich gerettet, vor weiter nichts,“ sprach Levin.

„Es ist nicht so; wenn’s aber wäre, müßte ich dir nicht auch ewig dankbar sein?“

„Laß mich aus mit deiner Dankbarkeit!“ fiel Bornholm ihm gebieterisch ins Wort und wollte schon hinzusetzen: schöne Gefühle hab’ ich nicht, und mag sie nicht an anderen. Aber er besann sich und sie sprachen von seinen Ländereien, seinen Herden und von der Jagd und von Abenteuern beim Wandern durch die klingenden Wälder, beim Uebersetzen reißender Flüsse und dem Uebernachten unter freiem Himmel, unter dem Zelte oder in Felsenhöhlen in Gesellschaft von Menschenfressern.

„Ich praßle!“ schrie Joseph, „ich verbrenn’ hier vor Sehnsucht, so einen Menschenfresser einmal zu sehen. Wie einem nur ist, wenn die Kerle brüllen: Talgoro, talgoro! – das heißt doch Menschenfleisch? Und ihre Kampftänze! – ich würde gleich mitthun, sag’ ich dir – o Levin – ich sag’ dir – ich praßle!“




„Das kannst du auch zu Hause,“ sagte Levin. „Geh nach Hause prasseln. Es ist bald Zwei und ich möcht’ vor der Abfahrt noch ein paar Stunden schlafen. Auf Wiedersehen, Joseph!“

„Wann?“

„In zwei Jahren vielleicht.“

„In zwei Jahren? – Das erleb’ ich nicht!“

„Hoho!“ Levin lachte.

„Mit dem Hofmeister nicht! … Ich hass’ ihn. Der Schullehrer hetzt die Dorfkinder gegen uns, ja, ’s ist wahr, aber er quält uns nicht mit dem verfluchten Lernen … Der Heideschmied, der möcht’ die Sachen ganz anders anpacken. Nun – der soll seine blauen Wunder sehen. Eh’ du wiederkommst, sag’ ich dir, ist er aus dem Haus geflogen.“

Joseph sprach das alles hastig, wie einer, der seine Rührung zu verreden sucht, während sie aus dem Zimmer gingen und über den Hof und den Vorhof, wo Jedén und Dva sie freundlich empfingen. Vor der Brücke blieb Levin stehen. Sie schüttelten einander die Hände:

„Leb wohl, Joseph, leb wohl, Junge!“

„Leb wohl, Levin. Laß dich nicht fressen drüben. Komm’ wieder!“ Männlich kämpfte er seinen Schmerz und seine Ergriffenheit nieder, nahm sich zusammen und setzte ruhig hinzu: „Und sag’ dem Gärtner, daß er mich einlassen soll und den Leopold auch, so oft wir entwischen können. Er sagt sonst gleich: Ich hab’ keinen Befehl. Vergiß also nicht. Adieu!“

„Ich vergesse nicht. Adieu!“

Es war ein wenig lichter, der schwere Dunst, der auf den Feldern und Wiesen lag, durchsichtiger geworden, am Himmel blinkten matt einzelne Sterne. Levin sah dem Enteilenden nach. Ein herzlicher Wunsch erfaßte ihn, ihm zu folgen, ihn einzuholen, ihm noch einmal tüchtig die Hand zu schütteln und zu sagen: „Laß auch du dich nicht auffressen vom Hergebrachten, vom Alltäglichen und Kleinlichen und von der Philistermoral.“ Aber er widerstand der Versuchung. Möge jeder seine Wege gehen, auch der dort! Wohin sie führten, kümmert Levin Bornholm nicht. Er will keine Teilnahme empfinden und am wenigsten – verraten. Liebe, Freundschaft, Anhänglichkeit – fort damit, fort mit allem, was uns ein Gängelband anlegt, uns beeinflußt, uns zwingt! Ein Vierteljahrhundert hatte er gelebt, und dieses Leben bedeutete im Grunde einen Schiffbruch. Aber Köstliches hatte er gerettet: den Glauben an sich selbst, die absolute Freiheit, die Kraft, den Verteidigungskrieg zu führen, aus dem das Dasein des Mannes besteht, der sich keinem Joche des Herkommens beugt, dem Heiligkeit, Edelmut, Mitleid, Nächstenliebe – Worte sind. Levin kehrte in seine Stube zurück, nahm die Lampe vom Tische und durchwanderte sein trauriges Daheim. Er ging durch düstre, mit Ziegeln gepflasterte Gänge, in denen die Luft selbst eingeschlafen schien, in denen der Schritt nicht hallte, über steinerne Treppen und Treppchen, durch öde Gemächer mit gewölbten Decken, schmalen Fenstern, bestaubter, verwitterter Einrichtung. Er haßte den mittelalterlichen, romantischen Anstrich des Hauses und die abscheulichen Erinnerungen an seine Kindheit, die ihm aus allen Ecken und Enden entgegenstoben. Die Vergangenheit stand da wie ein Feind, aber vor Feinden flieht man nicht, man ringt mit ihnen. Er schritt vorwärts und betrat endlich die Stätte, an der seine Mutter den letzten Atemzug gethan hatte.

Du qualerfülltes Totenzimmer, deine Wände schreien!

Alles noch so wie am Morgen, an dem die Leiche fortgetragen wurde. Der Vater hatte den Raum nie betreten, der Sohn ihn nur verstohlen betreten dürfen. Kein Blick ins Freie aus der zellenartigen Stube. Die zwei durch einen weit vorspringenden Pfeiler getrennten Fenster hatten die Aussicht auf einen kleinen Burghof. Kahle Mauern und einer der steinernen Türme umschlossen ihn, und in die Fensternische mußte man treten und sich tief bücken, um ein Stückchen Himmel zu sehen. Und da stand noch der Schemel, auf dem die Gefangene gesessen und zum Himmel hinaufgeblickt hatte, das bißchen Sonnenlicht und Sternenschein suchend, das in ihre Klause eindringen konnte.

Levin stellte die Lampe auf den Tisch. Grelles Licht fiel auf die kärgliche Einrichtung, ein Schrank, ein paar Holzstühle, ein eisernes Gestell mit einem Waschbecken. An der Wand neben dem Bette hing eine Zeichnung, das Bild Levins als Kind. Darüber ein dürrer Weidekätzchenzweig. Es war auch ein Kruzifix dagewesen; das aber hatte die alte Alwilde, die Dienerin und Gefangenwärterin, der Toten in die gefalteten Hände gelegt.

An den Schrank gelehnt, die Hände in den Taschen, den

[265]

Lustige Fahrt.
Nach einer Originalzeichnung von O. Gräf.

[266] Kopf geneigt, stand Bornholm und starrte zu dem ausgebröckelten Ziegelboden nieder. Er sah – sah so deutlich wie einst als Kind, den Sarg vor sich, in dem die schöne Leiche seiner Mutter lag. Ein zerschlissenes schwarzes Seidenkleid hatte Alwilde ihr angezogen und ihr ein weißes Tuch über der Brust gekreuzt. Ach, das stille, wachsbleiche Gesicht ... die weißen Lippen … Gab es einen beredten Mund, gab es leidenschaftlich bewegte Züge, die so eindringlich sprechen konnten wie dieses verklärte Totenantlitz? – „Ich bin im Frieden gestorben,“ sagte es, „und es giebt nichts Schöneres als den Frieden.“

Bornholm sah auch sich selbst – sah, wie er sich damals über den Sarg geworfen und gerast hatte in wilder Reue:

Daß er sich belügen, daß er sich Abscheu einflößen ließ gegen seine Mutter, daß es nur eins gab, womit der Vater ihn zu schrecken vermochte, die Drohung: „Warte, du wirst zur Mutter gesperrt!“

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! hätte er eine deutlichere Erinnerung an seine frühe Kindheit und an seine Mutter gehabt, er würde die Trennung von ihr nicht erduldet, er würde nie geglaubt haben, daß sie eine Sünderin war, die Gewissensqualen zum Wahnsinn getrieben, und nun eine böse und gewaltthätige Irre sei.

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! Er würde sie nicht erst in ihrer Todesstunde wiedergesehn haben, er wäre zu ihr gedrungen, ihrem Kerkermeister zum Trotz, und wäre bei ihr geblieben und hätte sie getröstet und angebetet, oder sie befreit …

O dummer Junge! dummer Junge!

Ein Lächeln voll Bitternis spielte um Bornholms Lippen; jahrelang schlummerndes Leid erwachte wieder. Er fühlte einen Nachhall des Schmerzes von einst. Die übermächtige Qual der Reue, die ihn zu Boden geworfen hatte, die Wut, mit der er sich die Stirn am Rande des Sarges blutig schlug und seinen Kopf zerschmettern wollte, seinen dummen Kopf.

Reue – an dem Tage hatte er erfahren, wie sie thut, und später die schwächliche, nutzlose Empfindung in sich auszurotten gesucht. Die neue Lehre war verkündet worden, und gierig, mit tausend Lippen, hatte er sie eingesogen. Er hatte alles von sich gewiesen, was nagt und peinigt, er hatte gelebt und genossen und war ein moderner Mensch und ein eifriger Apostel des rosengekrönten Heilands geworden.

Und doch nicht glücklich – doch schon ergriffen von dem nagenden Hunger des Uebersättigten, dem Hunger nach einer Stunde inneren Friedens!




Es war merkwürdig, aber die arme Kleine, die immer kränkelte, immer Kopfschmerzen hatte, Gliederchen so zart, daß man nur staunte, wie sie überhaupt Gebrauch von ihnen machen konnte, und eine Haut, schneerosenbleich, lebte weiter.

Allabendlich wurde Soiree abgehalten im Kinderzimmer. Herr von Kosel saß in seiner Ecke, schaute und schwieg. In seiner Stimmung und in seinem Benehmen genau derselbe wie in den ersten Tagen nach dem Tode seiner Frau. Damals, meinte Frau Budik, sei etwas in ihm gerissen, das nie und nie mehr zusammenwachsen werde.

Anfangs war er den Tanten erstaunlich gefaßt vorgekommen, dann erkannten sie: Er hat noch nicht einmal begriffen, daß es wirklich vorbei sein soll mit seinem Glück. Er klagte nie, er schien nicht einmal sehr traurig, nur verträumt, nur wie einer, der sich in einem Zustand fühlt, der unmöglich dauern kann. Sein Aussehen war so frisch und gut wie je, seine Augen glänzten so hell wie je, aber ihr Blick war unstet und seltsam gespannt. Er horchte auf, wenn sich plötzlich Schritte hören ließen, wenn sich jemand der Thür seines Zimmers näherte. Trat dann ein Diener oder eins der Kinder ein, zog er die Augenbrauen in die Höhe und sagte mit plötzlichem Sichbesinnen: „Ach ja!“

Und so saß er auch still in seiner Ecke, und sehr symmetrisch in der nächsten, zwischen zwei Fenstern, saß Heideschmied und war grau vom Kopf bis zu den Füßen. Nach dem Fenster zu seiner Rechten kam ein breiter Pfeiler, abermals ein Fenster und dann kam die Ecke mit den Tanten. Wie zwei gutmütige alte Dohlen saßen sie nebeneinander in ihren schwarzen Stiftsdamenkleidern und die große, sanfte Renate arbeitete wieder an einem monumentalen Werke der Kunststrickerei, und die kleinere lebhafte Charlotte wechselte von Zeit zu Zeit stolze und glückverklärte Blicke mit Frau Budik, die sich mit dem ehrwürdigen hellgrünen Kachelofen in den Besitz der vierten Ecke teilte; und Charlotte murmelte: „Nein, diese Fratzen!“ und Frau Budik murmelte: „Nein, diese Kinder!“

Ein Höllenlärm herrschte.

Die drei Buben produzierten vor ihrer Schwester äußerst verwegene Akrobatenkünste und ließen dabei eine wilde Vokalbegleitung erschallen. Aschantis brüllen nicht schöner. Zeitweise unterbrachen sie ihr Geschrei, um das Publikum durch täuschende Nachahmung von Tierlauten, durch Krähen, Grunzen, Miauen, zu erfreuen.

Als Königin dieses Festes fungierte Elika. Sie saß auf ihrem hohen Kinderstuhle, die flachen Hände auf das in der Lehne eingelassene Tischchen gelegt. Sie hatte jetzt dünne Locken von seidenleichtem, seidenweichem Haar, die bei jeder Bewegung der Luft ein wenig flatterten. Ihre Wangen bekamen, so oft ein besonders kühnes Kunststück aufgeführt wurde, einen rosigen Anhauch; ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, und unglaublich ausdrucksvoll für den Mund eines so jungen Kindes, hatte ein rührendes, ein, wie dem Leiden abgewonnenes Lächeln, das die Leistungen der drei Akrobaten reich belohnte. Wenn Elika aber „Bravo! bravo!“ rief und in die Händchen klatschte, gerieten die Brüder in Begeisterung. Sie stürzten auf die Kleine zu und erstickten sie fast mit Zärtlichkeiten. Man mußte sie vor ihnen retten.

„Wir können noch viel schönere Sachen,“ sagte Leopold einmal. „Kommen Sie nur mit Elika zur Turnstunde in den Garten, Poli, da werden Sie sehn!“

„Da wejn Sie sehn!“ wiederholte Franz mit ernstem Kopfnicken, „und auch die Tanten sollen kommen.“

„Ja, ja, freilich, die Tanten auch!“ riefen Joseph und Leopold und die Tanten versprachen, sich pünktlich einzufinden. Daß auch das Haupt der Familie, daß auch Herr von Kosel geladen werden könne, fiel niemand ein, nicht einmal ihm selbst.

Renate besann sich dessen plötzlich bei Nacht. Es fiel ihr schwer aufs Herz. Mitten unter den Seinen auf einem Isolierschemel stehn, das kann doch nicht angenehm sein.

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An einer der geschütztesten Stellen im Garten, unter alten, hohen Erlen, befand sich Elikas Spielplatz und der Pavillon, in dem sie ihre Puppenwirtschaft eingerichtet hatte. Eine Eremitage mit strohgedecktem Dache, die Wände in- und auswendig mit Baumrinde benagelt. Auf dem Wege neben dem Pavillon war ein Hügelchen aus feinem Sande aufgeschichtet, den Elika siebte, mit dem sie kochte, in den sie ihre Puppen bis an den Hals eingrub, weil das für Kinder so gesund ist.

Bei der Eremitage traf, eine halbe Stunde vor der großen Produktion, Herr Heideschmied mit seinen Zöglingen ein, und während die Jugend beim Sandhügel spielte, nahm der Hofmeister neben Frau Budik auf der Bank am Hause Platz und beugte sein Haupt unter dem Schwall der Rede, der sich alsbald über ihn ergoß. Apollonia hatte sich auf ihr Steckenpferd geschwungen und ließ sich von ihrem hölzernen Pegasus in schwindelnde Höhen tragen. Sie wurde zur begeisterten Dichterin, wenn sie das Lob des Hauses Kosel sang. Das Aeußerste leistete sie in der Verherrlichung der drei jungen Herren. Das waren Kinder von ihrem ersten Atemzüge an, Kinder, wie die Erde keine besseren trägt. Herzen hatten sie – das pure Gold! ’s ist wahr, Apollonia gab dem Eigentümer eines dieser goldenen Herzen hier und da einen Puff, daß ihm die Rippen krachten, aber – „Du lieber Gott, es sind halt Buben!“

„Knaben, ja wohl, sehr lebhafte Knaben,“ flocht hier Heideschmied in die krausen Reden Frau Budiks ein, und diese Worte schienen ihr, sie wußte selbst nicht warum, eine Art Tadel zu enthalten, und jetzt ging sie los wie eine überladene Mine. Die Lobpreisungen begannen von neuem und dauerten – Heideschmied konnte nicht genau sagen wie lang’, denn eine Uhr besaß er nicht, aber sehr lange kam es ihm vor.

Endlich wurden sie unterbrochen. „Poli!“ schrie Joseph aus [267] vollem Halse und mit dem Ausdruck der Bestürzung: „Komm’! schau! die arme Kleine ist tot!“

Frau Budik und der Erzieher sprangen auf, wendeten sich: „Jesus, Maria!“ stöhnte die Wärterin.

Die Knaben hatten den Sandhaufen neben dem Gartenhause zu einem regelrechten Grabhügel zusammengeschaufelt, eine längliche Vertiefung hineingegraben und mit Latten ausgelegt, die den Rand eines Sarges vorstellen sollten. In dem improvisierten Sarge lag auf Gras und Wiesenblumen gebettet mit geschlossenen Augen und über der Brust gefalteten Händen die Kleine und sah in der grünlichen Dämmerung unter den Bäumen wahrhaftig wie eine Tote aus. Zu beiden Seilen knieten Leopold und Franz, hielten ihre Taschentücher an ihre Gesichter gepreßt und heulten aus Leibeskräften.

„Nein,“ rief Apollonia händeringend, „diese Dummheit! hat man je etwas so Dummes gesehn wie diese Buben! Was ist das für ein Spiel? Wer spielt denn mit dem Tod?“

Leopold lachte über den Ausbruch, Franz rang mit wirklichen Thränen und Joseph sagte beschwichtigend:

„Aber Poli, ärger’ dich doch nicht! Sie hat’s ja selbst gewollt. Was soll man denn thun, wenn sie’s will?“

Heideschmied stand regungslos und blickte unverwandt zu dem Kinde nieder. Plötzlich schüttelte es ihn wie Fieberfrost und mit einem trockenen Schluchzen brachte er die Worte hervor: „Ganz wie meine kleine Mili, so ist sie im Sarge gelegen!“

Die Tote jedoch war unzufrieden mit der Unterbrechung des Weinens und Klagens um sie und flüsterte ihren Brüdern zu: „Besser jammern!“




Auf dem Wege zum Turnplatz machte Apollonia Herrn Heideschmied die Bemerkung: Wenn er ein Kind gehabt habe, müsse er auch eine Frau gehabt haben, und er erwiderte mit einem tiefdankbaren: „Gottlob, die Frau habe ich noch!“

Apollonia war erstaunt: „Sie haben eine Frau und sprechen nie von ihr? scheinen sie sehr lieb zu haben und trennen sich von ihr? Das ist merkwürdig.“

Er erwiderte nur: „Ja, die Verhältnisse“, und sie dachte, es seien wohl seine Geldverhältnisse, die er meine; diese mußten, nach allen Anzeichen zu schließen, klägliche sein. Frau Budik unterdrückte die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten; es war nicht Zeit, sie zu stellen, man hatte den Turnplatz fast schon erreicht. Er lag am Ende einer breiten Allee von Lindenbäumen. Die Aeste der äußern Reihe spreizten sich, kraftstrotzend, blühend und duftend, über das eiserne Gitter und die Säulen der Mauer, die hier den Garten von der Dorfstraße trennte.

Joseph war vorausgelaufen und hatte sich mit dem Untersuchen der Turngeräte zu thun gemacht. „Herr Heideschmied!“ rief er dem aus Leibeskräften entgegen: „Kommen Sie! sehen Sie, was die Dorfkinder wieder gethan haben, die Spitzbuben, die Sie immer gegen uns in Schutz nehmen!“

Triumphierend wies er ihm nach, daß die Knoten der Schaukelstricke und der Schwungringe locker gemacht waren. „Man sieht’s nicht gleich, aber probieren Sie’s nur und schaukeln Sie sich ein bißchen stark. Im besten Flug schmettern Sie herunter, daß Ihnen die Funken vor den Augen tanzen. Mir ist’s schon einmal so gegangen und dem Leopold auch.“

Heideschmied war betroffen und erstaunte, daß die Tanten, die sich inzwischen eingefunden hatten, es so gar nicht waren. Nicht im mindesten betroffen und überrascht, nur sehr betrübt. „Eine traurige Thatsache und ein großes Uebel,“ sagten sie, „die Feindseligkeit, die zwischen Dorf und Schloß ausgebrochen ist.“

„Und wir haben den Leuten nie etwas Böses gethan!“ rief Joseph.

„Böses, du lieber Gott!“ fiel Frau Budik ein, „zu viel Gutes, das ist der Fehler. Diese Leute“ …. die immer noch schöne und ansehnliche Frau hatte eine ungeheuer verächtliche Manier, die zwei Worte auszusprechen. Es war, als ob sie jeden einzelnen dabei ohrfeigte. „Diese Leute, die selbst nichts kennen als Haß und Neid, begreifen nicht, daß ein andrer etwas Gutes aus freiem Willen thut. Man thut’s aus Angst, meinen sie, oder weil man ein schlechtes Gewissen hat oder weil man sich bei ihnen einschmeicheln möchte.“

„Einschmeicheln?“ schnaubte Joseph, und Leopold fand seine Entrüstung und die Frau Budiks sehr komisch und begriff nicht, wie man sich über Bübereien armer Teufel ärgern könne. Franz Pflanzte sich breit mit ausgespreizten Beinen vor Apollonia hin, stemmte die Arme in die Seiten und sprach zornig:

„Weißt du, Poli, klatsch nicht! Es sind nicht lauter ‚diese Leut‘, es sind auch brave.“

„Und du, ärger’ dich nicht!“ erwiderte sie und setzte, zu den Tanten gewendet, leise hinzu: „Der Bub ist merkwürdig. Aergert sich gleich, und wird gleich puterrot und ganz atemlos. Wenn ihm nur nicht am End ’was ist.“

Charlotte klopfte ihm liebreich auf die Wange und Renate zog ihn an sich und küßte ihn.

Die Produktion begann.

Heideschmied leitete sie und machte die verwegensten Uebungen seiner Schüler mit. Aus Respekt vor den Damen turnte er nicht wie gewöhnlich in Hemdärmeln, sondern purzelte, wippte, wirbelte von den langen grauen Schößen seines Rockes wie von sturmgepeitschten Gewitterwolken umflogen. Man wußte oft nicht, wo Herr Heideschmied anfing und wo er aufhörte, und wo die vordere und wo die rückwärtige Fronte der hageren Gestalt mit ihrem derben Knochengerüste sich eigentlich befand.

Charlotte flüsterte ihrer Schwester zu: „Eine Hoffmannische Figur. Beinahe unheimlich.“

„O sehr!“ erwiderte Renate. Ihr überfeines Gefühl war durch das Groteske des Anblicks etwas peinlich berührt, sie geriet auch ein wenig in Verlegenheit – für den guten Heideschmied. Und ihr war bang um die Kleine, die das mit ansah und gewiß davon träumen und eine schlechte Nacht haben werde.

Renate teilte Frau Budik ihre Besorgnisse mit und die Wärterin gab sich Mühe, Elikas Aufmerksamkeit von Herrn Heideschmieds Evolutionen abzulenken. Es war unmöglich. Sie, die ihm bisher die größte Abneigung gezeigt hatte, wegsah, wenn er sich ihr näherte, sein bescheiden eifriges Werben um ein gutes Wort beharrlich mit „Nein“ beantwortet hatte – verwendete jetzt kein Auge von ihm, war ganz versunken in ernste und nachdenkliche Betrachtung und sagte von Zeit zu Zeit leise: „Bravo, Herr Heideschmied!“

Plötzlich, mit raschem Entschlusse ließ sie sich vom Schoße Frau Budiks herabgleiten und rief: „Auch turnen! Ich will auch turnen!“

Heideschmied kauerte nieder und streckte ihr seine Hände entgegen. „Komm’! komm’!“ sagte er, von Schauern des Entzückens durchrieselt. Seine kleine Mili! Ihm war, als sähe er sie wieder, als sei das Kindlein auferstanden und liefe auf ihn zu.

Mit unendlicher Vorsicht faßte er sie und hob sie in die Höhe. Er fühlte das winzige Körperchen beben zwischen seinen Fingern und das Herz förmlich hüpfen. Nicht vor Angst, vor Freude.

„Höher! noch höher!“ rief sie, „laß mich fliegen!“ Sie streckte die Arme empor und jauchzte: „Ich fange Wolken! Ich fange Vögel! Ich spring’ in den Himmel!“

Von dem Augenblicke an war ihre Freundschaft mit Heideschmied geschlossen.

Auf der Straße hatte ein ungebetenes Publikum sich versammelt. Dorfkinder, Knaben und Mädchen, kleine, die noch kleinere mühsam schleppten, übermütig hutschten, größere, die sich um die Plätze am Gitter balgten, von denen aus man am bequemsten den Turnübungen der jungen Herren und ihres Hofmeisters zusehen konnte. Bei jedem neuen Kunststück ertönten neue Lachsalven, die Jugend auf der Straße höhnte und grimassierte und machte besonders Herrn Heideschmied zum Ziel ihres Spottes.

Als er Elika in seine Arme genommen und emporgehoben hatte, war einer der Humoristen da draußen über eine kleine Katze hergefallen, die ängstlich längs der Mauer vorüberschlich, und hatte sie, die Bewegungen Heideschmieds nachahmend, mehrmals hoch hinauf geschnellt in die Luft und wieder aufgefangen und gerufen:

„So muß man’s machen! So machen Sie’s, Herr Hofmeister!“

Josephs Augen funkelten, er knirschte Heideschmied voll Verachtung an: „Halten Sie das aus?“ und faßte den überhängenden Ast eines der Lindenbäume, ihn zu erklettern und sich von ihm aus auf die Straße, mitten in die feindliche Kinderschar [268] zu stürzen. Aber Heideschmied hielt ihn am Arme fest. Alle Wetter! was für eiserne Finger! Und wie mit ihrem energischen Griff die sanft zuredende Weise kontrastierte, in der der Alte sprach:

„Lieber Joseph, ich verstehe tschechisch noch nicht recht, weiß also nicht, was sie sagen. Mög’ es jedoch sein, was es wolle – ich halte es aus.“

„Ihre Sache,“ murmelte Joseph, ballte die Fäuste gegen die Johlenden da draußen und rief ihnen zu: „Wir wachsen schon noch zusammen!“

Und die draußen kicherten, drohten: „Schon noch!“




Am nächsten Tage klopfte während der Unterrichtsstunde ein kleiner Finger ganz leise an der Thür des „Bubenzimmers“. Die arme Kleine war da und bat um Einlaß. Sie erhielt ihn unter der Bedingung, daß sie nicht mucksen werde, sondern ganz still sitzen in der Ecke des Alkoven, hinter dem Rücken der Brüder. Dort stellte Heideschmied einen hölzernen Sessel hin, auf den er Bilderbücher, ein Blatt Papier und einen Bleistift für die Kleine legte.

„Das ist dein Schreibtisch,“ sagte er, und auf einen Schemel deutend, den er vorschob, „das dein Stühlchen, setz’ dich und sei fleißig und störe deine Brüder nicht. Und Sie, wenn sich einer von Ihnen nach ihr umsieht, muß sie fort!“

„Sofort fort,“ murmelte Leopold, und Joseph wiederholte: „Sofort fort!“

Von Stunde an hieß es: „Herr Heideschmied ist so spaßig, er sagt immer: ‚Sofort fort‘.“ Die zwei jüngeren waren bald überzeugt, daß es so sei, und hätten darauf geschworen, und ihnen wollte Heideschmied die Freude an der geistreichen Erfindung nicht verderben. Zu Joseph aber sprach er nach einiger Zeit:

„Sehen Sie, so entstehen Gerüchte. Es ist merkwürdig, wie man im kleinsten einen Bezug aufs größte finden kann. Viel wichtigere Dinge werden mit nicht mehr Grund von viel vernünftigeren Leuten geglaubt und verbreitet und endlich zur Ueberzeugung vieler, ganzer Klassen, ganzer Völker. Verstehen Sie?“

Joseph verstand ihn vortrefflich, aber er hatte für Heideschmied keine andre Antwort als ein geringschätziges Lächeln. Daß der Mann noch da war, daß er ihn trotz der Versicherung, die er Bornholm gegeben, noch nicht weggebracht hatte, empörte und beschämte ihn. Was klebte sich der Mensch im Hause fest? Zeigten seine Zöglinge ihm nicht deutlich genug, daß er ihnen tödlich zuwider war? Er ließ sich alles gefallen – ums Geld. Er war ein fürchterlich armer Teufel, die elende Handtasche, die er bei seiner Ankunft mitgebracht hatte, enthielt sein Hab’ und Gut. Er sagte es den Knaben unbefangen, als sie ihn fragten, wann denn sein Gepäck ankommen würde.

Joseph und Leopold wollten es so weit treiben, daß er endlich werde nachgeben und sich heben müssen. Ein hartnäckiger Kampf entspann sich, den die Kinder mit gedankenloser, blinder Grausamkeit führten, den der alte Mann heldenmütig bestand.

Einmal betraten sie das Schulzimmer mit der Versicherung: „Sie können thun, was Sie wollen, wir lernen heute nicht,“ und Heideschmied sperrte die Thüren ab, steckte die Schlüssel in seine Tasche und erklärte, die jungen Herren würden nicht in Freiheit gesetzt, bevor der Unterricht genommen sei. Und was er sagte, geschah, und jede seiner Drohungen erfüllte er, und mit Gewalt war bei ihm nichts auszurichten, das alte Gerippe war stärker als sie alle drei zusammen. Noch ein Versuch wurde gewagt; sie fanden sich zum Unterricht gar nicht ein, liefen am Morgen fort und kamen erst zu Tische heim. Damals war Herr Heideschmied furchtbar gewesen. Eine ganze Woche hindurch hatte er alles sequestriert, was die Jünglinge freute und womit sie sich am liebsten unterhielten. Kein Behelf zu irgend welchem Spiel war für sie vorhanden, jeder Verkehr mit ihren Lieblingstieren, Tauben, Hunden, Pferden, abgeschnitten. Acht Tage der Entbehrung für einige Stunden der Freiheit, das war ein schlechter Handel, das sahen sogar so elende Rechner, wie die jungen Herren waren, ein. So blieben sie denn nie wieder aus der Schulstube fort. Sie kamen regelmäßig, mit Herzen voll Groll, und von den nichtsnutzigsten Vorsätzen beseelt. Und immer fanden sie einen impassiblen Heideschmied, der sie sehr ernst und ohne den geringsten Anflug von Spott bedauerte, wenn sie ihre Schuldigkeit nicht gethan hatten, und sich durch keinen noch so tückisch ausgedachten, noch so überraschend ausgeführten Streich um seinen Gleichmut bringen ließ. Eine ihm persönlich angethane Unbill bestrafte er nie, und ganz im geheimen vertraute Joseph seinem Bruder Leopold an, daß ihm das eigentlich gefalle, und ebenso geheim gestand Leopold, daß er sich bei den Unterrichtsstunden gut unterhalte. Das alte Gerippe erzähle hübsch und bringe einem die verfluchten Lernsachen recht angenehm bei.

„Thut nichts, fort muß er doch!“ rief Joseph. „Ich geb’ ihm keine Ruh’. Heute sollen ihm die Knochen scheppern, wenn er sich an den Lehrtisch setzt.“

„So? Was hast gethan?“

Das war nun ein Hauptspaß. Joseph hatte die vorderen Beine von Heideschmieds Sessel angesägt. Der Lehrer erschien, wie immer zur Stunde, lebhaft und freundlich und leitete den Unterricht mit den Worten ein:

„Wir beginnen heute ein hochinteressantes Kapitel unserer Geschichte. Die Thronbesteigung Karls des Fünften, meine Herren!“ Er setzte sich und brach mit schrecklichem Gepolter nieder.

Aus drei jungen Kehlen erscholl ein triumphierendes Gelächter: „Thronbesteigung! schöne Thronbesteigung …“

Im nächsten Augenblick aber schon verstummten die Kinder.

Herr Heideschmied war mit der ganzen Wucht seines großen, schweren Körpers, den Kopf voraus, auf die scharfe Kante eines Tischfußes gestürzt und hatte sich die Oberlippe buchstäblich durchgeschnitten. Die Wunde blutete reichlich und sah ganz abscheulich aus. Die Knaben waren betreten, Joseph geriet in Versuchung, eine Entschuldigung wenigstens anzudeuten, aber er genierte sich vor seinen Brudern. Heideschmied stand auf, preßte das Taschentuch an den Mund, und Joseph fühlte mit quälender Scham, daß der Alte ihn mit einem Blick durchschaute.

„Wie gut, daß die Kleine noch nicht da ist,“ sagte Heideschmied. „Sie wäre gewiß erschrocken. Ich werde heute nicht vortragen; nehmen Sie das Buch, Joseph, und lesen Sie.“

Der Verwundete blieb eine Zeit lang auf flüssige Nahrung angewiesen und wurde noch magerer.

In seinen Zöglingen aber regte sich ein der Reue sehr verwandtes Gefühl. Der „Hauptspaß“ war bei weitem nicht so lustig ausgefallen, als sie erwartet hatten, und überdies folgte ihm ein für sie beschämendes Nachspiel.

Als Heideschmied zum erstenmal mit seiner vom Arzt zusammengenähten Lippe bei Tisch erschien und die Tanten voll Teilnahme fragten, was ihm geschehen sei, antwortete er einfach: „Ich bin gestürzt.“

Die Gesichter der zwei Jüngeren erglühten, Joseph wurde blaß und stierte auf seinen Teller nieder.

„Ich war schuld, daß“ … stieß er hervor, wurde aber durch Heideschmied unterbrochen, der ihm die Hand auf die Schulter legte und sprach: „Kein Wort, Joseph, ich bitte Sie.“ Die Tanten merkten, daß es sich um eine interne Angelegenheit des Schuldepartements handelte, und schwiegen aus Diskretion.

Herr von Kosel merkte nichts.

Nach Tische waren Joseph und Franz im Garten mit der Herstellung eines riesigen Drachen beschäftigt, den die Spätherbststürme wie einen Adler in die Wolken tragen sollten. Elika sah ihnen bewundernd zu, Leopold lief hin und her, von einem quälenden Gedanken besessen. Auf einmal blieb er vor den andern stehen und schrie:

„Sehr unangenehm! Sehr unangenehm!“

Seine Brüder fragten nicht „Was?“, hoben die Köpfe nicht. Joseph murmelte: „Anständig war er. Verflucht anständig!“

„Das ist wahr, er klatscht nicht,“ sagte Franz, der im achten Jahr endlich gelernt hatte, das R deutlich auszusprechen.

Eines Abends nach dem Souper lud Herr Heideschmied Joseph zu einer kleinen Besprechung ein. Der Alte hatte die feierliche Miene eines Menschen, der im Begriff steht, einen ernsten, lange überlegten Entschluß auszuführen. Joseph folgte seiner Aufforderung mehr noch aus Neugier als aus Gehorsam.

(Fortsetzung folgt.)     



[269]

Zu Fuß um die Erde.[1]

Das Kloster des Chanbo-Lama am Gänsesee.
Reiseskizze von K. von Rengarten.


Noch auf russischem Gebiete, etwa hundert Kilometer von der mongolischen Grenze entfernt, am Nordrande der etwa 700 m über dem Meeresspiegel belegenen Sselenginskischen Hochebene, befindet sich der Gänsesee (Gussinoje osero). Nur nach Nordosten wird er von einem terrassenförmig zu ihm abfallenden Ausläufer des Chamar-Daban begrenzt, weist aber sonst so flache Ufer auf, daß man sie füglich mit einer Tischplatte vergleichen könnte. Eine ebene Steppe dehnt sich auf eine weite Entfernung von den Südufern des Sees zur mongolischen Grenze aus und diese mußte mir ja ein günstiges Terrain zu meinem Marsche nach China bieten, also bedachte ich mich nicht lange, schwenkte bei Udungá von der Kiachtaschen „Kaufmannsstraße“ nach links ab, überstieg den 1300 m hohen Murtey und befand mich auf dem Wege zum einsam am Seegestade daliegenden Lamaïtenkloster. Es zog mich unsagbar dorthin, ich mußte den Sitz des Chanbo-Lama, des Obergeistlichen aller Lamaïten Sibiriens, mir ansehen.

Namtoy-Srat’-Zybakow, der augenblickliche Bandido-Chanbo-Lama oder Obergeistliche aller heidnischer Buriäten Sibiriens, steht unter direkter Vormundschaft des Kutuchtá in Urga, wenngleich er nicht von diesem, sondern vom russischen Kaiser durch ein besonderes Reskript im Amte bestätigt wird. Er gehört in die Zahl der sogenannten Gygeny: hohen Geistlichen. Nicht wie der Kutuchtá, oder vom Volke schlechtweg Bogdo-Lama genannte „Heilige“ in Urga, zählt er zu den Unsterblichen, deren Seele aus dem hinfällig werdenden Leibe stets in einen neugeborenen Säugling übergeht; sondern er ist ein gewöhnlicher Priester, und doch umgiebt ihn und seinen Wohnort alles das, was das Lamaïtentum so interessant werden läßt. Das also selbst kennenzulernen, war mein Ziel, daher „stiefelte“ ich munter „drauf los“ …..

Der Wagen des Götzen „Maidari“.
Nach einer Aufnahme des photographischen Ateliers Petrow in Irvyzkossawsk.

Schon lange hatte der sibirische Urwald sich zu lichten begonnen und nur noch der kalte Herbstregen, der Gefährte all meiner letzten Wandertage, begleitete mich auch heute. Wie es mir um die Ohren pfiff, wie die Regentropfen mir ins Gesicht schlugen, als ich, aus einem Lärchenwäldchen tretend, die höchste Spitze des Murtey erreichte!

Vor mir zur Linken sah ich einen „Ombé“, als erstes Anzeichen des mir Bevorstehenden; auf ihn marschierte ich zu, und hier, auf jenem roh zusammengeschichteten Steinhaufen, wo die Opfer der Wanderer, kleine Stückchen Brot oder Zucker, kleine Zeugläppchen etc., umherlagen, sah ich eine mit mongolischen Schriftzeichen bedeckte Steinplatte und unter ihnen mit russischen Buchstaben die Worte: „Herr, erbarme Dich!“ eingegraben. Warum berührten mich diese Worte so eigentümlich? Ich blieb stehen und mußte nachdenken …..

Noch als unsere Vorfahren, die alten Germanen, heute das erste Volk der Welt, in rohen, finsteren Sitten fortlebten, als der Norden Europas noch keine Ahnung von dem ihm in weiter, weiter Ferne winkenden Kreuze zu Golgatha hatte, dämmerte nicht damals schon der rosige Morgen einer kommenden glücklicheren Zeit im fernen Indien auf? ….

Schikitmunni predigte eine neue Religion, von der Assoki d. Gr. später sagen konnte: „Eine prächtige Religion, sie schließt in sich den Begriff, nach Vermögen dem Bösen auszuweichen, viel Gutes zu stiften, sich Mitgefühl, Gnade, Gerechtigkeit und ein reines Leben zur Vorschrift zu machen.“

Dreihundert Jahre vor Christus hatte jener indische König das zu sagen vermocht, von Humanität durchdrungen, war er bestrebt gewesen, der Buddhalehre eine sichere Grundlage zu geben, dann kam im 14. Jahrhundert der Reformator Tsonchawá, schuf ein unnützes Ceremoniell, brachte Hierarchie und Disziplin in jenen Glauben, machte aus der Buddhalehre den Lamaïsmus, und was blieb noch? – Farbenprächtige Priestergewänder, Paukenklänge und Hornmusik während der „Churale“ (feierlichen Gebete), das scheint alles zu sein! So habe auch ich gedacht, so lange ich nicht persönlich mit Lamas verkehrte, so lange ich nicht das Seelenleben des schmutzigen, heidnischen Buriäten kennenlernte! Doch davon später, jetzt zu meinem Besuche des Klosters!

Immer regnete es noch in Strömen, als ich vom Gebirge zur Ebene hinabstieg. Links und rechts hatten sich Wasserlachen gebildet, auf welchen sich zahlreiche wilde Schwäne, Gänse und Enten während ihres Zuges nach dem Süden zur Ruhe niedergelassen hatten; allein das Lamaïtentum verbietet ja, einen Vogel zu töten, und daher wollte ich dieses Recht der geflügelten Reisenden nicht schmälern: ich senkte meine auf einen prächtigen Schwan gerichtete Büchse. Endlich langte ich am Dotzan (Kloster) an und stand vor dem recht stattlichen Tempel.

Trotz des Regens unterließ ich es nicht, einen Blick auf dieses von über zweihundert kleinen Holzhäuschen umgebene Gebäude (vgl. Abbildung S. 273) zu werfen, das, in seinen unteren Teilen [270] streng im schlichten tibetanischen Stil gehalten, nur durch sechs schlanke Säulen an der Hauptfront und seine chinesische Ueberdachung ein prunkvolleres Gepräge erhielt. Mehrere an ihm angebrachte melodische Metallglocken verursachten eine eigentümliche Musik; das über der ersten Galerie angebrachte Symbol der Buddhalehre, das „Churdé“, und die beiden „Tschalzans“ nebst dem „Handshir“ auf dem Dachfirste leuchteten bei ihrer reichen Vergoldung, trotz des Regens, weit in die Ferne hinaus. Was bedeuten diese Wahrzeichen?

Als der Buddha Schikitmunni sich in Baneres aufhielt, brachte ihm einer seiner Schüler ein goldenes Rad mit hundert Speichen und bat um ein Gebet, damit die Buddhalehre ebenso ausstrahlen möge, wie die Speichen des Rades nach allen Seiten hinweisen. Als der Buddha betete, kamen zwölf goldene Gazellen aus dem Walde, knieten vor dem Rade nieder und beteten mit. „Man muß glauben, weil ein unvernünftiges Tier es gethan,“ heißt es zum Schlüsse jener Ueberlieferung. Rad und Gazellen sind seitdem das Symbol des Buddhismus. „Tschalzan“ heißt „Zeichen des Sieges“, es ist ein Cylinder, gefüllt mit auf Papier geschriebenen Gebeten; „Handshir“ („voll Schätze“) ist eine umgestülpte Vase, welche denselben Zweck erfüllt. Erst nachdem ich das alles in Augenschein genommen, wandte ich mich dem Hause des Kanzleiverwalters zu, an den ich eine Empfehlung besaß. Allein ich fand ihn nicht zu Hause.

Nun stand ich bei strömendem Regen, angesichts von zweihundert leeren Wohnhäusern, faktisch „auf der Straße“, denn da die meisten Lamas kein Russisch sprechen, zum mindesten die mir zur Verfügung stehende Empfehlung nicht lesen konnten, so war ich unrettbar ihrem Mißtrauen preisgegeben. Endlich, nach längerem Hin- und Herreden, erbarmte sich meiner ein etatmäßiger Lama, und vor mir hergehend, führte er mich nach seinem Privathause, welches er eigens zur Aufnahme von Besuch erbaut hatte, woselbst er mich bestens aufnahm. Fast alle die zweihundert Häuschen in der Umgebung des Klosters sind Eigentum der zu den Festlichkeiten eintreffenden Buriäten, nur zehn von ihnen gehören Mönchen.

Wie der nicht hoch, aber stämmig gewachsene Greis in seinem gelben, faltigen Gewande, mit der roten Schärpe über der linken Schulter, vor mir herschritt, seinen kurzgeschorenen Kopf ohne Umhüllung dem eiskalten Regen preisgebend, da mußte ich lebhaft an die Zeit der alten Griechen zurückdenken; genau so wie einer ihrer Priester kam mir mein Wirt vor. In dem aus zwei Zimmern bestehenden Häuschen wurde mir ein reichliches Abendbrot vorgesetzt, dann erhielt ich die Weisung, in Gegenwart des in einem Glasschranke dastehenden Götzen „Maidari“ keinen Tabak zu rauchen, und man ließ mich allein. Trotzdem das Quartier ungeheizt, ich aber naß zum Ausquetschen war, schlief ich vorzüglich, eingehüllt in mehrere Priestergewänder und vor dem Glasschrank auf dem Boden liegend. Dazu hatte ich die Erlaubnis erhalten. So war die Nacht dahingegangen und endlich der Zeitpunkt da, wo ich zum erstenmal im Leben einen Heidentempel betreten sollte.

Nach einer Verfügung der russischen Regierung hat die lamaitische Geistlichkeit in Sibirien aus dem Bandido Chanbo-Lama, also dem Obergeistlichen, aus 34 Klostervorstehern, 216 Lamas und 34 Schülern zu bestehen. Ein großer Teil derselben hält sich im Dotzan am Gänsesee auf. Zu jeder Tageszeit kann man mindestens zwei Priester im Tempel antreffen.

Jeder zum Lama erhobene Gläubige leistet das Gelübde, nie in den Ehestand zu treten, er darf weder Tabak rauchen (wohl aber schnupfen), noch geistige Getränke zu sich nehmen, und soll sich überhaupt in Duldsamkeit und Nächstenliebe üben. Letztere beiden Eigenschaften habe ich durchweg geradezu bis zu einer idealen Vollkommenheit ausgebildet angetroffen. Man hatte mich mit Mißtrauen begrüßt, das auch noch lange nicht gewichen schien, aber keiner meiner Wünsche blieb unberücksichtigt.

Von meinem Wirt und einem Dolmetscher wurde ich in den Tempel geleitet. Wir passierten den durch einen hohen, roten Zaun abgegrenzten Tempelhof, der nach Norden, Süden, Osten und Westen vier Thore aufweist. Von dort stiegen wir einige Stufen zum säulengeschmückten Vestibül empor, auf dem zwei aus Holz gefertigte, abscheulich ausschauende Figuren, die einen Tiger und einen Löwen vorstellten, die drei Eingänge bewachten. Durch den mittleren derselben traten wir ein.

Im prächtig dekorierten, durch 25 feuerrote Säulen geschmückten Saale, der zahlreiche parallel mit den Ost- und Westwänden hinlaufende mit flachen, farbigen Sitzkissen versehene Pritschen aufwies, waren etwa ein Dutzend Lamas und ebensoviele Schüler versammelt, die unter lautem Getöse von Pauken und Metallbecken ihre gottesdienstlichen Handlungen ausübten. Alle hatten ihre „Nom“ (Gebete) vor sich und mit näselnder Stimme sangen sie dieselben vor sich her. Ich trat schüchtern vor, allein eine wohlwollende Handbewegung des Lamas benahm sofort jenes Gefühl. Er führte mich überall umher, ja selbst hinter die Barriere, wo in einer langen Reihe die Götzen aufgestellt waren, durfte ich treten.

Den Hauptplatz unter allen Götzen nahm der Burchan „Maidr“ oder „Maidari“, wie die Buriäten ihn nennen, ein, der von Schikitmunni, nach dessen Lehren im Tuschit (Himmel) zurückgelassen wurde, als jener zur Erde herabstieg. Er krönte ihn zuvor mit einem heiligen Kopfschmuck, in dem er auch hier abgebildet war. Im „Maidari“ verehrt der Lamaismus den zukünftigen Weltbeherrscher.

Im Antlitz stets gelb oder in Gold und Bronze prangend, dabei in allen Nachbildungen, die mir zu Gesicht gekommen sind, ein ganz eigentümliches Lächeln zur Schau tragend, bietet er sich dar – bald klein und handlich geformt, bald zu einem Koloß aufgebaut, der ein ganz besonderes Gebäude für sich beansprucht. So gab es auch hier hinter dem Haupttempel einen besonderen Pavillon, wo der Gott Maidari auf einem von Scheusalen getragenen Thron in einer Höhe von mindestens 35 bis 40 Fuß abgebildet saß. Vor dieser aus Cedernholz gefertigten und mit wohlriechenden Gräsern gefüllten Statue wird kein besonderer Gottesdienst abgehalten; dem Maidari dient man im Tempel sowie in zwei besonderen Festlichkeiten, welche unter freiem Himmel abgehalten werden. Dieselben bestehen in einem großen Umzug des Götzenbildes auf einem eigentümlichen Prunkwagen und in der einige Wochen später folgenden Ceremonie „Tsamm“, einem Maskentanze.

Die Vorbereitungen zum Umzug der Statue beginnen schon zwei Wochen vor dem eigentlichen Festtag. Erstens gilt es ja, zahlreiche Gäste aufzunehmen, an welche zuvor Einladungen erlassen werden, dann wird der Wagen in Ordnung gebracht, neu angestrichen, und auch das große gleichfalls auf Rädern stehende Pferd vor demselben erhält ein neues grasgrünes Gewand. Sonstige noch vorhandene Pferde sind von Privatpersonen gestiftet.

Der Wagen ist von allen Seiten mit Gittern umgeben, in deren Mitte nachher ein Bildnis des Götzen Aufstellung findet, die Räder sind rot, das übrige gelb, blau, rot und grün angestrichen; das Ganze wirkt außerordentlich originell und durchaus nicht unschön, um so mehr, als große Mengen prächtigen Seidenzeuges beim Ausschmuck Verwendung finden. (Vergl. die Abb. S. 269.)

Am festgesetzten Tage[2] beginnt unter Trompeten-, Pauken- und Metallbeckenmusik der Gottesdienst im Tempel schon um fünf Uhr morgens, worauf gegen Sechs sich alle Einwohner des Klosters nebst einer großen Zuschauermenge auf dem Hofe einfinden. Die Klostergeistlichen haben sich nach Rang und Ordnung aufgestellt. Die Prozession eröffnet der Bandido-Chanbo-Lama mit zwei bis drei Assistenten, indem er eigenhändig eine Statue des Maidari trägt und sie auf den Wagen setzt, worauf weitere Lamas fünf Bände der heiligen Schrift über jenen Götzen herbeitragen und nebst ihnen wohlriechende Lichter, Räucherfäßchen, Blumen etc. zum Bildnis legen. Dann beginnt der Marsch.

Voraus gehen zwei Lamas mit zusammengewickelten Pantherfellen in den Händen, mit denen sie um sich schlagend das zudringliche Volk abwehren, und in dieser Pflicht werden sie durch zahlreiche Kollegen mit Peitschen in den Fäusten unterstützt. Dann kommen zwei Mönche, die auf großen Seemuscheln blasen, dann solche mit anderen Musikinstrumenten, die einen Höllenlärm verursachen, und dem gelben Schirm des Maidari, dann Wagen und Pferd, die von Lamas gezogen werden, und schließlich Hunderte von angereisten Geistlichen, die alle bemüht sind, nach Möglichkeit viel Spektakel zu machen. Hohe Geistliche werden in Sänften getragen.

[271] Auf dem Klosterhofe bleibt man stehen und betet: „Maidari als Befehlshaber aller siegreichen Buddhas möge seine Anbeter fähig werden lassen, sich an der Größe seiner Lehren zu ergötzen, wenn sie die Betmühle drehen etc.“ Die Lamaïten benutzen verschiedene Bet-Automaten; es werden entweder Wind- oder Wassermühlen verwandt, arme Leute lassen über ihren Häusern Flaggen, bedruckt mit Gebeten, sogenannte „Chij-morin“ (chij heißt Wind, morin Pferd), wehen und Wohlhabende sind sogar neuerdings darauf verfallen, ihre Betmaschine durch Uhrwerke in Bewegung zu erhalten.

Nach obigem Gebete wird der Wagen des Maidari zuerst zur Nord-, dann zur Westpforte des Tempelhofes gefahren. Nun erholen sich die Lamas und speisen, worauf man zur Süd- und Ostpforte sich begiebt und schließlich wieder am Tempeleingange ankommt, womit die Feierlichkeit ihr Ende erreicht.

Das andere Fest, der „Tsamm“, besteht in einem pantomimischen Tanze der als Dokschiten (böse Götter) verkleideten Lamas. Auch hier dauern die Vorbereitungen etwa zwei Wochen, denn es müssen alte Masken ausgebessert, neue angeschafft und Gäste eingeladen werden. Dann haben aber auch die Lamas die Aufgabe, im Traume zu sehen, wie sie sich maskieren und wie sie tanzen sollen, um den betreffenden Gott getreulich kopieren zu können. Auch der „Tsamm“, den wir auf S. 273 im Bilde wiedergeben, wird nur im Klosterhofe gefeiert.

Zunächst wird derselbe gründlich gesäubert, dann wird dem Eingänge zum Tempel gerade gegenüber auf vier Säulen ein Baldachin aus Seide errichtet, der in blau-rot-gelb prangt. Ueber den vier Ecken dieses Zeltes, in das die Opfergaben zu bringen sind, wehen Fahnen. Das ist der Mittelpunkt der Feierlichkeit. Nun werden um das Zelt herum durch ausgestreutes Mehl oder pulverisierte Kreide mehrere Kreise gezogen, und zwar zunächst zwei Kreise, in denen die Dokschiten, und dann weiter gleichfalls zwei, in denen die Schanaken (nicht verkleidete Personen) tanzen; dann markiert man in derselben Weise einen Weg bis zum Tempeleingange und in seiner halben Länge noch einen Kreis, in dessen Grenzen sich die Masken während der Ruhepausen aufhalten. Das Tischchen, auf welches unter dem genannten Baldachin die Opfergaben gestellt werden, wird vorher mit einem Pantherfell und dann mit einem seidenen Tuche bedeckt.

Der Gottesdienst hat um Fünf unter dem üblichen Lärm aller vorhandenen Musikinstrumente begonnen, um Sieben ist er beendet, und bis zehn Uhr erholen sich alle Teilnehmer an demselben oder bringen ihre Maskenanzüge in Ordnung. Letztere sind stets aus prachtvollem Seidenzeuge gefertigt, meistens ist es einfarbiger Atlas, aus dem sie bestehen. Sie sind sehr breit, namentlich die Aermel, denn es heißt ja, daß die Dokschiten in ihren Händen Pfeil und Bogen verborgen halten, um die Feinde der Religion zu vernichten. Die Kopfmasken bestehen aus Papiermaché und sind in Form und Farbe genau dem Götzen, den sie darstellen, nachgebildet; man sieht verzerrte Menschengesichter, Köpfe von Löwen, Ochsen, Elefanten etc. Auf einigen Masken unserer Abbildungen (S. 272 und 273) sind fünf Totenköpfe, das Zeichen eines der Dokschiten, sichtbar.

Die aktiven Festteilnehmer kommen aus dem Tempel – voran mehrere Lamas in ihrer prächtigen gelben Kleidung mit der feuerroten Schärpe über der Schulter, Lampions in den Händen tragend, ihnen folgen Amtsbrüder mit Räuchergefäßen, Musikinstrumenten etc. Alle haben sich in gebührender Ordnung aufgestellt und nun beginnt die Musik, worauf die beiden ersten Masken erscheinen. Es sind zwei in enganschließende, weiße Kleider gehüllte Gestalten mit Totenköpfen als Maske und Stäben in der Hand, man nennt sie „Dürtott“. Ferner erscheint ein als Rabe verkleideter Mönch, „Chré“ genannt.

Das Opfer „Ssor“ liegt noch nicht auf dem Tischchen inmitten der Kreise, sondern ist irgendwo im Hofe aufgestellt. Der Rabe stürzt sich auf dasselbe, um es zu stehlen, während die beiden Dürtott bestrebt sind, ihn von dort mit Hilfe ihrer Stäbe zu vertreiben. Dieser einige Zeit währende Kampf ist die Einleitung zu der eigentlichen Handlung der Pantomime.

Ein stattlicher Lama erscheint mit zwei heiligen Gefäßen: dem Gabalu und dem Mandal in Händen; in ersterem befindet sich Blut, in letzterem Getreide, und unter einem lauten Aufschrei schüttet er den Mandal über dem Gabalu aus. Dann wird das Opfer unter den seidenen Baldachin getragen und im selben Augenblick beginnen die Totenköpfe einen wilden Tanz um dasselbe, werfen ihre Knüttel in die Luft und fangen sie wiederum auf, verrenken ihre Glieder etc., laufen sechsmal um die Opfergabe und bleiben schließlich neben derselben stehen. Ihre Rolle ist zu Ende gespielt, nur von Zeit zu Zeit sieht man sie noch den gefräßigen „Chrévogel“ davonjagen.

Wieder steigert sich die Musik zu einem Höllenspektakel, es erscheinen zwei imitierte Einwohner des Hindostan, gewöhnliche, allerdings braungefärbte Menschengesichter, doch karikaturenhaft verzerrt. Auch ihre Kleidung ist braun. Ihre Aufgabe besteht eigentlich nur darin, dem ihnen folgenden Fürsten, Tschakrawarting-Chan, ehrerbietig entgegenzugehen, im übrigen jedoch stürzen sie sich auch mitunter unerwartet auf das zuschauende Volk, was viel Heiterkeit erregt. Nun folgt der letzgenannte mit Gemahlin und Sohn, hinter der ehrwürdigen Familie laufen zwei kleine Trabanten mit entblößten Schwertern auf den Schultern einher. Auch diese Herrschaften spielen keine glänzende Rolle, nur werden sie – wie schon gesagt – von den beiden Hindus begrüßt, wobei man ihnen Blumen auf den Weg streut, und dann zu einem Diwan geleitet, wo sie sich gemütlich hinpflanzen. Ihre Trabanten stellen sich zu beiden Seiten auf.

Ein lautes Blasen auf Seemuschelhörnern lockt nun noch eine Familie hervor, und zwar Hasching-Chan mit sechs Söhnen, von denen der ältere stets um einen Fingerbreit größer ist als sein jüngerer Bruder. Alle tragen Musikinstrumente, Glocken, Tamtams, Metallbecken, in Händen. Von Hasching-Chan meldet die Ueberlieferung, daß er einst jeden vorüberziehenden Buddha besonders herzlich aufnahm, daher ihm hier der Zutritt freigestellt ist. Auch diese musikalische Familie verhält sich mehr passiv zur Festlichkeit, ihre verzerrten Mongolenmasken aber wirken außerordentlich komisch ihres bodenlos gutmütigdummen Ausdrucks halber.

Kaum haben diese Ankömmlinge sich gleichfalls gesetzt, so folgt ein heftiges Dröhnen auf zwei Metallbecken und es erscheinen zwei dunkelgelbe, zwei braune, zwei blaue und zwei grüne abscheuliche Maskenfratzen, denen Mehl auf den Weg gestreut wird und die längere Zeit plump umherhüpfen. Sie bleiben so lange in Thätigkeit, bis zwei Schamas (Zauberer), der eine mit einem Kuh-, der andere mit einem Hirschkopf, den Tempel verlassen und, nachdem ihnen Blut auf den Weg gegossen worden ist, sie im Tanzen ablösen. Nun folgen sich die übrigen Masken ziemlich rasch aufeinander.

Es erscheint Otschir-Wani, mit einer Schlinge in der Hand, mit der er die Feinde der Religion fängt, dann der Gonbo mit schwarzem Gesicht, hernach Hlamá mit seiner blauen Menschenmaske, der Löwenkopf Sengey-don-shan und der ein mythisches Ungeheuer darstellende Tschus-rin-don-shan, Namsarai mit einem Netze in der Hand, Gonbo-Guru mit den acht Assistenten des Tschamssaran und schließlich dieser selbst: die schrecklichste Maske, die es geben kann. Er besitzt zwar ein Menschenantlitz, doch unsagbar verstümmelt, in der einen Hand hält er ein feuriges Schwert, in der anderen ein blutiges Herz. Ganze Ströme von Blut hat man vor ihm ausgegossen, in den Reihen der Zuschauer regt sich ein Gefühl des Grauens.

Der Tanz aller genannten Persönlichkeiten ist schwerfällig und träge, sie nutzen die Geduld der Zuschauer nach Möglichkeit aus und daher ist eine heitere Abwechslung nötig. Dieselbe wird bewirkt, indem Tsagan-Ebugèna, jener famose Greis mit dem ungeheueren Kopf, dem weißen Schlafrock und langen Bart, erscheint. Er schreitet nicht wie andere Darsteller gravitätisch einher, sondern wird, in einen großen Teppich gehüllt, auf den Schauplatz getragen. Nachdem er einige Zeit regungslos gelegen, erhebt er sich, ordnet seinen Schnurrbart und die Augenbrauen, hält die Hand über die Augen und sieht sich die Gesellschaft an, geht bald auf eine, bald auf die andere Seite, dann giebt man ihm einen ordentlichen Branntwein und nun „legt er los“, daß die Hacken in der Luft blinken! Er tanzt wie ein schwer Bezechter, bis er vor Müdigkeit hinstürzt. Einige Zeit liegt er still da, dann marschiert er langsam aus dem Kreise hervor, setzt sich auf den Boden und beginnt ein Schafsfell zu krauen. Ein fröhliches Gelächter hat sein Auftreten begleitet. Auch bei diesen religiösen Tänzen geht es also nicht ohne Hanswurst ab.

[272] Nun erscheinen noch 32 Darsteller: die Schanaken (nichtverkleidete Lamas) und endlich, zum Schluß der Feier, Tschoitschshila mit einem großen blauen Ochsenkopfe, der, während sich alle übrigen zurückziehen, allein auf der Scene zurückbleibt und dem letzten Akte: der Zertrümmerung der Figur des Linká, (symbolische Figur) beiwohnt. Dann folgt ein Schluß-„Chural“: ein feierliches Gebet. – – –

Doch kehren wir zurück in den Tempel!

„Maidari“, der zukünftige Weltbeherrscher, der zweite Buddha aus der Zahl der tausend buddhistischen Weltregierer, der Gelbleibige, nach dem man den Lamaismus auch die „gelbe Religion“ nennt, war im Tempel am Gänsesee zur Zeit meines Besuches mehrfach und in verschiedener Größe vertreten.

Im ganzen waren über 40 Götzenbilder – einige doppelt – im Tempel vorhanden, wozu noch einige Modelle des „Tuschit“ (Himmelreiches) in Form von Häuschen, das Bildnis des Reformators Tsonchawá und mehrere andere heilige Abbildungen hinzugerechnet werden müssen. Ueberall, der ganzen Götzenreihe entlang, standen in kleinen blanken Schälchen Opfergaben: Quellwasser, Getreide, Fett, Butter, Naschwerk etc., umher, zwischen welchen Gegenständen Pauken, Trommeln, Becken, Trompeten und Glocken, die Attribute des Gottesdienstes, aufgestellt waren. Da außerdem die Götzen teilweise in Seidenzeug der eigentümlichsten und buntesten Färbung gehüllt waren, so daß nur ihre Fratzen hervorsahen, und außerdem überall der Rauch von wohlriechenden Kerzen und Räucherstäbchen emporstieg, so erhielt das Ganze einen auf Nichtgewöhnte überwältigend wirkenden Eindruck. Nichts Feierliches war eigentlich vorhanden, nur die grelle Buntheit, der Höllenlärm um mich her, sie waren die effektschaffenden Mittel, die auf den schlichten, biederen und auf so niedriger Kulturstufe stehenden Buriäten besonders kräftig einwirken müssen.

Maskentypen von dem Feste „Tsamm“.
Nach einer Aufnahme des photographischen Ateliers Petrow in Irvyzkossawsk.

Ein verhängter Glasschrank, der sich durch die Freundlichkeit meines Gastgebers vor mir erschloß, enthielt den Genius: die Beschützerin des Klosters Ochin-Tengri, eine fratzenhafte Frauengestalt zu Pferde, die in der einen Hand ein Kind, in der anderen als Schale (Gabalu) den Schädel eines Menschen hielt. Vor dieser Gestalt waren besonders viele Opfergaben und wohlriechende Räucherstäbchen aufgestellt.

Wir traten hinter der Barriere, welche die Götzen gegen den Tempelraum abschließt, hervor, und nun fiel mein Blick auf zahlreiche, von der Decke und den Wänden herabhängende, prachtvoll in Seide gestickte Verzierungen, welche, von Privatpersonen gestiftet, einen wahrhaften Schmuck bildeten. Entweder waren es riesenhafte, 15 bis 20 Fuß lange, in den buntesten Farben prangende Cylinder, die, obgleich sie keine Gebete enthielten, gleichfalls „Tschalzan“ genannt wurden, oder es waren flaggenartige Seidenstücke, die senkrecht herabhingen und oben durch einen nachgebildeten Fischkopf gehalten wurden. Auch buntfarbige Schnüre mit den kunstvollsten Knoten in ihnen, sogenannte Schemá, auf Seide gestickte Wirtschaftsgeräte und Reiseutensilien hingen überall herab, eine schreiend bunte Dekoration abgebend.

Im vorgenannten besonderen Pavillon des Maidari öffneten sich vor mir noch acht Schränke, in denen die heiligen Bücher, der 108 Bände enthaltende Ganshur und der 225 Bände starke Danshur, aufbewahrt werden, die in tibetanischer Schrift Aufschluß über Sitten- und Glaubenslehre geben, aber auch Abhandlungen über Medizin, Mathematik und namentlich astrologische Weisheit enthalten. – Nun hatte ich den Heidentempel gesehen, mein Zweck war erreicht und ich konnte weiterziehen. Ich war meinem Gastgeber, dem Lama, kein bequemer Gast gewesen, vielleicht hat er sich durch mich nach Rückkehr des Bandido-Chanbo-Lama einen Verweis zugezogen, aber so lange ich in seinem Hause weilte, wahrte er mir gegenüber den Takt eines Weltmannes, er behandelte mich mit der ganzen Herzlichkeit eines Menschenfreundes. Auch unter der gewöhnlichen mongolischen und buriätischen Landbevölkerung, diese und jene sind vorwiegend Lamaïten, habe ich bis heute wohl eine kaum glaubliche Armut, doch nirgends Geiz, Habsucht und namentlich ein feindseliges, intolerantes Benehmen gegen mich, den fremden einsamen Wanderer, bemerkt.


Naturspiele.

Von Rudolf Kleinpaul.


In den Wildnissen des fernen Westens, jenseit des Missouri, hauste in den fünfziger Jahren, mit dem Urwalde und dem Indianer um die dürftige Existenz ringend, ein deutscher Farmer, ein sogenannter Hinterwäldler. Weit weggesetzt von der europäischen Civilisation, wollte er doch seiner Familie die Segnungen der Kultur erhalten und in seinen Mußestunden sein hoffnungsvolles Söhnlein in der Kunst des Schreibens unterrichten. Das Schreibebuch wurde von Karlchen, nach der allgemeinen Liebhaberei künstlerisch veranlagter Kinder, noch mehr zum Malen und Karikaturenzeichnen als zum Schreiben benutzt: der kleine Deutsch-Amerikaner hatte sich, so scheint es, auf die Hieroglyphenschrift gelegt und Blatt für Blatt mit jenen elementaren Abbildungen, jenen grotesken Fratzen bedeckt, wie man sie bei uns an den Mauern oder im Sande anzubringen liebt, und die man, wenn sie aus Rom oder Pompeji stammen, Graffiti, auf deutsch aber Kritzeleien oder Sudeleien nennt: Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Besagtes Schreibebuch hatte indes ein eigenes Schicksal, es sollte in Holz geschnitten, in einer Kaiserlichen Staatsdruckerei vervielfältigt, in Juchtenleder gebunden und kostbar ausgestattet, an alle Bibliotheken der civilisierten Welt versendet werden. Es war, wer weiß durch welchen Zufall, auf die Prairie geraten und einem französischen Missionär, dem Abbé Domenech, in die Hände gefallen, der den Nachkommen der Azteken das Evangelium predigte. Er glaubte Wunder was gefunden zu haben; wie Humboldt die Figuren von Himmelskörpern, Krokodilen und Schlangen, die in Guayana in Felsen

[273]

Das Tsammfest im Lamaïtenkloster am Gänsesee in Sibirien.
Nach photographischen Aufnahmen gezeichnet von Fritz Bergen.

[274] eingegraben waren, für Reste einer alten untergegangenen Civilisation erklärte, so meinte unser Abbé in diesen runden Gesichtern, in denen zwei Punkte als Augen standen, in diesen Stelzfüßen, in diesem Krikelkrakel, ja, in den Buchstaben selbst, die zollgroß, mit Enterhaken und Spießen bewaffnet, wie die Riesen der Vorzeit oder zum mindesten wie Zaunspfähle, wie Keilschriftzeichen aussahen, höchst merkwürdige und kostbare mexikanische Hieroglyphen zu erkennen. Es ist ja Thatsache, daß die Kunstleistungen primitiver Völker durchaus an die Versuche unserer Kinder erinnern. Kurzum, der Abbé Domenech brachte sein amerikanisches Altertum nach Frankreich und hatte das Glück, die Rarität der Kaiserin Eugenie vorlegen zu dürfen. Diese setzte es durch, daß das Ding auf Befehl des Kaisers herausgegeben und auf Staatskosten zu Paris von der Firma Didot gedruckt ward. So entstand im Jahre 1858 das „Buch der Wilden oder die Bilderschrift der Azteken“ von Abbé F. Domenech. Der grobe Mißgriff wurde in den sechziger Jahren von Heinrich Noé, damals Assistent an der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, und von dem Dresdener Bibliographen Julius Petzholdt aufgedeckt.

Auch im Buche der Natur finden sich solche Kritzeleien und solche harmlose Skizzen, denen man den Namen „Naturspiele“ gegeben hat. In früherer Zeit hat man allerdings viele Bildungen in der Natur mit Unrecht zu den Naturspielen gezählt; das gilt vor allem von den Versteinerungen.

Wenn der alte Naturforscher einen Felsen entdeckte, der auf seiner Kluftfläche die flüchtigen Umrisse eines Farnkrautes oder eines vorweltlichen Tieres erkennen ließ, so glaubte er an ein Naturspiel. Wenn er ein Gestein fand, das selbst die Form eines lebenden Wesens, eines überlegten Kunstwerkes, eines menschlichen Gerätes hatte, so glaubte er an ein Naturspiel.

Thatsächlich sind sogar die Waffen und Werkzeuge der Steinzeit, ja, die Urnen, die aus vorgeschichtlichen Gräbern stammen, für lusus naturae, Naturspiele, gehalten worden. Mutter Natur hätte dann getändelt und gebosselt wie eine Anneliese, die Wachs knetet oder unter dem Tische Brotkügelchen macht.

Mit andern Worten: von Versteinerungen oder Petrefakten wußte man in jener Zeit noch gar nichts. Die Lehre von den vorweltlichen Tieren und Pflanzen, die eben versteinert sind, ist eine sehr junge Wissenschaft, deren Geschichte kaum drei Menschenalter rückwärts reicht. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurden die in den Schichten eingeschlossenen Reste von Pflanzen und Tieren als Produkte eines der Natur innewohnenden Kunsttriebes, also wie Spielereien und wie Versuche angesehen, die lebenden Wesen nachzubilden. Wir wissen jetzt, daß die pflanzenartigen Zeichnungen, die man auf den Gesteinen wahrnimmt, Abdrücke von wirklichen Pflanzen sind, die auf dem Gestein gelegen und das Abbild ihrer Form hinterlassen, aber sich selbst verflüchtigt haben.

Durch eine richtige Ansicht vom Wesen der Versteinerungen wird also das Gebiet der Naturspiele bedeutend eingeschränkt, doch hört es darum keineswegs ganz auf. Im Gegenteil, der Forscher muß manches für ein Naturspiel erklären, was von den Laien irrtümlich für eine Versteinerung angesehen wird. So hat man zum Beispiel auf den Solnhofener Schiefern mehrfach zartverästelte Zeichnungen gefunden, welche die Form von Bäumen, Sträuchern oder Moosen haben und daher auch organischen Ursprunges scheinen. Es sind aber keine Abdrücke von Pflanzen, sondern zufällige Gebilde, aus eingedrungenen Lösungen durch Ausscheidung entstanden. Hier hat die Natur wirklich gespielt, wenn man sich dieses poetischen Bildes bedienen will, wie sie auch gespielt hat, wenn sie bei gewissen Marmorarten durch die gegenseitige Verschiebung von Bruchstücken eines grau- und gelbgestreiften Kalksteins ruinenähnliche Zeichnungen hervorrief. So sind die „Ruinen“ entstanden, die der Florentiner Ruinenmarmor aufweist; so sind die Trümmer und Festungen entstanden, die man mit ein wenig Phantasie auf dem sogenannten Trümmerachat wahrnehmen kann.

Achat und Marmor bieten der Phantasie mit ihren Adern, ihren Bändern, ihren Streifen, Flammen, Wolken und Flecken einen besonders weiten Spielraum. Der Zufall deutet eine Aehnlichkeit an, die Einbildungskraft hilft nach. Sie ergänzt, was fehlt. Oft hat auch die Kunst des Fälschers nachgeholfen, da die Sammler dergleichen Raritäten gut bezahlen. In den naturhistorischen Sammlungen zu Upsala befinden sich zwei Achate, auf deren einem man das Jüngste Gericht mit allen seinen Schrecknissen erblicken kann. Auf dem andern sieht man den Durchgang der Kinder Israel durchs Rote Meer.

Bei dem sogenannten Glasachat oder dem Obsidian, wie er sich zum Beispiel in Böhmen zu Moldautein findet, ist es noch nicht einmal entschieden, ob er von der Natur herstammt oder sein Dasein einer sehr alten Glasfabrikation verdankt. Wenn er aber einmal, wie auf der Insel Hawaii im Stillen Ocean am Krater Kilauea, ein Gewirr zarter, haarförmiger Fäden bildet, daher er auch Königin Peles Haar genannt wird, so wird man schwerlich glauben, daß hier die versteinerten Zöpfe der Königin Pele erhalten seien, so wenig wie man sich etwa überreden läßt, daß das Haar der Berenice wirklich am Himmel stehe.

Pele ist die furchtbare Göttin, die nach dem Glauben der Eingeborenen auf dem Kilauea thront, mit ihrer gräßlichen Stimme die ganze Insel erzittern macht und jeden, der sich in ihre Nähe wagt, zerschmettert – die Mutter Hawaiis. Man besteigt jetzt den Kilauea so gut wie den Vesuv, um den feuerflüssigen Sarasee zu sehn; hart am Rande des Kraters hat ein unternehmender Amerikaner ein Hotel, das „Volcano House“, errichtet.

Ganze Berge haben mitunter die Gestalt von Menschen. Noch ehe dem verewigten Kaiser Friedrich zu Berlin ein Denkmal errichtet wird, hat ihn schon die Natur in Böhmen zu Weckelsdorf abgebildet; es ist bekannt, daß man am Traunstein Ludwig XVI, im Montblanc den ersten Napoleon erblickt. Im Profil des Montblanc, wie man es von Genf aus sieht, stellt der sogenannte Korridor die Lippen, die untere Hälfte der Rochers Rouges die Nase, die obere das Auge, die Calotte das welthistorische Hütchen dar. So zeigt man bei Karlsbad, zwischen Karlsbad und Elnbogen, den Hans Heilingfelsen, die Geliebte des Berggeistes, die er aus Eifersucht in Stein verwandelte; bereits im Altertum hat man in Kleinasien auf dem Berge Sipylus die trauernde Niobe und am Südende des Toten Meeres Lots Weib erkennen wollen. Die Sage ist in solchen Fällen schnell bei der Hand, eine Verwandlung und eine Versteinerung anzunehmen, ja, die Künstler haben sich vermessen, der Natur nachzuhelfen und ihre angeblichen Entwürfe vollends auszuführen. Als Michel Angelo in Carrara und Serravezza in der Nähe der Marmorbrüche weilte, nahm er sich vor, einen jener Berge zu einer Riesengestalt auszumeißeln, die, vom Meere aus gesehen, ein Wahrzeichen für Schiffer, den Eindruck machen sollte, als säße sie auf dem Gebirge; und so plante einst ein griechischer Künstler, aus dem Berge Athos eine Bildsäule Alexanders des Großen zu machen, die mit der linken Hand eine volkreiche Stadt umfassen, mit der rechten die Wassermassen eines Stromes ins Meer ergießen sollte, und ein Münchener Bildhauer wollte das „Ettaler Mandl“, den Besuchern der Oberammergauer Passionsspiele wohlbekannt, in eine Mutter Gottes ummeißeln, die als Bayerns Schutzpatronin aus der Höhe herabgrüßen sollte.

Naturspiele kommen nicht bloß im Mineralreiche vor. Wer hätte wohl noch niemals einen Hecht gegessen und die Passionswerkzeuge gesucht, die der aus lauter einzelnen Knochenstücken zusammengesetzte Kopf wie eine Passionsblume enthalten soll? Im Munde der Forelle findet man ein Knöchelchen, das die Gestalt eines Schweines hat und als Glücksschweinchen betrachtet wird; an der Blume des Hasen einen Knochen, der wie ein Fuchskopf aussieht. Eine Kokosnuß hat viel Aehnlichkeit mit einem Affenkopfe, ein Termitennest mit einem Negerkopfe, ein Abendschmetterling mit einem Totenkopfe. Weshalb gilt wohl ein vierblätteriges Kleeblatt für glückbringend? – Weil es die Form eines Kreuzes und des alten heiligen Hammers, des Donnerhammers, hat.

Es giebt aber auch Fälle, in welchen die Natur lebenden Wesen Gestalten verleiht, die auf Täuschung berechnet sind. Sie hat zum Beispiel Insekten geschaffen, die Stückchen von Baumrinde oder dürren Zweigen ähnlich sehen. Eine Heuschreckenart ist so vortrefflich einem Pflanzenblatte nachgebildet, daß die Zoologen ihr den Namen „Wandelndes Blatt“ gegeben haben. Solche Formen, die von der Natur nach älteren Mustern geschaffen wurden, haben jedoch nichts Zufälliges an sich. Die Natur hat bei ihrer Ausbildung kein Spiel getrieben, sondern ein ernstes Ziel verfolgt; sie hat den schwachen Tieren diese täuschende Gestalt verliehen, um sie weniger erkenntlich zu machen und dadurch vor den Nachstellungen ihrer Feinde zu schützen.


[275]

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.
(8. Fortsetzung.)


Im obersten Geschoß des Wartauer Schlosses sind die Kinderstuben. Man hat nicht mehr genug an einer, denn vor drei Monaten ist ein Zwillingspärchen hinzugekommen zu dem Stammhalter, ein Mädchenpaar mit blondem Flaum auf den Köpfchen und den blauen Augen des Vaters.

Frau Edith Mohrmann plant ein großes Fest für die Taufe. Ihre Freundin Ma ist auf Besuch in Wartau, ebenfalls mit einem Kleinen; Edith hat sie gebeten, die Zeit während eines Kommandos ihres Gatten nach der Reichshauptstadt hier zuzubringen, und die hübsche junge Strohwitwe ist dieser Einladung mit vieler Freude gefolgt. Es ist aber auch geradezu entzückend auf Wartau, ein Aufenthalt, wie geschaffen, um sich zu erholen von dem knappen Garnisonsleben, in dem das Wirtschaftsgeld nie reichen will. Frau Ma hat hier bereits rote Wangen bekommen und das blasse Stadtkindchen quillt in der frischen Luft und bei der unverfälschten köstlichen Milch auf wie ein kleiner Pfannkuchen. Die Kinderfrau Ediths ist aber auch so vorzüglich, die beiden jungen Mamas brauchen sich thatsächlich um nichts zu kümmern. Gehegt und gepflegt wird das keine Gelichter, als wären es Fürstenkinder, und zu allem Ueberfluß wohnt dort oben Tante Tonette, die schier verliebt ist in den Aeltesten Ediths, in den kleinen Lothar, der äußerlich und innerlich ein echter Wartau zu werden verspricht und lachhaft dem Porträt ähnelt, das seinen Urgroßvater Lothar von Wartau als Kind darstellt.

Ja, Tante Tonette ist auf dem Gipfel ihrer Wünsche angelangt. Sie hat mit Vergnügen ihre Stuben im ersten Stock geräumt und ist nach oben gezogen in das Napoleonszimmer, denn Wartau ist wiedererstanden in allem Glanz vergangener Zeiten, Wartau ist der Brennpunkt der Geselligkeit im ganzen Umkreise; nirgends wird ein Haus in so vornehmem Stil geführt, nirgends giebt es eine so geschmackvolle Einrichtung, nirgends eine so bezaubernde Hausfrau wie hier, und – pflegt die alte Dame im stillen hinzuzusetzen – er stört ja nicht, er ist mit allem zufrieden.

Emma von Lattwitz und Edith sitzen auf der Terrasse unter rotgestreiftem Leinendach und unterhalten sich. Edith ist eine wunderschöne Frau geworden, voll aufgeblüht, groß und schlank. Sie trägt ein scheinbar sehr einfaches Batistkleid, aber die Stickerei läßt ein Unterkleid von gelber Seide durchschimmern, und wenn sie sich bewegt, rauscht diese Seide. Ma, neben ihr, ist in marineblaues Leinen gekleidet, Matrosenbluse und Rock mit weißen Litzen besetzt, sehr einfach, sehr billig, aber sie kann sich trotzdem neben Edith sehen lassen. Ihre Hände arbeiten fleißig an einem Kleidchen für das Kleine.

Man hat Thee getrunken trotz der Hitze; die zierlichen, echt japanischen Täßchen stehen da noch neben der silbernen Kanne und dem Kesselchen, dessen Spiritusflamme heruntergeschraubt ist. Eine große Schale purpurroter Rosen ist etwas zur Seite geschoben, um Edith Platz zu schaffen: sie schreibt in einem Notizbuche.

„Ich freue mich furchtbar,“ sagt sie eben, „und ich begreife nicht, daß ihr alle so kalt bleibt bei meiner Idee, ein Gartenfest im Rokokostil abzuhalten. Du ziehst ein sauersüßes Gesicht, Ma, und Tante Tonette meint, es würde Josepha unsympathisch sein, die sich nun endlich huldvoll herablassen will, zur Taufe auf Wartau zu erscheinen – mein Gott, wenn’s ihr nicht paßt, dann mag sie wieder abreisen, ich sehe nicht ein –“

„Di, ich freue mich ja schon, aber ich glaube, deinem Manne ist’s nicht recht, wenigstens vorhin bei Tische –“

„Anton?“ fragt Edith verwundert, „beste Ma, du siehst Gespenster! Uebrigens, was geht dich das an, wenn Anton sich ausschweigt über irgend eine Angelegenheit?“

„Aber, Edith, er ist doch der Hausherr, und ich möchte nicht, daß er glaubt, ich bestärke dich in deinen extravaganten Einfällen.“

„Extravagante Einfälle? Diese harmlose Sommermaskerade?“

„Na, ich danke!“ sagt Ma ernsthaft, „ich möchte diese harmlose Maskerade nicht bezahlen.“

„Ja, aber wie kommst du denn eigentlich auf alle diese Gedanken?“ fragt Edith. „Meinst du etwa, wir befinden uns plötzlich in so betrübenden Umständen, daß wir kein Tauffest ausrichten könnten? Oder – was meinst du?“

Ma lacht. „Ich bitte dich, Edith, davon ist gar keine Rede. Nur gestern mittag, als du zuerst von deinem Projekt sprachst, sagte dein Mann, daß ihm die Trockenheit dieses Sommers Anlaß zu schlimmen Befürchtungen wegen der Ernte gebe.“

„Ah! bah! das kenne ich! Der gute Anton kommt immer mit irgend einem Unkenruf dazwischen, wenn ich etwas Nettes will. Darauf gebe ich gar nichts mehr, nicht so viel!“ – Sie schnippst lustig mit den Fingern vor Mas Näschen. – „Im Anfang habe ich mich ein paarmal einschüchtern lassen, habe geweint und bin traurig gewesen; später kam ich dahinter, daß solche Prophezeiungen weiter keinen Zweck hatten, als ein bissel billiger wegzukommen von seinen Verpflichtungen. Das liegt so drin bei Naturen wie die seine – sparen! sparen! Das Leben zu genießen verstehen sie nicht. Jetzt höre ich es gar nicht mehr. Also, wenn das dein einziger Kummer ist, Schatz –“

„Aber, Di! Du kannst nicht leugnen, daß der diesjährige Sommer so heiß und trocken auftritt, als sei Mitteldeutschland die Sahara.“

„Und deshalb eben will ich die Taufe abends haben, Illumination des Gartens und im Naturtheater soll das Menuett getanzt werden – du wirst eine süße kleine Schäferin sein, Ma; du blau – ich rosa – zu nett!“

In diesem Augenblick tritt Anton Mohrmann in den Rahmen der Thür. Auch er hat sich verändert, vielleicht zu seinem Vorteil. Er hat nicht unbeeinflußt neben einer so eleganten Frau, wie Edith, gelebt; er ist tadellos angezogen, wenn auch schlicht und ohne Zugeständnis an Modethorheiten. Das Gesicht ist schmäler geworden, aber auf der Stirn zeigen sich ein paar Falten und die Augen haben nicht mehr den alten frohen Ausdruck; es liegt etwas Grübelndes in ihnen, als ob hinter der Stirn nicht einen Augenblick die Gedanken ruhten, allerhand quälende, nörgelnde Gedanken.

„Störe ich die Damen?“ fragt er, zieht aber nichtsdestoweniger einen Stuhl herzu und streckt die Hand bittend nach Edith aus. „Hast du noch eine Tasse Thee für einen Durstigen?“

„Nicht einen Tropfen,“ erwidert sie gelassen, macht aber weder Miene, nachzusehen, ob das Wasser noch heiß ist, noch eine frische Tasse zu bereiten. Dafür fragt sie: „Wo warst du eigentlich, Anton? Es sieht aus, als wärst du irgendwo auf den Knieen umhergekrochen.“

Er lacht plötzlich, sein ganzes Gesicht strahlt, und während er die Sandkörnchen mit dem Taschentuche von seinem Beinkleid abstäubt, sagt er: „Ich war bei den Kindern im Garten und habe für Lothar das Pferd vorgestellt, ist das ein Junge! Er bettelte so lange, bis ich ihm den Gefallen that. Der kleine Wicht kann den Unterschied zwischen Teppich und Rasenplatz eben noch nicht fassen. Ihr Fräulein Tochter, gnädige Frau, interessiert sich ebenfalls für diesen Sport, und so war ich abwechselnd Damen- und Herrenpferd.“

„Gott steh’ mir bei,“ lacht Ma, „das hätt’ ich sehen mögen! Sind die Zwillinge auch draußen?“

„Gewiß! Im ganzen vier Kinderwagen, vier Kinder und vier Aufsichtsdamen; Tante Tonette ist eben als Numero Fünf hinzugekommen.“

„O, bitte, Edith, laß uns hin,“ bettelt Ma, die eine ganz überglückliche Mutter ist.

„Später,“ wehrt diese, „es ist noch so heiß, und da du einmal hier bist, Anton – hast du die Einladungskarten bekommen?“

„Zu Befehl!“ antwortet er scherzend, aber das Lächeln ist aus seinem Gesichte verschwunden.

„Dann vergiß nicht die an Edi Waldenberg, Berlin W., Köthener Straße.“

„Natürlich nicht,“ sagt er zögernd.

Ma wird auf einmal feuerrot und dann steckt sie hastig den Finger in den Mund.

[276] „Haben Sie sich verletzt, gnädige Frau?“ fragt Anton.

„Ja – ich – ich stach mich ein wenig,“ stottert Frau von Lattwitz.

„Es bleibt also dabei, Schatz,“ fährt Edith zu ihrem Manne gewendet fort, die keinerlei Notiz genommen hat von dem kleinen Zwischenfall, „wir geben zur Taufe einen bal champêtre im Rokokokostüm?“

„Wie denkst du dir das?“ fragt er gepreßt.

„Nun, um sechs Uhr die feierliche Handlung –“

„In Mummenkleidung?“ bemerkt er fragend.

„Ach, wer denkt denn daran? Anton, du bist komisch! Die große Schar der Gäste wird erst auf sieben Uhr geladen; Vorschrift: gepudertes Haar und à la Watteau gekleidet. Souper im großen Saal, danach Polonaise durch den Garten und Tanz im Naturtheater. Es wird dir doch wahrhaftig kein Opfer sein, einen Bretterboden dort legen zu lassen? In den Lauben Erfrischungen und zur Abwechslung des Tanzes Blindekuh und dergleichen; bunte Laternen natürlich, bengalische Flammen und die Infanteriekapelle von drüben.“

„So! so! – Und daran ist nicht mehr zu rütteln?“ fragt er wieder.

„Gefällt Ihnen wohl nicht, mein Herr?“ giebt sie zurück.

„Ach gewiß, ganz ausgezeichnet! Wir sprechen noch darüber,“ bricht er ab.

„Ich für meinen Teil habe nichts mehr hinzuzufügen,“ erklärt sie und wirft ihm eine Rose an den Kopf, „ich weiß nur, daß ich eine feierliche steife Taufe, wie die von Lothar, nicht noch einmal erleben will. Ich sage dir, Ma, es war einfach zum Verzweifeln, dieses endlose Diner, diese Reden, diese schwerfällige Unterhaltung – nein,“ ruft sie und wirft eine zweite Rose nach ihm, „es bleibt dabei, mein Freund!“

Ma erhebt sich jetzt und geht langsam die Stufen hinunter, die zum Garten führen; sie hat Sehnsucht nach ihrem Töchterchen und sie ahnt, daß eine Auseinandersetzung kommen müsse zwischen dem Ehepaar; er sieht so finster aus, wie sie ihn noch nie gesehen hat. Edith erhebt sich ebenfalls, lächelnd, unbekümmert.

„Bleib’ noch einen Augenblick,“ sagt er.

Sie sieht ihn forschend an, ungeduldig. „Was wünschst du?“ fragt sie. „Halte mir nur um Gotteswillen keine Vorlesung – ich kenne dein Gesicht, so siehst du aus, wenn du mich belehren willst.“

„Du weißt sehr wohl: das habe ich längst aufgegeben, Edith. Nur ein paar Fragen – hast du die Auswahlsendung mit Brillanten besetzter Schildkrotkämme bestellt?“

„Ich war so frei, mein Schatz – sind sie angekommen?“

„Zu meinem Erstaunen – ja! Ich bitte dich, Edith, wir – – nun kurz, ich bin wirklich nicht in der Lage, deine kostspieligen Passionen alle Augenblicke – du hast einen so reich sortierten Schmuckkasten – ich verstehe dich nicht!“ Er ist ganz verlegen geworden, als er das sagt; er schlägt ihr so ungern einen Wunsch ab.

„Das glaube ich dir, Anton; wie solltest du auch verstehen, was unsereiner beanspruchen kann,“ sagt sie gereizt. „Wie der Junge geboren war, hat Tante Tonette dich auch erst mit der Nase darauf stoßen müssen, daß es Sitte ist, seiner Frau eine Freude zu machen, nachdem sie –, diesmal und nach all dem Schweren hast du es natürlich wieder vergessen.“

Er antwortet nicht. Sie hat sich zurückgelehnt in den zierlichen Bambussessel und sieht so traurig aus, als habe sie die tiefste Kränkung erfahren.

„Ich habe es nicht vergessen,“ spricht er endlich, „aber der Juwelier trödelte so lange – ich hatte mir so etwas besonders Hübsches ausgedacht. Willst du es heute schon haben?“ fragt er zärtlich. „Komm’ mit, Edith, ich will es dir geben.“

Sie schämt sich ein wenig und wird rot. „Ach Anton,“ sagt sie lachend, „was wirst du da angestellt haben? Na meinetwegen, gehen wir, und dann will ich auch gleich die Kämme besehen, sie sind wirklich die große Mode der Saison, wirklich, Schatz, und du hast’s doch so gern, wenn deine Frau nett aussieht, gelt?“

Sie tänzelt vor ihm her durch das Tafelzimmer in seine Stube. Wie ist sie entzückend in dieser Sommertoilette! Sein aufleuchtender Blick folgt ihr; er liebt sie, liebt sie fast noch leidenschaftlicher als vor Jahren. Als er den Geldschrank aufschließt, hebt sie sich wie ein Kind auf den Zehen. „O, wie ich neugierig bin!“ ruft sie. Er nimmt ein kleines hellblaues Sammetetui heraus, und seinen Arm um ihre Taille legend und sie an sich ziehmd, sagt er bewegt: „Lache mich nicht aus, Kind; es ist ein Kleeblatt, unser Dreiblättchen, Edith, du mußt es immer tragen.“

Sie hat das Kästchen geöffnet, eine kleine Brosche funkelt ihr entgegen in Form eines Dreiblattes, ein großer Brillant und zwei kleine Saphire. „Der Weiße soll der Junge sein,“ erklärt er weich, „und die zwei blauen, siehst du, das sind die Mädel.“ Und er küßt sie auf die Stirn, lang’ und innig.

„Wie drollig,“ bemerkt sie ohne ihn anzusehen. „Die Steine sind recht schön, besonders der Brillant, nur ein klein wenig zu blaß die Saphire. Ich danke dir auch, Anton.“

„Bitte!“ antwortet er und zieht den Arm zurück, verletzt von ihrer Kritik und dem nachlässigen Dank.

„Wo sind denn die Kämmchen, Schatz? Ich bin schrecklich neugierig.“

„Ich habe sie sofort zurückgesandt, Edith.“

„Wie? Ohne daß ich – –“

„Ja, Edith, denn ich kaufe keinen jetzt, ich kann es nicht.“ Er hat es sehr bestimmt gesagt und schließt den Geldschrank wieder.

Das schöne Gesicht vor ihm ist aschfahl geworden; das hat er noch nie gewagt. Sie wirft den Kopf in den Nacken und geht der Thüre zu; betteln thut sie nicht, sicher nicht! Es liegt ein so grenzenloser Hochmut, eine solche Verachtung in ihrer Miene, daß der Mann dort, der auf ein paar freundliche Worte, auf ein Zeichen der Freude von ihr gehofft hat, wie unter einem eisigen Wasserstrahl erschauert. Noch nie ist sie so von ihm gegangen.

„Edith,“ ruft er, „so sei doch verständig, Kind!“

Sie bleibt stehen. „Ich dachte, ich wär’ es – wünschst du noch etwas?“

„Ich will dir nur erklären – bitte, laß uns doch ruhig sprechen – du hast mich sehr aufgeregt, Edith –“

„Ich dich? Na, gleichviel, ich bitte sehr um Entschuldigung für mein Verbrechen.“ Sie will wieder gehen.

„Ja! du mich!“ betont er laut. „Mein Gott, Edith, wenn du das nicht fühlst – aber lassen wir es, ich sehe es dir an, du wirst mich nicht verstehen wollen, wenn du es auch könntest; berücksichtige wenigstens das, was ich dir jetzt sage!“ Er hat sie zurückgehalten und auf seine Kniee gezogen; sie sitzt da mit einem kalten hochmütigen Gesicht. „Sieh, Schatz, wir haben drei schlechte Ernten hintereinander gehabt, du weißt es, und in diesem Jahre scheint es leider die vierte werden zu wollen. Unser Haushalt ist trotzdem von Jahr zu Jahr luxuriöser geworden, und bedenke, Edith, wir haben die Pflicht, für unsere drei zu sorgen.“

Seine Stimme ist zuletzt wieder sehr weich geworden, alle Schärfe daraus verschwunden. Er versucht jetzt, ihr Gesicht zu sich zu wenden, aber sie schüttelt sich mit der Gebärde eines unartigen Kindes.

„Wir wollen doch keine leichtsinnigen Eltern sein, mein Lieb,“ fährt er fort, „du weißt ja leider aus Erfahrung, in welch’ traurige Lage Verschwendung und Extravaganz führen können.“

„Ja allerdings, das hab’ ich erfahren,“ sagt sie ironisch und springt empor. „Aber soviel ich weiß, hat mein Herr Großvater sich weder durch schlechte Ernten noch durch Aufmerksamkeiten für seine Gattin ruiniert – er war eben ein Spieler, das sagt alles. Das eine aber muß man ihm lassen, er war auch Kavalier durch und durch und wäre lieber gestorben, ehe er einer Dame – noch dazu seiner Frau, wenn deren Leben eben erst in Gefahr gewesen – einen harmlosen Wunsch versagt hätte.“

„Es wäre besser gewesen, er hätte in seinem Leben weniger den Kavalier als den guten Hausvater markiert,“ antwortet Anton, und die Zornesfalte runzelt sich auf seiner Stirn.

Sie fährt herum wie von einer Schlange gebissen. „Ich dulde nicht, daß du meinen Großvater beschimpfst!“

„Ich würde mir das nie erlauben.“

„Du hast es gethan soeben!“

„Nein, ich parierte nur deinen Vorwurf. Uebrigens“ – er geht zur Klingel – „wird Franz noch nicht fort sein mit den

[277]

Der Gertelbachfall im Schwarzwald.
Nach einer photographischen Aufnahme.

[278] Postsachen. – Das Wertpaket,“ sagt er zu dem eintretenden Diener, „bringe das Wertpaket zurück!“

In wenigen Sekunden liegt das Paket wieder auf dem Tische. Anton öffnet es und sagt: „Hier – wähle, bitte! Der billigste der Kämme, der mit den sechzehn Brillanten, kostet zweitausendfünfhundert Mark, aber vielleicht gefällt dir ein anderer noch besser.“ Er dreht sich gleichgültig um und schaut zum Fenster hinaus.

Sie weiß nicht, was thun, er ist so schrecklich gereizt; dies Scharmützel war härter als alle vorhergehenden. Ah, bah! Sie kennt ihn ja! Wenn er sie nachher sieht, seinen Jungen auf dem Arm, so ist alles vergessen; um des Kindes willen holt er ihr die Sterne vom Himmel, verzeiht er ihr alles! Was sie in Lothars Namen verlangt, das bekommt sie ohne weiteres, auch jetzt den Kamm und seine Verzeihung obenein; wozu also ihren Wunsch aufgeben? Sie beschließt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, tritt an den Tisch und beginnt zu prüfen. Zufällig gefällt ihr der billigste Kamm, der Form wegen, am besten.

„Anton,“ schmeichelt sie, „ich will nicht trotzig sein, ich werde den billigsten nehmen.“

„Wie rücksichtsvoll,“ sagt er, ohne sich zu wenden, „aber geniere dich doch nicht; ob ich nun schließlich zweitausend und fünfhundert oder dreitausend Mark schuldig bleibe, das ist ja egal.“

Sie lacht belustigt, ungläubig – „Schuldig bleiben?“

Aber er spricht die Wahrheit, er befindet sich thatsächlich in Verlegenheit. Die Ausgaben für den Haushalt sind rapid gestiegen, die Einnahmen sind schlechter geworden. Fast alle seine Bekannten haben ihren Lebensgewohnheiten Einschränkungen auferlegt, er allein hat sie erweitert. Er muß sich gestehen, daß in seinem Hause fürstlich gelebt wird, nicht um seinetwillen, sondern weil Edith es liebt, weil er um Gotteswillen nicht zugiebt, daß sie etwas entbehrt. Wären nicht die Kuxe des Flußspatwerkes, die ihm nach wie vor eine große Summe zuführen, er hätte sich nicht bis heute halten können. Von Sparen freilich, von Zurücklegen ist in den letzten Jahren keine Rede mehr gewesen.

„Ich werde jedenfalls den billigeren nehmen,“ wiederholt Edith. „Komm’ doch her, Anton!“ – sie zieht ihn am Arme – „ich will dir danken, du Brummbär, du Böser. Wenn ich erst alt bin und mich nicht mehr putzen mag, bekommt Lothar eine Hemdenknopfgarnitur von den Steinen – du siehst, es ist kein weggeworfenes Geld.“

Aber heute zaubert sie kein Lächeln um seinen Mund, weder mit spaßhaften Bemerkungen, noch mit Kose- und Schmeichelworten. Er nickt nur ein paarmal und setzt sich an den Schreibtisch. Sie fragt, ob er die Kämme wieder einpacken wolle. „Ja! ja!“ ist die kurze Antwort. Da bricht sie plötzlich in bittere Thränen aus, in ein ganz unheimlich wildes Schluchzen, das er kennt, das ihn erschreckt bis aufs äußerste. Er springt auf und nimmt sie in seine Arme und hält ihren Kopf an seine Brust gepreßt.

„Du liebst mich nicht mehr!“ stößt sie zwischen dem Schluchzen hervor, „du liebst mich nicht mehr!“

„Ich? Ach großer Gott, Kind, ich liebe dich nur zu sehr,“ antwortet er und küßt sie. Und wie das Schluchzen immer wilder wird, hebt er sie empor und trägt sie wie ein Kind im Zimmer umher, bis sie sich beruhigt hat und der schlanke Körper nur noch hier und da zusammenbebt.

„Du darfst nicht so weinen,“ sagt er besorgt, „nun wirst du wieder dein Kopfweh haben.“

Sie nickt.

„Soll ich dich nach oben tragen? Dir ein Brausepulver mischen?“

„Ja!“ flüstert sie.

Und er steigt die Wendeltreppe empor, die aus seinem Zimmer nach dem ihren führt, und legt sie dort, sorgsam wie eine Mutter, nieder, mischt ihr das kühlende Getränk, verdunkelt das Zimmer und kniet neben ihr, sie mit ängstlichen besorgten Augen anschauend. Da schlingt sie die Arme um seinen Hals und küßt ihn. „Du bist nicht böse? Nicht wahr, du bist nicht böse?“ flüstert sie.

„Nein, o nein!“ sagt er, glücklich über ihre Zärtlichkeit. Als er sie verläßt, kommt wieder das alte bedrückende Gefühl über ihn, die Erinnerung an das eben Erlebte. Er sitzt unten an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, und grübelt, grübelt. Wohin ist’s mit ihm gekommen! Was hat er für ein Leben geführt während der letzten Jahre, ein Leben ohne Freude und Ruhe an der Seite dieser Frau, die seine ganze Seele gepackt hält! Unberechenbar, voll teuflischen Liebreizes; jetzt abstoßend und im nächsten Augenblick hinreißend sanft und lieb, verschwenderisch, bequem, ohne einen Funken Pflichtgefühl, und doch so unwiderstehlich für ihn, wenn sie ihr Kind im Arme hat. Daß sie diese Pose mit Vorliebe wählt, wenn sie etwas von ihm erreichen will, ist ihm in seiner Ehrlichkeit noch nie aufgefallen; daß sie Weinkrämpfe mühelos bekommt, sobald sie will, ist etwas, das er gar nicht für möglich halten würde. Sie ist die Mutter seiner Kinder, sie hat sie ihm geschenkt unter tausend Qualen, das hebt sie über alle ihre Eigentümlichkeiten und Launen hinaus. Und sie liebt ihn! Sie hat so viel schwere Stunden für ihn durchlebt, damals, als er noch Christels Mann war; er hat es in ihren Augen gelesen, den schönen feurigen Augen, er hat es aus ihrer Blässe, ihren Thränen entnommen, ihr Mund hat es ihm gesagt an jenem Abend, bevor sie nach Italien reiste. Sie liebt ihn in ihrer Weise, anders, wie er sich die Liebe einer Frau gedacht hat, wie er die Liebe des Frauenherzens kennt, aber – sie ist so jung, so schön, es ist ihm ja überhaupt ihre Neigung noch immer wie ein Wunder erschienen – –.

Aber heute, heute hat sie ihm doch wehgethan. Er hat dagesessen eine halbe Nacht lang, um die Form der Brosche selbst aufzuzeichnen, er war selber gerührt gewesen von der Idee „unser Dreiblatt“. Er hatte gemeint, sie müsse ihm jubelnd um den Hals fallen, und es machte in Wirklichkeit gar keinen Eindruck. Nun, der Geschmack ist verschieden, aber die Absicht, sie zu erfreuen, hatte er doch gehabt, die hätte sie erkennen müssen!

Schön! Also das Kämmchen, und zwar auf Pump! Pfui Teufel – er ist seit seiner Studentenzeit nichts mehr schuldig geblieben, aber er kann jetzt nicht bar zahlen, denn – die Taufe und so weiter. Wären nur die Ernteaussichten nicht so schauderhaft! Das Korn ist beinahe auf der Wurzel vertrocknet; seit Wochen kein Regen, kein Tau, Kartoffeln wird’s gar nicht geben, und Heu? Ja, ein wenig, aber lange nicht so viel als er gebraucht. Welche Summe wird er allein aufstellen müssen für das Futterheu? Ach, Donnerwetter, es ist ihm doch zu fatal, solche Luxusdinge wie den Kamm schuldig bleiben zu müssen! Er wird am besten thun, gleich eine große Summe bei der Landwirtschaftlichen Kreditbank zu erheben, er braucht sie ja doch über kurz oder lang, sobald der Erweiterungsbau der Brauerei beginnt. Und da liegt schon ein ganzer Stoß Rechnungen vom Juli her, Ediths Schneider, der seinige – – und nun das Fest – –!

Wohl eine Stunde lang sitzt er da, niemand stört ihn. Heine, der früher zuweilen kam, betritt jetzt nur noch das Schloß, wenn ihn Mohrmann darum bitten läßt. Der einfache Mann fühlt, daß er nicht mehr da hinein paßt; Anton hat es ihm nicht markiert, aber die beiden Damen thaten es. Früher wurde Heine mit seiner jungen, fleißigen Frau Sonntags zuweilen zu Mittag herüber gebeten, und Frau Christel besuchte auch die kleine Inspektorin; jetzt ist das längst vorbei. Edith stellt sich empört über die Zumutung, mit Frau Heine an einem Tische zu sitzen, die hätte ja Hände zum Appetitverderben, man sehe ihr doch gar zu deutlich an, daß sie höchstselbst die Butter ausknete im kalten Wasser. – Ja, und wer sonst sollte wohl kommen, mit dem er ein vertrauliches Wort reden könnte? Der Pastor, der ehemalige Schwager? Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Anton wundert sich nur, daß er überhaupt nicht um seine Versetzung damals gebeten hatte, aber der Mann scheint kein Gefühl zu besitzen für peinliche Begegnungen. Er tritt nach wie vor so ruhig auf die Kanzel, und weder Fräulein Tonette noch Frau Edith Mohrmann in ihrem Kirchenstuhl genieren ihn, stören ihn in seiner sicheren Redegewandtheit. Und warum sollte das auch geschehen? Hatte der Pastor gefehlt? Nein, er brauchte nicht zu verschwinden, er hatte keine Schuld an dem, was geschehen; er bleibt, denn er liebt seine Gemeinde.

Als Anton nach der Geburt seines Sohnes der alten Kirche, die ein so dürftiges Glöcklein besaß, das immer an ein Armsündergeläute gemahnte, eine schöne große Glocke schenkte, die nun [279] in tiefen, wohllautenden Tönen über das Dorf hinschallt, da war der Pastor sonder Verlegenheit erschienen und hatte im Verein mit dem Schulzen den Dank der Gemeinde dargebracht. Aber er hatte dabei vor Anton gestanden wie ein ganz Fremder und hatte ihn angeredet mit „Sie“ und „hochgeehrter Herr!“ – Es war ein sonderbarer, schmerzlicher Augenblick für Mohrmann gewesen, aber natürlich – wie hätte der Mann auch sonst sprechen sollen?

Wie gesagt, Anton hat es längst eingesehen, daß er trotz der vielen Menschen, die ihn umgeben, ein einsamer, sehr einsamer Mann geworden ist. Er sprach doch so gern mal abends über dies und jenes aus seinem Beruf, über seine Wirtschaft, und anfangs hatte er das auch zuweilen gethan, aber Edith gähnte dabei oder bespöttelte diese prosaischen Mitteilungen, allerliebst zwar, ja, er hatte lachen müssen darüber, ein Verständnis aber fand er nicht, auch nicht mehr bei Tante Tonette, die sich doch sonst so entgegenkommend in dieser Beziehung gezeigt hatte.

Jetzt ist überhaupt keine Gelegenheit mehr zu dergleichen vertraulichem Geschwätz. Ediths Wohn- und Schlafräume sind oben geblieben seit der Geburt des Jungen, gerade über den seinen, da, wo früher Tante Tonette wohnte; drei reizende Zimmer, die mit den seinen durch ein zierliches, vergoldetes Wendeltreppchen verbunden sind. Wie sollte er auch zwischen diesen seidnen Polstermöbeln und spitzengeschmückten Wänden reden von Kornpreisen und Saatkorn, von den neuesten Maschinen und den Plänen für die zu erbauende Brauerei? Hierher paßten eben nur zärtliche Tändeleien, süße Schmeichelworte und Ediths anmutiges Schmollen und – seine thörichten Bitten, wieder gut zu sein.

Seine Sorgen behielt er da unten allein für sich, und ihren Schlaf störten auf diese Weise weder sein halblautes Rechnen noch die tiefen Seufzer, mit denen er das ärgerliche Resultat dieser Berechnungen beklagte. – – Na ja, es ist so, sie hat kein Talent zum „guten Kameraden“, sie ist lediglich die schöne, Bewunderung heischende Frau, die ihn immer und immer wieder entzückt!

Ein helles Stimmchen ruft jetzt draußen, und kleine weiche Fäustchen hämmern gegen die Thür: „Aufmachen, Papa! Lothar ist da!“

Er springt empor wie elektrisiert und ist mit zwei Schritten an der Thür, die er aufreißt. Da steht ein Knirps von zwei und einem halben Jahr im weißen gestickten Kleidchen; der große Strohhut ist ihm zurückgerutscht und hängt auf dem Rücken, die blaue Schärpe schleift, halb gelöst, auf dem Boden, das bräunliche Gesichtchen blickt zu ihm auf mit den Augen der Mutter, diesen wunderschönen Augen, und krause dunkle seidenweiche Härchen kleben, feucht von der Anstrengung des Spieles, auf der Stirn.

„Papa, Lothar müde is,“ sagt er und hebt die Aermchen, „Lothar bei Papa bleiben will.“

Mit einer geradezu stürmischen Zärtlichkeit nimmt er den zierlichen Jungen auf den Arm und küßt ihn wieder und wieder. „Mein Herzblatt! Mein Goldjunge, du kommst, ja du kommst zu Papa? Müde bist du? Wo ist denn Frau Klauß, wo ist Sophie und wo Mama?“ fragt er. „Ist keiner da, der dich in die Baba legt?“

„Mama böse mit Lothar und mit Tante Ma,“ sagt der Kleine gähnend und sein Köpfchen sinkt an die Schulter des Vaters, der ihn nun hinaufträgt in die Kinderstube, wo soeben die Zwillinge gebadet werden, umgeben von sämtlichen Ammen und Wärterinnen.

„Ei Gottchen! Ei Gottchen!“ schreit die alte Kindermuhme, „das Lotharchen war doch noch äm hier? Nee, der is ja weeßderhole alleen die Treppen nunter gemacht, Herr Mohrmann! Das derfste nich wieder duhn, hörste? Da kannste dir ja den Hals abstürzen.“

Der Kleine aber ist schon auf dem Wege nach oben in den Armen seines Vaters eingeschlafen, und die ehrenwerte Frau Klauß sagt mit einem Blick auf Antons besorgte Miene: „Das kommt Sie von der Luft, da wärn se müde, die Wärmer, nee, krank is er nich, Herr Mohrmann.“ Und Anton, der eben den Schall des Gong hört, der zum Abendessen ruft, geht nach einem letzten Kuß auf die Stirn des Kleinen hinunter, lächelnd über das Glück, das er dort oben zurückläßt.




Im Speisezimmer auf Schloß Wartau brennen die Lampen über dem Eßtisch noch nicht, doch ist die Tafel bereits gedeckt. Auf der Veranda draußen wird gesprochen, und zwar ist es die weiche Stimme der kleinen Frau Ma, die eben sagt: „Und kurz und gut, Di, ich kündige dir meine Freundschaft, wenn du diese Angelegenheit nicht rückgängig machst. Ich finde es empörend, einem ahnungslosen Menschen dies zuzumuten – verstehst du?“

„Ah, vollkommen! Aber was geht’s dich an?“

„Ich bin deine Freundin, und als solche habe ich Pflichten.“

„Ich entbinde dich feierlich dieser Pflichten, Ma!“

„Gut, dann reise ich morgen.“

In diesem Augenblick tritt Anton rasch in die Thüre und sieht in der Dämmerung des Sommerabends Emma von Lattwitz emporspringen, irgend etwas zusammenraffen und sich dann wie zur Flucht der Treppe zuwenden. Edith wiegt sich im Schaukelstuhl und lacht. Als die Erzürnte den Hausherrn erblickt, setzt sie sich mit einer wunderlichen Beflissenheit wieder und stimmt in Ediths Lachen ein, aber trocken und gezwungen. „Sie sehen uns sehr lustig hier, Herr Mohrmann,“ sagt sie und lacht wieder, „sehr lustig.“

„Desto besser, gnädige Frau – ich hätte eben noch darauf geschworen, daß Sie und Edith sich zankten.“

„O bewahre!“ rufen beide wie aus einem Munde.

Er ist so harmlos, daß er das Geplänkel und die Drohung, abzureisen, für Scherz nimmt, und sofort beginnt er zu erzählen, was ihm das Herz füllt. „Der Lothar ist die Treppe allein hinuntergekrabbelt – denken Sie sich, gnädige Frau! Irgendwie muß er der Wärterin entwischt sein; er hätte wirklich Unglück haben können.“

Edith lacht: „Ach was, er ist ein Junge!“

Frau Ma findet es schrecklich.

„An deiner Stelle würde ich der Wärterin aber doch einen gelinden Vorwurf machen, Edith,“ sagt er.

„O, bitte, das ist doch deine Sache, mein Bester!“

„Die Kindermuhmen gehören in dein Ressort, Edith.“

„Ach, laß mich doch damit zufrieden, Schatz, die Alte ist ganz vernünftig.“

„Schön, dann werde ich es besorgen.“

Im Saale flammen die Lampen auf; der Diener meldet, daß serviert sei, und man begiebt sich zu Tische. Nach dem Abendessen bringt der Silberdiener die mit Adressen versehenen Einladungskarten. Man sieht sie noch einmal durch, auch Ma betrachtet jede einzelne. Plötzlich legt sie auf eine ihre Hand und blickt bittend zu Edith hinüber. Diese wird rot, schüttelt zornig den Kopf und Ma schiebt die Karte wieder an ihren Platz.

Anton verfolgt diesen Vorgang, und als endlich sämtliche Einladungsbriefe wieder übereinander liegen, greift er hinein und zieht die bewußte Karte hervor, die an einer ein wenig umgeknickten Ecke kenntlich ist; Frau Mas hastiger Griff hatte das verursacht.

 „Sr. Hochwohlgeboren
Herrn Premierlieutenant E. von Waldenberg
 z. Z. Berlin W.
 Köthener Straße.“

liest er. War das nicht die Adresse, über die Frau von Lattwitz heute schon einmal in Verlegenheit geriet? Vielleicht ein alter Courmacher von ihr, den zu treffen ihr peinlich ist? Was geht’s ihn an!

Im Begriff, den Brief wieder zwischen die anderen zu schieben, sieht er Ediths Augen auf sich gerichtet, forschend, angstvoll, aus völlig erblaßtem Gesicht. Einen einzigen Augenblick ertappt er sie so, dann ist das Rot wieder auf ihren Wangen und sie spricht etwas Gleichgültiges mit Tante Tonette.

Anton ist nachdenklich geworden; er erhebt sich und geht, eine Cigarre rauchend, draußen auf und ab. Die Thüren sind weit geöffnet und nach ein paar Sekunden hört er Ediths Klavierspiel.

Ja, was ist denn das eigentlich mit diesem Waldenberg? Er nimmt sich vor, sie heute abend noch zu fragen, aber sie verabschiedet sich sehr eilig und kurz von ihm, sie habe noch immer heftiges Kopfweh, und er bleibt allein mit seinem Zweifel. Schließlich beruhigt er sich, als er über alles nachdenkt. Edith hat ihn ja gefragt, ob sie, da die junge Herrenwelt den vielen Damen gegenüber gar so schwach vertreten sei, ein paar alte Bekannte von Ma und sich einladen dürfe. Er wisse nicht genau, ob das geht, hatte er geantwortet. „Ich würde dir den Vorschlag nicht machen, wenn’s nicht ginge,“ war ihre Antwort gewesen –

[280]

Feuer [im] Schiff.
Nach einer Originalzeichnung von M. Schöne.

[281] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [282] also schön, ihm war’s recht. Und dann ward unter andern auch Edi Waldenberg mit aufgeschrieben. – –

Ach, wer ihm gesagt hätte früher, daß ein Weib solche Qualen verursachen kann! Christel, gute brave Christel! Nein, sie hat ihm keine Unruhe gemacht. Die stets gleiche, wohlthuende Ruhe ihres schlichten einfachen Herzens ließ ihn nichts dergleichen auch nur ahnen. Und er konnte alles mit ihr bereden, er konnte auch mal rechtschaffen fluchen in ihrer Gegenwart, wenn ihm der Zorn und Aerger über eine verdrehte Sache aus der Seele schlug in hellen Flammen. Sie ging mit ganzem Herzen auf alles ein, was ihn drückte, ihn ärgerte oder interessierte: es war ganz gleich, ob es Rasenkultur oder künstliche Düngemittel betraf, seine Leute oder Gemeindeangelegenheiten.

O Friede, Friede, wo bist du geblieben?

Jetzt sagt niemand mehr mild und zuredend: „Anto, ärgere dich doch nicht, so schlimm ist das wirklich nicht, sieh mal – so und so –“

Der sanfte Zuspruch hatte ihn damals freilich nicht immer besänftigt. Ja, manchmal war er nach solchen Worten erst recht wütend geworden, verblendet wie er war. Und jetzt, jetzt könnte er weinen wie ein Schulbube, vor Sehnsucht nach solch einem guten Wort – –

Vorüber, vorbei auf Nimmerwiederkehr – er hat gar nicht das Recht, daran zu denken!




Nun ist’s einen Tag vor der Taufe.

Anton und Edith sind mit einem Rosenstrauß und im offenen Landauer gegen Abend nach der Station gefahren; der kleine Lothar kniet auf dem Rücksitz. Tante Josepha soll abgeholt werden. Sie kommt nach langem Grollen zum erstenmal wieder; seit Ediths Verlobung zürnt sie. Nun aber hat die junge Frau ihr so viel bezaubernde Briefe geschrieben und Tonette von Wartau ihr so viel von dem seltenen Glück des Paares vorgeschwärmt, vor allem von den süßen Kindern, daß ihr altes Herz wankend geworden ist. Und die Taufe, die Patenstelle – sie kann doch nicht zum zweitenmal ablehnen. Aber vergessen wird sie nie und nimmer! Ihre vornehme tadellose Gesinnung kann es nicht fassen, daß Schwester und Nichte die brave Frau eines Mannes fortintriguierten, um deren Stelle zu erobern. Das ist noch ihr gelindester Ausdruck dafür. Und was Anton anlangt, so ist er in ihren Augen ein Streber, der, um in höhere Lebenssphären zu gelangen, alles niedertritt, und wäre es das Heiligste und Zweifelloseste auf der Welt, die Ehe.

Sie hatte gerast und getobt über die Entartung ihres vornehmen Blutes, hatte schließlich geweint; leichtsinnig waren sie ja alle die Wartaus, das ist ein altes Lied, aber schlecht, so schlecht, um einen Mann zu bethören, daß er die ihm angetraute Frau verstößt, nein, so etwas war noch niemals geschehen! Was war dagegen das bißchen Raubrittertum im frühen Mittelalter? Ein unschuldiges Kinderspiel.

Trotz alledem, sie kommt, ihr altes Herz will endlich Frieden.

Auf dem Perron steht eine schlanke junge Frau im weißen Kleide, ein Capothütchen aus schwarzer Gaze auf dem schönen Köpfchen, in der einen Hand den Rosenstrauß, an ihrer Rechten ein Kind ebenfalls im weißen Kleide, das zappelnd und rot vor Freude ein kleines Taschentuch schwenkt, und vor Josephas Coupé wartet ein stattlicher blonder Mann, der ihr respektvoll die Hand küßt.

Ja, das sieht alles sehr tadellos aus. Edith sprudelt über vor Liebenswürdigkeit, und der Junge starrt die Großtante mit dem weißen Scheitel an und preßt krampfhaft ein lederüberzogenes Pferdchen an sich, das ihm diese geschenkt. Und die Luft ist so weich und die Rosen duften, und dort weit unten hinter Altwitz geht die Sonne unter.

„Wie du dich freuen wirst über Wartau, Tante,“ sagt Edith.

„Und über die Kinder,“ setzt Anton hinzu.

In Josephas Gesicht zuckt die Rührung, die alte Heimat greift doch mächtig an ihr Herz. Sie möchte am liebsten weinen, und dann wundert sie sich, daß das Paar immer aneinander vorüber spricht, daß es vermeidet, sich anzusehen, und als sie Anton näher ins Auge faßt, erblickt sie müde Züge und eine sorgenvolle Miene. Wollen sehen, wollen sehen, ob alles Gold ist, was glänzt, nimmt sich Fräulein Josepha vor, die eben bemerkt, daß Edith mit einer ungeduldigen Gebärde ihr Kleid wegzieht, auf dem wahrscheinlich sein Fuß gestanden.

„Pardon!“ murmelt er.

Edith redet weiter, unnatürlich lebhaft, von den Gästen, die morgen erwartet werden, und daß niemand abgesagt habe, nur von einem oder dem andern sei es noch ungewiß, ob –

„Eine Absage ist vorhin noch gekommen,“ schaltet Anton ganz ruhig ein, „weißt du schon, Edith?“

„Von wem?“

„Von Lieutenant von Waldenberg.“

Sie kann es nicht hindern, daß sie erbleicht, alles Blut ist ihr zum Herzen geströmt. Und sie hat so gewartet auf Antwort, die Stunden hat sie gezählt, jedem Postboten hat sie aufgelauert – keine Nachricht! Sie hat sich vorgeredet, daß Edi verreist sei, daß er sie vielleicht überraschen wolle, daß sein Brief verloren gegangen sei – sie hat sich in Zweifeln und Hoffnungen aufgerieben, und dieser phlegmatische Mensch ihr gegenüber hat längst die Nachricht, daß Edi nicht kommt, und hält es erst jetzt der Mühe wert, ihr das mitzuteilen.

„Warum erfahre ich denn das nicht früher?“ fragt sie mit vor Erregung bebender Stimme.

„Ich bitte, verzeih,“ sagt er, „ich hatte es ganz vergessen.“

Sie zittert ordentlich vor Enttäuschung und Zorn. „Und wann kam diese Absage, wenn ich fragen darf?“

„Ich fand sie heute mittag auf meinem Schreibtisch unter andern Postsachen.“

„Was schreibt er?“

„Ein paar höfliche Worte; es sei ihm unmöglich, der liebenswürdigen Einladung zu folgen.“

„Und weiter nichts? Keine Gründe?“ ruft sie und eine jähe Röte steigt ihr verräterisch in das Gesicht.

„Nichts von allem.“

Edith setzt sich stumm in die Wagenecke zurück. Die alte Stiftsdame aber blickt mit einem wunderlichen Gesichtsausdruck in die Landschaft hinein, halb erschreckt, halb befriedigt, daß das vielgepriesene Glück in der Nähe besehen doch am Ende ein wenig fadenscheinig sein könne, genau so, wie sie es ja vorher gedacht hatte. Und dann sagt sie laut: „Sein Grund heißt soviel als – ‚Ich will nicht!‘, liebes Kind. Wie kommst du übrigens zu dem Waldenberg? Verkehrt er neuerdings bei euch? Kennen Sie ihn denn, Herr Mohrmann?“

„Ich habe nicht den Vorzug,“ erklärt Anton mit harter Stimme, und ein ungemütlicher Zug liegt auf seinem Gesicht.

„Aber ich desto besser,“ ruft Edith, „er ist ein Jugendfreund von Ma und mir, und wir hätten uns gefreut, ihn bei dem Feste zu sehen.“

Josepha von Wartaus Gesicht nimmt einen hochmütigen Ausdruck an, und dann sagt sie: „Bei uns und zu meiner Zeit wurden Herren nicht invitiert, die der Hausherr nicht kannte. Du hast dir eine kleine Taktlosigkeit zu schulden kommen lassen, liebe Edith, und Herr von Waldenberg quittiert darüber mit seiner Absage.“ Und innerlich setzt sie hinzu: Das kommt davon; wenn der Hausherr nicht an das Parkett gewöhnt ist, dann passieren solche Dinge. Er hätte die Einladung eben nicht absenden dürfen, aber ‚so was‘ hat ja keine Ahnung von geselligen Formen!

„Wir leben nicht mehr in deiner Zeit, liebe Tante,“ antwortet Edith, sich mühsam zu einem höflichen Ton zwingend. „Man denkt heute auch ein wenig freier über Umgangsformen, und wenn mein Mann einverstanden ist, so – aber du darfst nicht böse sein – so kann von Taktlosigkeit meinerseits wohl kaum die Rede sein, auch denke ich, hat ein dritter überhaupt nicht das Recht – –. Ah, da sind wir ja, liebe Tante; bitte, gestatte, daß ich erst Lothar hinausreiche.“

Der Wagen hält, das Kind wird hinausgehoben, dann folgt Fräulein Josepha, und unter lautem Aufschluchzen liegen sich die beiden alten Schwestern in den Armen und küssen sich wieder und wieder. Edith streift Josepha von Wartau mit einem bösen Blick, nimmt dann Lothar an die Hand und steigt mit ihm die Treppe hinauf, ohne ihren Mann noch einmal anzusehen. In der Kinderstube giebt sie den Kleinen ab, pocht dann an Mas Thür und findet die Freundin im verdunkelten Zimmer, über heftige Kopfschmerzen klagend.

„Ach, Di, ich sterbe bald, laß mich allein!“ ist ihre Bitte. [283] Edith geht wieder mit ihrem gekränkten Stolz, ohne sich ausgesprochen zu haben.

Aus dem Napoleonszimmer klingen die Stimmen der beiden alten Damen ungemein laut und lebhaft, als seien sie in einer ernstlichen Debatte begriffen. Tante Tonette hat den Theetisch hier oben decken lassen. Sie haben sich so viel zu erzählen, allein zu erzählen nach der jahrelangen Trennung. Edith fühlt, daß sie sich in Josephs eine strenge Richterin und Beobachterin eingeladen hat, die sich durch den äußeren Glanz ihrer Häuslichkeit nicht blenden lassen wird, deren eingewurzelter Widerwille gegen ihre Heirat sich nicht beruhigen kann um den Preis, daß Wartau daran hängt.

Und dann dieser Edi! Er ist doch ganz einfach ein Pedant der allerschlimmsten Sorte, ein ganz verächtlicher Pedant, fast ein Feigling! Was mag er sich denken bei dem ganzen? fragt sich Edith, während sie ihr Ankleidezimmer betritt. Sie lacht leise und höhnisch. Es ist eigentlich ziemlich klar – wenn sie sich die Geschichte von Anfang an vergegenwärtigt, so hat er ihr mit der unhöflichen kurzen Absage eine Lehre geben wollen, eine bittere Lehre: du gehörst einem andern, was willst du denn noch von mir? Für mich bist du nicht mehr vorhanden!

Sie glaubt, bestimmt annehmen zu können, daß Edi sie noch liebt. Sein Bruder ist gestorben und Edi heiratete allen Mutmaßungen zum Trotz die junge Witwe nicht. Diese hat vielmehr nach der üblichen Trauerzeit ihrem nach dem Tode des Gatten geborenen Söhnchen einen zweiten Vater in der Person eines älteren Vetters von sich gegeben, und Edi ist bis zur Stunde ledig. Edith traf ihn zweimal im Laufe der letzten Jahre; einmal bei einer Strandpromenade auf Norderney – wo er sie gar nicht bemerkt haben würde, hätte sie ihn nicht angesprochen, und wo er so übertrieben höflich und sehr kühl sie ein Stückchen begleitete und ihr mitteilte, daß er andern Tages leider Norderney verlassen müsse, da er sich mit einem Freunde auf Borkum treffen wolle. Und zum zweitenmal sah sie ihn vor einem halben Jahre in Berlin. Sie verbrachte dort einige Tage mit ihrem Mann. Edith war, wie sie es liebte, auf Besorgungen aus, Mohrmann schrieb einige Briefe im Hotel. Nicht weit vom „Kaiserhof“ sieht sie Edi auf der Straße. Er grüßte und will vorüber, dann zögerte er, fand es wohl selbst unartig, so fremd und eilig vorüberzugehen, und erkundigte sich schließlich nach dem Befinden der gnädigen Frau. Dabei war er rot geworden. Während sie die Wilhelmstraße nach den „Linden“ zu gingen, fragte sie ihn, warum er so schrecklich fremd thue. Er meinte, das komme ihr nur so vor. Dann plapperte sie alles mögliche, redete sich in eine warme Herzlichkeit hinein, und heute erinnert sie sich, daß er doch wenig auf das alles geantwortet hat. Vor dem Magazin, wo er ihr ritterlich die Thür öffnete, verabschiedete er sich. Sie schüttelte ihm die Hand: „Es war nett, Lieutenant Waldenberg, wollen Sie uns einmal besuchen auf Wartau?“

Er stammelte irgend einen Dank für diese Freundlichkeit, war wieder wie mit Blut übergossen, gerade so wie damals, als sie ihm zum erstenmal einen Cotillonorden brachte. „Es wäre nett,“ versicherte sie nochmals, „mein Mann würde sich gewiß freuen – versprechen Sie es mir?“

„Gnädige Frau sind zu liebenswürdig!“ Dann hatte er die Hand an die Mütze gelegt, sich verbeugt und war zurückgetreten, und Edith konnte nicht gut weiter in ihn dringen.

Sie hatte sich tagelang mit dieser Begegnung beschäftigt. Wie lieb er war in seiner Verlegenheit, wie vornehm er aussah! Und nun hat sie vor vier Wochen an ihn geschrieben, anknüpfend an sein Versprechen, das er ihr in Berlin gegeben, sie in Wartau zu besuchen. Sie seien doch alte Freunde, und sie wolle den Anfang machen, das Gras, das auf dem Wege dieser Freundschaft gewachsen sei, auszujäten; sie erwarte ihn also zu der kleinen Festlichkeit, er dürfe nicht ablehnen. – Dann flog die Einladungskarte hinterher, auf welcher „Herr und Frau Mohrmann sich die Ehre geben …“ Sie hat’s sich wirklich reizend ausgemalt, ihm in allem Glanz der Schloßfrau von Wartau entgegenzutreten, sich in seiner noch immer nicht erloschenen Leidenschaft zu sonnen, kurz und gut, ihn ein wenig wieder an ihren Triumphwagen zu fesseln. Und jetzt benimmt er sich wie ein Thor, empörend unhöflich, antwortet ihr gar nicht einmal, sondern schreibt dem Ehemann, daß er bedauere –! Ma wird sich natürlich ins Fäustchen lachen; die spießbürgerlich gewordene kleine Frau hatte ja auf sie eingeredet, als ob sie im Begriff sei, ein Verbrechen zu begehen mit dieser Einladung. Natürlich wird Ma sagen: „Siehst du – ich habe recht! Der Edi Waldenberg ist eine viel zu vornehme Natur; er respektiert dein Haus und deinen Mann, und du hast eine schöne Lehre von ihm bekommen!“

O, Edith kocht innerlich, sie kann solche Tugendbolde nicht leiden. Mein Gott, warum soll eine junge hübsche Frau nicht ein wenig kokettieren dürfen? Zu pedantisch, zu engherzig! Sie ballt die kleine Hand zur Faust; wenn sie wenigstens ihrem Herzen Luft machen könnte!

Mitten in diesen desperaten Zustand hinein klopft es. Tante Josepha erscheint mit Tante Tonette, um Edith erst mal ordentlich zu begrüßen. Diese liegt noch immer auf der Chaiselongue ihres Ankleidezimmers in übelster Laune. Mit Tante Tonette macht sie ja nicht viel Federlesens, sie hätte ihrethalben sich nicht erhoben aus der bequemen Lage – Tante Josephas blasses strenges Gesicht aber läßt sie aufstehen, wenn auch nicht allzu verbindlich.

Tante Tonette sieht erhitzt und ärgerlich aus; es ist ihr trotz aller glühenden Schilderungen, trotz allen handgreiflichen Augenscheines nicht gelungen, ihre Schwester von dem Wartauer neuen Glück zu überzeugen. Von Josephas Gesicht ist das skeptische Lächeln nicht gewichen, das da sagt: Trotz alledem glaube ich nicht daran!

Die Damen sitzen in dem hohen kühlen Zimmer und Tante Tonette ärgert sich, daß Josepha kein Wort des Beifalls hat für die reizende kostbare Einrichtung desselben. „Ist unser altes Heim nicht wunderhübsch wiedererstanden?“ fragt sie endlich direkt. „Der Stil der neuen Einrichtung ist tadellos und schmiegt sich so hinein in den alten kostbaren Rahmen – alle Kenner sind entzückt davon, es ist ein wahrer Rokokotraum.“

„Sehr schön!“ giebt Tante Josepha zu, „nur zu neu! Ich muß mich erst an diesen Glanz gewöhnen, in mir lebt noch zu mächtig das Bild des alten lieben Schlosses mit den Erinnerungen an meine Kindheit – ich kann sie nicht wiederfinden.“

„Und den Moderduft auch nicht, der den Verfall begleitete,“ giebt Tonette ärgerlich zurück. „Es ist undankbar von dir, Josephine, daß du dich nicht auch freust.“

„Du weißt ja, weshalb ich es nicht kann,“ klingt es gelassen.

„Er sollte nur Baron sein, dann –“

Ediths Lachen unterbricht den Streit. „Tante Josephas außerordentlich aristokratische Grundsätze stoßen sich hier auf Schritt und Tritt die Köpfe blutig,“ sagt sie. „Arme Tante Josepha! Du wirst Mühe haben, die verletzten in der Stille deines adligen Stiftes zu heilen.“

„Meine Grundsätze sind nicht ausschließlich aristokratisch, sie sind die jedes anständig denkenden Menschen!“ klingt’s gereizt zurück.

„Und Mohrmann ist ein solcher,“ ereifert sich Tonette, „innerlich und äußerlich! Was ihm noch gefehlt hat, das hat er sich angeeignet während seiner Ehe mit Edith! Sie soll’s selber sagen – bitte, Kind – ob er sie nicht mit einer geradezu erstaunlichen Rücksicht behandelt, ihr nicht jeden Wunsch von den Augen abliest! Ob ihre Ehe nicht in jeder Hinsicht eine glückliche ist!“

Edith lacht wieder, halb spöttisch, halb belustigt.

„Ich weiß nicht,“ erwidert Josepha trocken, „ob das ein so großer Vorzug ist, wenn er ihr jeden Wunsch erfüllt.“

Edith sieht sie erstaunt an.

„Das könnte nur dann ein Lob bedeuten,“ fährt die alte Dame unentwegt fort, „wenn die Frau, der solche Rücksicht entgegengebracht wird, ein vernünftiges, einsichtsvolles bescheidenes Wesen ist, denn sonst würde ich es für Schwäche halten, oder für Gleichgültigkeit, je nachdem –“

„Aber Josepha!“ ruft Tonette, „du verstehst es, Artigkeiten zu sagen!“

Edith hat sich erhoben; sie ist furchtbar erregt, dunkelrot färbt das zornige Blut sie; sie weiß, worauf das zielt, aber noch ehe sie fragen kann: „Du meinst wohl Waldenberg?“ fährt Josepha gelassen fort, indem sie mit den Fingern an dem Volant eines Fauteuils zupft: „Zum Beispiel würde ein Mann mit angeborenen aristokratischen Grundsätzen nie einen ihm persönlich unbekannten Herrn einladen, nur weil es die Frau Gemahlin wünscht; man müßte dann doch eine geradezu verblüffende Naivetät bei ihm voraussetzen.“

[284] Tonette starrt ihre Schwester an mit offenem Munde, sie weiß ja nichts von dieser Einladung. Edith aber ist jetzt auf dem Gipfel ihrer Fassungslosigkeit angelangt, sie weiß, in dieser Beziehung versteht auch Tante Tonette keinen Spaß, und die junge Frau hat schon lange vergeblich gesonnen, unter welchem Vorwand sie der Tante gegenüber die Einführung Edi Waldenbergs bewerkstelligen soll, für den Fall nämlich, daß er der Einladung folgen würde.

„Ich verstehe nicht,“ stottert endlich Tonette.

„Nun, die glückliche, verhätschelte Herrin des Hauses hat ihren Mann zu bestimmen gewußt, den Edi Waldenberg einzuladen – wenn ich nicht irre – ihren alten Courmacher von Anno dazumal.“

„Edith!“ schreit Tante Tonette, „nimm’s nicht übel, das ist allerdings stark! Den Edi? Bist du verrückt geworden?“

Edith steht jetzt mit gekreuzten Armen an einem Rokokoschränkchen, dicht neben der mit einem Brokatvorhang verschlossenen zeltartigen Draperie, welche die Mündung der Wendeltreppe maskiert, die in Antons Zimmer hinunterführt. „Es ist zum Erstaunen, Tante Josepha, wie geschickt du harmlose Thatsachen zu Verbrechen zu stempeln verstehst,“ sagt sie noch ruhig, „mein alter Courmacher? Es wäre viel richtiger gewesen, wenn du ihn den gemeinschaftlichen Jugendfreund von Ma und mir genannt hättest, den wir gern wiedersehen wollten.“

Aber Tante Josepha läßt sich nicht irremachen. „Wenn deine Freundin Sehnsucht nach ihm verspürte,“ giebt sie zurück, „so mag sie ihn in ihrem Hause empfangen, das ist ja dann ihre Sache. Du aber hast nicht das Recht, auf diese Weise dich für die Langweiligkeit deiner Ehe schadlos zu halten! Du bist gar kein harmloses Kind, Liebste, warst es nie und weißt sehr wohl, was für Konsequenzen aus solchem Wiedersehen entstehen können, ich sage – können; das müßte dir genug sein, um es zu vermeiden! Und deinen blindlings ergebenen Mann zu bestimmen, dir ahnungslos behilflich zu sein, einem nur zu berechtigten Verdacht Thor und Thür zu öffnen in seinem eigenen Hause, das ist denn doch – nimm’s nicht übel – eine Harmlosigkeit – wir wollen’s so nennen – die auch einen minder Unbefangenen wie mich zweifeln lassen kann an dir! Ich denke, du –“

Sie verstummt, denn Edith ist wie eine Tolle auf sie zugekommen und steht mit zitternden Gliedern vor ihr. „Was erlaubst du dir, Tante?“ ruft sie mit einer grellen Stimme, „wie kannst du es wagen, mir solche Motive anzudichten für das harmlose Verlangen, einmal wieder fröhlich zu sein mit einem Menschen aus jener Zeit, da man noch glücklich war? Ich dulde solche Beschimpfungen nicht! Ich bitte dich, verlasse mein Haus, auf der Stelle verlasse mein Haus, wenn du nur gekommen bist, mich zu beleidigen! Du hast keinerlei Grund dazu.“

„Um Gottes nillen,“ ruft Tante Tonette und zieht Edith am Arm, „schrei doch nicht so, sprich doch leise! Josepha, du reizest sie ja immerfort – ich begreife dich nicht! Edith hat sich das zu wenig überlegt mit der Einladung, es war gewiß kein böser Gedanke dabei, nicht wahr, Edith? Gutes Kind, beruhige dich nur.“

Aber Edith stößt sie zurück und wiederholt noch einmal: „Gar keinen Grund hast du! Verbissen und neidisch bist du und warst es stets.“

„Keinen Grund?“ fragt Josepha aufstehend, um das Zimmer zu verlassen, und die jahrelang aufgesammelte Bitterkeit über Ediths Heirat bricht mit ungestümer Gewalt hervor. Die Hand schon auf der Thürklinke, sagt sie: „Ich dächte, die Präliminarien deiner Heirat wären ausreichend genug, um dir ein gerechtfertigtes Mißtrauen entgegenzubringen. Wer einmal einen Mann auf freventliche Weise an sich zieht, zieht auch wohl noch den zweiten an sich; diejenigen, die dabei geopfert werden, kümmern dich wenig, scheint’s.“

„Das soll heißen, daß ich Anton von seiner Pflicht abwendig machte?“ keucht Edith, „Ich?“

Josephas Kopf in dem schneeweißen Blondenhäubchen neigt sich. „Ja!“ sagt sie kurz. „Wer sonst?“ Und nun will sie gehen, fühlt sich aber am Arm zurückgerissen.

„Du bleibst!“ fordert Edith, „denn ich will auch einmal etwas erzählen!“ Ihre Stimme ist schrill vor Erregung; die herzueilende Tonette schier verächtlich beiseite schiebend, schreit sie mehr als sie spricht: „Ich war ein thörichtes Kind, ja, möglich auch, daß ich gefehlt habe, indem ich mich bemühte, ihm zu gefallen! Ich fürchtete mich vor der Armut, vor dem Entbehren, und außerdem liebte ich den Edi, jawohl, den Edi – ganz aussichtslos liebte ich ihn! Von der Heiligkeit der Ehe hatte ich oft gehört, aber wenig genug gesehen bisher, und das Romanlesen mag ja auch mitgespukt haben in meinem Kopfe. Schön – ich that also unrecht, mit Mohrmann ein kokettes Spiel zu beginnen, aber ich kam zur Besinnung, als das Wasser mir über dem Kopfe zusammenschlug, als ich Edi wiedersah. Ich wollte mich retten, wollte zurücktreten, mir kam es ganz entsetzlich vor mit einem Male, diesen großen Menschen mit den ernsten, bekümmerten Augen heiraten zu müssen, ohne einen Funken von Liebe meinerseits. Aber da stand Tante Tonette am Ufer und stieß mich wieder hinein ins Wasser mit spitzen Worten und weisen Ratschlägen! Sie ist die Schlechte, meine liebe Tante Josepha, ihr halte deinen Spiegel vor! Ich kann offen und ehrlich sagen, ich habe Mohrmann nie geliebt, liebe ihn auch heute noch nicht, ich habe mich einfach für euch und für Wartau geopfert, und alles, was ich Unbegreifliches thue, thue ich, um zu vergessen, daß ich meine Liebe, meine Jugend vertrauere und versauere um ein bißchen äußeren Glanz. Und ich werde weiter thun, was ich will, was ich für recht halte, auch wenn ihr die Hände darüber ringt, denn ihr – was wißt ihr von dem, was ich leide, wie es mir zu Mute ist bei dieser Komödie, die ich täglich und stündlich spielen muß?!“

Sie hat die letzten Worte fast schreiend hervorgestoßen; sie ist völlig außer sich, ohne einen Funken von Ueberlegung. Nun wendet sie sich ab und sucht die angrenzende Schlafstube auf, die Thür hinter sich zuschmetternd.

Und Josepha sieht nach diesem stolzen Abgang mit den eingesunkenen grauen Augen ihre fassungslose Schwester an und nickt mit dem Haupte. „Ja du,“ sagt sie leise, „du! der größte Teil der Schuld ist dein!“ Und nun geht auch sie und läßt die zitternde große Person zurück, die noch immer nicht begriffen hat, was eigentlich geschehen ist, wie sie eigentlich kam, diese schreckliche Scene. Sie hätte es verhindern müssen, das Kommen Josephas; sie hatte eben so ganz den starren unbeugsamen Stolz der Wartaus vergessen, den diese erbte, der schon so oft zu Konflikten führte; sie hatte gemeint, die wohlige behagliche Lust, der Ueberfluß in den Räumen des vielgeliebten Stammsitzes werde auch der Schwester Vorurteil verwandeln in dankbare Zufriedenheit, wie das ihre.

Sie geht mechanisch an ein Nebentischchen, trinkt ein Glas Wasser und überlegt. Nach einem Weilchen ist sie beinahe beruhigt: ein gründlicher Meinungsaustausch im intimsten Kreise, na – darum ändert sich noch nichts an allem; Edith wird sich beruhigen, Josepha wird abreisen, und sonst – es hat ja sonst niemand gehört! Anton ist eben noch mit Heine fortgegangen, das heißt – rechnet sie nach – vor dreiviertel Stunden etwa. Die große korpulente Gestalt schiebt sich aber doch, wie von einer Ahnung getrieben, unhörbar über den Teppich nach dem Zeltchen hinüber. Die fatale Wendeltreppe, an die hat sie nicht gedacht! Behutsam lüftet sie den Vorhang und fährt dann entsetzt zurück – „Mohrmann!“ stammelt sie.

Er sitzt auf der obersten Stufe der vergoldeten schmiedeeisernen Treppe und hat den Kopf in die Hände geborgen, sein Rücken ist wie im Krampf zusammengezogen, ein Bild vollständigster Verzweiflung.

„Mohrmann!“ schreit die alte Dame jetzt laut, „liebster, bester Mohrmann!“

Da richtet er sich auf, und ohne sich nach ihr umzusehen, geht er, sich fest an das Geländer klammernd, hinunter, schwankend, als sei er trunken.

„Barmherziger, was soll nun werden?“ schluchzt Tante Tonette, und sie steigt hinauf in ihr Zimmer, wo Josepha mit dem stillen hochmütigen Gesicht am Fenster sitzt, das geballte Taschentuch in den nervös zuckenden Fingern.

„So!“ ruft Tonette und wirft sich, außerstande, ihre Angstthränen zu unterdrücken, ins Sofa, „so, nun ist das Unglück vollkommen! Mit deiner Moralpredigt hast du es heraufbeschworen – Mohrmann hörte alles, was Edith da schrie in ihrem sinnlosen Zorn.“

Josephas Augen erweitern sich einen Augenblick schreckhaft, dann wendet sie den Kopf wieder zum Fenster. „Er wäre so wie so gekommen über kurz oder lang, der Krach,“ murmelt sie.

(Fortsetzung folgt.)


[285]

Konrad Wiederhold.

Von Alfred Freihofer.
(Mit den Bildern S. 285 und S. 289.)

Ueber die traurigste Zeit, die Deutschland gesehen, den Dreißigjährigen Krieg, sind wir durch eine Fülle geschichtlicher Urkunden unterrichtet. Jedes Land, fast jeder Ort hat seine Chronik, zahllos sind die Berichte, an deren Hand man die Thaten und Schicksale einzelner verfolgen kann. Aber es ist wenig Erhebung dabei zu finden, höchst spärlich sind die Namen derer, die in wahrhafter Größe und ohne Entstellung durch häßliche Eigenschaften aus dem Geschlecht jener Tage hervorragen.

Der besten einer ist der Name des tapferen Kriegshelden, der die Feste Hohentwiel populär gemacht hat, noch ehe Scheffel sie mit dem Glanz der Dichtung umwob: Konrad Wiederhold. Dem dreihundertjährigen Gedenktag seiner Geburt (20. April 1598) seien diese Zeilen gewidmet!

Konrad Wiederhold.

Wiederholds Gedächtnis lebt vor allem in Württemberg fort, denn nie hat das württembergische Fürstenhaus einen treueren Diener gehabt als diesen. Trotzdem war er von Geburt kein Schwabe, sondern er ist zu Ziegenhain in Hessen als Sohn eines Ratsmitglieds geboren. Früh widmete er sich dem Kriegsdienst: schon mit 17 Jahren kämpfte er als hanseatischer Reiter unter dem Grafen Solms vor Braunschweig, mit 20 Jahren stand er in den Diensten Venedigs, und hier führte ihn sein Schicksal mit dem Prinzen Magnus von Württemberg zusammen, der ihn mit sich in seine Heimat nahm. In wenigen Jahren brachte er es zum Kapitänmajor beim Regiment „unter der Staig“, und wo aus der Zeit um 1630 von einer Kriegsthat der Württemberger berichtet wird, ist der Name Wiederholds als der eines kecken Haudegens mitgenannt.

Die schlimme Zeit für Württemberg begann mit der für die Protestanten so unglücklichen Schlacht von Nördlingen. Der junge Herzog Eberhard III floh nach Straßburg und überließ den Schutz seines Landes dem Herzog Bernhard von Weimar. Bei Württemberg blieben nur einige wenige Burgen, wie der Asperg, der Neuffen, der Zollern (vorübergehenderweise) und der Hohentwiel. Auch von diesen ging eine um die andere verloren, nur der stolze Fels im Hegau, den Eberhard dem Konrad Wiederhold übergeben hatte, behauptete sich während der ganzen langen Dauer des Krieges gegen alle Feinde; ja selbst auf den eigenen Befehl des vom Throne vertriebenen, mit dem Kaiser paktierenden Herzogs öffnete Wiederhold die Thore nicht, sondern bewahrte auf eigene Faust seinem Herrn den letzten wertvollen Besitz, nach welchem Oesterreich und Frankreich die begierige Hand ausstreckten.

Es ist ein bis heute noch nicht mit Sicherheit gelöstes Problem der Specialforschung, ob Wiederhold bei Nichtachtung jenes Befehls im stillen Einverständnis mit dem Herzog gehandelt hat. Wahrscheinlich ist, daß der Herzog sich anfangs der Weigerung freute, daß es ihm aber in der kritischen Zeit, wo er fürchten mußte, sein Land überhaupt nicht wieder zu gewinnen, Ernst damit war, daß Wiederhold gehorchen sollte.

Der Hohentwiel im Jahre 1643.

Noch sind die Briefe vorhanden, die der Herzog mit Wiederhold gewechselt hat. Am 24. November 1635 schrieb er ihm, er solle sich unter keinen Umständen zur Uebergabe bewegen lassen, „ohne einen Befehl von unserer Hand ganz geschrieben und mit unserem kleinen Sekretinsiegel bekräftiget“, und am 21. März 1637 ordnet er in gleichem Sinne an, Wiederhold solle keinem Befehl Glauben beimessen ohne eigenhändigen Brief und Ausfertigung mit dem „kleinen Ring-Pittschaft“ – „und hast Du auch in solchem Fall auf den ersten und andern Befehl nicht zu gehen, sondern des dritten zu erwarten“.[3] Der erste Befehl zur Uebergabe erging bereits im Januar 1638 an Wiederhold durch mündliche Botschaft des Obersten Böcklin von Böcklinsau. Aber noch während dieser Sendbote auf dem Hohentwiel weilte, sandte der Herzog einen zweiten, den Amtmann Hitzler, mit dem Auftrag, daß Wiederhold „ohne Empfahung der ihm bewußten Zeichen niemand zu willen sein“ solle. Am 12. August aber befiehlt der Herzog die Uebergabe, „so lieb Dir unsere Gnade, Deine Ehre und Namen, Leib und Leben“. Der Brief ist zwar von dritter Hand geschrieben, aber es ist eine eigenhändige Nachschrift des Herzogs samt dem kleinen Siegel beigesetzt, daß der Befehl „in allem unser ernstlicher Wille und Meinung“ sei. Und am 12. September läßt der Herzog abermals schreiben und setzt Nachschrift und kleines Siegel bei, Wiederhold solle gehorchen, „wofern Du uns noch mit Treuen meynest“. Ob damit die bewußten Zeichen erfüllt waren? Jedenfalls dünkte es Wiederhold klug, sie für nicht erfüllt anzusehen. Und die ganz ungewöhnliche, wahrhaft staatsmännische Klugheit, mit welcher nunmehr dieser einfache Soldat seinen kühnen Widerstand zwölf Jahre lang wider alle Welt fortsetzte, macht sein Verhalten bewundernswert; die unerschütterliche Treue, mit der er nicht bloß die feindlichen Angriffe, sondern auch die schmeichlerischen Anerbietungen abschlug, läßt es auch moralisch durchaus gerechtfertigt erscheinen. Noch während der Friedensverhandlungen hielt Wiederhold den [286] Vorteil seines Herzogs fest in der Hand, und erst 1650, im zweiten Jahr nach dem allgemeinen Friedensschluß, konnte er die Festung, besser bewehrt und ausgestattet, als sie vor dem Kriege gewesen, dem Hause Württemberg zurückgeben.

Vor der Uebergabe schrieb Wiederhold dem Herzog einen Brief, daß er alles „aus unterthäniger Pflicht gethan und seine damals nicht wenig gefährliche Entschließung einzig und allein Ewer Fürstl. Gnaden und Hochdero Haus zu gut ergriffen habe, maßen die verstrichenen Zeiten und der gute Ausgang ein solches bezeugen. Er hoffe also, keine Ungnad oder Widriges befahren zu müssen, und bitte Fürstl. Gnaden, was Jhro etwa unbeliebig gefallen, gnädig zu verzeihen“. Die Antwort des Herzogs lautete höchst ehrenvoll: Wiederhold habe die Festung „zu seinem unsterblichen Ruhm und Unserer besten Zufriedenheit erhalten. Wann er Unseren Befehlen nicht alle Zeit folgen können, so haben Wir kein Bedenken getragen, in seinem billigen Begehren zu willfahren und ihn in Kraft dies Unserer fürstlichen Huld und Gnade beständigst und in bester Form zu versichern etc.“ Der Herzog bewies dies auch durch die That, indem er ihn mit Ehren überhäufte. Als Obervogt von Kirchheim genoß Wiederhold bis zu seinem Tod allgemein das höchste Ansehen; auch ein zeitgenössischer katholischer Schriftsteller sagt von ihm, „er wäre hoch zu loben, wenn er die gute Sache geführt hätte“.

So steht Wiederholds Bild als das des treuesten und klügsten Dieners seines Herrn in der Geschichte da. Aber noch heller erstrahlt sein Ruhm als Kriegsheld. Die Chronik der fünfzehnjährigen tapferen Verteidigung des Hohentwiels ist fast ein Unikum in der Kriegsgeschichte. Wiederhold sah sein Felsennest bald von Kaiserlichen, bald von den Bayern und den Spaniern belagert und berannt, oberste Heerführer, wie die kaiserlichen Generale Mercy und v. Sparr und der Spanier Enriquez, verschwuren sich, die Feste zu brechen; aber Wiederhold schlug mit seiner Handvoll Leute alle Angriffe siegreich ab, zwang die Belagerer zum Abzug, verfolgte sie, nahm ihnen Beute ab und machte sich durch seine kühnen Ausfälle und Handstreiche landauf landab zum Schrecken seiner Feinde. Bis nach Blaubeuren und Memmingen erstreckten sich seine Streifzüge, Städte wie Tuttlingen, Ebingen, Balingen, selbst das zuvor nie eingenommene Ueberlingen fielen zeitweise in seine Hände. Als die Bayern ihm seinen Keller (Verwalter) Stockmayer gefangen setzten, holte er sich einen Weingartner Prälaten als Geisel und ließ ihn den unfreiwilligen Aufenthalt auf dem Hohentwiel teuer bezahlen. In den letzten Jahren des Kriegs kam es dahin, daß zahlreiche Städte und Klöster und die ganze schwäbische Ritterschaft gegen beträchtliche Geldleistungen und Zufuhren mit ihm paktierten, um sich von seinen Ueberfällen loszukaufen. Ja er wurde zu einer solchen Macht, daß er schließlich wie ein Kriegführender mit Kaisern und Königen verhandelte und Bedingungen stellte. Diese Bedingungen galten einzig der Wiedereinsetzung des Herzogs von Württemberg in sein Land und man kann wohl sagen: Wiederhold hat dem Herzog nicht bloß die Festung Hohentwiel erhalten, sondern damit auch sein Land zurückgewonnen.

In den Volksschriften, die heute noch vielfach in Schwaben über Wiederhold verbreitet sind, findet man viele, zum Teil augenscheinlich sagenhafte Ueberlieferungen, die beweisen, wie groß der Ruhm seiner Tapferkeit und der Respekt davor gewesen. Von seiner Erfindungsgabe erzählte man sich u. a., er habe von der Festung herab mit großen Angelhaken nach den Feinden geworfen und sie daran über die Felsen hinaufgezogen; am Fuß der Festung habe er geladene Gewehre befestigt, die er mit Schnüren von oben her losgeschossen habe. Ganze Schiffe, hieß es, habe er auf der Festung gebaut, um sie auf den Bodensee zu schaffen und diesen zu beherrschen. Beglaubigt ist, daß er sich mit dem Bau von Windmühlen für die Festung viel beschäftigt hat. In diesen Volksüberlieferungen wird Wiederhold ganz besonders auch als ein Musterbild der Frömmigkeit gepriesen. Nicht mit Unrecht: er hing seinem evangelischen Bekenntnis mit ehrlicher Begeisterung an und bezeigte sich in vielen guten Werken bis zu seinem Tode als ein echter Christ. Aber man muß auch ihn aus seiner Zeit verstehen: Wenn in jenen Volksschriften erzählt wird, es sei ihm unter den Schrecken der Belagerung nichts wichtiger gewesen, als auf dem Hohentwiel eine Kirche zu bauen und, als sein Pfarrer an der Pest gestorben war, selbst den Prediger zu machen, oder wenn erzählt wird, er habe nach der Einnahme Ueberlingens auf alle andere Beute verzichtet und nur die Orgel sich ausgebeten, so ist das nicht wörtlich zu nehmen. Wiederhold hat allerdings von seinen Streifzügen auch einmal eine Orgel und mit der Zeit nicht weniger als achtzehn Glocken auf seine Festung verbracht, aber er führte den Krieg in der Art seiner Zeit und scheute nicht davor zurück, die schwersten Kontributionen und Brandschatzungen zu verhängen, und wo Brandschatzungen nicht halfen, auch den Brand zu legen. Den Ueberlingern nahm er keineswegs bloß eine Orgel, sondern ließ sie gehörig „bluten“, wie er es auch auf der Mainau und an anderen reichen Plätzen machte; das Kirchlein auf der Feste baute er, als er vor allen Feinden Ruhe hatte. Es scheint überhaupt, daß er mehr die Natur eines Götz von Berlichingen als diejenige eines Betbruders gehabt hat. Sind Züge letzterer Art von ihm verbreitet, so stammen sie wohl aus den letzten Jahren seines Lebens, aus der friedlichen Kirchheimer Zeit, wo er sich durch fromme und wohlthätige Stiftungen ein bleibendes Andenken sicherte.

In Kirchheim ist noch heute sein Grabmal zu sehen, und der Dichter Albert Knapp hat in unserem Jahrhundert den Spruch darauf gedichtet:

„Der Kommandant von Hohentwiel,
Fest wie sein Fels, der niemals fiel,
Des Fürsten Schild, des Feindes Tort,
Der Künste Freund, des Armen Hort,
Ein Bürger, Held und Christ wie Gold,
So schläft hier Konrad Wiederhold.“

Das Geschlecht Wiederholds hat bis in unsere Tage geblüht in Württemberg, ein Nachkomme seines Bruders war der 1885 verstorbene württembergische Kriegsminister Freiherr v. Wiederhold. Jetzt dauert der Name einzig fort in dem kinderlosen Major Konrad v. Wiederhold, der sich 1870 ausgezeichnet hat, und einem Neffen desselben in Nordamerika, Konrad Kuno v. Wiederhold, geboren 1884.


Von unsern Abbildungen zeigt eine den Hohentwiel während des Dreißigjährigen Kriegs, während die andere eine landschaftliche Darstellung des heutigen Zustandes bietet. Abgesehen von der in Scheffels „Ekkehard“ geschilderten Zeit, wo der Berg die Residenz der schwäbischen Herzoge war, hat er in den Tagen Wiederholds seine Glanzzeit gesehen. Von da ab geriet die Festung allmählich in Verfall, wiewohl sie bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts für „uneinnehmbar“ galt. Daß sie es unter einer mutigen Verteidigung wirklich war, hat Wiederhold bewiesen. Freilich unter Voraussetzung der damaligen Kriegskunst und ihrer Mittel! Wie es mit der Artillerie des 17. Jahrhunderts aussah, ersieht man aus einem bei den württembergischen Archivakten erhaltenen Bericht Wiederholds, wonach während der Beschießung unter dem Feldzeugmeister v. Sparr im Jahre 1641 rund 3000 Wurfgeschosse nach dem Hohentwiel abgefeuert wurden, von denen aber nur „47 Granaten, 25 Feuerballen und eine Ernstkugel“ in die obere Festung gelangten! Schaden haben auch diese wenig angerichtet. In unseren Tagen hat man gemäß einem Urteil der Sachverständigen auf die fortifikatorische Ausnutzung des Felsens verzichtet, aus zwei Gründen: nicht bloß die Widerstandskraft gegen das heutige Geschütz, sondern auch die Bedeutung des Platzes selbst für die Sperrung von Verkehrswegen ist eine andere geworden.

Schon in den Friedenszeiten des 18. Jahrhunderts sank die Festung zum Staatsgefängnis herab; die Besatzung bildeten Invaliden, die Festungswerke gerieten in einen langsamen Verfall. Gleichwohl war die widerstandslose Uebergabe der Festung an den französischen General Vandamme am 2. Mai 1800 ein Akt schmählicher Feigheit, der hernach an den schuldigen Offizieren mit Recht schwer geahndet wurde.

Der erste Konsul Napoleon hat die Festung zerstören lassen; es bedurfte dazu der angestrengten Fronarbeit eines halben Tausends von Bauern vom 10. Oktober 1800 bis zum 1. März 1801. – Heute ist der Berg alljährlich ein Hauptziel der Schwarzwaldtouristen, denn der Blick auf die Bodenseegegend und die ganze Wand der Centralalpen ist unvergleichlich.


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Deutsches Vereinswesen in New York.

Von Max E. Flössel (New York).


Daß niemand in fremden Landen schneller seine Nationalität aufgebe als der Deutsche, ist eine mit Unrecht oft wiederholte Behauptung. Wenn sie gegenwärtig durch Millionen von Deutschen im Auslande zu Schanden gemacht wird, so trägt dazu nicht wenig eine Neigung der Deutschen bei, die in der That besteht und von welcher der Spott sagt, daß sie drei auf eine wüste Insel verschlagene Deutsche sofort veranlassen würde, dort einen Verein zu gründen. Gewiß wird niemand verkennen, daß ein Zusammenschluß von Landsleuten im Ausland zu einem Verein seine volle Berechtigung hat. Aber was das deutsche Vereinswesen, die in der Heimat oft bespöttelte „Vereinsmeierei“, im Auslande zur Pflege deutscher Sitte und deutscher Sprache thut, welche unschätzbare Kulturaufgabe die deutschen Vereine auf fremder Erde Jahr für Jahr erfüllen, das kann nur der beurteilen, der selbst jahrelang im Auslande geweilt hat.

Mehr als irgend ein anderes Land der Welt sind die Vereinigten Staaten Millionen von Deutschen zum Adoptivvaterland geworden, und darum haben hier am ehesten deutsche Vereine Gelegenheit, ihre Daseinsberechtigung als Beschützer der heiligsten Güter, die Mutter Germania ihren scheidenden Kindern in die Fremde mitgiebt, als Hüter deutscher Sprache und Sitte, deutscher Kunst und echt deutschen Gemütslebens zu erweisen und diese ihre wichtige Aufgabe fortdauernd zu üben. Die deutsche Presse in Nordamerika, deren Ziele ja die gleichen sind, hat dies wohl erkannt und sucht durch die Einrichtung besonderer Vereinsspalten in den Tagesblättern das Vereinsleben zu fördern.

Naturgemäß tritt in der Metropole der Vereinigten Staaten, in New York, das deutsche Vereinswesen in größerem Maßstabe in die Erscheinung als in anderen Städten der Union. Es würde über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen, die Ursachen hierfür zu erörtern. Sicher ist, daß es in keiner Großstadt der Vereinigten Staaten so viele und so große deutsche Vereine giebt wie in New York. Der Deutsche, der hier nicht wenigstens einem Vereine angehört, würde wohl von Diogenes selbst mit der Laterne nicht aufzufinden sein, und wenn dieser weiße Rabe dennoch existiert, so muß er ein recht unbedeutendes Menschenkind sein, denn „prominent“ werden, d. h. eine Rolle spielen, kann man in Amerika am ehesten durch Politik und durch Vereine.

Leider giebt es gar keine Statistik über das New Yorker Vereinswesen, so daß man demjenigen, bei dem die Thatsachen erst mit Zahlen anfangen, nicht imponieren kann. Dies ist um so mehr schade, als fast alle Vereine einem großen Verbande angehören; die New Yorker Gesangvereine bilden die „Vereinigten Sänger“, die wieder dem „Nordöstlichen Sängerbund“ eingereiht sind, die Turnvereine haben einen großen Verband, den „Nordamerikanischen Turnerbund“, „Kriegerbund“ und „Schützenbund“ fehlen bei Söhnen des Volkes in Waffen natürlich auch nicht, die Kegelbrüder haben sich zu einem Verband zusammengethan. Sehr viele unserer deutschen Vereine haben ihre eigenen Häuser, einige darunter sogar wahre Paläste. Andere unterhalten, wie besonders die Turnvereine, eigene Schulen, geben auch wohl eine eigene Zeitung heraus. Sänger- und Turnfeste, Wettkegeln, Schützenfeste etc., bei denen überall echt deutsches Leben herrscht, rufen lebendig die Erinnerung an die Heimat wach und lassen den Einwanderer fast vergessen, daß er Tausende von Meilen von Deutschland entfernt weilt.

Eine solche Aufrechterhaltung des Deutschtums war bis 1871 nur unter großen Schwierigkeiten durchzusetzen. Um so mehr Anerkennung verdienen jene Vereine, die in den dunkelsten Tagen des „Nativismus“, da weiteste Kreise der eingeborenen nordamerikanischen Bevölkerung den Eingewanderten feindselig entgegentraten, vor ihren Namen, auf ihr Banner oder ihr Haus das Wort „Deutsch“ gesetzt hatten.

Aber seit der Einigung Deutschlands wurde auch in Amerika die Stellung der Deutschen eine andere. Der „Dutchman“ wird mehr geachtet als früher, selbst den vom wütendsten Nativismus eingenommenen Deutschenhassern unterm Sternenbanner war es klar geworden, daß man mit dem Deutschen, dessen Landsleute drüben sich zu einem mächtigen Ganzen geeint hatten, rechnen müsse. Und wie in politischer, so nahm auch in gesellschaftlicher Beziehung das Deutschtum in den Vereinigten Staaten einen gewaltigen Aufschwung. Was aber wäre noch von ihm übrig gewesen, wenn nicht neben der deutschen Presse die deutschen Vereine es gehegt und gepflegt hätten!

Naturgemäß sind jene Vereine, welche der Geselligkeit, der Pflege deutscher Gemütlichkeit einen breiten Raum in ihrem Programm gewähren, diejenigen, die am bekanntesten sind und den größten Einfluß ausüben. Zwei seit einer Reihe von Jahren jeden Winter wiederkehrende deutsche Veranstaltungen sind thatsächlich hervorragende gesellschaftliche Ereignisse der New Yorker Saison geworden: der Deutsche Wohlthätigkeitsball und der Arionball. Von diesen beiden Bällen spricht tagelang ganz New York und schreibt die Presse, auch die englische, ganze Spalten. Zum Deutschen Wohlthätigkeitsball, der im „Metropolitan-Operahouse“ stattfindet, hat sich eine Anzahl der angesehensten deutschen Vereine zusammengethan, und alle Spitzen der Stadt geben sich da ein Stelldichein. Der Reinertrag kommt einer Reihe deutscher Wohlthätigkeitsanstalten, Hospitälern etc. zu gute; er ist stets sehr beträchtlich, beläuft er sich doch manchmal auf rund 50000 Mark.

Ein noch größeres Publikum als der Wohlthätigkeitsball zieht der Maskenball des Gesangvereins „Arion“ an. Obwohl für Herr und Dame der Eintritt 40 Mark und für jede weitere Dame 20 Mark kostet, ist alljährlich der 15 000 Personen fassende Riesensaal im Madison Square Garden vollständig gefüllt, denn kein New Yorker, der als Lebemann gelten will, würde diesen Ball versäumen. Freilich wird da auch an Ausstattung ein Bild geboten, wie man es in Deutschland nur auf den Künstlerfesten oder zur Faschingszeit beim rheinischen Karneval sieht. Die Riesenhalle ist in einen Blumenhain verwandelt, ein Springbrunnen von Kölnischem Wasser verbreitet Wohlgeruch, ein Ballett von 60 Tänzerinnen eröffnet den Ball, und der große Umzug um 11 Uhr bringt Hunderte von charakteristischen Masken und prächtige Dekorationswagen, an denen die elektrische Technik wunderbare Effekte hervorzaubert. Jeder dieser Wagen allein kostet Tausende von Mark.

Auch einen deutschen Karneval haben wir in New York, und auch hier ist es der „Arion“, der sich vor anderen Vereinen durch Pracht der Dekorationen und durch witzige Sitzungen besonders auszeichnet. Narrensitzungen und Maskenbälle jagen sich förmlich zur Faschingszeit in allen deutschen Vereinen, und die armen Vereinsberichterstatter, die an einem Abend oft 6 bis 8 Vereine besuchen müssen, sind froh, wenn diese ihre Leidenszeit vorüber ist.

Im Sommer – den Frühling kennt man in New York kaum, da er meist nur 24 Stunden dauert, indem auf Winterkälte rasch Sommerhitze folgt – stehen dann Picknicks, Reisen, Sommerfeste etc. auf dem Programm. Und dieses großartig ausgebreitete Vereinswesen, das jetzt in New York allein Hunderttausende unserer Landsleute enger aneinanderschließt, besteht doch erst seit wenigen Jahrzehnten. Im Jahre 1846 hatten sich unter dem Drucke des Nativismus fast alle bis dahin bestehenden kleineren Vereine aufgelöst, von Gesangvereinen existierte nur noch der „Social-Reformer“.

Da wurde in dem genannten Jahre der „Deutsche Liederkranz“ gegründet, und an seinem Wachstum aus den kleinsten Verhältnissen heraus kann man den Fortschritt des deutschen Vereinswesens am besten erkennen. Mit 25 Sängern konstituierte er sich am 9. Januar 1847. Dr. Hermann Ludwig war sein erster Präsident, während der Musiker Krauskopf die musikalische Leitung ausübte. Im Jahre 1850 übernahm ein [288] junges Mitglied, Agriol Paur, das Amt des Dirigenten, das er zweiunddreißig Jahre verwaltete. Ihm verdankt der Verein seinen Aufschwung und seinen Ruf auf musikalischem Gebiet. Noch im Jahre 1851 betrug der Kassenbestand zur Generalversammlung ganze 71 Cent, 1860 wurde, während der Herausgeber der „New Yorker Staatszeitung“, Oswald Ottendorfer, Präsident war, der Verein mit 547 Mitgliedern inkorporiert, 1869 betrug die Mitgliederzahl 1012, 1882 wurde mit 1378 Mitgliedern der eigene Sängerpalast in der 58. Straße eingeweiht. Im Januar vorigen Jahres hat dieser Verein sein 50jähriges Jubiläum gefeiert. Das Klubhaus des „Liederkranzes“ ist prächtig eingerichtet, der große Saal mit Scenen aus bekannten Opern und sonstigen auf die Musik bezüglichen Wandgemälden geschmückt.

In der Nähe, an der 59. Straße und Park Avenue, hat der mehrfach genannte „Arion“ seinen Palast erbaut, von dem man sich einen Begriff machen kann, wenn man erfährt, daß Bau und Einrichtung 1 940 000 Mark kosteten. „Liederkranz“ und „Arion“ dürfen als die angesehensten deutschen Vereine New Yorks und wohl Amerikas überhaupt bezeichnet werden. Der „Arion“, 1854 gegründet, ist auch in Deutschland bekannt, wohin er 1892 eine Sängerreise unternahm, die ihm reiche Lorbeeren eintrug und dem alten Mutterland zeigte, wie man im neuen Adoptivvaterland das deutsche Lied hegt und pflegt.

Außer deutschen Kegelvereinen haben bisher nur noch die deutschen „Independent-Schützen“ New Yorks Reisen nach Deutschland unternommen. Der „Liederkranz“ dürfte die nächste Sängerfahrt unternehmen, die ursprünglich schon für letztes Jahr geplant war. Auch der „Kriegerbund“ rüstet sich zu einer Deutschlandreise.

Die Zahl der sämtlichen deutschen Vereine in Groß-New York dürfte 300 bis 400 betragen! Da sich, wie erwähnt, auch die früheren Soldaten zu Vereinen verbunden haben, so giebt es hier außer dem oben erwähnten „Kriegerbund“ einen „Veteranenverein“ und einen „Landwehrverein“. Dem „Veteranenverein“ gehört Fürst Bismarck als Ehrenmitglied an, und an jedem 1. April begeht der Verein seines vornehmsten Mitgliedes Geburtstag mit einem flotten Kommers. Der „Kriegerbund“, welcher etwa 1000 Mann zählt und dessen Präsident Richard Müller ist, hatte zur Centenarfeier Kaiser Wilhelms I im vorigen Jahre einen großen Kommers veranstaltet, wobei durch lebende Bilder Scenen aus des Heldenkaisers Leben aufgeführt wurden und ein früherer Offizier, der jetzt die Waffe mit der Feder des Journalisten vertauscht hat, G. v. Skal, die Festrede hielt. Dieser Verein, der die Pflege deutscher Kriegerkameradschaft in Amerika zu seiner Aufgabe gemacht hat, verfolgt auch menschenfreundliche Zwecke, indem er seinen Mitgliedern in Zeiten der Not Unterstützung bietet. So zahlte er im Berichtsjahre 1896/97 an Krankengeld 20 500 Mark aus und die Sterbegelder für 15 zur großen Armee abberufene Kameraden und 6 Frauen bezifferten sich auf rund 24 000 Mark. In jüngster Zeit wurde von den Kriegskameraden der Gedanke angeregt, ein Altenheim zu gründen, das sicher eine mächtige Stütze des deutschen Kriegervereinswesens in Amerika bilden würde.

Unser Artikel würde nicht vollständig sein, wenn wir nicht eines der deutschen Lokale von New York gedächten, in welchem auch der vorgenannte Kommers abgehalten ward, des neben Lüchows Restaurant besuchtesten Stelldicheins der Deutschen, des „Terrace-Garden“. Der Besitzer dieses großartigen Lokals ist einer der beliebtesten deutschen Wirte New Yorks, sein Lokal mit altdeutschen Bier- und Weinstuben ist echt deutsch, hier spielt im Sommer die deutsche Operettengesellschaft, deutsche Gartenkonzerte finden statt, und man trifft hier fast ausschließlich Deutsche.

Zum Schluß erheischt es – obwohl der Verfasser damit das Gebiet seiner eigenen Vereinsinteressen betritt – die Gerechtigkeit, noch eines deutschen Klubs zu gedenken, der zwar weder sehr groß, noch sehr wohlhabend ist, aber in einem Artikel über deutsche Vereine schon deshalb nicht übergängen werden darf, weil es von Berufs wegen die Pflicht seiner Mitglieder ist, für Aufrechthaltung des Deutschtums zu wirken. Dies ist der Deutsche Preßklub zu New York. Obwohl seine ordentlichen Mitglieder nur Journalisten oder Schriftsteller sein dürfen, die mindestens ein Jahr in den Vereinigten Staaten als solche thätig gewesen sind, zählt er bereits über 300 solcher Mitglieder – gewiß eine stattliche Zahl für einen deutschen Journalistenverein im Ausland. Er hat in der Nähe des Zeitungsviertels sein eigenes Haus, das nicht bloß bequem und gemütlich, sondern für europäische Begriffe sogar elegant eingerichtet ist, denn es ist mit Dampfheizung, elektrischer Beleuchtung etc. versehen und wird von einem eigenen Oekonomen verwaltet. Naturgemäß tritt der Deutsche Preßklub verhältnismäßig wenig an die Oeffentlichkeit, thut er es aber, dann erfreuen sich seine Veranstaltungen einer solchen Beliebtheit, daß der von Künstlerhand al fresco bemalte Saal nicht mehr ausreicht und für die größeren Festlichkeiten größere Lokale gemietet werden müssen.

Man könnte über das Vereinsleben der Deutschen New Yorks ein ganzes Buch, über das in den Vereinigten Staaten mit den vielen deutschen Vereinen in Philadelphia, Milwaukee, St. Louis, Chicago, Sän Francisko etc. Bände schreiben. Aber schon aus dieser Skizze wird der Deutsche im alten Vaterland ersehen, daß es in der Neuen Welt noch recht zahlreiche, wenn auch sonst zu Amerikanern gewordene Deutsche giebt, welche dazu beitragen, der Mutter Germania jährlich Hunderte von Adoptivsöhnen auf fremder Erde zu erhalten. Mögen uns auch in der Zukunft Männer beschieden sein, die nach jahrzehntelangem Verweilen im Auslande, oft unter schwierigen Umständen, das Motto eines unserer ersten Vereine aufrecht halten:

„Ein starker Hort
Dem deutschen Lied,
Dem deutschen Wort!“

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Blätter und Blüten.



Frühling. (Zu dem Bilde S. 261.) Frühlingspoesie weht uns aus diesem Bildchen entgegen. Ein stiller Abend senkt sich über die neubegrünte Erde nieder, in seinem Frieden ruht Wald und Heide, auf der Seefläche schiffen die weißen Schwäne und durch den letzten Abendschein wandelt, den Blütenzweig hoch erhoben, eine nymphengleiche Jungfraugestalt. Ist es eine Bewohnerin des seligen Zeitalters, die ohne irdische Sorgen über blühendes Gefilde dahinzieht, oder die Frühlingsgöttin selbst, deren leichte Tritte auf dem Rasen Blumen als Spur zurücklassen? … Ein Dichter wüßte es vielleicht zu deuten, was hier als blütenduftiger Frühlingstraum vor unseren Augen steht!

Der kaspische Panther im Berliner Zoologischen Garten. (Zu dem Bilde S. 290.) Die Leser der „Gartenlaube“ erinnern sich vielleicht noch eines Bildes im Jahrgang 1897 (S. 449), auf welchem vier Abarten des Tigers dargestellt waren, die im Berliner Zoologischen Garten leben. Der Vergleich derselben hat ergeben, daß genau so wie der Mensch in den verschiedenen Erdteilen besondere durch ganz bestimmte Merkmale ausgezeichnete Rassen bildet, auch der Tiger in den einzelnen Ländern seines Verbreitungsbezirkes gewisse typische Abänderungen zeigt. Soweit ein großer Strom mit seinen Nebenflüssen ein Land beherrscht, gehören alle Tiger zu einer und derselben Art; sowie man aber die Wasserscheide zwischen zwei großen Flußgebieten überschreitet, findet man, daß eine andere Abart des Tigers auftritt. Aehnliche Verhältnisse zeigen sich bei vielen anderen Tierarten. Auch die großen gefleckten Katzen sind diesem Gesetze unterworfen. Der Panther, welcher auf den Sunda-Inseln lebt, unterscheidet sich durch den langen, dünnen Schwanz und die dichtstehenden, tiefdunklen Flecken auf den ersten Blick von dem schlanken, etwas hochbeinigen und heller gefärbten Leoparden des westlichen Vorderindiens. Der schwere, kurzbeinige, matt gezeichnete Panther des südöstlichen Vorderindiens ist ganz anders gefärbt und gestaltet als der helle, kleine Somali-Leopard, und diesen kann man wieder ziemlich leicht unterscheiden von dem satter gelb gefärbten Deutsch-Ostafrikaner, dem dunkleren Leoparden des Seengebietes und dem enggefleckten Westafrikaner. So hat jedes Tiergebiet in Afrika und in Asien bis hinauf zur Südgrenze von Sibirien eine besondere

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Am Hohentwiel.
Nach dem Gemälde von A. Chelius.

[290] Abart einer großen gefleckten Katze aufzuweisen; in Amerika tritt an ihre Stelle der Jaguar. Besonderes Interesse haben für uns die mittelasiatischen Panther, weil sie dem kälteren Klima entsprechend ein besonders dichtes und schönes Pelzwerk tragen. Durch Herrn Karl Hagenbeck hat der Berliner Zoologische Garten kürzlich einen sehr interessanten Panther erhalten, der aus den nördlichsten an Transkaspien stoßenden Gebieten von Persien stammt. Er ist ein prächtiges Tier, unbändig wild und von hervorragender Schönheit. Viele Tage lang verbarg er sich in dem Stroh, welches man in seinen Käsig gelegt hatte, und nur ein dumpfes Knurren verriet dem neugierigen Besucher seine Anwesenheit. Wurde ihm die Aufmerksamkeit der Störenfriede allzu lästig, so fuhr er mit gewaltigem Sprunge, die Zähne fletschend, gegen das Gitter, das er aber sofort wieder verließ, sich in sein Versteck zurückziehend. Damit meine Frau ihn im Bilde festhalten konnte, wurde ihm das schützende Stroh entzogen, und nunmehr sprang er auf den im Zwinger stehenden Baum, auf welchem er regungslos verharrte.

Der kaspische Panther im Berliner Zoologischen Garten.
Nach dem Leben gezeichnet von Anna Matschie-Held.

Nur das Spiel seiner Schwanzspitze und die hin und her rollenden Augen zeigten seine gespannte Aufmerksamkeit. Er ist isabellgrau gefärbt mit einem Stich ins Rötliche, hat die Gestalt eines stämmigen Panthers, unterscheidet sich aber von seinen Gattungsverwandten durch das dicke Haarkleid, den langen Hinterkopf und den ungeheuer starken Nacken ebenso wie durch den auffallend langen kräftigen Schwanz, der besonders dicht behaart ist. – Wie weit dieser Panther im südwestlichen Asien verbreitet ist, darüber haben wir keine Mitteilungen. Als neulich mein Freund Büchner, der Verwalter der Säugetiersammlung im Petersburger Museum, mit Dr. Heck, dem Direktor des Berliner Zoologischen Gartens, und mir diesen Panther besichtigte, begrüßte er in ihm einen alten Bekannten. So wie er sehen alle Panther im östlichen Kaukasus aus, und damit ist der Beweis gebracht dafür, daß unser kaspischer Panther auch auf europäischem Boden gefunden wird. Wahrscheinlich kommt er an geeigneten Stellen überall in den zum Aralsee und Balkaschsee abwässernden Gebieten vor. Ich habe über seine Lebensweise nur wenig bisher in Erfahruug bringen können; er wird wohl ebenso wie alle anderen Leoparden als kühner furchtloser Räuber jede Beute, die er bezwingen kann, zu erjagen suchen und namentlich unter den Viehherden der Kirgisen zuweilen gehörig aufräumen. Wenn ich die Worte „Leopard“ und „Panther“ für diese großen Fleckenkatzen gemischt gebrauchte, so weiß ich sehr wohl, daß ich eigentlich zwei verschiedene Begriffe nicht immer in der richtigen Bedeutung anwendete: aber zu meiner Entschuldigung kann ich anführen, daß thatsächlich heute der Unterschied zwischen dem Begriffe Panther und Leopard sehr verwischt ist, und daß eigentlich kein Mensch weiß, was die alten Römer als Panther und was als Leopard bezeichnet haben. Im allgemeinen stellt wohl der Panther eine schwere gedrungene Form, der Leopard eine schlanke, hochbeinigere Form dieser Katzen dar. Brehm nennt die afrikanischen Abarten „Leoparden“, die asiatischen „Panther“. Es giebt aber ebensowohl in Afrika als auch in Asien schlanke und wiederum plumpe Abarten dieser Gattung. Matschie.     

Ein neues Unterseeboot. (Mit dem untenstehenden Bilde.) Ein Amerikaner, Simon Lake in Baltimore, hat in letzterer Zeit ein Unterseeboot gebaut, das berufen erscheint, den Tauchern bei ihren schwierigen Arbeiten auf dem Meeresgrunde wesentliche Dienste zu leisten. Gilt es zum Beispiel, ein gesunkenes Schiff zu untersuchen oder dessen Ladung zu bergen, so kann diese Arbeit nach „Scientific American“ jetzt nur bei ruhigem Wetter ausgeführt werden; denn der Taucher muß durch Luftschläuche und Signalleinen mit einem Fahrzeug in Verbindung bleiben, das über ihm auf dem Wasserspiegel schwimmt. Wind und hoher Seegang erschweren diese Verbindung oder machen sie völlig unmöglich. Diese Uebelstände sollen nun durch das Lakesche Unterseeboot beseitigt werden.

Das Fahrzeug ist aus starken Eisenplatten gebaut und hat bei einer Länge von 11 m und einer Breite und Höhe von je 3 m die Gestalt einer Cigarre. Es ist so stark gebaut, daß es bis in die Tiefe von 50 m tauchen kann, und geräumig genug, um sechs Taucher mit ihrer Ausrüstung aufzunehmen. Sein Innenraum besteht aus drei Abteilungen. In der ersten befinden sich die Maschinen, welche das Schiff fortbewegen; die zweite mittlere dient der Mannschaft zum Aufenthalt; die dritte ist mit komprimierter Luft gefüllt und mit wasserdicht schließenden Thüren versehen, durch welche die Taucher auf dem Meeresgrunde das Boot verlassen oder in dasselbe wieder eintreten können. Am Kiel des Bootes befinden sich besondere Reservoire. Solange das Fahrzeug auf der Wasseroberfläche schwimmen soll, sind diese Behälter mit Luft gefüllt; soll es sinken, so wird in dieselben Wasser eingelassen: soll es aber wieder emportauchen, so wird mittels starker Luftpumpen das Wasser aus den Behältern herausgepreßt. Damit das Boot auf dem Meeresgrunde sich fortbewegen kann, ist es mit drei Rädern versehen.

Simon Lakes Unterseeboot.

Oben befindet sich ein kleiner Turm, von dem aus der Steuermann die Fahrt des Schiffes über dem Wasser kontrollieren kann; schließlich ist noch in den Wandungen des Bootes eine Anzahl von runden mit starken Glasscheiben versehenen Fenstern angebracht. Zur Beleuchtung des Innenraumes sowie des Meeresbodens dient elektrisches Licht. Die zum Leben nötige Luft kann auf zweifache Art der Mannschaft geliefert [291] werden. In geringen Tiefen wird sie dem Schiffe durch hohle Masten, die über die Wasseroberfläche reichen, zugeführt; in größeren Tiefen entnimmt man sie Behältern, die mit stark komprimierter Luft gefüllt und im Innenraum des Fahrzeuges aufgestellt sind. Mit dem Unterseeboot, das den Namen „Argonaut“ erhalten hat, wurde neuerdings eine Probefahrt angestellt. Die Taucher blieben mit ihrem Fahrzeug vier Stunden auf dem Meeresgrund, konnten dasselbe nach Belieben verlassen und ihre Arbeit verrichten. Unsere Abbildung zeigt uns den „Argonauten“ unter Wasser in der unmittelbaren Nähe eines Wracks.

Der Gertelbachfall im Schwarzwald (Zu dem Bilde S. 277.) Wer vor etwa zwanzig Jahren auf den Höhen und endlosen Waldflächen, des nordöstlichen Schwarzwaldes mit den Thälern von Hundsbach, Schönmünzach und Herrenwies verweilte und, vom Zauber dieser herrlichen Gebirgslandschaft angezogen, diese auch heuer wieder zur Erholung aufsucht, vermag seinem Erstaunen kaum Ausdruck zu verleihen über die mannigfachen Neuschöpfungen, welche die Kunst im Verein mit der Natur dort in nie rastendem Fleiße geschaffen.

Hoch droben, auf einem Ausläufer des „Mehliskopfs“, 1000 m über dem Meere, wo in den 1870er Jahren noch der „Stabhalters Michel“ in einsamer, rauchgeschwärzter Hütte, von riesigen Tannen umrauscht, das beschauliche Leben eines Köhlers führte und dem müden Wanderer um billiges Geld erquickenden Trank und Weidmannskost verabreichte, erhebt sich nunmehr inmitten prächtiger Anlagen das mit reichstem Komfort ausgestattete Hotel Hundseck. Weithin schweift von seiner Terrasse aus der Blick über die dunklen Kuppen der Bergrücken hinaus auf die volkreiche Ebene, die im Westen das Silberband des Rheins durchzieht. Zu unsern Füßen aber bietet sich dem Auge ein ebenso interessantes als reizendes Bild. Hart in der Nähe in steil enger Schlucht drängen sich tosend und schäumend in eiliger Hast die krystallhellen Wasser eines rauschenden Baches über Felsen und Halden der Niederung zu. An den Wänden der zackigen Ufer, bald rechts, bald zur Linken über zahlreiche, luftige, hölzerne Stege schlingen sich moosige Treppen empor zu der Höhe.

Das ist der „Gertelbachfall“.

Viel und gern ist im Sommer dieses herrliche Thal von den Fremden besucht, das weithin als Perle des Schwarzwaldes gilt. J. J. Hoffmann.     

Photographie im Verlage von J. Loewy in Wien.
Abschied.
Nach dem Gemälde von J. Rolletschek.


Feuer im Schiff (Zu dem Bilde S. 280 und 281.) Zwei Feinde hat der Seemann, die er fürchtet. – Dazu gehört nicht der Sturm. Ein gutes Schiff und tüchtige Leute an Bord, die werden mit ihm fertig, wenn sie nicht Land in Lee, so daß der Wind das Schiff an die Küste treibt, zu nah’ dabei haben. Schlimmer, viel schlimmer sind Nebel und Feuer! Gegen den Nebel hilft keine Tüchtigkeit und keine Tapferkeit. Da liegt das beste, schönste, mit den auserlesensten Seeleuten bemannt Schiff wie außerhalb der Welt. Ringsum alles grau, alles still; verhüllt jedes Licht; wohin treibt Strom und Flut das Schiff? Drüben, in der Ferne, ein dumpfes Brüllen: ein Nebelhorn von einem andern Schiff; ein Läuten von einer Schiffsglocke: wo kommt der Schall her? Oder plötzlich ein Kanonenschuß! In nächster Nähe taucht aus dem grauen Nebel ein dunkler Koloß auf: kann er noch vorbeischeren? Rammt er jetzt? Gott sei Dank – er hat noch Ruder legen können – für einen kurzen Augenblick leuchtet durch die Nacht das rote glühende Licht seiner backbordschen Positionslaterne – ein Rauschen, Pusten, Dröhnen – und wieder alles still, alles dunkel, alles tot – –

„Schiff ahoi!“ klingt nicht gut im Nebel; aber fürchterlicher klingt der Ruf: „Feuer im Schiff!“ – Wenn an Land die strohgedeckte Hütte brennt, so liegt ringsum das weite Feld, und wenn auch das Dach herniedersaust, das nackte Leben kann der Bauer doch retten. Aber aus dem brennenden Schiff giebt’s kein Entrinnen. Drinnen der Tod – draußen der Tod! Der draußen freilich besser als der drinnen. Aber es ist immer ein Sterben. Und die Boote? Ein Kauffarteifahrer mag zur Not seine ganze Bemannung in die Boote aufnehmen können; aber wie wenige gewinnen in diesen „Rettungsfahrzeugen“ das Land! Und ein großer Passagierdampfer? – Ja, wenn die Botte überhaupt noch zu Wasser gelassen werden können! Es ist bald 40 Jahre her, da verbrannte am 13. September 1858 auf offener See das Auswandererschiff „Austria“, ein Ereignis, das an Grausigkeit durch keine der neuen und neuesten Brandkatastrophen übertroffen wird. Mit 600 Fahrgästen war sie von Hamburg nach New York unterwegs, als sie durch Unvorsichtigkeit Feuer fing. Es war eine glühende Kette in Teer getaucht, um im Zwischendeck zu räuchern. Sie entfiel vorzeitig den Händen der Leute und steckte sofort die Planken des Decks in Brand, und der Kessel mit Teer fiel um! Siebzig von sechshundert wurden, zum Teil furchtbar verbrannt, von einem französischen Segelschiff aufgenommen, dessen Kapitän in seinem Bericht das gräßliche Elend schilderte: „Als meine Boote sich näherten, warfen sich eine Menge Leute ins Wasser, von denen die meisten ertranken. Eine Mutter stürzte sich hinab mit ihren drei Kindern: wir retteten nur die Mutter! – Ueberall die gleichen Schreckensscenen, überall Schreien und Kreischen der Wut und der Verzweiflung und der fürchterlichsten Qualen.“

An der Küste von Florida trieb 1889 eine mit Moos bewachsene Flasche an, in welcher sich ein Zettel befand, auf dem in etwas verwischter Schrift stand: „Der Dampfer ‚Germania‘ steht in Flammen und wir sinken. Wind heftig; Boote unbrauchbar. Alle Hoffnung aufgegeben.“ Die „Germania“ war ein AUswandererschiff mit 1000 Fahrgästen, das 1884 verschollen ist. – Wenn die rote Flagge am Großmast ausflattert: „An den Feind!“ da mag sich’s gut sterben; aber im Nebel und in Feuersglut ruhmlos in Qual verderben, davor behüte Gott jeden braven Seemann in Gnaden! P. G. Heims.     


Abschied (Zu dem obenstehenden Bilde.) Die Abschiedsstunde ist da, der künftige Student kann es kaum erwarten, endlich aus dem kleinen Nest heraus in die Freiheit zu kommen. Das Elternhaus mit mütterlichen Thränen und väterlichen Ermahnungen liegt bereits hinter ihm, nun schnell noch zur Großmutter hinauf! Aber seltsam – wie ihn da im wohlbekannten einfachen Stübchen die alten, treuen unbestechlichen Augen so eindringlich ansehen, da schlägt er die seinigen nieder und horcht, gegen seine Absichtm, auf die ernsten Abschiedsworte der alten Frau. Sie weiß manches von ihm, was die Eltern nicht wissen, hat’s verschwiegen und sorgenvoll im Herzen getragen, hat ihm geholfen, wo es Not that, und ihn weiter geliebt, denn er ist ja ihr erster, liebster Enkel und er ist ja gut im innersten Herzen, das weiß sie gewiß – nur leichtsinnig und bestimmbar!

Drum legt sie jetzt ihre ganze Liebe und Sorge in den Druck der runzelvollen, arbeitsamen Hand, in die Ermahnungen dieser Scheidestunde. Und der Junge fühlt wieder einmal, wie so oft früher, sein Herz weich werden … und vielleicht wird er sich später doch, wenn die bösen Buben locken, dieser alten treuen Augen erinnern und der schwachen Stimme, die so flehentlich bittet: „Bleibe brav, mein Junge, bleibe brav!“ ..Bn.     

[292] Das Altonaer Denkmal der Erhebung Schleswig-Holsteins vor fünfzig Jahren. (Mit Abbildung.) Der fünfzigjährige Gedenktag der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen Dänemark wurde am 24. März in Kiel und Altona besonders festlich begangen. In Altona geschah dies im besondern durch die Enthüllung eines Denksteins, dessen bildlicher Ausschmuck an die heldenhaften Kämpfe erinnert, welche die Schleswig-Holsteiner von jenem Tage an für ihr Deutschtum und ihre unteilbare Selbständigkeit unter dem begeisterten Anteil der ganzen deutschen Nation geführt haben. Schon in den Jahren vorher hatten dänische Anmaßungen jene Volksbewegung geweckt, als deren Führer Wilhelm Beseler 1846 Präsident der schleswigschen Ständeversammlung wurde. Da führte im März 1848 ein Gewaltstreich des Königs Friedrich VII zur Erhebung. Trotzdem die Oberlehnshoheit über die einst unabhängigen Herzogtümer vertragsmäßig an die Bedingung geknüpft war, daß die Lande „auf ewig ungeteilt“ zusammenbleiben sollten, schickte sich König Friedrich an, Schleswig von Holstein zu trennen und dem dänischen Staat völlig einzuverleiben. Der Geist der deutschen Märzbewegung hatte damals auch die Schleswig-Holsteiner ergriffen und ihr Nationalgefühl in mächtige Wallung gebracht. Eine Deputation der schleswig-holsteinschen Stände suchte in Kopenhagen vergeblich das alte gute Recht zur Geltung zu bringen. Nunmehr trat in Kiel am 24. März auf Betreiben W. Beselers eine provisorische Regierung ins Leben, in welcher dieser mit M. T. Schmidt von Kiel und Bremer von Flensburg das Bürgertum, Graf Reventlow die schleswig-holsteinsche Ritterschaft und Prinz Friedrich von Noer das herzogliche Haus der Augustenburger vertrat, welches auf Schleswig-Holstein Erbansprüche hatte für den Fall, daß der Mannesstamm des dänischen Königshauses erlösche. Bis 1846 war Prinz Friedrich Statthalter und kommandierender General in den Herzogtümern gewesen, hatte aber nach dem Beginn der dänischen Usurpationspolitik beide Aemter niedergelegt. Jetzt übernahm er im Auftrag der provisorischen Regierung wiederum die Führung der Truppen und besetzte sofort, ohne daß ein Schwertstreich nötig ward, die Landesfestung Rendsburg. Da die gesamte deutsche Bevölkerung der Herzogtümer eines Sinnes mit der provisorischen Regierung war, erklärten ihr auch die am 3. April nach Rendsburg berufenen Stände einstimmig ihr Vertrauen. Diesem so glatt verlaufenen Anfang folgten sturmbewegte Kriegsjahre, an deren Siegen und Niederlagen, wie bekannt, viele Freiwillige aus allen Ländern Deutschlands und deutsche Bundestruppen starken Anteil hatten. Die kühne Erhebung von 1848 führte direkt zu keinem bleibenden Sieg; heute aber betrachtet die schleswig-holsteinsche Bevölkerung in ihr den Anfang des historischen Prozesses, der die Herzogtümer schließlich doch „ungeteilt“ zu einem organischen Gliede Deutschlands gemacht hat, das sich, wie früher ihr Kampf, der herzlichsten Sympathien aller deutschen Stämme erfreut und mit Recht gepriesen wird als die deutsche „Wacht am Meere“.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0292.jpg

Das Altonaer Denkmal der Erhebung Schleswig-Holsteins vor fünfzig Jahren.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hans Breuer in Hamburg. ( gemeinfrei ab 2032)

Der Denkstein in Altona ist auf einem Platz an der Fritz Reuterstraße errichtet worden. Eine junge Doppeleiche überragt den mächtigen Felsblock, an dessen Vorderseite eine eherne Tafel eingelassen ist, welche die Inschrift trägt: „Zum Gedächtniß der Erhebung Schleswig-Holsteins“. Der bildliche Schmuck daneben stellt zwei Frauengestalten dar, welche Schleswig und Holstein verkörpern. In Eintracht reichen sie sich die Hand, während die eine in der Rechten das entblößte Schwert, die andere in der Linken den wappengeschmückten Schild hält. In dem Festzug zur Denkmalsenthüllung fuhren die achtundvierziger Veteranen den Kriegervereinen voran. An der schönen Enthüllungsfeier nahm auch Graf Waldersee teil. Die Festrede hielt Geheimrat Dr. Wallichs, der einst als begeisterungsvoller Student an der Erhebung beteiligt war.

Unterm Lindenbaum. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ein Künstlerheim der guten alten Zeit zeigt uns hier Simm, der unübertreffliche Schilderer der „Empire“-Menschen und ihrer so lange als unerträglich steif und nüchtern verschrieenen Umgebung. Wie reizend behaglich sitzt hier das junge Ehepaar unter der alten Linde, hinter dem Hause am uraltmodischen Eßtisch, wo sie soeben in glücklichem Beisammensein getafelt haben! Jetzt nimmt der Gatte – er ist Maler – sein großes Skizzenbuch wieder vor, und sein Frauchen im zierlichen, seideunterlegten Florkleid beugt sich voll Eifer mit darüber hin, sie versteht auch etwas von der Sache und muß beurteilen, ob er ihren reizenden Blondkopf mit den rings aus der griechischen Frisur sich heraus ringelnden Löckchen richtig abkonterfeit hat. Beide sind ganz ins Schauen vertieft, sie bewundernd, er zweifelnd, aber beide sind dabei doch von dem Wohlgefühl ihrer jungen Liebe und ihres glücklichen Heims unablässig durchdrungen. Ja, es ist ein beneidenswertes Stückchen Menschenglück, das uns aus diesem liebenswürdigen Bilde ansieht! Bn.     




In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:


W. Heimburgs illustrierte Romane und Novellen.
Neue Folge.
Fünfter Band: „Trotzige Herzen“.0 Mit Illustrationen von W. Claudius.

Mit diesem Bande liegt die neue Romanserie von W. Heimburg nunmehr vollständig vor. Dieselbe umfaßt 5 reich illustrierte Bände zum Preise von je 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.

Inhalt der Bände: 1. Mamsell Unnütz. Illustriert von W. Claudius. 2. Um fremde Schuld. Illustriert von H. G. Jentzsch. 3. Erzählungen. Inhalt: Sabinens Freier. – Franziska von Schlehen. – Das Raupenhäuschen. – Der silberne Hirschfänger. – Großmutters Whistkränzchen. – Marianne Sievening. Illustriert von R. Reinicke, W. Claudius und Fritz Bergen. 4. Haus Beetzen. Illustriert von P. Schnorr. 5. Trotzige Herzen. Illustriert von W. Claudius.

Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[292 a] 0


Allerlei Winke für jung und alt.


Kissen für Veranda oder Garten aus ungebleichtem Leinenstoff im Stil der ungarischen Stickereien mit rotem und blauem Baumwollgarn bestickt. Die Rückseite des Kissens besteht aus gewöhnlichem Baumwollstoff von demselben Türkischrot wie die heller gezeichneten Blumen der Stickerei.

Kissen für Veranda oder Garten.

An zwei Seiten ist der rote Stoff breit nach der Vorderseite umgeschlagen und mit blauem Grätenstich auf dem Leinen befestigt; die Ecke bleibt wieder hell.


Stickereistreifen zur Verzierung von Kleidern, Schürzen etc. Die heutige Mode der gestickten Borten und Einsätze an Blusen, Aermeln und Kleiderröcken macht es geschickten Händen möglich, mit wenig Kosten sich eine elegante Verzierung selbst herzustellen. Wir geben hier beifolgend einen Stickereistreifen, der sich auf jedem Stoff: Seide, Tuch, Flanell oder Kattun, leicht arbeiten läßt und eine sehr hübsche Wirkung zeigt. Unser Muster, das zur Ausstattung des ersten Ballkleides für ein junges Mädchen bestimmt war, ist mit rosa Filoflosseseide auf weißer Surah gestickt, die Blattfiguren mit Plattstich. Die Vierecke sind ringsherum festonniert, dann ausgeschnitten. Die Füllstiche in diesen Zwischenraumen wurden mit doppelt genommener weißer Seide ausgeführt.

Stickereistreifen.

Man arbeitet sie wie weitläufige Festonstiche, indem man an jeder Seite des Vierecks zweimal einen Stich ansetzt, danach wird der Faden durch alle die dadurch entstandenen losen Schlingen rundum durchgeführt bis zum Anfangspunkt, wo er vernäht wird. Zum Sticken eignet sich auch bei kräftigerem Grundstoff jedes andere Material, wie Wolle, Stickgarn, Glanzgarn etc., auch können die Blattfiguren, anstatt mit Plattstich gearbeitet, nur mit Stilstich umrandet werden.

Bei der Ausführung auf weichem Stoff ist es ratsam, die Arbeit mit Futtermull zu unterlegen und in einen Rahmen zu spannen. Die jungen Mädchen, die keinen solchen besitzen, können einer alten Schreibtafel den Schiefer ausschlagen; so ist der beste, billigste Rahmen fertig.


Schürze aus einem Halstuch. Aus den großen seidenen Herrenhalstüchern, türkisch gemustert oder gestreift etc., sind elegante und verhältnismäßig nicht teure Schürzen mit leichter Mühe zu verfertigen. Das Tuch wird am oberen Rand mehrfach eingelesen, und zwar so, daß es etwa 4 cm breit als Rüsche über dem Gürtel stehen bleibt; ist die Länge nicht zureichend, so hilft man sich durch Ansetzen eines Streifens von Seide in der Hauptfarbe des Musters. Gürtelband und Schleife oder Rosette zum Schluß an der Seite sind dann von derselben Farbe.

Nadelkissen.

Nadel- und Haarnadelkissen zum Schmuck eines zierlichen Toilettentisches. Unser Modell (Patent Merkur, käuflich in München bei Gutmann, Promenadeplatz 3) besteht aus zwei miteinander verbundenen japanischen Körbchen; um den Rand derselben ist ein Zackenstreifen aus Hellem Tuch mit etwas rosa Seidestickerei befestigt. Das eine Körbchen ist mit Roßhaar hoch aufgefüllt und die Wölbung mit einem gehäkeltem Ueberzug aus rosa Mohairwolle (sehr dichte Luftmaschenbogen, im Kreis herum gehäkelt) überspannt; das andere enthält ein mit Kleie gestopftes, rundes rosa Sammetkissen; eine Rüsche aus rosa Seidenband umgiebt den Rand, und ein Schleifchen in der Mitte hält das niedliche kleine Ding zusammen.

Bulgarenkittel.

Bulgarenkittel oder auch russischer Kittel nennt sich eine höchst einfache, sehr kleidsame Form von Kinderkleidchen, das aus einem geraden Stück geschnitten und mit Stickerei verziert ist. Die Aermel werden, wie die Abbildung zeigt, ohne Schulterteil eingesetzt, eine Wollenschnur mit Quasten dient als Gürtel. Unser Modell ist aus gelblichem Baumwolltuch gedacht, mit kleinen Sternchen ganz überstickt, am Rande mit einer Borte abgeschlossen, womöglich mit einem guten Muster slawischer Herkunft. Halsausschnitt und Aermelrand sind mit Festonstichen verziert; die Farben olivgrün und hellrot, schwarz und gelb oder rot und blau etc.


Gehäkelte Pferdeleine für Kinder. Von roter Zephyrwolle schlägt man 6 Maschen an, schließt sie zum Ring und häkelt, rund herumgehend und stets dabei die ganze Masche der vorhergehenden Reihe, fassend, feste Maschen, bis die Leine 3–4 m lang ist. Etwa 20 cm Länge an jedem Ende schließt man zu einem Ring zum Hindurchstecken der Arme und behäkelt diese Armringe an zwei Seiten mit festen Bogen, damit sie etwas breit werden. In je 10–20 cm Abstand näht man kleine Metallschellen an und hat nun eine willkommene, schöne und dauerhafte Pferdeleine für die liebe Jugend.


Hauswirtschaftliches.

Blechkasten zur Aufbewahrung von Brot und Kuchen. Für Geld und gute Worte erhält man zuweilen einen der großen Blechkasten, in welchen die Albertbiskuits etc. in den Konditorläden aufbewahrt werden; wenn man ihn seiner Papierhüllen entledigt, läßt er sich zu einem ganz eleganten Behälter umgestalten. Erst überstreicht man z. B. den ganzen Kasten mit Goldbronze, auf welche man dann mit Hochrot und Schwarz flotte Schnörkel malt – es giebt ja überall die goldgrundigen russischen Schalen und Büchsen, deren etwas unregelmäßige Ornamente sehr leicht und kräftig wirken, und auch auf einen viereckigen Raum nicht schwer zu verteilen sind (s. Abb.). Auch japanische Motive machen sich gut in lichten Farben auf einem hellgrünen Grund, oder in Gold auf Schwarz; Oelfarben oder englischer Lack sind verwendbar. J.     

Einige neue Eierspeisen für den Abendtisch. Die Zeit der frischen Eier, die jetzt wieder gekommen ist, verlockt vielleicht die Hausfrauen zur Erprobung folgender Eierrezepte, die besonders für die Abendtafel geeignet sind und einige Abwechslung in die gewöhnlichen Eiergerichte bringen.

Pikante Eier. Zehn Eier kocht man hart, schält sie, schneidet sie quer durch, nimmt das Gelbe heraus und schneidet von den Eiweißhälften eine Spitze ab, so daß diese wie kleine Becher aussehen, die dann gefüllt werden. Diese Füllung stellt man aus gewiegter Fray-Bentos-Zunge, einigen Anchovis oder Sardellen, einer kleinen gehackten sauren Gurke und einigen Scheiben saurer roter Rüben her. Die Füllung wird mit etwas Salatöl und Citronensaft beträufelt und mit dem feingeriebenen Eigelb dicht bestreut. Man richtet die Eierbecherchen auf runder Schüssel an, um giebt sie mit Kresse und reicht geröstete Brotschnitten dazu.

Carmen-Eier. Ein Liter Wasser locht man mit einer Tasse Essig und einem Löffel Salz auf, schlägt immer drei frische Eier zu gleicher Zeit ins Wasser, über die man das Eiweiß rasch mit einem Löffel zusammenzieht, und läßt das Eiweiß fest werden. Dann werden die Eier herausgehoben, einen Augenblick in kaltes Wasser gelegt und zurecht geschnitten. Man fährt so weiter fort, bis man genügend Eier hat. In dieser Zeit bereitet man die Sauce, zu der man feine Kräuter, wie Petersilie, Schnittlauch, Kerbel, Estragon etc., sein wiegt, in gutem Salatöl durchschwitzt und nun einige Löffel geriebene Semmel, ein Glas Weißwein, den Saft einer halben Citrone, etwas Salz, Pfeffer, eine große Messerspitze Liebigs Fleischextrakt und etwas Krebs- oder Sardellenbutter daran thut. Die Sauce muß aufkochen und wird dann über die verlorenen Eier gegossen. Dieselbe muß gerade fertig sein, wenn auch die Eier vollendet sind. Kalt kann man die verlorenen Eier anrichten, wenn man sie aus jungen Kopfsalat legt und mit einer Remouladensauce bezieht.

Blechkasten zur Aufbewahrung von Brot und Kuchen.

Gebackene Eier. Eine Form aus feuerfestem Porzellan wird dick mit Butter bestrichen und mit Parmesankäse ausgestreut. In diese Form schlägt man sechs bis neun frische Eier vorsichtig nebeneinander, quirlt eine Tasse süße Sahne mit Salz und Pfeffer durcheinander, schüttet dies über die Eier, streut nochmals Parmesankäse darüber und legt zuletzt kleine Butterstückchen darauf. Die Eier werden in mäßiger Hitze gebacken, beim Anrichten oben glasiert und Röstbrot dazu gereicht. L. H.     

Leipziger Käsekuchen. Aus etwa 200 g Butter, 1 kg Mehl, etwas Salz, 100 g Zucker, 5 Eiern, 1 l Milch und 50g Hefe arbeitet man einen Teig und rollt ihn aus einem Kuchenblech dünn aus. Hiernach schiebt man ihn in einen nur warmen Ofen und läßt ihn gehen. Inzwischen verrührt man frischen Quark mit Salz, Zucker, Rosinen und einigen Eigelb, streicht sodann diese Masse fingerdick aus den Teig, macht einen Guß von saurem Rahm, Butter und Zucker darauf und läßt den Kuchen, der bekanntlich vorzüglich schmeckt, bei mäßiger Hitze fertig backen.

Damit die blanken Nickel-Thee- und Kaffeekannen nicht nur außen, sondern auch innen ein blankes Aussehen zeigen, muß man sie von Zeit zu Zeit innen mit Soda reinigen. Man thut ein Stück davon hinein, füllt dann die Kannen mit kochenden, Wasser und läßt sie mit der Lauge mehrere Stunden ruhig stehen. Man bürstet die Kannen mit scharfer in diese Lauge getauchter Bürste gut aus, spült sie gründlich nach und wischt sie dann trocken. Versäumt man diese Reinigung, so laufen die Kannen innen dunkelbraun an. He.     

Für Kranke sind Erfrischungsgetränke, die zugleich stärkend wirken, oft wichtiger als feste Nahrungsmittel, da sie von ihnen leichter größere Mengen zu sich nehmen können als von festen Speisen. Die folgende oft erprobte Vorschrift dürfte in Krankheitsfällen den Hausfrauen deshalb willkommen sein. Selbstverständlich muß aber zur Verabreichung derselben die Zustimmung des Arztes eingeholt werden. Haferschleim mit Porter. Man rührt 15 g Hafermehl mit einigen Löffeln kaltem Wasser an, gießt es in 3/8 l kochendes Wasser und kocht es unter Rühren etwa 20 Minuten zu sämiger Beschaffenheit. Man schlägt nun 1 Eigelb mit 30 g Zucker und 1/4 l Porterbier schaumig und mischt den durch ein Sieb gerührten Haferschleim dazu.

[292 b]
Allerlei Kurzweil.


Buchstaben-Ornament.
Von Heinrich Vogt.

Welchen Text ergeben die Buchstaben des Ornaments, richtig verbunden?

Damespielaufgabe. Von A. Stabenow.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht und gewinnt.


Rätsel.

Du wirst mit meinen Brüden: mich
Niemals zusammen seh’n,
Den einen, den vertreibe ich,
Der andre heißt mich geh’n.

Nimmst du jedoch das Haupt mir fort
Und stellst die Zeichen um,
So lock’ ich an als Badeort
Das Reisepublikum.


Umstellungsrätsel.

In manche Arbeit schleicht sich ein
Und wird mit Aerger wahrgenommen,
Was umgestellt in Not und Pein
Ein jeder Mensch gern heißt willkommen.
  Oscar Leede.


Kombinationsrätsel.

1. Stelle, Horde; 2. Meiler, Brot; 3. Drechsler, Lose; 4. Mutina, Sirene; 5. Messina, Emir; 6. Hader, Seite; 7. Bertha, Spaten; 8. Rune, Sand; 9. Serbin, Esel; 10. Erker, Dichte; 11. Ach, Arterien.

Durch Umstellen der Buchstaben sind aus jedem dieser elf Wortpaare zwei neue Wörter zu bilden, so daß die Anfangsbuchstaben der neuen Wörter einen Spruch von Frauenlob ergeben.

Die Wörter bezeichnen: 1. zwei Vögel, 2. zwei männliche Vornamen, 3. zwei Singvogel, 4. zwei Metalle, 5. zwei Städte in Frankreich, 6. zwei weibliche Vornämen, 7. zwei Städte in Griechenland, 8. zwei Nebenflüsse der Donau, 9. zwei Arten Hülsenfrüchte, 10. zwei deutsche Dichter, 11. zwei Städte in der Rheinprovinz. A. St.     


Wechselrätsel.

Einstens hab’ ich mit g als Herrscher mächtig gewaltet,
Mit verdoppeltem g laufe noch jetzt ich umher.
  F. Müller-Saalfeld.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 8.

Stube, Stufe, Stute.

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 8.

Hacke, Harke.

Auflösung des Rösselsprung-Rebus auf dem Umschlag von Halbheft 8.

Bewahre dir den heitern Mut,
Er macht so manches Schlimme gut.

Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 8.

Zu Anfang des Spiels hatten die vier Spieler der Reihe nach 32, 40, 42 und 54, zu Ende aber 6, 30, 24 und 42 Augen aus ihren Steinen.

C behielt:

D behielt:

Der Gang der Partie war: I. A 0/5, B 5/1, C 1/6, D 6/4; II. A 4/0, B –, C 0/0, D 0/2; III. A 2/5, B –, C 5/6, D –; IV. A 6/0, B –, C –, D –; V. A 0/3, B 3/1, C –, D –; VI. A 1/0 (=66).




[ Auf der unteren Hälfte der Seite nur Verlags- und Geschäftsanzeigen.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Vor etwa drei Jahren haben wir unseren Lesern mitgeteilt, daß Herr K. v. Rengarten den Plan gefaßt habe, den Erdkreis zu Fuß zu durchwandern, und daß er uns von Zeit zu Zeit Berichte über seine Erlebnisse senden werde. Zwei Beiträge aus der Feder des rüstigen Fußwanderers sind im Jahrgang 1895, S. 304 und S. 754, erschienen, heute lassen wir ihnen einen dritten folgen. Herr v. Rengarten hat bereits den größten Teil seiner Aufgabe gelöst; von seinem Wohnort Riga ist er nach dem Kaukasus gewandert und hat von dort das asiatische Festland durchquert; nachdem er Japan besucht hatte, schiffte er sich nach Amerika ein und trat von San Francisko aus seine Wanderung zu Fuß durch die Neue Welt an. Im Februar d. J. schrieb er uns aus Chicago, daß er bis dahin 21087 km zu Fuß zurückgelegt habe und in New York sich nach Europa einzuschiffen gedenke, um dann seine Fußreise nach Riga fortzusetzen. D. Red. 
  2. Vgl. Posdnejews Werk über Lamaïtische Klöster (in russischer Sprache).
  3. Dergleichen Befehle stehen nicht vereinzelt da. Auch in späteren Kriegszeiten pflegten die württembergischen Herzoge den Befehlshabern auf Hohentwiel solche Geheimbefehle zu erteilen. Noch im Jahre 1799 ließ der Herzog und nachmalige König Friedrich einen solchen an den Vicekommandanten v. Wolff ergehen.