Die Gartenlaube (1898)/Heft 10

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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10. Heft. Preis 10 cents. 18. Mai 1898.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0292.jpg

Max Well & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach
  (3. Fortsetzung)
293
Die Wiederbelebung der Kunsthandweberei in Nordschleswig 299
Die Veteranen der Paulskirche. Zum Jubiläum der Eröffnung des Frankfurter Parlaments.
 Von Johannes Proelß. Mit Abbildungen
300
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (9. Fortsetzung) 304
Eine Wanderung durch das Berliner Reichspostmuseum. Von Gustav Klitscher.
  Mit Abbildungen von E. Thiel
313
Schmerzlose Operationen bei erhaltenem Bewußtsein. Von Dr. J. Herm. Baas 316
Die Feuerprobe. Von M. Hagenau. Mit Abbildung 319

Blätter und Blüten: Gustav Unkart †. (Mit Bildnis.) S.322. – Unter Blüten. Gedicht. (Zu dem Bilde S. 297.) S. 323. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde in Geisenheim. (Mit Abbildung.) S. 323. – Woraus besteht der Mensch? S. 323. – Maienblasen in Innsbruck. Von J. C. Platter. (Zu dem Bilde S. 293.) S. 323. – Verbrauch von Bodenbestandteilen durch die Pflanzen. S. 323. – Die Pfingstlichteln in Berchtesgaden. (Mit Abbildung.) S. 324. – Mörtel der ägyptischen Pyramiden. S. 324. – Am Hochsitz. (Zu dem Bilde S. 317.) S. 324. – Passionata. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 324.

Illustrationen: Das Maienblasen auf dem Stadtturm in Innsbruck. Von Fritz Bergen. S. 293. – Unter Blüten. Von C. G. Anderson. S. 297. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Veteranen der Paulskirche“. Eine Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Von Vantadour. S. 301. Die noch lebenden Mitglieder des Frankfurter Parlaments. S. 305. – Ein Ueberfall. Von A. Roeseler. S. 309. – Abbildungen zu dem Artikel „Eine Wanderung durch das Berliner Reichspostmuseum“. Von E. Thiel. Post im Norden und Süden Rußlands. Chinesischer Postreiter. Indischer Eilpostbote mit Schwimmapparat. S. 313. Post im Kaukasus. Statuette eines Baseler Briefboten. Dänischer Kugelpostwagen. S. 314. Postbote in den Kordilleren. Japanischer Postbote, einen Briefkasten leerend. Kursächsischer Hof- und Reisewagen. Das Geburtshaus Heinrich Stephans zu Stolp i. Pommern. S. 315. Das Telephon in seiner ersten Gestalt. Der erste Morse-Apparat vom Jahre 1837. S. 316. – Am Hochsitz. Von A. Richter. S. 317. – Kunigunde, die Gemahlin Kaiser Heinrichs II, wird der Feuerprobe unterworfen. Von K. Weigand. S. 320 und 321. – Gustav Unkart. S. 323. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde in Geisenheim. S. 323. – Die Pfingstlichteln in Berchtesgaden. Von F. Bergen. S. 324.

Hierzu Kunstbeilage X:0 „Passionata“.0 Von M. Nonnenbruch.




Kleine Mitteilungen.

Artesische Brunnen als Kraftquellen. Die Amerikaner, welche die freien Naturkräfte geschickt für die Zwecke der Technik auszunutzen verstehen, haben seit längerer Zeit sich auch des Wasserdrucks, mit dem viele artesische Brunnen ihren Inhalt ausspritzen, zum Antrieb von Turbinen bedient. Bekanntlich kann man an vielen Stellen der Erde durch mehr oder weniger tiefe Bohrungen Quellen erschließen, deren Ursprung so hoch in benachbarten Hügel- oder Bergketten liegt, daß ihr eigener Druck das Wasser befähigt, nicht nur bis an den Rand des Brunnens, sondern noch weit darüber hinaus zu steigen. Es ist oft vorgekommen, daß solche Brunnen, sobald die Bohrung bis zur wasserführenden Schicht vordrang, mit solcher Gewalt zu Tage traten, daß sie Bohrwerkzeuge, Gestänge und Röhren aus dem Bohrloch herausschleuderten und seitdem jahrelang denselben mächtigen Wasserstrahl weit über das Niveau des Bodens emporheben. Der artesische Brunnen von Grenelle bei Paris liefert seit sechzig Jahren eine Wassermenge von vierhundert bis sechshundert Litern in der Minute, welche in einem Rohre zehn Meter über den Boden emporsteigt. Daß solche zum Teil unter starkem Druck hervorbrechende Wassermassen sich sehr gut zum Betriebe von Turbinen verwenden lassen, wenn man sie durch geeignete Röhren faßt, liegt auf der Hand. So wird schon seit längerer Zeit ein artesischer Brunnen in Süd-Dakota, dessen Wasser mit sechs Atmosphären Druck zu Tage tritt, durch Peltonturbinen ausgebeutet, um eine große Getreidemühle zu treiben. Der Erfolg machte diese neue Art des Ersatzes für die Dampfkraft in jener körn- und mühlenreichen Gegend schnell beliebt, und bald war in Dakota eine ganze Menge artesischer Brunnen für den Turbinenbetrieb gebohrt worden. Wie bedeutend die auf diese Weise zu erzielenden Kräfte sind, zeigt eine bei Plankton erbohrte Quelle, die eine hundertfünfzigpferdige Turbine in Bewegung setzt. Da diese Ausnutzung der artesischen Brunnen deren Wassermenge weder verringert noch für Bewässerungs-und andere Zwecke unbrauchbar macht, so kann man ihr unschwer eine bedeutende Zukunft voraussagen. Bw.     

Wann wurde die Steinkohle entdeckt und zuerst nutzbar gemacht? Ueber den Zeitpunkt, an dem dies geschah, herrschten bis vor kurzem sehr verschiedene Ansichten. Nach den eingehenden Durchforschungen der Archive in den an Steinkohle so reichen belgischen Provinzen Lüttich und Hennegau geschah dies dort gegen Ende des 12. Jahrhunderts, etwa im Jahre 1195. Im Jahre 1329 wurde in Frankreich zum erstenmal die Steinkohle bergmännisch gewonnen, die Steinkohlenzeche, wo dies geschah, hieß Roche la Molière. Viel später begann dagegen in Norddeutschland der regelmäßige Steinkohlenbergbau, nämlich erst um 1500 herum. Die Belgier beabsichtigen, in diesem Jahre das siebenhundertjährige Jubiläum der Entdeckung der Steinkohle zu feiern.

Der kriechende Gummibaum. Außer dem gewöhnlichen Gummibaum, Ficus elastica, giebt es noch andere Sorten, doch sind sie alle nicht so schön. Der bekannteste ist der kriechende Gummibaum (Ficus repens), dessen dünne Zweige das Bedürfnis haben, sich zu stützen, und sich infolgedessen, sobald sie die nötige feuchte Luft finden, überall mit ihren Luftwurzeln festklammern und Bäume, Mauern etc. wie unser Epheu überziehen. Wir können diesen Gummibaum so im Warmhause an feuchter Wand verwenden. Im Zimmer dient er als Ampel- oder Hängepflanze und erfüllt als solche ihren Zweck sehr gut, weil die kleinen harten Blätter widerstandsfähig sind.

Die Linde macht sich als Straßen- und Alleebaum häufig dadurch unangenehm bemerkbar, daß die Blätter schon im Hochsommer gelb werden und nach und nach abfallen. Dieser Uebelstand wird durch eine kleine Milbe, das in Gärtnerkreisen als rote Spinne bekannte Insekt, hervorgerufen, welches die Linden in zahllosen Mengen bewohnt und ihnen das Grün des Blattes wegsaugt. Es leiden mehr oder weniger alle Linden von diesem Insekt, das infolge seines massenhaften Auftretens schwer zu vertilgen ist. Immerhin brauchen wir deswegen nicht auf eine Pflanzung von Linden Verzicht zu leisten. Es darf nur nicht die fast überall vorhandene kleinblätterige Linde, Tilia vulgaris, oder die großblätterige Linde, Tilia platyphylla, angepflanzt werden, sondern statt dieser beiden Tilia euchlora oder dasystila. Diese Linde hat ein prächtiges, glänzend dunkelgrünes Laub und bleibt auch in dem Rauch und Staub der Städte bis tief in den Herbst hinein grün. Tilia euchlora wird in neuerer Zeit dieser Eigenschaften wegen auch in den Baumschulen viel vermehrt und ist schon fast überall käuflich. Allen Linden, welche inmitten oder in der Nähe harten Pflasters stehen, ist es sehr dienlich, wenn ihnen nach langer Dürre durch Anwendung von Locheisen Wasser in die Tiefe gebracht wird, damit sie dem Sonnenbrand besser Widerstand leisten können.

Waldmeister im Garten. So aromatisch wie im Walde können wir den Waldmeister im Garten nicht ziehen, weil er hier infolge des besseren Bodens seine Hauptkraft in die Ueppigkeit der Triebe legt. Immerhin lohnt es sich aber sehr, dem Waldmeister ein kleines Plätzchen im Garten anzuweisen – in der Nähe von Gebüsch, unter einem Baum, an einer Hecke etc. – wo der Boden an und für sich nicht so kräftig ist und wo wir durch Liegenlassen des Laubes Verhältnisse, wie sie der Waldmeister liebt, schaffen. Das Anpflanzen des Waldmeisters macht keine Schwierigkeit. Einige Wurzeln aus dem Walde geholt wachsen schnell an; vom Handelsgärtner kann man häufig auch Waldmeister kaufen. Nach der Pflanzung muß öfter gegossen werden; später kann man den Waldmeister sich selbst überlassen und braucht nur dafür zu sorgen, daß er im Herbste ordentlich mit Laub zugedeckt wird. Das Laub soll nicht zum Schutze dienen, sondern zur Vermehrung des Aromas. Es darf auch im Frühjahr nicht fortgenommen werden, denn die Erfahrung hat gelehrt, daß der Waldmeister immer der aromatischste ist, welcher aus den dürren Blättern des Waldbodens hervorwächst.

Eine Tasche, um das nasse Schwimmkleid vom Bad heimzubringen, stellt man praktisch folgendermaßen her: ein Stück Cretonne von nicht zu empfindlicher Farbe, etwa 80 cm Länge und 25 bis 30 cm Breite wird mit leichtem Wachstuch gefüttert und am einen Ende zu einem Sack für das Schwimmkleid von etwa 20 cm Tiefe umgeschlagen und festgenäht. Am anderen Ende steppt man eine schmale Tasche für Kamm und Haarnadeln etc. auf, das Handtuch kommt dazwischen zu liegen; eine übertretende Klappe mit Bindebändern besorgt den Verschluß, schmales farbiges Band verziert die Ränder.

Ein gestrickter Unterrock ist trotz aller Fortschritte der Maschinentechnik eine sehr angenehme Winterhülle, er läßt sich auch in den langen Sommertagen, wo man arbeitend im Freien sitzt, aufs bequemste anfertigen, wenn man ihn nicht im ganzen, sondern in Streifen arbeitet. Langjährige Erfahrung hat folgendes Rezept als preiswürdig ergeben: Von dünner Rockwolle nimmt man etwas mehr Grau als Weiß, im ganzen nahezu ein Pfund. Hierauf strickt man mit zwei hölzernen Nadeln von der grauen Wolle immer rechts (so daß es durch das Umwenden Rippen giebt), sieben Streifen von 54 cm Länge und 18 cm Breite. Um diese zusammenzufügen, braucht es sieben schmale Streifen. Sie werden aus der weißen Wolle mit einer mittelstarken Beinhäkelnadel im tunesischen Stich 5 cm breit gearbeitet und, ebenso wie die grauen Streifen, nach Bedürfnis durch Abnehmen im obersten Drittel etwas verengert, so daß der Rock später einem runden Bund faltenlos angesetzt werden kann. Die Rockstreifen werden dann mit starker weißer Rockwolle auf der rechten Seite mit Kettenmaschen aneinandergehäkelt und zum Rock vereinigt. Zum Volant, der den Abschluß nach unten macht, schlägt man mit tunesischem Stich dreißig Maschen auf und häkelt, immer am unteren Ende eine Masche aufnehmend und am oberen eine abnehmend, je vier Reihen grau und vier weiß, so daß ein schräggestreifter Volant entsteht, der die Rockweite erreichen muß. Angesetzt wird dieser dann durch eine 3 cm breite feste weiße Kettenstichborte. Nach unten schließt man ihn durch eine weiße Stäbchentour und graue Bogenspitze ab. Die Kosten der Wolle betragen nicht mehr als für einen maschinengestrickten Rock, der selbstgearbeitete ist aber ungleich dauerhafter und wärmer.

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Copyright 1896 by Franz Hanfstaengl in München.

PASSIONATA
Nach dem Gemälde von M. Nonnenbruch

[Die] Gartenlaube 1898. 0Kunstbeilage 10

[293]

Halbheft 10.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Das Maienblasen auf dem Stadtturm in Innsbruck.
Nach einer Skizze von F. Menter gezeichnet von Fritz Bergen.

Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

 (3. Fortsetzung.)

Das hellgetünchte riesige Zimmer, das der Erzieher in der Nähe seiner Zöglinge bewohnte, war äußerst einfach eingerichtet. Zufällig schienen die kleinsten Möbel sich in den größten Raum verirrt zu haben. Unter anderm stand da ein altmodisches, mit schwarzem Leder überzogenes Etablissement und nahm sich in dem reitschulartigen Gelaß wie eine Fliegenfamilie aus.

Heideschmied zündete eine Kerze an, stellte sie auf den Tisch und ließ sich auf das untere Ende des Ruhebettes nieder.

Joseph bereute schon, daß er gekommen war. – Der wird noch übermütig, der! Bildet sich noch ein, daß man sein Hund ist und gelaufen kommt, wenn er ruft.

„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ sagte Heideschmied.

„Nein.“

„Nach Belieben. Sie werden aber lang’ stehen müssen, denn ich habe Sie zu einer Unterredung geladen, die nicht so bald zu Ende sein wird.“

„Wenn es sich um eine Explikation handelt, muß ich Ihnen gestehen, daß ich die nicht liebe.“

„Auch ich nicht,“ sprach Heideschmied mit seiner leisen, friedfertigen Stimme, „sie sind überflüssig zwischen Menschen, die einander verstehen, und zwischen Menschen, die einander nicht verstehen, zwecklos. Aber es giebt zwingende Notwendigkeiten. Man wagt manchmal einen verzweifelten Versuch. Einen solchen will ich – bitte, lassen Sie mich ausreden! – will ich unternehmen. Bitte!“ wiederholte er sanft, da Joseph ihm abermals ins Wort fallen wollte.

„Ohne Einleitung! ich werde Sie nicht langweilen, ich komme gleich auf den Hauptpunkt. Sie verachten mich, Joseph, weil ich um Geld diene. Nun, wer ist schuld, daß ich einem höheren Zweck nicht dienen kann? Aber, lassen wir das jetzt … Wir befinden uns im Kampfe. Sie wollen mich aus dem Hause hinausfoltern, ich will mich drin behaupten. Sie denken: wir werden sehen, wer der Stärkere ist. Ich weiß, daß ich es bin. Meine Schultern vermögen mehr zu tragen, als Sie ihnen aufzubürden vermögen.“

„Oho,“ sagte Joseph.

„Diese Stärke verdanke ich der Uebung im Kampfe und dem einen, von dem ich wünsche, daß Sie es nicht zu früh kennenlernen – dem Leiden.“

Joseph fuhr auf: „Jeder Mensch hat seine Leiden. Was wissen Sie von dem, was in mir vorgeht?“

„Vielleicht kann ich es mir denken,“ erwiderte Heideschmied. „Ihre Leiden sind aber anderer Art, als die meinen waren.“ Er lächelte trotz der Schmerzen, die seine Lippe ihm dabei verursachte. „Sie haben Beobachtungsgabe und kennen so ungefähr etwas vom Elend Ihrer Landbevölkerung …“

„Ungefähr etwas,“ wiederholte Joseph mit hochmütigem Achselzucken.

Nur das, denn ernstlich – was Männer ernstlich nennen –

[294] kümmern Sie sich nicht darum. So arg es aber auch sein mag, das Elend in den niederen Schichten der Stadtbevölkerung ist ärger, weil es Thür an Thür, oft sogar Ellbogen an Ellbogen mit dem Auswurf wohnt. In diesem Elend bin ich vor fünfundfünfzig Jahren geboren worden.“

Unwillkürlich wich Joseph zurück: „Deshalb also“ … Er vollendete nicht, es war überflüssig; Heideschmied hatte ihn schon verstanden.

„Deshalb, meinen Sie, Ihre instinktive Abneigung gegen mich, und thun sich was zu gute auf Ihren Instinkt. Nun, auch ich durfte mich auf den meinen verlassen. Mit kaum erschlossenen Augen sah ich mehr des Schlechten, als Sie sich träumen lassen können, Joseph … und Beispiele wurden mir gegeben – ein für dergleichen nur halbwegs empfänglicher Boden, und überwuchert wäre er gewesen vom Unkraut des Lasters. Ich blieb verschont, dank meinem Instinkt und einem andern guten Ding – Ekel vor dem Niedrigen. Nicht viele von uns waren damit begnadet. Das Elend hat eines mit der thätigen Barmherzigkeit gemeinsam, es kennt den Ekel nicht. Mich hat er vor manchem bewahrt, wovor meine Eltern mich nicht hätten bewahren können. Wie sollten sie? Sie arbeiteten tags über, der Vater in der, die Mutter in jener Fabrik; er warf sich erschöpft hin, wenn er heimkam, und schlief. Er hatte unterwegs schon gegessen.“

Und getrunken, dachte Joseph.

„Die Mutter fütterte uns, besorgte die Kleinen und wachte dann noch einen Teil der Nacht, nähte, flickte. Ich leistete ihr Gesellschaft. Mir als dem Aeltesten kam es zu, mich nützlich zu machen; ich verfertigte kleine Windmühlen und bunte Kreisel und eröffnete ein Geschäft. Ja – staunen Sie! Ein Kompagnon trug meine Waren aus, während ich mich in der Schule befand oder zu Hause die Kleinen hütete.

Im Anfang ging das Geschäft gut, dann kam es ins Stocken, vielleicht war der Kompagnon nicht sehr reell. Meine Mutter kränkelte, wurde immer schwächer, wurde entlassen. Nun übernahm sie es, unsere Waren auszutragen, sie schleppte noch den schweren Korb – ich machte jetzt außer Spielzeug auch Sachen für den Hausgebrauch, Bürsten und dergleichen – als sie sich selbst kaum mehr schleppen konnte … Aber die vielen Kinder, die warteten, die essen wollten … die vielen Kinder und nur zwei Erwerbende …“

„Drei, mein’ ich doch,“ unterbrach ihn Joseph, „es war doch auch Ihr Vater da.“

Heideschmied schien plötzlich befangen: „Der Vater – ja … o, er war ein Erwerbender, aber mehr sporadisch.“

Eine kleine Pause entstand.

„Summa Summarum, ich hatte allerlei Mühsal in meiner Kindheit,“ fuhr Heideschmied nachdenklich fort. „Mein höchstes Bestreben aber war: die Schule nicht versäumen, nur lernen. Wenn ich etwas gelernt haben werde, wird alles gut, und alle die Meinen werden versorgt sein.“ Wieso? wußte ich freilich nicht, ich glaubte es und war stark durch diesen Glauben … Lauter Gnaden … Wenn ich den Glauben nicht gehabt hätte, was würde ich angefangen haben während des langen Siechtums meiner Mutter, das ihrem Tode voranging? Und nachher … als die Güte und Hilfsbereitheit eines edlen Menschen mir zum Unheil ausschlug? – Einer meiner Professoren hatte mich lieb gewonnen, sich über meine häuslichen Verhältnisse unterrichten lassen und war unser Wohlthäter geworden. Der Vater erhielt durch seine Vermittelung eine gut besoldete Stelle. Leider war sie auch eine verantwortliche und setzte ihn mancher Versuchung aus. Er bestand sie nicht. Da triumphierte der Neid der vielen, die sich einer Bevorzugung – wohl mit Recht – würdiger gefühlt hatten, und wir waren niedergebrochen und sollten nicht mehr aufkommen. Der Neid und in seinem Gefolge die Verleumdung sorgten dafür. Bis dahin meinte ich nur, gekämpft zu haben, mein wahrer Kampf begann erst jetzt. Man muß unter der Last der schlechten Meinung geseufzt haben, um die dunkle Seite des Lebens und seine Grausamkeit zu kennen. Ich sage absichtlich ‚des Lebens‘ und nicht ‚der Menschen‘. Den Menschen im allgemeinen und gar im besonderen geschieht unrecht, wenn wir sie für die Urheber unseres Schicksals halten, sie sind nur sein Motor. Ich ahnte das damals schon und haßte die Nachbarn nicht, die mir ‚Diebssohn!‘ nachriefen, und auch nicht die Schulkameraden, die sich die Taschen zuhielten, wenn ich ihnen in die Nähe kam.

Uebrigens hatte ich eine Stütze an meinem alten Gönner, der nicht aufhörte, sich meiner anzunehmen, mir Lektionen und Stipendien verschaffte und nicht fragte, wohin denn mein Geld kam, wenn ich wieder in defekter Kleidung vor ihm erschien. Mein armer Vater hatte oft versucht, sich aus seinem Elend aufzuraffen, sank aber immer und jedesmal tiefer, bis er sich endlich nicht mehr erhob … Von den Kindern starben einige weg, einige konnt’ ich versorgen. Sie leben und verdienen ihr Brot. Eine ist mir verloren gegangen, eine Schwester. Das Ringen mit der Not wurde ihr zu schwer, und der Anblick unseres armen Vaters erbitterte sie. Sie war jung, sie war schön … ‚Damit läßt sich Reichtum und Wohlleben gewinnen,‘ bekam sie öfter zu hören als ihr gut war, und wenn ich ihr Vorstellungen machte, sagte sie: ‚Laß mich, zu Ehren bringst du uns doch nimmer‘ ... Einmal kam ich heim und fand sie nicht … Die Tage, an denen ich sie suchen ging, ihr nachspürte wie ein Hund, Verzweiflung im Herzen, das waren böse Tage … Sie können mich nicht ganz verstehen, Joseph, aber Sie lieben Ihre Geschwister, vorstellen können Sie sich, wie mir zumut gewesen ist, als ich damals meine Schwester …“

Die Stimme Heideschmieds wurde immer leiser und verschleierter und verlosch völlig bei den letzten Worten.

„Ich verstehe alles,“ sprach Joseph selbstbewußt. „Ich bin kein Kind mehr.“ Er vermied den Alten anzusehen, setzte sich und sagte: „Und dann?“




„Und dann?“ Er warf einen dankbaren Blick auf den Jüngling: „Dann machte ich die Erfahrung, daß man ganz ordentlich gelernt und die Seinen dadurch doch nicht erlöst haben kann. Und dann kam das Freiwilligenjahr, diese bittere Prüfungszeit des Mittellosen, und die Heimkehr, bei der ich alles noch schlimmer fand, als ich ohnedies gefürchtet hatte. Endlich der Tod meines Vaters und das Wiedererwachen des alten Grolls gegen uns. Weil … man muß auch für die moralischen Begriffe der Armen und Elenden schonendes Verständnis haben – weil nach ihrer Meinung unsere Schwester ein Glück gemacht hatte. Das käme uns zu gute, waren sie überzeugt. Und auch diese Schmach stählte mich, und statt unter ihr zu erliegen, bäumte ich mich auf und dachte: Ich werd’ euch schon zeigen!“ …

Der Alte blinzelte Joseph mit einem fast schelmischen Ausdruck an, der seine verwitterten Züge plötzlich erhellte: „Wie ich mir jetzt Ihnen und Ihren Brüdern gegenüber fortwährend denke: Ich werd’ Euch schon zeigen! – Nun also! – Ich will Sie mit Details nicht langweilen, nur sagen … es klingt hoffärtig, ist aber nicht so empfunden: Das Leben hat für den aufwärts Strebenden, der noch andre mit sich ziehen möchte, keine Klippe und keinen Dornstrauch, an dem nicht etwas von meiner Haut und etwas von meinem Blut hängen geblieben wäre. …

Ich stand in mehr als reifen Jahren, als mir die Stelle eines Erziehers in einem guten Hause angeboten wurde. Das Haus gut, o ja! sogar vortrefflich – die Kinder schwierig.“

„Wie bei uns?“

„Aerger. Sie und Ihre Brüder sind gegen mich nicht liebenswürdig, Sie können es aber gegen andre sein. Das konnten meine früheren Zöglinge nicht. Sie waren aus altadeligem Geschlecht, aber“ – er beugte sich über den Tisch und flüsterte Joseph geheimnisvoll zu: „gemeine Seelen. ‚Nicht drei Wochen,‘ prophezeite mir mein Vorgänger, ‚halten Sie es dort aus.‘ Ich blieb zwölf Jahre und habe wieder für eine Gnade zu danken. Die Existenz in diesem Hause war schlecht, aber mein Glück hab’ ich in ihm gefunden.

Gerade um die Zeit, in der mein Mut zu sinken begann und ich oft dachte: Es ist genug, lieber Karrenschieber sein! kam mir Trost in Gestalt einer Leidensgefährtin. Die Schwestern meiner Zöglinge erhielten eine Gouvernante, eine Französin, Mademoiselle Eugénie Villette. Fein, verständig, wacker. Sie hatte es um kein Haar besser als ich und klagte nie. Vier Jahre liebte ich sie im stillen, vier Jahre war sie meine Braut. Dann hatten wir unsre Aufgabe gelöst; ich trat in den Genuß meiner Pension, Eugénie besaß kleine Ersparnisse, wir konnten heiraten.“

[295] „Verheiratet sind Sie auch?“ rief Joseph mit ernstem Bedauern.

„Gott sei Lob und Dank! Glücklich verheiratet, durch die heiligste Pflicht unauflöslich mit dem Liebsten, das man hat, verbunden …“

„Schön verbunden! …. Sie sind ja weggegangen von Ihrer Frau.“

„Nicht gern. Aber – was sein muß, muß sein. Ein so einfaches Wort! und enthält die Fülle der Weisheit und macht stark … Meine Frau schenkte mir ein Kindchen und mit ihm ein neues, fremdartiges Glück. Die Kinder, die ich viele Jahre hindurch leitete, sahen in mir ihren Feind und haßten mich. Dieses kleine Geschöpf liebte mich. Ich war ganz erstaunt, wenn es bei meinem wahrlich nicht anmutigen Anblick lächelte, mir die Arme entgegenstreckte, wie damals Elika auf dem Turnplatz … ihr sah unser Kindlein ähnlich … ich wage kaum es auszusprechen, das Kind des Alters und der Dürftigkeit dem Kind eines blühenden Elternpaares …“

„Es ist gestorben,“ fiel Joseph ein, – „hat Elika ähnlich gesehn und ist gestorben …“

„Ganz jäh, ganz unerwartet. Der Arzt sagte, ihn überrasche es nicht. Wir hatten unsre kleine Milli für gesund gehalten und von einem sorgenfreieren Leben, als das unsre war, für sie geträumt. – Bald nachdem sie uns genommen wurde, klopfte eine alte Bekannte wieder bei uns an – die Armut. Die Familie, der wir unsre Dienste gewidmet hatten, erlitt große Verluste, alle Zahlungen wurden eingestellt. Ich konnte mich schwer entschließen, es meiner Frau mitzuteilen, und erschrak über die Kaltblütigkeit, mit der sie die Nachricht aufnahm.

‚Sollen wir wieder von vorn anfangen?‘ sagte sie, ‚wir waren am Ziel angelangt und sind müde Leute.‘

Ich verstand sie, wußte aber auch, daß meine tapfere Frau die schwächliche Regung, die ihr da gekommen war, in der nächsten Stunde bereuen würde.

So stellte ich ihr vor, daß das, was wir für ein Ziel gehalten hatten, nur eine Etappe gewesen war, auf der ein barmherziges Schicksal uns gegönnt hatte, zu rasten, bevor wir unsre Wanderung fortsetzten. Sie fügte sich. Die Erlaubnis, mich Herrn von Kosel vorzustellen, traf ein. Wir gingen vor meiner Abreise noch einmal an das Grab unseres Kindes, versprachen einander dort, daß wir ausharren wollen in unserm Kampf um eine bescheidene Häuslichkeit, und nahmen Abschied.“

Heideschmied richtete die kleinen, matten und doch scharfsichtigen Augen mit festem Blick auf Joseph: „Glauben Sie noch, daß Sie mich hindern werden, diesen Kampf zu bestehen?“

Joseph brummte etwas Unverständliches.

„Sie glauben es nicht. Sie wissen jetzt, daß Sie einem Gepanzerten gegenüberstehen. Ich bin nicht zu besiegen, weil meine Zuversicht unbesiegbar ist, daß alles noch gut werden muß. Ich halte aus, und meine liebe, brave Frau hat ihre Thätigkeit auch wieder aufgenommen.“

„Was thut sie?“

„Sie giebt Lektionen. War so glücklich, schon zwei zu finden. Dreimal wöchentlich jede, und die eine wird mit einem Mittagsessen, die andre mit einem Nachmittagskaffee honoriert. Es hat sich gefügt, daß beide auf denselben Tag fallen. Das macht wohl meinen Mangel an Appetit erklärlich, den Ihre verehrten und gütigen Tanten oft beklagen. Ich kann nicht essen am Hungertag meiner Frau.“

„Schicken Sie ihr denn nichts?“ fragte Joseph und der Alte erwiderte ausweichend, er habe noch nicht Gelegenheit dazu gehabt.

„Wie kann das sein … Haben Sie denn noch nichts … noch keinen …“ Er kam nicht weiter. Das Wort „Lohn“ wollte er nicht aussprechen und ein andres fiel ihm nicht gleich ein. Dagegen besann er sich, noch nicht die kleinste Münze in den Händen Heideschmieds gesehen zu haben, und besann sich auch der Klagen einiger Hausleute über die Unpünktlichst, mit der ihre Gehalte ausbezahlt wurden. – Herr v. Kosel sei gar so zerstreut. – – –

„Der Papa ist so zerstreut,“ sagte er laut, „man muß den Papa mahnen – haben Sie ihn nicht gemahnt?“

„Doch, doch! … mit schuldiger Rücksicht. Zudringlichkeit liegt außerhalb meiner Machtsphäre. Auch giebt es oder könnte doch Häuser geben, in denen der Erzieher ein Jahresgehalt bezieht …“

„Ach nein – ach, der Papa!“ Die Röte brennender Scham stieg Joseph ins Gesicht. „Man muß ihn mahnen,“ wiederholte er, und nun geriet der Hofmeister in Bestürzung:

„Lassen Sie das, ich bitte Sie! Ich komme zu dem Meinigen, bin ganz unbesorgt … Wenn ich noch nichts erhalten habe, habe ich auch noch nichts verdient. Noch keinen Erfolg zu verzeichnen, doch bleibt er nicht aus … Wenn alles so sicher wäre! Sie kommen mir vor, Joseph, wie ein edles Instrument, das bisher nur Mißtöne von sich gab, weil meine ungelenke Hand nicht versteht, es zu behandeln. Trifft sie’s aber einmal, schlägt sie die richtige Taste an – ich weiß, dann giebt es einen schönen Klang.“ Er stand auf und Joseph folgte seinem Beispiel.

„Gute Nacht, Joseph.“

„Gute Nacht, Herr Heideschmied.“ Ein letztes Widerstreben gegen ein warmes, liebevolles Gefühl, dann ein völliges Unterliegen. Er stürzte auf Heideschmied zu und fiel ihm um den Hals.

„Sie sind ein nobler alter Mensch!“ sagte er, wendete sich und ging mit großen nachdrücklichen Schritten aus dem Zimmer.

Noch nicht zur Ruh, noch nicht zu diesen Kindern – den Brüdern. In den Garten, in die kalte Novembernacht!

Die freie Luft blies sehr bald kühlend über seine spontane Begeisterung hinweg.

Joseph mußte sich schadlos halten für die Weichheit, die ihn einen Augenblick überkommen hatte, und vertraute den entlaubten Bäumen, den grauen Wolken und den matt glitzernden Sternen:

– „Nicht mahnen … ein alter Esel ist er doch!“




Das war ein stolzer Tag, an dem Leopold entdeckte, daß Elika lesen könne. Fast ganz allein hatte sie es gelernt mit Hilfe des alten, außer Gebrauch gesetzten Lesespiels ihres Bruders Franz. Ueberraschend schnell drang sie auch in die Geheimnisse der Schreibkunst ein, und man kam um einen Genuß, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Es war ergötzlich gewesen, sie zu sehen: an ihrem Tischlein sitzend, das liniierte Blatt vor sich, die Fingerchen so fest um den Federstiel gekrallt, daß ihre zarten Gelenke ganz weiß wurden, formte sie sorgsam und mühevoll große A mit dicken Bäuchen und eckige O und schraubenförmige I. Aber das war nur der erste Anfang, und bald erklärte Heideschmied, sie mache Fortsprünge, nicht Fortschritte. Wenn ihre Brüder zu ihr sagten: „Warum plagt sie sich? Sie muß ja nicht, sie braucht ja nicht,“ erwiderte sie: „Aber ich will!“

„Und warum will sie?“

Ja, das sagte sie nicht, das mochten die Brüder nur erraten!

Sie rieten und rieten und errieten es nicht, und erst als ihre allzu straff gespannte Neugier nachzulassen drohte, wurde sie befriedigt.

Elika lernte schreiben, damit sie ihnen Briefe schicken könne.

Sie lachten: „Uns will sie Briefe schicken? Ueber den Gang? Aus ihrem Zimmer in unseres?“

„O nein! von viel weiter her.“ Und jetzt nahm sie die kluge und wehmütige Miene an, die jeden rührte und entzückte: „Ihr werdet im Garten sein und an gar nichts denken und auf einmal werden zwei kleine goldene Wolken sich auseinanderschieben und drei Briefe werden herunter fallen. Ein rosenfarbiger, ein grüner und ein lichtblauer, und die werden für euch sein und ihr werdet gleich wissen von wem, und drin wird stehen, wie schön es im Himmel ist und wie gut es mir geht und alles.“

Da heimste sie für ihre liebreiche Absicht die größte Dankbarkeit ein. Joseph gab ihr einen Zärtlichkeitsklaps auf den Kopf, Franz hatte Thränen in den Augen und Leopold sagte, man müsse ihr wieder etwas schenken. Von all den Huldigungen war ihr der Klaps doch die liebste. Joseph stand ihrem Herzen am nächsten. Von ihm ließ sie sich nicht nur bedauern, sie bedauerte ihn wieder. Er lernte so schwer, unter so schrecklichen Qualen! und hatte schon heute vergessen, was ihm Heideschmied gestern mit Mühe eingetrichtert.

[296] „Vor allem müssen Sie das Lernen erlernen,“ sagte der Alte und gab ihm alle mögliche Anleitung und die besten Ratschläge und Elika bekräftigte:

„Ja, so mußt du’s machen.“ Sie blieb bei ihm als Polizei und als Trösterin und wenn er von seinem Buche aufblickte und durchs Fenster sah, hielt sie ihm ihre Hände vor die Augen, küßte ihn und flehte ihn an: „Ach, Joseph, schau’ nicht!“

Manchmal wurde er sogar gegen sie ungeduldig und stieß sie weg. Ach, brennend sehnte er sich ins Freie! Was verstand sie, ein Mädchen, eine arme Kleine, von dem, was in ihm vorging? Sie ahnte nicht, wie es ihn hinauszog, immer! immer! Zur Sommerszeit, wenn alles wächst und atmet, sich in wehender, würziger Luft, im sonnigen Lichte des Lebens freut, und in den Stürmen des Herbstes bei fallendem Laub, und im Winter, bei wirbelndem Schnee, immer! immer! Nie so sehr aber, als eben jetzt im rauhen, kernigen Vorfrühling seiner Heimat, der so herb scheint und so voll Wonne und Süße ist, so wenig verspricht und so viel hält … Ins Freie! Draußen im Freien, ob im Genuß der Natur, ob im Kampf mit ihr, war er ein König gewesen, im Gefühl seiner Jugend, seiner Kraft und Selbstherrlichkeit. Und jetzt fühlte er sich als Knecht im Frondienst, als Zugtier, eingespannt in ein verabscheutes Joch. Vor Büchern hockend, deren tote Buchstaben ihm nie und nie lebendig werden wollten!

Nein, sie konnte sich keinen Begriff von dem machen, was er litt, und sollte auch nicht! Er wollte sie ja davor bewahren, etwas Schreckliches kennenzulernen in ihrem kurzen Leben. Wenn sie ihn gar zu kummervoll ansah, auf seine gefurchte Stirn deutete und auf seine zusammengezogenen Brauen und traurig sagte: „Solche Falten! solche Falten!“, schlug er ein wildes Lachen auf.

„Am End’ auch graue Haare? Pfui! … Marsch und marsch und marsch!“ Und er schleuderte seine Bücher in die Ecken, gegen die Decke und das letzte auf den Boden und hüpfte mit einem Fuße so geschickt, so schnell, so unablässig drüber hin und her und lachte dazu so toll, daß die Kleine mitlachen mußte.

Sein Verhältnis zu Heideschmied hatte sich plötzlich geändert. Alle Hausleute bemerkten die Wandlung und freuten sich ihrer. Der gute, bescheidene Hofmeister, der einen so schweren Stand hatte mit den jungen Herren, war eine beim Hofstaate sehr beliebte Persönlichkeit und erfreute sich sogar der schwer zu erringenden Gunst Frau Apollonia Budiks. Die Tanten verehrten ihn geradezu und es war für sie ein schwerer Schlag, als Joseph ihnen, am Morgen nach seiner Unterredung mit dem Erzieher, seine Vermutung mitteilte, daß „der alte Heideschmied“ noch kein Honorar bekommen habe.

„Wär’s möglich? könnte Felix so etwas vergessen?“ fragte Renate, als Joseph das Zimmer verlassen hatte. Charlotte geriet gleich wieder in eines jener Extreme, in die sie so leicht verfiel, und erwiderte mit schmerzlicher Härte: „Du solltest lieber fragen: Wär’s möglich, daß er nicht vergessen hätte? Woran denkt denn der? … Aber wir, Renate, wir zwei, daß wir uns nicht gedacht haben, daß er an nichts denkt! Daß wir ihn nicht erinnert haben! Es ist eine Schande für uns, für die ganze Familie und läßt sich nie wegputzen! bleibt auf uns sitzen.“ Sie rang die Hände: „Diesem Manne gegenüber! dieser in Menschengestalt unter uns wandelnden Delikatesse! Heute noch wüßten wir nichts und hätten nie etwas davon erfahren, wenn Joseph nicht gescheiter als wir – es erraten hätte!“

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Mit flammenden Wangen erschien sie vor ihrem Neffen und fand ihn vertieft in eine Zeitungsanzeige. Ach diese Zeitungen! er verschlang nicht sie, er las ja wenig, sie verschlangen ihn. Alle acht Tage abonnierte er auf eine neue und gab die alten nie auf, ordnete sie, verwendete unendliche Zeit, um nach einer fehlenden oder auf einen ungewohnten Platz geratenen Nummer zu suchen.

„Ich störe dich,“ sagte die Tante mit einem Anflug von Ironie, „das macht aber nichts, denn es handelt sich um etwas Wichtiges.“

Er sah sie freundlich und ganz abwesend an und sprach: „Ich bitte dich, setz’ dich.“

Sie hatte Mühe, einen zeitungsfreien Sessel zu finden, aber endlich gelang’s und Kosel pflanzte sich vor sie hin, ein Postpaket mit amerikanischen Stempeln in der Hand.

„Es ist merkwürdig, was jetzt geleistet wird,“ begann er. „Das ist die ‚Union‘. In Washington erscheint sie und hat eine Viertelmillion Abonnenten. Eine Viertelmillion. Denk nur – das Papier!“

„Viel, erstaunlich viel Papier … Was ich dir sagen wollte, Lieber, du hast doch mit Heideschmied die Gehaltsangelegenheit besprochen? Bei seinem Eintritt ins Haus, nicht wahr? Hundert Gulden monatlich verlangte der Schuldirektor in seinem Namen. Wenig Geld für eine große Leistung: unsere drei Löwen bändigen und abrichten! Nun ist Heideschmied schon länger als ein halbes Jahr im Hause. Du entrichtest sein Honorar doch pünktlich, Lieber?“

Er schien aufmerksam zugehört zu haben, Charlotte war gerührt und bereute schon ihren entwürdigenden Verdacht.

Ihr Neffe blickte sie noch freundlicher an als früher und sagte: „Diese Papiermühlen in Amerika. Ja, was das für Mühlen sind, was die leisten! Wir könnten das nicht, wir sind weit zurück.“

Sie wurde gleich wieder böse. Er hatte ihr gar nicht zugehört, seine Gedanken waren in den amerikanischen Papiermühlen. „Weit zurück, jawohl! im Rückstand, das bist du, mit dem Honorar des guten Heideschmied, und das ist äußerst sträflich, es ist eine Pflichtvergessenheit –“ … Sie hielt inne, sie fürchtete, ihm weh gethan zu haben.

Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen und schien sie doch nicht zu sehen. Seine Miene hatte etwas Visionäres, von innen heraus Leuchtendes. Ein Forscher, dem eben die Lösung eines schwierigen Problems eingefallen ist, mag sich so ausnehmen. „Zurück, ja, weit zurück sind wir. Wir können es nicht herstellen. Das kommt vom Wasser.“

Charlotte entfloh. Sie wollte sich nicht über ihn ärgern. Er war schließlich doch sehr bedauernswert und hatte nichts als sein unfruchtbares Spintisieren. Man lasse ihn dabei, störe seine Kreise nicht.

„Heideschmied hat noch keinen Heller bekommen!“ rief sie, in den Sibyllenturm zurückgekehrt, ihrer Schwester zu, „und bekommt keinen, wenn er wartet, bis Felix es sich zum Bewußtsein bringt, daß man Hofmeister zu besolden pflegt. Da müssen wir eintreten, bestes Herz, müssen diesen Sprung in der Ehre des Hauses verkitten.“

„Aber wie, liebes Herz?“

Wenn die Schwestern sich in Bedrängnis befanden, gebrauchten sie gegeneinander zärtliche Ausdrücke.

„Ich glaube, so. Ich überreiche Heideschmied in Felix’ Namen die rückständige Besoldung und sage ihm: Mein Neffe übersendet Ihnen dieses erste Mal Ihr Honorar halbjährlich, wird es Ihnen aber von nun an monatlich zustellen lassen, wenn es Ihnen paßt?“

„Eine Lüge?“

„Eine Notlüge; dann – es geht nicht anders! – nimmst du Heideschmied in die Küchenrechnung.“

– „Charlotte, welcher Einfall! … Unmöglich. Soll ich ihn einschalten zwischen dem Fleischer und dem Gewürzkrämer, oder wo?“

„Das braucht nicht zu sein. Setz’ ihn obenan.“

So trat der mäßigste Mann im Hause an die Spitze der Küchenrechnung.

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Das Leben ging gleichmäßig hin. Zwei Jahre nachdem Heideschmied sein schwieriges Amt angetreten hatte, unternahm er ein Wagnis. Er fuhr mit seinen Zöglingen nach der Kreisstadt, wo Franz in der Volksschule aus der vierten, Joseph und Leopold auf dem Gymnasium aus der zweiten Klasse Prüfung ablegten, Franz und Leopold bestanden schlecht und recht. Joseph fiel durch.

Bald darauf wurde Familienrat gehalten und beschlossen, zum Beginn des nächsten Schuljahrs nach Wien zu ziehen. Herrn von Kosel würde einige Zerstreuung gut thun, den Knaben das Studieren in öffentlichen Schulen leichter und lieber sein als das Studieren zu Hause. Und für Elika, die in letzter Zeit um

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Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0297.jpg

Copyright 1897 by Franz Hanfstaengl in München.
Unter Blüten.
Nach dem Gemälde von C. G. Anderson.

[298] ein paar Deka ab- statt zugenommen hatte, wäre es gut, einige Monate unter den Augen einer ärztlichen Celebrität zu verbringen.

So zog die Familie nach Wien und blieb dort vollzählig bis zum Frühling. Länger hielt Kosel es in der Stadt nicht aus. Auf Elika waren die Augen der ärztlichen Celebrität ohne Wirkung geblieben. Sie kam ebenso blaß, schmal und zart heim, als sie abgereist war. Heideschmied und die Knaben blieben in Wien und trafen erst zur Ferienzeit im gelobten Lande Velice ein. Leopold hatte die dritte, Franz die erste Gymnasialklasse absolviert. Joseph war wieder durchgefallen. Der vierzehnjährige Mensch, der aussah wie ein siebzehnjähriger, der Prachtbursche, der einen so klaren Verstand hatte, und so vieles konnte und wußte, was sich nicht erlernen läßt, war nicht imstande, in seinen hellen Kopf hineinzubringen, was Tausende dummer Jungen von zwölf Jahren in ihren Schädeln beherbergen.

Eine gute Frucht trug die Wiener Expedition aber doch; die Familie machte die Bekanntschaft Frau Heideschmieds und das war ein wirklicher Gewinn. Die unansehnliche kleine Frau mit den müden Augen, der zierlichen Gestalt und den abgearbeiteten Händen gewann alle Herzen und wurde als zukünftige Erzieherin Elikas nach Velice mitgenommen.

Als Joseph dahin zurückkehrte und schon am ersten Tag nach Valahora eilte, fand er das alte Haus herrenlos. Bornholm hatte sich auch in diesem Jahre vergeblich erwarten lassen. Hingegen traf in einem anderen alten Schlößchen eine sehr liebe Nachbarin ein.


„Die drei V“, Velice, Valahora, Vrobek, liegen nahe beieinander an der breiten und gut erhaltenen Landstraße, die sich fast immer auf- oder absteigend zwischen Feldern, Obstgärten, Wiesen und Wäldchen meilenlang an den Ausläufern der Beskiden hinzieht. Das stattliche Schloß Velice weithin sichtbar im Bouquet seiner Gärten, rechts und weiter ab vom Verkehr das düstere Valahora, und kaum eine Viertelstunde davon entfernt das kleine Vrobek. Jetzt nicht mehr größer als ein Bauerngut, aber geziert mit einem köstlichen Wohnhaus im Zopfstil, einem Kleinod. Allerdings nur noch für den Antiquar; dem Unkundigen gar zu alt und verfallen. Den Besitzern hatten längst die Mittel gefehlt, das hübsche Bauwerk in gutem Stand zu erhalten. Ihr geringes Vermögen war bis auf einen Bruchteil durch das lange Siechtum der alten Leute aufgezehrt worden. Sie hatten, von ihrer Tochter begleitet und gepflegt, ihre letzten Jahre fern von der Heimat im Süden zugebracht und rasch nacheinander in einem Städtchen Welschtirols ihr bißchen Leben ausgehaucht.

Verwaist kehrte ihr einziges Kind, die letzte der jüngeren Linie Kosel, nach Vrobek zurück. Seelenallein kam sie von der Bahnstation in dürftigen Trauerkleidern. Sie klopfte an die Thür des Bürgermeisters, der auch Pächter ihres Gütchens und Hüter ihres Hauses war.

„Ich bin wieder da, Bürgermeister, und melde mich.“

Er betrachtete sie eine Weile, sein Blick ruhte auf ihrer feinen Gestalt, ihrem freundlichen lieblichen Gesicht. „Ja, Sie sind’s,“ sagte er dann, nahm die Pfeife aus dem Munde und steckte sie noch brennend in die Rocktasche: „Also, wenn Sie’s sind, herzlich willkommen! Wollen Sie ins Schloß, gnädiges Fräulein, so hole ich die Schlüssel.“

„Ich bitte, Herr Bürgermeister.“

Er begleitete sie. Der kleine Garten, der das Haus umgab, war eine Wüstenei geworden. Von dem Lattenzaun standen nur noch einzelne Stücke sozusagen aufrecht, der größte Teil hatte sich morsch und müde ins Gras gelegt und war unter ihm und üppig wucherndem Unkraut verschwunden.

Vor der Hausthür blieb Luise zögernd stehen: „Wie sieht’s da drin aus?“ fragte sie – ihre Augen lächelten, aber die ausdrucksvollen Lippen verrieten eine schmerzvolle Spannung, eine tiefe Wehmut.

„Wie halt immer. Viel Fledermäus’. Aber die sind gut gegen das Ungeziefer.“

Er schloß auf und ging voran, um auch den Fensterladen und das Fenster in der kleinen achteckigen Halle zu öffnen, von der aus die Treppe ins obere Geschoß hinaufführte. Licht und Luft drangen herein, liebe Heimatluft, liebes, heimatliches Sonnenlicht. Es beleuchtete grell alle Risse in den Mauern, alle klaffenden Lücken in den Kapitälen, Kanten, Sockeln, Verzierungen der Pilaster und die Schadhaftigkeit der Treppe und ihres Geländers und die Wellenlinien des Deckengewölbes.

Er war eben aufrichtig wie ein Freund, der geliebte Sonnenschein, brachte die Wahrheit an den Tag, vertuschte nichts.

Der erste Besuch, den Luise am folgenden Tage machte, galt den Verwandten in Velice. Man empfing sie mit offenen Armen, und was das Haus vermochte, wurde ihr von den Tanten zur Verfügung gestellt. Aber – sie war gewohnt, selbst eine Stütze zu sein. Sie nahm Hilfe von andern, auch von den Teuersten, Verehrtesten, nur ungern und zögernd an. Am liebsten half sie sich doch selbst, hantierte mit Nadel und Schere, mit dem Hammer und der Leimpfanne und auch mit der Maurerkelle, und gar oft ersparte die Axt im Haus den Zimmermann.

Zwei Gehilfen standen ihr bald zur Seite. Eine rüstige, von Charlotte empfohlene Magd und Neffe Joseph, der ihr vom ersten Tag an einen Kultus der Begeisterung und Bewunderung widmete. Wie vom Himmel war sie ihm gefallen, diese Tante, deren er sich kaum noch erinnerte, an die er nie gedacht hatte. Und wenn er es gethan hätte, ihm wäre doch nicht in den Sinn gekommen, daß eine Tante auch jung und hübsch sein könne. Nun war ihm eine solche beschert worden, und – o guter Gott! – er durfte sich ihr nützlich machen, sich vor ihr in seinem Glanze zeigen und mehr sein in ihren Augen als ein durchgefallener Schuljunge. Er setzte seinen Ehrgeiz darein, ihr verwahrlostes Heim in ein behagliches und trauliches zu verwandeln. Er verstand den Taglöhnern Eifer einzuflößen, gab den Werkleuten Handgriffe an, auf die sie von selbst nicht gekommen wären, war unerschöpflich an guten Einfällen, unermüdlich in ihrer Ausführung.

„Wenn ich dich nicht hätte, was würde ich anfangen?“ sagte sie oft, und dann war er glückselig für den ganzen Rest des Tages und darüber hinaus und so lange, bis sie ihm wieder etwas Liebes sagte.

Fast täglich kamen die Tanten herüber und staunten über die Thätigkeit, die entfaltet wurde, und beteiligten sich nach Kräften an ihr. Renate nähte Kapuzen aus hübschem Kattun für die gänzlich verschlissenen, seidenen Ueberzüge der Sitzmöbel, und Charlotte übernahm die Tapeziererarbeit und wurde einmal sogar überrascht, wie sie auf eine Leiter stieg, um einen Fenstervorhang zu befestigen.

Auch Kosel fand sich manchmal in Vrobek ein, warf zerstreute Blicke umher, schien nichts zu sehen und sah doch hier und da etwas. Er hielt auch kleine Vortrüge über die Nützlichkeit gut gebohnter Fußböden und undurchlässiger Dachdecken. Einmal durfte Elika ihn begleiten und sie kamen zu dem kleinen Hof am Ende des Gartens, der einst einen Meier, eine Kuh und einige Schafe beherbergt hatte. Auch ein Paar Pferde war damals vorhanden gewesen, die der Meier an Wochentagen in der Wirtschaft verwendete und Sonntags vor die Kalesche spannte. Er selbst schlüpfte dann in einen kurzschößigen, graumelierten Frack mit Wappenknöpfen, die einst versilbert gewesen waren und nur einiger Ermunterung bedurften, um wie Gold zu glänzen, und kutschierte seine Herrschaft nach Velice in die Kirche. Eine eigene Kirche besaß Vrobek ebensowenig wie Valahora.

Kosels Jugenderinnerungen erwachten beim Anblick des Miniatur-Meierhofs mit seltener Lebhaftigkeit.

„Da sind Pferde gestanden,“ sagte er zu seiner Tochter und deutete auf die leeren Stände. „Mit denen sind dein Großonkel und deine Großtante zur Kirche gefahren.“ Und nun spann er seine Erzählung in Gedanken weiter. Er war als Kind angewiesen worden, dem alten mürrischen Onkel und der Tante, die ihn immer so ungut ansah, unter dem Kirchenthor das Weihwasser zu reichen. Er besann sich, wie es ihn durchfröstelt hatte, wenn die steifen kalten Finger der beiden Alten die seinen berührten. Als großer Junge noch hatte er eine unüberwindliche Scheu vor den einzigen Menschen gehabt, die ihm nie einen freundlichen Blick gegönnt. Und als Luise zum erstenmal in die Kirche mitgenommen wurde, und ihr hübsches, kluges Kindergesicht glückselig lächelnd hinter dem Elternpaar hervorgeguckt, [299] und sie dem Vetter ein kleines altes Gebetbüchlein triumphierend entgegen geschwungen – da hatte er förmlich aufgeatmet. Sie war immer nett gewesen.

„Papa,“ unterbrach ihn Elika in seinen Betrachtungen, „und was war denn da?“ Sie zeigte auf den dritten leeren Platz.

„Da war die Kuh, die Schekovska.“

„Schekovska hat sie geheißen?“

„Tante Luise hat sie so genannt.“

„Und warum hat Tante Luise sie so genannt? War sie vielleicht ein Scheck?“

Er lächelte: „Nein, braun war sie.“

„Und warum steht heute keine Schekovska da?“

„Schau hinauf. Es würde ihr ja auf den Kopf regnen.“

„Du mußt das zumachen lassen, Papa,“ entschied Elika. „Du mußt das ganz schön machen lassen und dann mußt du eine Kuh herschicken. Joseph sagt, die Tante Luise hat keine einzige Kuh, und wir haben so viele. Wieviele haben wir?“

So gut er konnte, gab er Rechenschaft. Im Gespräch mit ihr war er nicht zerstreut, alles, was sie sprach, gefiel ihm, interessierte ihn. Apollonia hatte recht, zu behaupten, im Geistigen sei ihm Elika „absolut“ ähnlich, keiner seiner Söhne gleiche ihm so sehr wie sie.

Kosel dachte darüber nach, wie leid ihm sein würde, wenn er sein kleines, geistiges Ebenbild nicht mehr um sich haben könnte. In der weichen Stimmung, die ihn ergriffen hatte, versprach er seiner Tochter alles, was sie wollte. Ja, der Stall wird neu aufgebaut und eine Kuh wird hinein gestellt und Elika darf dann der Tante sagen: „Das schenk ich dir.“ So wünschte sie’s und so sollte es sein; alles so wie seine kleine kluge Tochter es wünschte.

„Ja, wenn es dich freut,“ sagte er immer.

O, es freute sie! Erbauerin eines Stalles und Spenderin einer Kuh sein, das ist doch was! Aber sie ließ nicht allzuviel von ihrer Freude zum Durchbruch kommen, sie hatte eine bestimmte Ahnung von der Macht, die sie als arme Kleine besaß.

Luise mußte eine Zeit lang den untern Teil des Gartens meiden, durfte nichts hören und nichts sehen bis zu der Stunde, in der sie eingeladen wurde, eine wiedererstandene alte Bekannte begrüßen zu gehen.

Ganz Velice hatte sich zur Ueberraschungsfeier in Vrobek eingefunden. Vor dem restaurierten Höfchen standen Kosel und die beiden Tanten, Apollonia, die unerhört Konservierte, prangte neben ihnen in der Farbe der Rose ohne ihre Vergänglichkeit. Etwas abseits hielt sich – ein Bild stillen Glückes – das Ehepaar Heideschmied. Er, würdig und stolz, sie fein, freundlich und voll Anmut noch im Alter. Wenn er zu ihr niederblickte, schimmerte helle Wonne durch das Grau seines Teints, und er hatte etwas vom verschleierten Mond. Joseph war ins Haus gelaufen, um Luise abzuholen, und als sie kamen, legte Leopold eben einen Kranz um die Hörner der neuen Schekovska, die aber diese Zierde lieber in ihrem Magen beherbergt hätte. Franz war auf das Dach geklettert, saß rittlings auf dem Firste und krähte wie ein Hahn.

Elika stand an der offenen Stallthür im weißen Kleide, das Köpfchen zur Seite geneigt, und ihre sanfte Duldermiene schien zu sagen: Wem du diese Freude verdankst, mußt du durch andre erfahren, ich bin zu bescheiden, ich verrat’ es nicht.

(Fortsetzung folgt.)


Die Wiederbelebung der Kunsthandweberei in Nordschleswig.

Wir sehen heute auf den verschiedensten kunstgewerblichen Gebieten eine bewußte Rückkehr zu früheren, scheinbar durch die Maschinentechnik längst überflügelten Handfertigkeiten. Es hat sich eben immer deutlicher herausgestellt, was die Maschine nicht hervorbringen kann: nämlich den eigentümlichen Reiz, weichen nur die feinfühlige Menschenhand ihrem Werke verleiht. So kommt diese heute zu neuen Ehren, und ihre Schnitzereien, Metallarbeiten, Töpferwaren etc. erzielen befriedigende, oft sogar hohe Preise, weil sie eben die Besonderheit des Kunstwerks an sich tragen und hoch über dem bloßen Maschinenfabrikat stehen.

Es ist sehr erfreulich, daß in jüngster Zeit auch die Handweberei, diese ursprünglichste und älteste Frauenbeschäftigung, deren letzte Ueberbleibsel in den schwedischen und norwegischen Thalwinkeln ein stilles Dasein führten, zu neuem Leben erweckt wird. Noch finden sicb dort die uralten Muster: einfache Rechtecke der verschiedensten Anordnung und Versetzung, sonderbar altertümliche Blumen-, Vogel- und Menschengestalten, ernsthafte, tieftönige Gebilde, wie sie die altnordische Frau zum Schmuck der Halle, zu Sitzkissen und Decken für die heimkehrenden Krieger anfertigte. Auch die nordischen Klöster des Mittelalters pflegten die überlieferte Webekunst, hier entstanden gobelinartige Wandteppiche mit Bildern aus der Heiligen Schrift und die kostbaren, mit selbstgefertigten Klöppelspitzen besetzten Altardecken, die sich heute hier und da als Schatzstücke in unsern Museen finden.

Noch im vorigen Jahrhundert, wo es bereits mit dieser Art mühseliger Technik stark abwärts ging, weil Stramin-, Filet- und Häkelarbeit die Frauen angenehmer beschäftigte, gab es trotzdem in Norwegen und Schleswig-Holstein noch einzelne Künstlerinnen im Bildweben, deren Teppiche mit Darstellungen der Hochzeit zu Kana und andern biblischen Scenen sehr gesucht waren. In neuerer Zeit dagegen beschäftigte sich die auf dem Lande stets in Uebung gebliebene Handweberei vorzugsweise mit der Herstellung einfacher Gegenstände zum täglichen Gebrauch. Die Kunstweberei verschwand mit der Klöppelei, und ebenso ging es den schönen alten Decken von Mutter und Großmutter in den Bauernhäusern, sie wurden von Händlern aufgekauft und von Sammlern in aller Welt erworben.

Aber gerade dies war das Mittel, die Welt draußen auf den Schatz von köstlichen alten Mustern aufmerksam zu machen, deren Wiedergewinnung für das moderne Kunstgewerbe ja nur eine Frage des Entschlusses zu sein brauchte. Es gereicht den Norwegern zu großer Ehre, daß sie diesen Entschluß mit kräftiger Energie alsbald zur That machten und die erste Webschule zur Wiederaufnahme ihrer altnordischen Kunst errichteten. Fräulein Hanson in Christiania ist die verdiente Vorsteherin dieser ersten Anstalt, die beute nach mehrjährigem Bestehen schon Schülerinnen überallhin aussendet und mit ihren Leistungen auf der Ausstellung in Malmö im Jahre 1896 die verdiente große Anerkennung fand.

Dem Beispiel von Norwegen ist zuerst Schleswig gefolgt, wo Pastor Jacobsen in Scherrebek eifrig für Gründung einer solchen Schule wirkte. In weiteren Kreisen der Provinz fand er lebhaftes Interesse für seinen Plan, und Herren aus Hamburg, Meldorf, Kiel u. a. O. gründeten in Scherrebek eine Schule für Kunsthandweberei. Hiermit ist eine neue Erwerbsart für Frauen auf den deutschen Reichsboden verpflanzt, wo die häusliche Handweberei freilich in alten Zeiten ebenso heimisch war wie in dem konservativeren Norwegen. Die Sache entwickelte sich bald in erfreulichster Weise. Eine der befähigtsten Schülerinnen des obengenannten Fräulein Hanson wurde als Lehrerin gewonnen, man verschrieb einen Webstuhl aus Norwegen und ließ nach diesem Muster weitere in Scherrebek anfertigen. Der Maler Otto Eckmann in München, jetzt Professor an der Berliner Kunstgewerbeschule, sagte seinen Beistand zu und lieferte bald mehrere sehr schöne Muster.

Am 18. Februar 1896 fand die feierliche Eröffnung der Schule statt, zu welcher Gelegenheit die leitenden Damen eine kleine Ausstellung von Erzeugnissen der Kunsthandweberei veranstaltet hatten, deren altschleswigsche und altnorwegische Muster das lebhafteste Interesse aller Betrachter erregten. Vor allem bewundert wurde ein Beiderwand[1]-Gewebe, aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts herrührend, welches den Einzug Christi in Jerusalem darstellte und aus der Gegend bei Barsö im Nordschleswigschen stammt. Ein Kursus dauert gewöhnlich vier Wochen, kann aber bei besonderer Handfertigkeit der Schülerin sich auf drei Wochen verkürzen. Das Honorar beträgt 40 Mark. Der Webstuhl, kein unförmiges, großes Möbel, der vielmehr leicht beiseite gestellt werden kann, kostet 35 Mark. In der Schule sind natürlich solche Stühle genug vorhanden. Der Webstuhl unterscheidet sich von den gewöhnlichen besonders dadurch, daß er sich nicht in der Horizontalen ausbreitet, sondern in der Senkrechten. Die Kettenfäden sind aus starker Baumwolle, als Einschlag dient sehr weiches, aus Lammwolle hergestelltes Garn, das mit Pflanzenfarben gefärbt ist und wundervoll starke, tiefe Töne zeigt. Diese Färbung ist vorzüglich haltbar, sie bleicht niemals; es mußte daher das gesamte Material an solcher Wolle bisher aus Norwegen bezogen werden, da man in Deutschland diese Färberei nicht kannte. Neuerdings nun werden in Scherrebek Versuche gemacht, die Farben herzustellen, die zu guten Resultaten geführt haben, so daß eine eigene Färberei für die Webschule in Betrieb gesetzt ist.

Das Muster hängt oder liegt vor der Weberin. Diese schlägt danach Faden nach Faden ein, aber nicht mit einem Schiffchen, sondern mit der Hand. Sie spannt mit einer Hand so viele Fäden, als das Muster zeigt, und so weit zurück, daß sie ein Bündelchen Wolle durchreichen kann. Der Faden wird mit einer Gabel festgeschlagen. Das Bündelchen Wolle bleibt frei hängen. Die Arbeiterin ergreift ein anderes und bringt dessen Faden ebenso durch.

Es ist ersichtlich, daß die Arbeit langsam fortschreitet. Dieses, sowie die ziemlich hohen Kosten des Materials lassen die Preise der Webereien recht hoch erscheinen. Dafür aber sind die hergestellten, auf beiden Seiten gleichen Teppiche etc. so eigenartig wirkungsvoll und von so unbegrenzter Dauerhaftigkeit, daß sich ihre Anschaffung doch reichlich lohnt.

Die Arbeiten lassen sich herstellen in drei verschiedenen Arten: in Schicht-, Halbgobelin- und Gobelinweberei. Bei der Schichtweberei wird von unten auf an der ganzen Breite des Gewebes der Faden nach dem Muster eingeschlagen. Es wachsen so Untergrund und eingewebte Formen miteinander gleichmäßig Schicht um Schicht. Die Gegenstände [300] erhalten dabei nie abgerundete Formen, sondern sind, nahe besehen, staffelförmig im Umriß. Sieht man sie aber aus der Ferne, so treten die kleinen Ecken mehr und mehr zurück, dann ist die Wirkung der Teppiche, besonders wenn man sie länger anschaut, eine ganz bedeutende. Bei der Gobelinweberei werden die Formen der Bäume, Tiere etc. gerundet, dieselben werden überhaupt jede für sich zuerst vollendet und dann Unter- und Hintergrund nachgefüllt, ähnlich wie bei einer Stickerei.

Um das ganze Unternehmen pekuniär sicher zu stellen, wurde eine Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht gegründet. Jedes Mitglied zahlt einen Beitrag von 100 Mark.

So ist nun diese Webschule, deren volkswirtschaftliche Bedeutung der königl. Oberpräsident in Schleswig durch Verleihung einer Subvention von 1000 Mark anerkannt hat, im guten Aufblühen begriffen. Sie bildet Lehrerinnen für andere Städte aus neben den Schülerinnen, welche die Weberei als eigenen Erwerb betreiben wollen. Im Interesse aller Beteiligten liegt vor allem die Erschließung eines Absatzgebietes nach Süden. Es werden deshalb Ausstellungen der Schularbeiten in besuchten Bädern und Sömmerorten, sowie Verkaufsstellen in großen Städten zu errichten sein. Einstweilen sollen diese Zeilen die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf das für die ganze deutsche Frauenwelt wichtige Unternehmen lenken. H. P.     


Die Veteranen der Paulskirche.

Zum Jubiläum der Eröffnung des Frankfurter Parlaments.
Von Johannes Proelß.
(Mit den Bildern S. 301 und 305.)

Als am 18. Mai vor fünfzig Jahren das erste Deutsche Parlament in der Frankfurter Paulskirche eröffnet ward, leuchtete manch weißes und graues Haupt Ehrfurcht gebietend zwischen den blonden und dunklen Scheiteln in der Versammlung auf, und mit Stolz blickten die Vertreter eines jüngeren Geschlechts auf diese Veteranen der nationalen Freiheitsbewegung. „Mein Kopf ist voll und mein Herz möchte zerspringen in meiner Brust,“ schrieb in heiß aufwallender Begeisterung einer aus dieser Jugend am folgenden Tag in die Heimat. „Die Männer, deren Wirken ich durch die Jahre angestaunt, die mir auf den hehren Höhen der Wissenschaft wie in den blumigen Auen der Dichtkunst Gegenstand der Verehrung und Quelle freudiger Erhebung waren, diese Männer stehen mir nun Aug’ in Auge gegenüber; ich spreche sie in vertraulicher Unterredung, ich höre sie, wenn das begeisternde Wort ihren Lippen entströmt.“

Die damaligen „Veteranen der Paulskirche“, deren Ruhm so viel dazu beitrug, der „Verfassunggebenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M.“ das ihr zunächst überall in so hohem Maße eingeräumte Ansehen zu sichern, hat die „Gartenlaube“, mit Arndt und Jahn anfangend, in den Aufsätzen „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“ durch Wort und Bild ihren Lesern vergegenwärtigt. Dort sind den letzteren auch die tonangebenden Führer der großen Volksbewegung vors Auge gestellt worden, deren höchster Erfolg dies Parlament und sein von sämtlichen deutschen Regierungen bestätigtes Recht war, für das neu zu gründende Reich eine freie Verfassung zu schaffen. Sie alle sind nun längst dahingegangen und die unvergängliche Spur von ihren Erdentagen gehört ganz der Geschichte an. Von jener Jugend aber, die zu ihnen damals in der Paulskirche mit Verehrung emporschaute, hat ein freundliches Geschick eine kleine Schar am Leben erhalten. Ihnen, als den uns überbliebenen unmittelbaren Zeugen, die für uns heute die „Veteranen der Paulskirche“ sind, sei nun zum Erinnerungstag der Eröffnung des Parlaments ein Gedenkblatt gewidmet. Was diese Männer dem Vaterlande und dem Deutschtum damals und später geleistet haben, ist gar gut imstande, uns von der geschichtlichen Bedeutung der Frankfurter Nationalversammlung einen lebensvollen Begriff zu geben. In der Reihe dieser Hochbetagten, deren jüngster 75 Jahre alt ist, deren ältester schon im 89. Jahre steht, finden wir die Hauptparteien der Nationalversammlung vertreten und ihre Mehrzahl gehört den beiden Großstaaten an, deren unversöhnlicher Rangstreit das Verfassungswerk der Paulskirche um seine Verwirklichung brachte.

Die Lose dieses Verhängnisses hatte das Schicksal bereits unter den Stürmen der Märzbewegung geworfen. Bis zu Metternichs Sturz war Oesterreich das stärkste Hindernis der „Heidelberger“ Reform des „Deutschen Bunds“ in freier Verfassung gewesen. Weil Oesterreich mit seinem überwiegend außerdeutschen Länderbesitz den Schwerpunkt seiner Politik in das Ausland verlegte, gerade deshalb war geplant worden, das fast reindeutsche Preußen zur Vormacht in dem neuen Bundesstaat zu machen. Dann aber hatte der Sieg der Märzbewegung in Wien, das kluge Einlenken des Erzhauses den Forderungen des Volks gegenüber, die alten natürlichen Sympathien der süddeutschen Stämme für Oesterreich mächtig belebt, während der unheilvolle Verlauf der Märztage in Berlin die Gagernsche Politik zu Gunsten der preußischen Führung scheitern machte. Gagern selbst und die Mehrzahl der „Heppenheimer“, welche im Parlament den Kern des Centrums bildeten, gaben ihre preußenfreundliche Politik zwar nicht auf, aber sie hielten mit derselben zurück, so lange sich unter ihren Gegnern der preußische König selber befand. Dahlmann hatte in seinem Verfassungsentwurf für die Siebzehner-Kommission des Bundestags noch vor Eröffnung des Parlaments einen deutschen Fürsten als erbliches Reichsoberhaupt vorgeschlagen und in einem Briefe an Friedrich Wilhelm IV näher begründet, warum nur das mächtigste reindeutsche Fürstenhaus zu dieser führenden Stellung berufen sei. In seiner Antwort erklärte der König bestimmt, die neue deutsche Kaiserkrone gebühre allein dem jedesmaligen Haupte des Erzhauses Oesterreich, doch fügte er später hinzu: wenn Oesterreich durch feierliche Zurückweisung der „teutschen Krone“ klar bekenne, daß Metternichs Geist in ihm noch herrscht, dann werde er es für Pflicht halten, „diese Schmerzenskrone“ anzunehmen, ja nach ihr zu greifen.

Aus dieser Erklärung Friedrich Wilhelms IV erklärt sich die Politik, welche die führenden Geister der Bundesreform im Parlament dann einschlugen und innehielten, bis Oesterreich sich wirklich auf den Boden von Metternichs undeutscher Bundespolitik wieder stellte. Auf ihr beruhte der erfolgreiche „kühne Griff“, den Heinrich v. Gagern als erster Präsident der Nationalversammlung unternahm, indem er den Erzherzog Johann unter Zustimmung Preußens für die Wahl des Reichsverwesers in Vorschlag brachte, auf ihr beruhte, daß er und sein Anhang die Wahl Schmerlings zum Reichsministerpräsidenten unterstützte, auf ihr ferner Dahlmanns Idee, in der Reichsverfassung des Parlaments den selbständigen Eintritt von Deutschösterreich in den neuen Bund vorzusehen, während die nichtdeutschen Staaten der Habsburgischen Monarchie nur noch in Personalunion, d. h. durch den gemeinschaftlichen österreichischen Kaiser mit Deutschland verbunden bleiben sollten. Welckers „Trias“ mit ihrem Direktorium der drei mächtigsten deutschen Fürsten, sein „Turnus“, nach welchem der Kaiser von Oesterreich und der König von Preußen alle sechs Jahre in der Centralgewalt abwechseln sollten, waren Versuche, Oesterreich für den reindeutschen Bundesstaat zu gewinnen.

Während aber die Abgeordneten der Paulskirche bis in den Herbst des Jahres 1848 eifrig dabei waren, der im März errungenen Freiheit in den „Grundrechten“ des deutschen Volks Gesetzesform zu geben, fand Oesterreich Zeit und Kraft, das erschütterte alte Regierungssystem wieder aufzurichten. Nach Windischgrätz’ Siegen über die Revolution in Prag und Wien sagte sich die Militärdiktatur des Fürsten Schwarzenberg von aller Rücksicht auf das Frankfurter Parlament los und verbat sich durch die Erklärung von Kremsier jede Bundesreform, welche die alten Vorrechte der österreichischen Krone in Deutschland irgendwie schmälern könnte. Nun bekam Gagern für seine Politik freie Hand. Der Reichsverweser sah sich genötigt, das Ministerium Schmerling aufzugeben – Gagern trat an die Spitze eines neuen, während Simson das Präsidium in der Paulskirche erhielt. Der neue Reichsministerpräsident wahrte mit Energie die Unabhängigkeit der Nationalversammlung von dem neuen Regimente in Oesterreich und gab die Losung aus, der neue deutsche Bundesstaat

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Eine Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.
Nach einer gleichzeitigen Zeichnung von Vantadour.
(Carl Zügel’s Verlag in Frankfurt a. M.)

[302] müsse ohne Oesterreich mit einem preußischen Oberhaupt an der Spitze ins Leben treten. Die Haltung Schwarzenbergs gegen das Parlament wurde immer feindseliger. Da stellte Welcker am 12. März 1849 den Antrag, die fertig durchberatene Reichsverfafsung in Bausch und Bogen anzunehmen, die erbliche Kaiserwürde dem König von Preußen zu übertragen und diesen zum sofortigen Antritt der kaiserlichen Gewalt einzuladen. Durch Heinrich Simons Vermittelung kam zwischen der „Erbkaiserpartei“ des Centrums und einer Gruppe der Linken ein Kompromiß zu stande, der es ermöglichte, daß Welckers Antrag am 28. März zum Beschluß der Versammlung erhoben wurde. So war Friedrich Wilhelm IV zum Deutschen Kaiser gewählt, aber nur als Erwählter der sämtlichen übrigen deutschen Fürsten, nicht bloß als Erwählter des Volks, wollte dieser die „Schmerzenskrone“ annehmen. Sein romantisches Herrscherbewußtsein lehnte sich auf gegen das kühne Unternehmen des Parlaments; auch wußte er, daß die Durchführung desselben den Krieg mit Oesterreich bedeute, und Krieg wollte er nicht. Einige Tage nach dem Empfang der Frankfurter Kaiserdeputation sagte er zu Beckerath, der ihm zur Annahme der Krone mit lebhaften Worten riet: „Wenn Sie Ihre Worte an Friedrich den Großen hätten richten können, der wäre Ihr Mann gewesen; ich bin kein großer Regent.“ Oesterreich aber rief seine Abgeordneten aus der Paulskirche zurück. Bald folgte Preußen dem Beispiel. Das Schicksal des „Rumpfparlaments“ in Stuttgart besiegelte die Katastrophe des mit so stolzen Hoffnungen begrüßten Versuchs der Nation, aus eigner Kraft und auf friedlichem Wege ihr Staatswesen neu zu gründen.

Von der begeisterten Stimmung, mit welcher die Abgeordneten Deutschösterreichs in die Paulskirche zogen, bildet jener Brief einen lebendigen Nachhall, dessen erste Sätze wir oben mitgeteilt haben. Der Schreiber desselben war der jüngste der sämtlichen 586 Volksvertreter, Dr. Karl Stremayr aus Graz; ihm ist es heute mit noch zwei weiteren Oesterreichern, dem Wiener Moritz v. Mayfeld und dem Salzburger August Prinzinger, vergönnt, das Jubiläum des ersten Deutschen Parlaments zu begehen. Sie sind die letzten von dem glänzenden Aufgebot, welches das Deutschtum Oesterreichs unter Anastasius Grüns, des Grafen Auersperg, Führung in die Paulskirche sandte. In ihnen begrüßen wir drei überlebende Teilnehmer an dem erst so aussichtsreichen Kampf für die „großdeutsche“ Idee, für den sehnsuchtsvollen Wunsch, daß Arndts „So weit die deutsche Zunge klingt!“ Verwirklichung finde in dem neu zu gründenden Reich. Sie zählten zu den Rednern, von denen Uhland später am Schluß dieses Kampfes mit so inniger Empfindung sagte, auch wenn sie gegen ihn gesprochen hätten, sei es ihm gewesen, als ob er eine Stimme von den Tirolerbergen vernehme oder das Adriatische Meer rauschen höre. Mayfeld hatte die Wiener Märztage und den Sturz Metternichs unmittelbar miterlebt, er war der Wiener Akademischen Legion beigetreten und hatte sich in ihr hervorgethan, ehe er in Waidhofen an der Thaja ins Parlament gewählt wurde. Mit ihm, mit Stremayr und Prinzinger begrüßte auch die Mehrzahl ihrer Landsleute die Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser sowie die Erhebung Schmerlings zum Reichsminister als erste Schritte zu einer dauernden Lösung der brennenden Oberhauptsfrage in einem für ihre Wünsche günstigen Sinn. Als Mitglieder des linken Centrums waren Mayfeld und Stremayr Gesinnungsgenossen Giskras, der mit so glänzender Beredsamkeit den Eintritt Deutschösterreichs in den neuen Bundesstaat befürwortete. Ihnen allen zerstörte Schwarzenbergs Reaktionspolitik mit rauher Gewalt den schönen Traum von einem großen einigen Reich, das alle deutschen Stämme umfassen sollte.

Wie so viele der Männer, die in der Paulskirche ihre politische Schulung erhielten, sind auch unsere drei Oesterreicher in ihrer Heimat zu hervorragender Wirksamkeit und Stellung gelangt. Stremayr, der heute im 75. Jahre steht, kam, nachdem er in seiner Vaterstadt Graz Universitätsbeamter gewesen, 1868 auf Giskras Berufung als Ministerialrat nach Wien in das Ministerium des Innern. Von 1870 bis 1880 war er österreichischer Kultusminister. Schon vorher hatte er in Steiermark als Mitglied des Landesausschusses eine fruchtbare Thätigkeit auf dem Gebiete des Unterrichtswesens und der Humanitätsanstalten entfaltet. 1875 erfolgte durch ihn die Gründung der deutschen Universität zu Czernowitz. Bis zu seinem Austritt aus dem Ministerium Taaffe hat er erfolgreich für den einheitlichen Bestand der alten Präger Universität und gegen deren Teilung in eine deutsche und eine tschechische Hochschule gekämpft. Im Jahre 1891 wurde er zum ersten Präsidenten des Obersten Gerichts- und Kassationshofes in Wien ernannt. – Auch Moritz v. Mayfeld, heute ein Einundachtzigjähriger, widmete sich nach seiner Heimkehr aus Frankfurt dem Staatsdienst, dem er schon vorher, seit 1840, angehört hatte. Er bekleidete in Ober- und Niederösterreich mancherlei Regierungsämter, bis er 1880 als Statthaltereirat in Pension ging. Er lebt im Genusse eines gesegneten Alters in Schwanenstadt. – Dr. August Prinzinger in Salzburg, von Geburt ein Bayer, der jedoch frühe nach Salzburg kam, ist der älteste der drei Oesterreicher; blickt er doch bereits auf mehr als 86 Lebensjahre zurück. 1846 wurde er Advokat in St. Pölten in Niederösterreich; hier wurde er auch ins Parlament gewählt, wo er der gemäßigten Linken sich anschloß. Nach der Rückkehr aus Frankfurt ließ er sich in Salzburg als Advokat nieder, wo er verblieb, Gemeinderat und Landtagsabgeordneter wurde und neben seinem Beruf auch eine rege litterarische Thätigkeit auf dem Gebiete der deutschen Sprach- und Altertumskunde entfaltete. 1859 beteiligte er sich an der Gründung der Gesellschaft für Salzburgische Landeskunde, deren Vorstand er 1874 bis 1884 war. Seit 1880 lebt er als Privatmann, seinen wissenschaftlichen Neigungen hingegeben, auf seinem Landsitz in Salzburg.

Ein vierter und letzter Süddeutscher in unserer Veteranengalerie ist der Bayer Johann Nepomuk Sepp. Mit allen Fasern seines Wesens ein Altbayer von echtem Schrot und Korn, gehörte Sepp im Frankfurter Parlament zu den konservativen Elementen, deren Stellung von ihrer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bedingt war. 1816 in Tölz geboren, hatte er in München Theologie studiert, wobei Döllinger und Görres besonderen Einfluß auf ihn ausübten. Voll streitbaren Geistes schrieb er gegen Strauß und Renan sein „Leben Jesu“. Nachdem er 1845 und 1846 die heiligen Stätten Palästinas und Syriens bereist hatte, erhielt er an der Münchner Universität die Professur der Geschichte. Mit seinen Kollegen Lasaulx, Phillips, Döllinger gehörte er im folgenden Jahr zu den Männern, welche gegen den unheilvollen Einfluß der Lola Montez auf König Ludwig I mannhaft ankämpften. Die Popularität, die er hierdurch und die ihn danach treffende Maßregelung gewann, trug ihm die Wahl in das Frankfurter Parlament ein. Hier war er, wie fast alle seine engeren Landsleute, ein eifriger Großdeutscher. Ein mitten aus den Kämpfen über Großdeutsch und Kleindeutsch entsprossenes Lied Sepps ward von einer der bewegtesten Scenen in der Geschichte der Paulskirche angeregt. Simson war eben Gagerns Nachfolger auf dem Präsidentensitz geworden, Gagern, als neuer Ministerpräsident, hatte sein Programm entworfen und verteidigt, das den notgedrungenen Bruch mit der österreichischen Regierung bezweckte. Bei der Abstimmung hatte der greise Sänger des Liedes vom deutschen Vaterland, Arndt, sein Votum als Fünfter abzugeben. Zum größten Befremden aller Großdeutschen sprach er ein lautes „Ja!“ Eine Bewegung des Staunens ging durch den Saal und von der Linken erhob sich der Ruf „Das ganze Deutschland soll es sein!“

Unter dem Eindruck dieser Scene dichtete Sepp ein neues Vaterlandslied, welches die Motive des Arndtschen Liedes aufnahm und die Frage „Was ist des Bayern, Schwaben, Franken, Sachsen, Preußen Vaterland?“ im großdeutschen Sinne beantwortete. Als aber das neue Deutsche Reich sich doch auf „kleindeutscher“ Grundlage entwickelte, als Preußen die Führung in Deutschland gewann und die Kriegserklärung Napoleons III an König Wilhelm den Deutschen Gelegenheit bot, die so lange ersehnte Einheit im gemeinsamen Kampf gegen Frankreich zu erstreiten, da war es Sepp, der im bayrischen Landtag einer der einflußreichsten Verfechter der nationalen Sache war. Am denkwürdigen 19. Juli 1870 trug seine „im furor teuronicus“ dort gehaltene Rede nicht wenig dazu bei, daß der Kredit für die Kriegführung von einer großen Mehrheit mit einer patriotischen Begeisterung bewilligt wurde, wie sie dann das bayrische Heer hinaus ins Feld zu den Siegen von Weißenburg, Wörth, Sedan begleitete.

Wie von der „Rechten“ der Nationalversammlung ist auch von der entschiedenen „Linken“ nur ein einziger noch am Leben. In Hugo Wesendonck, den die Katastrophe der Nationalversammlung als Flüchtling nach Amerika verschlug, haben wir [303] einen Veteranen der demokratischen Partei in der Paulskirche vor uns, als deren Führer erst Robert Blum und nach des letzteren tragischem Tode Karl Vogt wirkte. Ein warmblütiger Rheinländer, wurde Wesendonck, der beim Ausbruch der Märzbewegung in Düsseldorf Advokat war, vom Geiste derselben mächtig ergriffen. An dem Adressensturm der rheinischen Städte nach Berlin war er hervorragend beteiligt. Im Frankfurter Vorparlament nahm er, wie wir sahen, eine vermittelnde Stellung zwischen der radikalen Richtung Heckers und der konstitutionellen Majorität ein. Von Düsseldorf in die Nationalversammlung gewählt, vertrat er in der Linken neben dem feierlichen Pathos Blums, dem satirischen Witz Karl Vogts, dem leidenschaftlichen Feuer Ludwig Simons und Trützschlers thatkräftigem Ungestüm die ruhige Logik des geschulten Juristen. Mit beharrlicher Konsequenz wahrte er den Standpunkt, daß ein Vereinbaren mit den Fürsten das ganze Einheitswerk gefährden müsse, daß, unbeschadet des Fortbestands der konstitutionellen Monarchie in den Einzelstaaten, die Centralgewalt eine demokratische Form erhalten müsse und daß zur Durchführung dieser Aufgabe es absolut nötig sei, die Truppen auf die Centralgewalt und die Reichsverfassung zu vereidigen. Auch aus seiner Seele war Uhlands berühmtes Wort gesprochen: „Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Oeles gesalbt ist.“ Bei der Reichsverweserwahl stimmte Uhland in diesem Sinne für Gagern, während die Mehrzahl von Wesendoncks Freunden unter W. Jordans Führung ihre Stimme dem Ehrenhaupte der Linken, dem greisen Adam v. Itzstein, gaben. Uhland wünschte „einen Mann an der Spitze, der in der ganzen Größe bürgerlicher Einfachheit durch den Adel freierer Gesinnung auch die rohe Gewalt zu bändigen, die verwilderte Leidenschaft in die rechte Strömung zu lenken verstände“. In diesem Wunsche wurzelten die „republikanischen“ Hoffnungen der Idealisten in der Frankfurter „Linken“. Wesendonck, der heute 81 Jahre zählt, hat in diesen Tagen seinen Freunden eine litterarische Jubiläumsgabe, „Erinnerungen aus dem Jahr 1848“, überreicht. Die kleine Schrift ist in New York erschienen, wo ihr Verfasser 1860 die noch bestehende Germania-Lebensversicherung gründete, deren Berliner Zweiganstalt er gleichfalls ins Leben rief. Er spricht in jenen Blättern mit großer Liebe von seinen damaligen Mitkämpfern. Auch die Oberhauptfrage streift er darin. „Es war,“ sagt er, „von vornherein unmöglich – sobald die Republik ausgeschlossen war – einen anderen als einen preußischen Fürsten an die Spitze Deutschlands zu stellen.“

Der Partei, die diesen Gedanken in der Paulskirche zum Siege führte, der „Erbkaiserpartei“, gehören alle weiteren Veteranen an, die noch unter den Lebenden weilen. Es sind ihrer zehn, und unter ihnen befindet sich auch der Führer der Frankfurter Deputation, welche dem König in Berlin am 3. April 1849 die Kaiserkrone antrug, Eduard v. Simson, Gagerns Nachfolger als Präsident der Nationalversammlung.

Simson, dessen feiner Takt und würdevolles Wesen die Mission der Kaiserdeputierten trotz ihres Mißerfolges auf der vollen Höhe erhielt, hat noch oft im Leben Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaften als Präsident zu entfalten, die ihm schon in der Paulskirche die Sympathien aller Parteien eintrugen. Als er von seiner Vaterstadt Königsberg ins Frankfurter Parlament gewählt wurde, war er dort Tribunalsrat und ein Professor der Rechtswissenschaft von Ruf. Der politischen Richtung, die er in der Paulskirche vertrat und die ihn zum Gesinnungsgenossen von Gagern und Dahlmann und zum Mitglied des rechten Centrums machte, ist der jetzt fast 88jährige allezeit treugeblieben. Im Unionsparlament zu Erfurt war er Präsident des Volkshauses. Nach dem Scheitern der Union stand er im preußischen Abgeordnetenhaus mit an der Spitze der Opposition. 1860 und 1861 war er Präsident dieser Kammer. In gleicher Würde sah ihn der konstituierende und der erste ordentliche Reichstag des Norddeutschen Bundes, und am 18. Dezember 1870 war es ihm, dem „Achtundvierziger“, vergönnt, die Adresse des Reichstages, welche dem siegreichen König Wilhelm die deutsche Kaiserwürde antrug, diesem in Versailles zu überreichen. Auch der erste deutsche Reichstag wählte Simson zum Präsidenten. Eine gleich glänzende Laufbahn war ihm auf dem Gebiete des praktischen Juristen beschieden. Nachdem er längere Zeit dem Appellationsgericht in Frankfurt a. O. vorgestanden hatte, wurde er 1879 bei Gründung des Deutschen Reichsgerichts in Leipzig an dessen Spitze berufen, in welcher Stellung er bis vor wenigen Jahren aufs segensreichste gewirkt hat.

Eine hervorragende Rolle fiel in der Paulskirche auch dem Leipziger Historiker Karl Biedermann zu. Auch er war ein Mitglied der Kaiserdeputation, auch ihm war das präsidiale Talent gleichsam angeboren. Daß er schon im Vormärz ein Bahnbrecher der Idee der preußischen Führung und ein Mitglied des „Vorparlaments“ war, haben wir in den vorausgehenden Aufsätzen berichtet. In dem wirklichen Parlament gehörte er zu den Mitgliedern des linken Centrums, die sich zu gunsten der Erbkaiseridee im „Augsburger Hof“ und im „Weidenbusch“ zusammenschlössen. Er hat in diesen Klubs wiederholt das Amt des Präsidenten bekleidet. Während der ganzen Dauer des Parlaments war er einer der Schriftführer, kurz vor seinem Austritt wurde er noch Vicepräsident der Versammlung. Im sächsischen Landtag bekämpfte er dann lebhaft die Reaktion; dem ersten deutschen Reichstag gehörte er auch an. Karl Biedermann, der seit 1838 Professor der Geschichte an der Universität Leipzig ist, in dieser Zeit auch immer ein eifriger Publizist war, ist recht eigentlich als der Historiker der Erbkaiserpartei zu bezeichnen. Im Geiste derselben schrieb er das Werk „Dreißig Jahre deutscher Geschichte 1840–70“ und noch andere gehaltvolle Bände. Auch die soeben erschienene interessante Jubiläumsschrift „Das erste Deutsche Parlament“ des fast 86jährigen Politikers ist von diesem Geiste getragen.

Wesentlich jünger ist sein Kollege Professor Rudolf Haym in Halle, der mit 26 Jahren in die Paulskirche eintrat. Zu Grünberg in Schlesien geboren, war er Privatgelehrter in Halle, als er für den Mansfelder Kreis nach Frankfurt gewählt ward. Sein noch während der Tagung entstandenes Werk „Die Deutsche Nationalversammlung“ zeigt ihn als begeisterten Anhänger Gagerns. Er wurde dann in Halle Professor für Philosophie und neuere deutsche Litteratur und war 1858 bis 1864 Redakteur der „Preußischen Jahrbücher“. Seine biographisch kritischen Werke über Wilhelm v. Humboldt, Hegel, Schopenhauer, die romantische Schule und Herder sind Schöpfungen eines geistvollen Mannes und bekämpfen jene mystische Romantik, deren höchster politischer Ausdruck Friedrich Wilhelm IV gewesen ist.

Von den weitschauenden Handelsherren des Rheinlands, die im ersten preußischen „Vereinigten Landtag“ für ein konstitutionelles Leben und die Durchführung des Zollvereins eintraten, ist der Kölner Mevissen noch am Leben. Als Mitgründer der „Rheinischen Zeitung“, als einen Teilnehmer an der Heppenheimer Versammlung haben wir ihn früher erwähnt. In der Paulskirche zählte er zum rechten Centrum; mit Mathy und Bassermann war er einer der Unterstaatssekretäre im Reichsministerium, und zwar an der Seite des Handelsministers Duckwitz. An dem großartigen Aufschwung, den das Rheinland auf industriellem Gebiete seit 1848 genommen, hatte Gustav v. Mevissen, der heute 83 Jahre zählt, einen namhaften Anteil.

In dem Reichsministerium für Handel saß auch Wilhelm Jordan, der Dichter. Seine erfolgreiche Thätigkeit als Sekretär des Marineausschusses im Parlament, welcher die Gründung einer ersten deutschen Flotte herbeiführte, trug ihm die Berufung in die Marineabteilung des Handelsministeriums ein. Wilhelm Jordan gehörte anfänglich zur Linken. In Königsberg, wo er studierte, hatte Jacoby stark auf ihn gewirkt. Als Mitglied der Schriftstellerkolonie Leipzigs war er mit Blum befreundet, und der Freisinn, der sich in seinen ersten Dichtungen kundgab, hatte seine Ausweisung aus Sachsen zur Folge. In der Paulskirche, wo er einen Berliner Wahlkreis vertrat, war er einer der glänzendsten Redner. Als er sich infolge seiner antipolnischen Rede in der Polendebatte mit der Linken entzweit hatte, wurde er in den Reihen des Centrums mit Freuden aufgenommen. In seinen epischen Dichtungen „Demiurgos“ und „Nibelunge“ sowie in seinen lyrischen Gedichten findet sich ein voller poetischer Nachhall jener Entschlüsse, die ihn, den liberalen Ostpreußen, zur Erbkaiserpartei damals trieben. Daß große Neugestaltungen in der Geschichte Männer der That fordern, und daß auch die Geschichte dem Gesetz organischer Entwicklung gehorcht, diese Erkenntnissätze wurden zu Leitsternen für sein poetisches Schaffen. [304] Jordan gründete sich in Frankfurt a. M. ein Dichterheim, in welchem er kürzlich seinen 79. Geburtstag in voller Rüstigkeit gefeiert hat.

Ist Wilhelm Jordan der letzte aus der Paulskirche, der an dem begeisterten Vorgehen des Parlaments zur Gründung einer deutschen Flotte praktischen Anteil nahm, so hat die Nation in dem Bremenser Großkaufmann Hermann Henrich Meier einen Mann zu verehren, der, nachdem jene deutschen Flottenpläne kläglich gescheitert waren, aus eigner Kraft Großes für den gewaltigen Aufschwung der deutschen Schiffahrt gethan hat. H. H. Meier, der nur kurze Zeit in der Paulskirche saß – er wurde erst Anfang April 1849 Abgeordneter, als Ersatzmann für Dröge – schloß sich dort der Gagernschen Partei an. Als Gründer der mächtigen Dampfschiffahrtsgesellschaft „Norddeutscher Lloyd“, dessen Vorsitzender er seit 1857 ununterbrochen gewesen ist, als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hat er sich unvergängliche Verdienste erworben. Auch als Vertreter Bremens im Konstituierenden und im ersten Norddeutschen Reichstag, dann als Mitglied des Deutschen Reichstags hat er mit seinem energischen Geist stets dafür gewirkt, daß heute die deutsche Flagge auf den Meeren ebenso geehrt ist, wie sie vor fünfzig Jahren mißachtet war. Am 16. Oktober 1809 geboren, ist H. H. Meier der Nestor unter den heutigen Veteranen der Paulskirche.

Von den letzten Zehn der Erbkaiserpartei haben wir noch den Kurator der Universität Halle, W. Schrader, den Professor a. D. Backhaus in Görlitz, den preußischen Provinzialsteuerdirektor a. D. Schultze in Freiburg i. B. und den Gerichtspräsidenten a. D. Schorn in Bonn zu nennen. Wilhelm Schrader, der Sohn eines Dorfschullehrers der Provinz Sachsen, steht heute im 81. Jahre. Er war Konrektor des städtischen Gymnasiums in Brandenburg, als er daselbst in die Paulskirche gewählt ward. Wenige Jahre später wurde er zum Provinzialschulrat in Königsberg ernannt. Seine Leistungen, im besondern das Werk „Die Verfassung der höheren Schulen“, trugen ihm 1883 die Berufung zum Kurator der Universität Halle ein, in welcher Stellung er noch heute wirkt. – Professor Hermann Dietrich Backhaus, der 80jährige, stammt aus dem Fürstentum Waldeck. Er vertrat seine Heimat im Parlament als ein Mitglied des linken Centrums. 1849 bis 1851 leitete er die Verhandlungen der Ständekammer in Arolsen. Während der Reaktionszeit war er Oberlehrer an der landwirtschaftlichen Lehranstalt zu Beberbeck, dann praktischer Landwirt in Schlesien. 1872 folgte er dem Rufe als ordentlicher Professor nach Kiel, wo er 1877 auch die Vorlesungen über Volkswirtschaft an der Marineakademie übernahm. – Adolph Schultze ist zwar in Spandau geboren, wuchs aber in Schlesien auf. Nachdem er erst die Laufbahn des Richters eingeschlagen hatte, trat er 1840 in Breslau zur Verwaltung über. Als er 1848 in die Paulskirche gewählt ward, war er Oberzollinspektor zu Liebau in Schlesien. Später kam er als Rat ins Finanzministerium nach Berlin, 1865 wurde er preußischer Zollvereinsbevollmächtigter in Frankfurt a. M. und 1867 Provinzialsteuerdirektor für Hessen-Nassau in Kassel, welches Amt der jetzt 82jährige bis 1886 verwaltete. – Karl Schorn, der seine juristische Laufbahn als Landgerichtskammerpräsident zu Koblenz beschloß und heute im achtzigsten Jahr steht, gehörte zum linken Centrum. In seiner Heimat Essen wurde er als Ersatzmann Jakob Grimms gewählt, der frühzeitig aus dem Parlament austrat. Während des Kriegs von 1870/71 war er Präsident des Kriegsgerichts in Metz.

Es sind nur wenige, die als Veteranen der Paulskirche heute mit uns die Erinnerung an die Eröffnung des Parlaments feiern! Mit Wehmut werden sie dabei des morgenschönen Zukunftstraumes ihrer Mannesjugend gedenken. Aber wahrlich auch mit freudigem Stolz können sie auf ihre Teilnahme an dem ersten Deutschen Parlamente, das die deutschen Grundrechte feststellte und die Reichsverfassung vom 12. März beschloß, zurückblicken. Als eine großartige Kundgebung der Vaterlandsliebe wirkt es im Gedächtnis der Nachwelt fort, als ein begeisterndes Vorbild für jedes idealgerichtete Streben, dessen oberstes Gesetz das Wohl des Volkes ist!


Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (9. Fortsetzung.)

Eine Stunde nach dem furchtbaren Auftritt zwischen Edith und den Tanten sind sie alle, mit Ausnahme von Josepha, in Mas Zimmer versammelt. Die junge Frau hat sich aufgerafft trotz ihres Kopfwehs und ihre ganz entsetzten Augen folgen Edith nach, die mit noch immer vor Aufregung gerötetem Gesicht und spöttisch lächelnd auf und ab geht. Es ist schon dämmerig in der oberen großen Stube, und es riecht nach englischem Lavendelsalz und Menthol. Durch die geöffneten Fenster dringt die schwüle Luft des Sommerabends herein. Aus dem Sessel, in dem Tante Tonette liegt, kommt von Zeit zu Zeit ein Schluchzen.

Im Hause und im Garten ist es sehr lebendig; die Vorbereitungen für die Taufe halten die ganze Dienerschaft in Atem. Alle Augenblicke kommt jemand, um irgend etwas zu fragen, Diener und Stubenmädchen, der Zimmermann, der das Tanzpodium im Garten legt, die Mamsell aus der Küche, die Wärterin aus der Kinderstube. „Fragt den Herrn!“ herrscht Edith endlich den Gärtner an, der ihr Urteil wünscht beim Arrangement des Taufaltars.

„Verzeihen gnädige Frau, der Herr ist vor einer Stunde ausgeritten.“

„Herrgott“, ruft Tonette, „so machen Sie’s doch allein, es wird ja schon recht werden!“

„Es wäre viel gescheiter, Tante Tonette, du ließest dein unnützes Weinen und bekümmertest dich lieber selbst darum.“

„Ich kann nicht; ich bin wie gelähmt! Ehe ich nicht weiß, wie die Sache abläuft, werde ich kein Mensch wieder sein,“ jammert die sonst so resolute Dame. „Du mußt abbitten, auf den Knien abbitten,“ fügt sie hinzu, „du mußt, Edith!“

Edith lacht spöttisch.

„Sage, du wärst gereizt worden, du habest ohne jede Besinnung gesprochen, sage was du willst, nur lege deine hoheitsvolle gekränkte Miene ab!“

„Ich fürchte nur,“ klingt Mas Stimme müde und hoffnungslos dazwischen, „er kann ihr nicht verzeihen.“

Edith lacht noch lauter. „Bitte, macht euch doch nur keine allzu tragischen Vorstellungen. Erst werde ich hier herauf gerufen wie zur heiligen Feme, dann wird ein rabenschwarzes Unglück prophezeit und schließlich kommen Verhaltungsmaßregeln, als sei ich ein Kind, das beim Lügen ertappt worden ist! Ich weiß ganz genau, was ich zu thun habe, ich kenne ihn besser als ihr alle.“

Tante Tonette erstickt einen Angstlaut in der Kehle; sie sieht wieder den Mann vor sich sitzen, seine zitternden Hände, den gekrümmten Rücken, als wollte er einen heftigen physischen Schmerz niederzwingen. „Edith, ich bitte dich,“ stöhnt das alte Fräulein.

„Di, mein Mann würde –“ fängt Ma an.

„Was dein Mann würde, ist ja hier gar nicht von Belang,“ unterbricht Edith sie, „meiner wird gar nichts thun, gar nichts, ich versichere euch. Ihr denkt wohl, er stellt mich in die Ecke, oder er straft mich mit Verachtung, oder weist mich hinaus? Dazu ist kein Grund, und dazu gehören zwei, besonders die eine, die da gehen würde – das ist so einfach nicht! Und nun reden wir nicht mehr davon! Eine Scene wird’s ja geben zwischen ihm und mir, natürlich; aber das ist meine Sache, und morgen werdet ihr nichts mehr davon spüren.“

„Nachdem du geschrieen hast: ich habe Mohrmann nie geliebt, liebe ihn auch heute noch nicht? Du habest mit ihm nur Komödie gespielt? Habest ihn nur aus Berechnung an dich gezogen?“

„O Gott! O Gott!“ seufzt Tante Tonette, „es ist zu entsetzlich! Und daß sie noch behauptet, sie sei damals zur besseren Einsicht gekommen, so daß sie ihn nicht mehr wollte, daß sie durch mich hineingestoßen worden sei in ihr moralisches Elend – das vergebe ihr Gott, ich kann’s nicht!“

[305]
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M. v. Mayfeld. K. v. Stremayr. A. Prinzinger. J. R. Sepp.
R. Haym. H. Wesendonck. K. Biedermann.
G. v. Mevissen. E. v. Simson. W. Jordan. 
W. Schrader. A. Schultze. H. H. Meier. K. Schorn. H. D. Backhaus.
Die noch lebenden Mitglieder des Frankfurter Parlaments.

[306] „Herrgott, ja, ich kenne mein Verbrechen nun schon auswendig, verschont mich doch, ich hab’s nun einmal gesagt und werde es vertreten,“ erklärt Edith, „ich habe keine Angst vor ihm!“

Aber sie bleibt doch, trotz ihrer Courage, in dem dunklen Zimmer ihrer Freundin und horcht auf den Pendelschlag der Turmuhr, horcht auf das Hasten im Hause und wartet auf den Hufschlag des Pferdes, das ihn zurückbringen soll, mit heimlichem starken Herzklopfen. Tante Tonette ist seufzend hinausgeschlichen und huscht gegen ihre sonstige Gewohnheit scheu, wie ein Gespenst, die Treppen hinunter, um notgedrungen etwas nach dem Rechten zu sehen. Alle Räume sind erfüllt von der drückenden Schwüle dieses sengenden Sommertages, dem keine Abkühlung gefolgt ist. Die Gärtner in dem hohen Saale sind ebenso erhitzt wie die Leute in der Küche und ebenso mißmutig, denn sie stehen ohne Anleitung umher. Und Tante Tonette ist völlig verwirrt, sie starrt bei den Fragen, die an sie gerichtet werden, geistesabwesend die Menschen an und giebt verkehrte Antworten.

Und eine Stunde nach der anderen verrinnt, das allzulaute Treiben ist verstummt, die Leute, bis auf Antons Diener, sind schlafen gegangen. Auch Tonette, unfähig, sich noch aufrecht zu halten, hat ihr Lager gesucht, es Gott und Ediths Klugheit überlassend, die Sache auszugleichen. Vom Turme schlägt es Elf.

„Gute Nacht,“ sagt Edith zu Ma, die getreulich mit ihr gewartet hat bis jetzt, „ich lege mich auch; je länger er sich draußen austobt, um so besser.“

Ma erhebt sich von der Chaiselongue; in der Dunkelheit sieht es aus, als erstehe die gespenstige weiße Frau plötzlich. „Di,“ sagt sie traurig, „du thust mir furchtbar leid, denn, siehst du, ich glaube –“

„Was glaubst du denn, Frau Weisheit?“

Das läßt sich kein Mann sagen, zumal von der Frau, die er so geliebt, so auf Händen getragen hat, oder – er ist ein jämmerlicher Mensch! Wie kannst du ihn je wieder achten, wenn er diesen Schlag erträgt, ohne zu zucken?“

„Du vergißt die Kinder, Ma, denke doch an Lothar und die Kleinen! Mach’ dir keine Sorgen; Lothars Mutter wird schon Absolution finden. Gute Nacht, Ma!“

„Schlaf wohl, Di, sei nachgiebig, Di, ich bitte dich! Und Di, spiele die Sache mit Edi auf mich hinüber, ich habe ihn sehen wollen – hörst du? Ich will es ja gern tragen, und Lattwitz kann ich ja die Wahrheit sagen.“

„Sehr freundlich, werd’s überlegen.“

Die Thüre fällt hinter Edith zu. Ein Weilchen bleibt sie vor der Kinderstube stehen und denkt nach. Soll sie Lothar mit hinunter nehmen, das Kind in den Armen, ihn erwarten? Das sähe doch zu gesucht aus, zu sehr, als habe sie dieses Hilfsmittel nötig; vorläufig will sie doch möglichst die Gekränkte spielen.

Sie schlüpft die Treppe hinunter, zieht sich in ihrer Stube ein weißes Batistnegligé an und huscht auf kleinen Pantoffeln in sein Zimmer hinüber, dort kauert sie sich in das Sofa auf das Bärenfell und wartet. Was sie ihm sagen will, weiß sie noch nicht, sie überläßt es dem Zufall; nur geängstigt hat sie sich natürlich über sein Ausbleiben, das soll als Einleitung dienen.

In Wahrheit ist ihr Mut gleich Null, in Wahrheit vergeht sie vor jämmerlicher Angst, denn sie fühlt: heute steht sie vor einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben; sie fühlt: er kann ihr gar nicht verzeihen. Dann denkt sie sich einige Möglichkeiten aus, wie sich die Sache vielleicht entwickeln wird. Zweifellos wird er rasen, wenn er sie sieht. Sie schüttelt sich bei dem Gedanken an seinen Zorn, sie hat ihn einmal so gesehen, als er sich an dem Reitknechte vergriff, thätlich vergriff, als dieser, zum Arzte für den erkrankten Lothar geschickt, in aller Gemütlichkeit und in der Meinung, es sei nicht so schlimm, bei seiner alten Mutter in Dobberau eingekehrt war. Deutlich sieht sie wieder, wie Anton auf den Menschen losstürzt, ihn schüttelt und dann zur Thür hinausschleudert, sieht die blaue Ader auf seiner Stirn und – ihre Zähne schlagen hörbar zusammen.

Aber, um Gottes willen, an ihr wird er sich doch nicht vergreifen, an der Mutter seiner Kinder! Ach nein, weit eher glaubt sie: er wird den Tiefgekränkten herauskehren, er wird wochenlang kaum mit ihr reden, viel ausgehen, wie schon einmal, und dann wird es ihre Sache sein, ihn mit Nachgiebigkeit und Demut, mit sehr viel Liebenswürdigkeit zu überzeugen, daß es doch gar nicht so übel ist, Edith von Ebradts Gatte zu sein, wenn sie auch – na, und außerdem muß sie eben sagen, wie sehr sie gereizt war, wie angegriffen von der enormen Hitze.

Viertelstunde auf Viertelstunde verrinnt, die Uhr auf dem Schreibtisch schlägt Zwölf. Edith fröstelt, sie hat nichts gegessen, seit Mittag, und die innere Angst schüttelt sie förmlich. Sie steht langsam auf, wie Blei liegt es in ihren Gliedern, als sie ein paar Schritte thut, dann richtet sie ihre Augen mit einem Ausdruck des Entsetzens zum Fenster – jetzt kommt er, das Trappeln des Pferdes schallt herein, er hält vor der Freitreppe an. Sie hört, wie er nach dem Diener ruft, wie er befiehlt, das Tier sorgfältig abzureiben, und dann die Tritte auf den steinernen Stufen, im Hause – nun steht er im Zimmer.

Die Lampe ist am Erlöschen, aber ihr schwaches Licht zeigt dennoch deutlich Ediths Gesicht, das ein ihre Unruhe schlecht verbergendes Lächeln förmlich verzerrt. Ihre Gesichtsfarbe ist fahl wie die eines Toten.

„Du hier?“ fragt er müde und gleichgültig, die Reitpeitsche und den Hut auf den Tisch werfend.

Sie geht mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, will irgend etwas sagen von ihrer Angst um ihn, aber sie läßt den Arm sinken. Er steht am Schreibtisch, die Hände in den Hosentaschen, und streift sie mit eisigen Blicken. „Wozu denn das?“ fragt er.

Sie wendet kurz um und geht zur Thür. „Dann nicht,“ sagt sie, „Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ klingt es ruhig zurück.

Sie dreht sich wieder hastig zu ihm. „Willst du morgen auch den Schmollpeter spielen? Das dürfte ja sehr interessant werden für unsere Gäste.“

„Doch nicht, das wird nicht nötig sein.“ Er greift nach dem Etui und zündet sich eine Cigarre an.

„Was soll das heißen?“ fragt sie, die diese absichtlich betonte Ruhe völlig aus der Fassung bringt.

„Daß ich sämtlichen Gästen, mit Ausnahme des Geistlichen, abtelegraphiert habe vorhin.“

„Bist du toll? Das hättest du gew – – ?“ stößt sie atemlos hervor.

„Ja, das habe ich gewagt, um dir die Mühe zu sparen, vor einem größeren Publikum noch einmal Komödie spielen zu müssen.“

Edith zittert so, daß sie sich auf den Tisch stützen muß. Aus dem fügsamen schmachtenden Gatten, der bisher nur gute liebende Worte für sie fand, der bereit gewesen wäre, ihr die Sterne vom Himmel herunterzuholen, hätte sie dieselben verlangt, hat sich nun dieser ironische, eiskalte Mensch entpuppt, in dessen Augen weiter nichts zu lesen ist als die intensivste Verachtung. Sie weiß jetzt, daß sie ihn beleidigt hat bis zur Unversöhnlichkeit.

„Du bauschst die Sache ja riesig auf,“ sagt sie bitter in der unbestimmten Empfindung, daß selber gekränkt zu scheinen das wirksamste Mittel ist, ihn aus seiner Ruhe zu bringen. Ach, wenn er nur erst zornig würde, wenn er lieber wetterte und tobte!

„Findest du?“ fragt er gelassen, „ich meine, daß ich das durchaus nicht thue. Wenn man geglaubt hat, einen Brillant zu kaufen, und entdeckt dann eines Tages, daß er ein Simili ist, so ist das kein angenehmes Gefühl, aber man trennt sich ruhig von dem Wertlosen, man hat das Interesse daran verloren und macht möglichst wenig Gerede davon.“

„Soll ich den Simili vorstellen?“

„Das überlasse ich deinem Scharfsinn.“

„Weißt du was, mein Schatz? Du bist toll eifersüchtig!“ ruft sie außer sich.

„Auf den Waldenberg? Nicht im mindesten mehr, weder auf ihn noch auf andere. Vielleicht gestern früh noch, ich gebe es zu, aber seit heute abend – ach nein, das kannst du nicht verlangen.“

„Josepha hatte mich gereizt, weißt du,“ spricht sie hastig, „und im Zorn sagt man zuweilen etwas, was man später nicht verantworten kann. Es ist schändlich von dir, dich daran zu klammern, lediglich, um das dir verhaßte Fest unmöglich zu machen, mir eine Freude zu verderben.“

Er antwortet nicht darauf, sondern fährt gelassen fort: „Ich sehe ein, daß es dir sehr peinlich sein muß, aber gesprochene Worte sind nicht zurückzunehmen, gleichviel ob sie im Zorn gesagt wurden oder nicht. Du hast mich nie geliebt, liebst mich auch heute noch nicht – so war’s doch, Edith – wie?“

[307] „Gut, wenn du die Sache auf die Spitze treiben willst, wenn du nicht bedenkst, daß ich in den sechs Jahren unserer Ehe nie etwas mir zu schulden kommen ließ, dann –“

„Nichts weiter als eine einzige ungeheuere, täglich wiederholte Lüge,“ schaltet er ein.

„Dann will ich dich befreien von meiner Gegenwart, dann reise ich ab! Ich vertrage es nicht, lächerlich gemacht zu werden vor den Leuten. Was soll man denken von dieser Absage? Die ganze Gegend wird Kopfstehen! Wenn du glaubst, mit dieser exemplarisch gewählten Strafe meine Zuneigung zu erzwingen, so irrst du dich. Nun erst recht nicht, nie, nie!“

„Ich will gar nichts erzwingen, ich finde den Gedanken an Abreise sogar sehr sachgemäß.“

„Du willst also, daß ich gehe, du weisest mich hinaus?“

„Durchaus nicht! Die Mutter meiner Kinder weise ich nicht hinaus. Willst du als solche bleiben –“

„Aber – als deine Frau – meinst du – da – – “

Er wirft die halb aufgerauchte Cigarre in den Aschenbecher mit einer Gebärde des Ekels, und sich mit gerunzelter Stirn zum Fenster wendend, sagt er sehr langsam und fast heiser: „Ich habe keine Frau mehr!“ Dann hört er hinter sich einen Aufschrei, und ein tolles, wildes Schluchzen beginnt – Edith hat ihre Weinkrämpfe.

Er tritt zu ihr, hebt sie vom Boden auf, legt sie auf seine Chaiselongue und klingelt dann; wie ein Alarmruf schallt die Glocke durchs Haus. Tante Tonettens Jungfer stürzt nach ein paar Minuten ins Zimmer.

„Die gnädige Frau ist krank, bekümmern Sie sich um sie! – Sie wissen ja Bescheid,“ sagt er. Und an der verdutzten Person vorüber geht er aus dem Zimmer in die Bibliothek hinauf und schließt hinter sich ab. Dort wirft er sich aufs Sofa, und nun schämt er sich auch nicht mehr, daß schwere heiße Tropfen ihm aus den Augen dringen und langsam in den Bart rinnen. – Am andern Tage liegt ein bleigrauer Himmel über der Welt und der Inspektor Heine ruft Anton zu, der in den Stall geht, um den Fuchs zu besuchen, den er gestern abend geritten hat, als er über seine Verzweiflung, über seinen rasenden Schmerz Herr werden wollte: „Heute giebt’s was, hoffentlich kein Unwetter. Das Barometer steht beinahe auf Erdbeben! Da wird’s wohl auch schlecht aussehen mit dem Tanzfest im Garten.“

„Das fällt leider so wie so aus, lieber Heine, meine Frau ist krank, alles abgesagt,“ antwortet Anton und tritt in den Stall, wo das schöne Pferd noch liegt, nun aber, da es seinen Herrn erkennt, aufsteht und wiehert. Er tritt heran, befühlt die Beine und klopft ihm den schlanken Hals. „Ruh’ dich aus, Alte,“ sagt er leise, „gottlob, es hat dir nicht geschadet.“

Heine ist ihm gefolgt und fragt, ob’s auch nicht schlimm sei mit der gnädigen Frau. Natürlich hat er bereits munkeln gehört, daß im Schlosse alles außer Rand und Band ist, daß die Einladungen sämtlich telegraphisch abgesagt wurden, daß Fräulein Tonette Gallerbrechen hat und Fräulein Josepha sowohl wie Frau von Lattwitz gleich nach Beendigung des einfachen Taufaktes abreisen werden.

„Ich sprach den Arzt noch nicht, Heine,“ berichtet Anton.

Frau Heine kommt jetzt auch. „Nein, wie jammerschade, Herr Mohrmann! Und wer soll denn nun bloß alle die Gelees und Cremes aufessen, und die Pasteten? Die Mamsell ist rein außer sich –“

„Sagen Sie der Mamsell, sie möchte einen gehörigen Korb voll einpacken für Frau Heine,“ versucht er mit trübem Lächeln zu scherzen.

„Zu gütig!“ ruft die kleine Frau. „Nein, so ’n Unglückstag, das macht das heiße Wetter! Bei Pastors liegt seit gestern abend die arme Frau danieder, soll ein Schlaganfall sein! Das Mädchen, das nach Eis für die Kranke geschickt war, erzählte, der Herr Pastor hätte gleich an die Schwester telegraphiert; lieber Gott, und es sind doch noch immer kleine Kinder da.“

Anton beißt die Lippen aufeinander. Er hat in dieser schlaflosen Nacht an Christel, immer wieder an Christel gedacht. So mochte ihr ähnlich zu Mute gewesen sein, als sie den Brief fand droben in der Bibliothek, wie gestern ihm, als er Ediths unbarmherzige Worte durch den Vorhang vernahm. Unbeschreiblich ernüchtert fühlt er sich, so in den Schmutz hinabgedrückt seine Seele! Selbst der Gedanke an die Kinder thut ihm weh, Kinder, die in Heuchelei und Verstellung zur Welt geboren sind, beschmutzt und belastet mit der Gemeinheit der Lüge! Was soll werden aus ihnen? Haben sie nicht das Gift der Heuchelei schon mitgebracht in ihrer kleinen Seele? Und er, der nichts mehr haßt als Unwahrheit und falschen Schein, er wird keine reine Freude an ihnen haben, er wird immer suchen und forschen, ob sich nicht die ererbte Sünde in ihren Trieben offenbart.

So hat er gegrübelt und gezweifelt in den paar kurzen Nachtstunden, und auch am Tage will das Gespenst nicht weichen. Er fühlt, daß ihn das Ehepaar Heine scheu und mitleidig beobachtet, zieht den Hut mit einem „Guten Morgen!“ und schlägt den Weg nach dem Garten ein. Als er im Begriff steht, die Gitterthür wieder zu schließen, überholt ihn der Diener und bestellt eine Empfehlung von Fräulein Josepha von Wartau und ob sie Herrn Mohrmann auf einen Augenblick sprechen könne. Sie warte in dem blauen Zimmer neben dem Saale. Er dreht auf dem Fleck um und geht ins Haus zurück. Die Stiftsdame erhebt sich bei seinem Eintritt aus einem Rokokosesselchen am Kamin; die trotz des trüben Himmels geschlossenen Jalousien geben dem zarten Blau des mit Rosenranken durchwirkten Stoffes einen mißfarbenen Ton. Die Bilder an den Wänden verschwimmen in dem unbestimmten Licht und es riecht betäubend nach halbverwelkten Sommerblumen, die gestern bereits in den Vasen arrangiert wurden, der Hitze aber nicht standgehalten haben.

„Sie wünschen, Baronesse?“ fragt Anton und schiebt ihr den Sessel wieder zurecht, indem er ihr gegenüber Platz nimmt.

„Sie können denken,“ beginnt sie in ihrer herben hochmütigen Art, „daß es allerlei zu besprechen giebt wegen Edith und daß, da Edith sich weigert, mit Ihnen persönlich zu verhandeln, und Tonette elend ist, ich die einzige bin, die –“

„Ich wüßte niemand, mit dem ich diese traurige Angelegenheit lieber ordnen möchte,“ unterbricht er.

Der warme Ton seiner Antwort läßt sie erstaunt aufblicken. „Wieso?“ fragt sie.

„Weil es stets eine Wohlthat ist, mit einer vornehmen ehrlichen Seele zu verhandeln, in solchem Falle ganz besonders.“

„Es thut mir leid, daß Sie durch ein Glied meiner Familie mit der gegenteiligen Gesinnung eine so traurige Erfahrung machen mußten,“ bemerkt sie.

„Ich bin nicht schuldlos an dieser Erfahrung, Baronesse.“

„Da haben Sie recht,“ sagt sie mit einer Bitterkeit, die ihn wie ein Schlag trifft.

„Ich büße schwer für mein Vergehen, Baronesse; nur eins bitte ich mir zu glauben, ich habe keine Lüge gebraucht, keine Unwahrheit gesagt, nie Komödie gespielt. Ich habe, an der Seite eines guten treuen Kameraden lebend, das Mädchen gesehen, das meine ganze Leidenschaft entzündete, aber kampflos bin ich nicht unterlegen, und nie würde ich mich von Christel getrennt haben, wenn nicht der Zufall einen Brief in ihre Hände gespielt hätte, der bestimmt war, meinen Seelenzustand einem Freunde anzuvertrauen. – Christel ging, weil sie mich glücklich machen wollte.“

Die Baronesie hört mit gerunzelter Stirn zu und schweigt noch eine ganze Weile, nachdem er geendet. „Ich ließ Sie bitten,“ sagt sie dann, das bisherige Thema verlassend, „um von Ihnen zu erfahren, wie Sie sich die nächste Zukunft gedacht haben, und Ihnen mitzuteilen, wie wir es am besten finden.“

„Ich bitte zunächst um Ihren Plan, Baronesse.“

„Ich habe Edith gegenüber ihrem Verlangen beigestimmt, daß sie Wartau verlassen soll; ein Zusammenbleiben für jetzt ist ja geradezu undenkbar.“

„Ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, Baronesse.“

„Da Edith noch zu jung ist, um sie allein reisen zu lassen,“ fährt sie fort, „möchte ich, daß Tonette sie begleitet. Wenn sie auch in ihrem Dränge, Edith und sich eine sichere Lebensstellung zu schaffen, großes Unrecht that, so wird sie doch jedenfalls die geeignete Hüterin sein für Ihre junge Gattin, deren Ehre noch immer die Ihrige ist. Die Kinder, denke ich, sollen hier bleiben, kleine Kinder gehören nicht ins Coupé, in ein wechselndes Leben; die Kinderfrau ist ja wohl zuverlässig?“

Er hat wieder feuchte Augen. „Ich bin mit allem einverstanden und werde mit doppelter Liebe über meine Kinder wachen.“

„Verzeihen Sie noch die Frage nach dem Geldpunkt,“ [308] beginnt die Stiftsdame abermals, und man merkt ihr an, wie peinlich ihr diese Frage ist.

Er erhebt sich. „Baronesse, meine Frau ist an ein sehr luxuriöses Leben gewöhnt, sie hat dasselbe weiter geführt, trotzdem ich ihr des öfteren Vorstellungen machte wegen ihres Aufwandes. In diesem Augenblick aber möchte ich ihr keinerlei Zwang auferlegen; mein Bankier wird ihr also die Summe, die sie gebraucht, zur Verfügung stellen.“

Die alte Dame mit dem stillen hochmütigen Gesicht errötet noch stärker. Es ist, als ob sie sprechen will, aber sie bringt kein Wort über die Lippen.

„Wann gedenken Sie zu reisen?“ fragt er.

„Edith möchte heute abend reisen, wenn Tonette einigermaßen hergestellt ist bis dahin,“ erwidert sie, „Emma v. Lattwitz mit dem Fünf Uhr-Zuge gleich nach der heiligen Handlung, und ich – –“ wieder stockt sie, ihre Hände spielen nervös mit dem Taschentuch, „ich – das heißt, wenn es Ihnen recht ist, Herr Mohrmann, und vor allem, wenn ich imstande bin, Ihnen zu nützen durch meine Gegenwart – der Kinder wegen natürlich – ich möchte noch einige Zeit Ihre Gastfreundschaft – – “

Er bückt sich, faßt ihre Hand und zieht sie an die Lippen.

„Sie nehmen mir eine Last von der Seele, Baronesse,“ sagt er, „ich danke Ihnen!“

„Nur bis Edith wiederkommt. Sie erwarten jedenfalls, daß sie zurückkehrt, wenn auch nicht mit erheuchelter Liebe, so doch mit aufrichtiger Hochachtung vor Ihrem Charakter?“

„Baronesse,“ sagt er schneidend, „reden wir nicht davon – im übrigen – der Mutter meiner Kinder steht jederzeit dies Haus offen. – Haben Sie weitere Befehle für mich, Baronesse?“ fragt er, sich erhebend.

Sie schüttelt langsam und traurig den Kopf, wie sie ihm nachsieht. Mit einem tiefen Seufzer verläßt sie das Zimmer.

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Nach dem Taufakt, bei dem Edith und Tonette fehlen und der in seiner Einfachheit gar nicht paßt zu dem Prunksaal und dem mit Orangerie verschwenderisch verzierten Altar, steigt Anton aufs Pferd und reitet trotz des trüben schwülen Wetters nach dem Vorwerk. Unterdes kommt der Landauer zurück, der den Geistlichen wieder nach der Stadt gebracht hat, und fährt gleich wieder an der Rampe vor, um die Damen zur Bahn zu bringen.

Edith hat sich entschlossen, mit demselben Zuge abzureisen wie Frau v. Lattwitz. Sie will die erste Nacht in Leipzig bleiben, um eine anständige Reisetoilette und sonst noch verschiedenes zu kaufen, und sie bringt mit diesem Entschluß das ganze Haus in quirlende Bewegung. Was Hände hat, hilft packen seit ein paar Stunden; in den Zimmern der jungen Frau sieht es wie auf einem Jahrmarkt aus. Tante Tonette, mit anderthalb Gramm Migränin im Leibe, taumelt umher wie eine Schwerkranke und hat eine grünlichgelbe Farbe; sie hätte so gern erst eine Nacht ruhig geschlafen vor der Abreise. Ediths Jungfer heult zum Herzbrechen, weil sie das Abschieds-Rendezvous im Park versäumen muß, das sie mit einem Volontär von Heine verabredet hatte, sie wollte ihn so gern noch Treue schwören lassen. Nun, ohne diesen Schwur, darf sie nach ihrer Meinung wohl kaum auf seine Treue hoffen. Das Kindermädchen von Ma leistet ihr getreulich Gesellschaft im Weinen und läuft zum Aerger der jungen Frau beständig in die Küche hinunter, um noch einen Händedruck von Wilhelm zu erhaschen.

Edith hat keine Ruhe mehr, sie will fort, je eher je lieber. Sie sieht etwas angegriffen aus, trägt aber eine forciert heitere Miene zur Schau und macht Späße mit Tante Tonette, die dieselben nicht beantwortet, und sie erklärt in Gegenwart der Leute besonders laut, daß sie sich wie unsinnig freue auf Sankt Moritz und daß sie von dort aus im Herbst direkt nach Venedig gehen, der Seebäder wegen, und wenn möglich den Winter in Rom verbringen wolle. An ein langes Fernbleiben glaubt sie im innersten Herzen nicht, in vier Wochen spätestens, meint sie, hat sie einen sehnenden, verzeihenden Brief von ihm, in dem nichts weiter steht als endlose Variationen über das Thema: „Komm’ wieder, es ist alles vergeben und vergessen!“ Aber sie wird ihn ordentlich warten lassen zuerst, ja, das wird sie!

Der Abschied von den Kindern wird ihr nicht schwer. Lothar hat zwar furchtbar geschrieen, weil er nicht mit Hottofahren soll; da hat sie ihm rasch einen Kuß gegeben und ihn hinaufbringen lassen. Die Zwillinge schlafen; die alte Kinderfrau präsentiert die Taufkindchen mit ernster Miene und Edith lacht über die blonden kleinen Dinger, die sich so völlig gleichen. Die dicke Person geht mit den Kindern nach ein paar Minuten tief gekränkt ab, weil die Mutter ihnen einen Abschiedskuß zu geben nicht für nötig hielt, ihr kein Wort gegönnt hat, um die süßen Geschöpfe ihr besonders ans Herz zu legen.

Einzig und allein Josepha ist ruhig und sitzt unbeweglich droben am Fenster und starrt in das aufziehende Wetter. Edith unterläßt, ihr Lebewohl zu sagen; sie ist namenlos empört über die Friedensstörerin, die in ihr Hans brach, um eine Pulvermine zu entzünden, welche ja freilich schon lange gelegt war, die Edith schon lange kannte, aber nicht gefährlich wähnte bei seiner blinden Verliebtheit. Und nun muß er es hören, wie sie ihrem Herzen gerad’ mal Luft macht – zu dumm! Na – es muß auch durchgemacht werden und schließlich, es ist keine üble Sache, so auf Reisen zu gehen! Es kommt ihr vor wie in ihren Kinderjahren, wo sie wegen einer Unart aus den Augen ihrer Mutter verbannt wurde, aber sich dafür ihr Lieblingsgericht bestellen durfte. Ach, und Reisen ist ein Lieblingsgericht; einmal ohne die Menschen sein zu dürfen, mit denen man tagaus tagein leben muß, das ist erst recht keine allzu harte Strafe für sie!

Das alte Stiftsfräulein erwacht erst aus ihrem Sinnen, als es stiller und stiller geworden ist im Hause und als die fernen Blitze so blendend die Dunkelheit erhellen. Sie erhebt sich und tastet sich durch das Zimmer auf den Flur hinaus; dort brennen die Lampen, aber die breiten Treppen liegen verlassen vor ihr. Sie geht noch einmal zurück, holt eine Kerze, steigt hinunter und durchwandert die Zimmer des ersten Stockes. Dort ist schon alles wieder verhangen, die Orangerie aus dem Saale entfern, die Staubrouleaux hängen vor den Fenstern. In einer Ecke des Saales, neben dem riesigen Kamin, erblickt sie eine Menge Stäbe mit bunten Bändern, die bei dem Schäferfest heute eine Rolle zu spielen bestimmt waren; ein großer Karton voll Knallbonbons, Konfitüren und Schleifchen in allen Farben steht auf einem Tischchen, dutzendweise liegen Stöße von Servietten und Tischtüchern in einem großen flachen Korb, und wieder auf einem andern Tische das ganze reiche Silberzeug des Hauses, Schalen, Aufsätze und Bestecks. Josepha verschließt vorläufig sämtliche Thüren; morgen will sie Mohrmann um die Schlüssel bitten und die Sachen verwahren. Von dort tritt sie in Ediths Zimmer; auch hier ist schon alles fortgeräumt und zugedeckt, nur die Uhren ticken noch und der Duft von white rose, den Edith so liebt, schwebt in der Luft. Auch hier schließt die alte Dame die Thüren, und dann klopft sie an Mohrmanns Zimmer unten.

Niemand antwortet. Der Diener, der aus dem Tafelzimmer kommt, wo er den Tisch für das Nachtessen hergerichtet hat, sagt, daß der Herr noch nicht zurück sei. Josepha ordnet an, man solle ihr ein wenig kaltes Fleisch und Selterswasser nach oben bringen, ihr Couvert hier fortnehmen. Dann steigt sie wieder hinauf und guckt noch einmal in die Kinderstube, wo alle drei schlummern; die beiden Ammen liegen im Nebenzimmer und schlafen schon den Schlaf des Gerechten. Auf dem Tischchen an ihrem Bett stehen ein paar leere Bierflaschen. Die alte Kinderfrau sitzt bei einer mit grünem Schirm verdeckten Lampe und schreibt.

„Sie sind heute abend so ruhig, die Kleinen,“ bemerkt sie zu Josepha, „gnädige Baronesse können glauben, das macht, weil sie getauft sind; alle kleinen Kinder schreien bis zur Taufe, weil der Böse noch in ihnen ist. Gottlob, daß sie ruhen und noch keinen Verstand haben, sonst müßten sie sich ja heute die kleinen Seelen aus dem Leibe schreien.“

„Gute Nacht, liebe Klauß,“ sagt Josepha freundlich, die dieser Friede angemutet hat, „Gott behüte die Kinder!“

„Wird für uns keine zu ruhige Nacht sein, Baronesse, wir kriegen was, und das kann ein schweres Wetter werden, es war ja so heiß die letzte Zeit. Wenn sich gnädige Baronesse fürchten, kommen Sie nur herüber; wenn mehrere zusammen sind, da hat man ein bißchen Mut.“

Im Schein der Blitze und beim leisen Murren des heraufziehenden Wetters kommt Anton durch die Allee geritten, die auf das Gut zuführt; unter den dichten Bäumen herrscht tiefe [309]

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0309.jpg

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Ein Ueberfall
Nach dem Gemälde von A. Roeseler.

Dunkelheit und eine geradezu erstickende Luft, er kann kaum atmen. Am Ende der Allee liegt das Schloß ohne ein einziges erleuchtetes Fenster; sein Anblick stimmt ihn noch mehr herab; die ganze Schwere einer solchen Heimkehr, wo niemand ihm mehr ein Willkommen bietet, befällt ihn mit doppelter Wucht.

Daß es so hat kommen müssen! Ach, er braucht wenigstens keine lächelnde Lüge mehr zu sehen und zu hören, das ist doch eine Wohlthat! Oede, öde wird es sein, aber klare Luft.


Wie das tobt in den Lüften auf einmal! Anton ist zuerst nach dem Wirtschaftshofe geritten, da braust plötzlich ein Wirbelsturm daher, der sofort eine Menge Ziegel von den Scheunen fegt und sie krachend auf das Pflaster schleudert. Der Knecht, der herzueilt, um das unruhige Tier zu halten, kann kaum Widerstand leisten gegen den Sturm.

Mit beiden Händen den Hut festhaltend, steuert Anton auf das Inspektorhaus zu und prallt mit Heine an der Thür zusammen.

„Nun geht’s los, Herr Mohrmann,“ sagt der, „es hat gerad’ noch geklappt mit dem Grummet, und nötig ist uns, weeß Gottchen, jeder Tropfen.“

„Wecken Sie die Knechte, lassen Sie die Pferde anschirren, die Spritze herausfahren,“ befiehlt Anton, „es ist ein schweres Wetter.“

Und es wurde wirklich ein schweres Wetter. In der Gesindestube des Inspektorhauses versammeln sich die aus dem Schlafe gescheuchten Knechte mit langen blassen Gesichtern, dafern sie nicht beim Vieh in den Ställen stecken, um dies zu beruhigen. Die kleine Frau Heine kauert in der Sofaecke, den Kopf in die Kissen verborgen, die Mamsell und die Mägde sitzen um den Tisch herum bei brennendem Licht und lesen im Gesangbuch und einige bemühen sich, die durch die geschlossenen Fenster dringenden Himmelswasser aufzutrocknen.

Die alte Stiftsdame im Schloß hat sich in das Kinderzimmer geflüchtet; die ganze Dienerschaft ist auf den Beinen. Der Herr des Hauses wandert in seinem Zimmer umher und horcht auf das Rauschen der Fluten, die unaufhörlich mit elementarer unglaublicher Gewalt vom Himmel stürzen.

„Ein Wolkenbruch,“ sagt Anton zu Heine, der eben mit blassem Gesicht, eine große wollene Decke umgeschlagen, eintritt, „sehen Sie, wie das Wasser aus dem Garten stürzt!“

„Herr Mohrmann, die Dotte ist aus den Ufern und fließt mitten durch die Dorfstraße,“ berichtet er, „die Bauern wollen Sturm läuten, die Brücke an der Mühle ist schon fort.“

„Lassen Sie den Fuchs für mich satteln und machen Sie sich auch fertig! Einige der Knechte auf die Ackerpferde, man muß versuchen, den Leuten zur Hilfe zu kommen! Sind die Ställe noch trocken?“

„Bis jetzt – ja, wir haben ein starkes Gefälle, aber drunten im Dorf wird sich die Geschichte wohl stauen.“

„Ich meine auch, hier ist vorläufig nichts zu besorgen, also vorwärts, Heine!“ Er geht nur noch einmal nach oben, um die geängstigten Frauen in der Kinderstube zu beruhigen, dann steigt er aufs Pferd und galoppiert, schon immer im Wasser, durch die Allee dem Dorfe zu. In der mit dem Fluß parallel laufenden Gasse steht die Flut schon einen Meter hoch; wie ein reißender Gebirgsbach kommt sie daher, die Fachwerkhäuser gefährdend, mit Trümmern bedeckt. Und der Regen strömt bei völliger Windstille mit unverminderter Schnelle und Dichtigkeit. Das Rufen und Schreien der Bewohner, das Brüllen des geängstigten Viehes mischt sich mit den raschen Schlägen der stürmenden Glocke, dabei herrscht die schreckhafteste Dunkelheit.

Wer kann da helfen?

In der Pfarre, die nebst Gottesacker und Kirche an der oberen Hauptgasse liegt, also vorläufig geschützt, ist alles hell; die Ziegen und die zwei Kühe sind trotzdem auf die etwas höher als die Ställe gelegene Hausdiele gerettet, deren untersten Tritt doch schon das Wasser bespült. Im Hause trägt eben eine große blonde Frau eine wimmernde Last mit Aufbietung aller Kräfte das steile Treppchen hinauf in den oberen Stock.

„Aber, Lotte, es ist ja gar nicht so schlimm,“ tröstet sie, „es hat sich bald ausgeregnet und das bißchen Wasser verläuft sich dann rasch. Jetzt lieg’ nur ganz still, und du, mein Junge,“ [310] wendet sie sich an den langen Gymnasiasten Anto, der seine Ferien bei den Eltern verlebt, „du setzest dich hier an Mutters Bette und verläßt sie keinen Augenblick – ich komm’ gleich wieder.“

„Ja, Tante Christel!“

Und Christel läuft die Treppe wieder hinunter, zieht das erste beste Paar Stiefel ihres Schwagers an und geht durch das Wasser auf den Hof; an der Schwelle des Hofthores steht sie schon einen halben Meter tief darin. Die Dunkelheit ist gradezu unheimlich, sie kann nicht sehen, wohin sie tritt; sie beschließt eben, durch den Garten zu gehen, der noch trocken sein muß, um irgendwie an eine Stelle zu gelangen, wo sie helfen kann; da hört sie durch all das Tosen und Rufen das Schnaufen von Pferden, ein schwacher Lichtschimmer fällt über das gurgelnde Wasser, und eine Stimme, die ihr durch Mark und Bein geht, schreit so laut sie kann: „Halloh! Ein Kind, ein halb ertrunkenes – nehme mir jemand das Kind ab!“

Im nächsten Augenblick hat sich Christel auf die Hundehütte und von dort auf die Mauer geschwungen. „Hier!“ schreit sie, „neben der Pfortenthür links!“ Und nun ist ein schnaubendes aufgeregtes Pferd an ihrer Seite, und von diesem herunter wird ihr etwas Nasses, Schweres in die Arme gelegt und der Schein der kleinen Laterne, die auf des Reiters Brust befestigt ist, trifft ihr Auge. Sie blickt auf und schaut in Antons Gesicht. Einen Augenblick ist es ihr, als entgleite die Last ihren Armen, dann hat sie sich gefaßt, ist mit dem Kinde von der Mauer geglitten und watet durch das immer höher steigende Wasser dem Hause zu mit dem geretteten fremden Wesen, das er ihr gab. Das Herz pocht ihr wie rasend – in dieser halben Minute hat sie eine ganze Geschichte erfahren, hat sie ein vorzeitig gealtertes, von Kummer gezeichnetes Antlitz erblickt! Sie kann den Ausdruck seines Gesichtes nicht mehr vergessen. Bei der Pflege des Kindes verfährt sie ganz mechanisch, sie vergißt die Not da draußen, die mörderische Flut, sie vergißt die kranke Schwester, sie denkt nur an ihn. Mit dem in trockene Tücher gehüllten Würmchen sitzt sie in der Sofaecke, wie gelähmt. Als der Morgen dämmert, steht der Schwager vor ihr, naß, bleich, sich schüttelnd vor Frost.

„Die Gefahr ist vorüber,“ sagt er tonlos, „das Wasser fällt. Der Müller Thalweg ist ertrunken, er wollte seinen alten Vater retten, und Tagelöhner Finkes kleiner Albert ist auch ein Opfer der Katastrophe geworden. Bitte, Christel, laß Kaffee kochen, ein paar Eimer voll, stark braucht er ja nicht zu sein, aber heiß. Die meisten Bewohner der Untergasse haben sich in die Kirche geflüchtet, bring’s ihnen hinüber! Ich will mich umziehen, dann komm’ ich nach; ich meine, die Leute möchten beten.“

Als er schon an der Thüre ist, wendet er sich noch mal: „Wenn du durch den Garten und über den Kirchhof gehst, kommst du ziemlich trocken hin. Ueberhaupt, hier herum ist’s gnädig abgegangen, aber dort unten – –“

Christel und die ganz verstörte Magd machen Feuer und schleppen Wasser herzu; nach einer halben Stunde ist der Trank fertig und in ein paar große Blecheimer gefüllt, mit diesen und einem Korb voll Tassen gehen beide nach der Kirche.

Das fremde Würmchen liegt und schläft in der Sofaecke, warm zugedeckt, auch die Kranke ist entschlummert nach einem Opiat, und der junge Anto liegt mit seinem Lockenkopf auf dem Bette der Mutter, ebenfalls schlafend.

In dem sonst so schmucken Gotteshause sieht’s bunt aus. Die Leute, wie sie gerade aus den Betten gesprungen sind, hocken da, kaum notdürftig bedeckt mit ein paar geretteten Kleidungsstücken, zwischen Hausrat, Kühen, Ziegen, heulenden Hunden und schreienden Kindern; klagende jammernde Frauen und finster dreinblickcnde Männer, alles Bewohner des unteren Dorfes, deren kleine einstöckige Häuserchen mit Wasser buchstäblich angefüllt sind, die die Angst um das Leben in die Flucht trieb, die ihr bißchen Hab’ und Gut im Stich lassen mußten, froh, das nackte Leben retten zu können. Am Altar steht der Dorfschulze mit Mohrmann, und der Küster, der eben vom Turm gestiegen ist, meldet, daß alles Land herum einem großen See gleiche mit einigen kleinen Inseln darin. Heine ist nach dem Gutshof geritten, um dort nach dem Rechten zu sehen, obgleich bei der massiven festen Bauart wohl keine Gefahr für die Bewohner droht.

Gerade wie Christel eintritt, hat Anton sich zu den versammelten Leuten gewendet; er redet sie laut an, und plötzlich ist alles totenstill. Mit nicht zu bemeisterndem Herzklopfen lehnt sie sich an eine Bank; sie will umkehren, sie kann ihn nicht sprechen hören, aber willenlos horcht sie dennoch seinen Worten, und unaufhaltsam rinnt ein klarer Tropfen nach dem andern aus ihren Augen.

„Liebe Nachbarn! Ein schweres Geschick hat uns betroffen. Vor wenigen Stunden noch konnten wir hoffen, wenn auch keine brillante, so doch eine gute Mittelernte einzuheimsen in unsere Scheuern, jetzt ist alles vernichtet. Unsere Felder gleichen einem großen See, und wenn die Wasser sich verlieren, werden wir, wo heute noch die Aehren im Winde wogten, nichts weiter sehen als Schlamm und Vernichtung. Und nicht genug damit. Viele von euch haben flüchten müssen aus ihren Wohnungen, einigen ist das Vieh ertrunken, und zwei Familien haben die Fluten ein teures Menschenleben entrissen. Unser braver Mühlenbesitzer Gottlieb Thalweg hat beim Rettungswerke sein Leben gelassen – Ehre seinem Andenken! Und dem Tagelöhner Finke ist der einzige kleine Sohn ertrunken; das ist ein noch viel schwereres Schicksal.

Liebe Nachbarn, wir wollen getreulich zusammenhalten in unserer Not, und diejenigen, die weniger hart betroffen sind, wollen in Dankbarkeit den am meisten Geschädigten helfen, des Elends Herr zu werden. Ich fordere alle auf, die vorderhand kein Obdach haben, sich auf dem Gutshof zu melden, ich werde für Unterkommen sorgen. Ebenso mögen diejenigen, deren Futtervorrat weggeschwemmt ist, sich beim Herrn Inspektor Heine melden, wo ihnen mit so viel, wie wir entbehren können, Unterstützung werden soll; auch will ich für Nahrungsmittel Sorge tragen. Und nun bitte ich euch, unnützes Klagen und Jammern zu lassen, euch vielmehr mit Geduld zu fügen in das Schwere, das wir ja nicht selbst verschuldet haben. Die Sonne muß uns auch wieder scheinen, liebe Nachbarn. Guten Morgen und frischen Mut!“

Die Leute sind mäuschenstill, als er die Stufen herunterkommt, um dem Prediger Platz zu machen, der schlicht und einfach sagt: „Laßt uns beten!“ Und als das Amen erklungen, drängt sich alles zu Anton. „Wir danken Ihnen auch scheene, und wenn Sie erlauben, dann komme ich nachher!“ – „Ach, lieber Gott, es wäre uns auch lieber, wir brauchten Sie nicht zu inkommodieren.“ – „Herr Mohrmann, ich darf doch meine alte Mutter mitbringen?“ – Und so weiter, ins Unendliche. Von einem dichten Knäuel Menschen umgeben, strebt Anton der Thüre zu, wo der Fuchs unter dem kleinen Portal angebunden steht. Er sieht Christel nicht, denn sie hat sich auf die Bank gekauert, aber sie sieht ihn, und aus ihrem erblaßten Gesicht blicken ihm die treuen blauen Augen nach, von Thränen verschleiert.

Auf einmal hört sie neben sich sagen: „Der kann auch ’n Lied singen von den letzten Tagen, ei Gottchen! Mit dem möcht’ ich ooch nich tauschen. Gestern abend is ’m die Frau ausgerissen. So ein albernes Geschege, hat keen Nu und keen Nischt gehabt, wie er sie nahm, und das is nu der Dank! Ei Gottchen, man soll bloß nich denken, wenn die Leute reich sind, daß sonst alles stimmt.“

„Nu, hären Sie, Bulingen, wenn er auch gleich prügelt! Es hat ja was Fürchterliches gegäm zwischen die Eheleite, aber prügeln darf er doch auch nicht glei?“

„Nee, das is nich wahr, das sind nischt wie Lügen, der haut nich!“

„Sie soll aber dagelegen ham wie tot vorgestern abend –“

„Na, vor Wut! Ach nee, das is schon lange kee Glück mehr gewesen.“

Und eine furchtbar dicke Frau, die in ein altes Umschlagetuch gewickelt ist, sagt: „Na, fort is se, mit oder ohne Prügel, und das is seine Strafe vor die erste, die sie gemeinschaftlich hinausgegrault hatten – ich gönn’s allen beeden, wenn nur die Kinder nich wär’n.“

Christel erhebt sich plötzlich, wendet den Leuten den Rücken, damit sie in der lichter gewordenen Dämmerung nicht erkannt werde, und geht in einen Seitengang, und dort hockt sie sich auf die Schwelle der Thür, die zum Glockenturm führt, und hält den Kopf mit beiden Händen. „Mein Gott, mein Gott!“ stöhnt sie leise. „Bin ich deshalb hergekommen, um ihn so elend wiederzusehen? Gieb, daß das alles nicht wahr ist, lieber, barmherziger Gott!“


[311] „Nur Mut, die Sonne muß wieder scheinen,“ hat Anton zu den Leuten gesagt, allein er selbst besitzt keinen Funken mehr von Mut. Er weiß, was es für ihn bedeutet – eine zerstörte Ernte! Den Ausfall kann er in seiner jetzigen Lage nicht verschmerzen; gegen Wolkenbruch ist man nicht versichert, ein Körnchen Hagel ist nicht gefallen. Hart, daß Assekuranzen für Ueberschwemmungen und Hochwasserschäden nicht existieren! Der ungeheure materielle Schaden schwebt ihm vor wie ein Gespenst, und die Unmöglichkeit, jetzt schon zu beurteilen, wie groß dieser Schaden ist, steigert noch seine Niedergeschlagenheit. Er kommt völlig niedergedrückt in das Schloß zurück, kleidet sich um und verlangt zu frühstücken. Sobald es ganz hell wird, will er hinaus und sehen, was ihm noch geblieben ist.

Im Schlösse steht das Souterrain unter Wasser, die Wein- und Küchenvorräte sind nach oben geschafft, ebenso die Kuchenmöbel; alles liegt und steht, ein Chaos, in der großen Halle umher; sonst ist keinerlei Schaden zu verzeichnen; nur die Bewohner haben sich geängstigt. Auf dem Wirtschaftshof hat das Wasser nur einen Stand von ungefähr einem Fuß gehabt; nein, hier ging es gnädig ab, aber die Felder!

Anton steigt hinauf in die Bibliothek und starrt durch den Nebel und Dunst des noch immer leise rieselnden Regens in den grauen Morgen hinaus. Weit kann er nicht sehen, aber was er sieht, ist nichts als eine Fläche bleifarbenen Wassers, aus dem die Chausseebäume hervorragen; sein Garten ist ein See, die verschnittenen Buchenhecken bilden Kanäle in demselben; die Sandsteinfiguren spiegeln sich in der Flut und scheinen darauf zu schwimmen; bis zur Sockelhöhe steht das Wasser, erst gegen den höher gelegenen Hof zu ebbt die Flut ab. Die große Weizenbreite jenseit des Gartens, die sein Stolz und seine Hoffnung war, ist gänzlich vernichtet.

Das war der zweite harte Schlag seit vorgestern. Wenn er sich nur aussprechen könnte, wenn nur einer zu ihm sagen wollte: „Anton, ängstige dich nicht, wir tragen es gemeinschaftlich, was auch komme.“ Er wendet sich hastig um, er meinte in Wahrheit diese Stimme gehört zu haben, Christels Stimme, aber das Zimmer ist leer, er ist allein. Merkwürdig, in dieser Nacht, in all dem Schrecken und Graus hat ihm seine Phantasie einen Streich gespielt: er meinte einen Augenblick Christels Gesicht gesehen zu haben über der Mauer des Pfarrhofs. Sie ist nicht hier, selbstverständlich nicht. Als ob sie nach Wartau kommen würde! Freilich, die Frau Heine hatte etwas gesagt von einer Krankheit der Pastorin, und daß man nach der Schwester telegraphiert habe; das wird die Louise sein sollen, natürlich. Ach, es ist ja auch ganz gleichgültig, die Vergangenheit ist abgethan, was geht ihn das alles noch an? Es darf ihn nichts mehr angehen! Sein Leben gehört seinen Kindern – arme Kinder!

Ha, ha, eigentlich ist’s zum Lachen! Wie hat er sich Kinder gewünscht mit Christel, damals, als er in eine bessere Lage kam, zu einer Zeit, wo er sie gut erziehen und ernähren konnte! Nun hat er die Kinder, aber keine Mutter zu ihnen, und obendrein ein verwundetes Herz und viele Sorgen – welche Ironie!

Er geht wieder hinunter und trifft mit Heine zusammen, der ihn mit mitleidigem Blick ansieht. „Herr Mohrmann, der Meier vom Vorwerk ist hergeritten.“

„Nun?“ sagt Anton.

„Alles hin, Herr Mohrmann, alles ersoffen! In Altwitz ist’s fast noch schlimmer, das ganze Dorf kampiert im Schlosse mit allem, was man retten konnte, Leute und Vieh. Der Meier erzählt, der Damm vom Ochsenteich sei gebrochen. Nein, wie ist das nur möglich, Herr Mohrmann? Der Altwitzer Graf hat gesagt, seit Menschengedenken wäre das nicht vorgekommen in unserer flachen Gegend. Von Thissow fehlt noch die Nachricht, aber der Herr Graf meint, er würde sich nicht wundern, wenn das Herrenhaus bis zum ersten Stock im Wasser stecke, weil’s an der Mulde liegt. Die Bahn ist bis zur Station hin zerstört, auf allen Dörfern haben sie Sturm geläutet die ganze Nacht lang.“

„Kann man wohl hinaus, um den Schaden zu taxieren?“

„Gott bewahre! Wenn’s jetzt aufhört zu regnen, vielleicht morgen, Herr Mohrmann, und das – seien Sie nicht böse – das sehen Sie noch früh genug, ’s ist alles hin! Aber, Herr Mohrmann, vielleicht, daß die Kartoffeln nach dem Rütwitzer Sandberg zu verschont geblieben sind, das wäre noch ein Trost.“

Anton, der mit Heine während dieses Gespräches in sein Zimmer getreten ist, wirft sich in einen Sessel. „Sie wissen, was das heißt für uns, Heine?“

„Ja, Herr Mohrmann; ich sagte schon zu meiner Frau, ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken nach alledem. Aber, wenn wir nun ein bißchen sparsamer – verzeihen Sie mir, Herr Mohrmann, in den letzten Jahren ist – ist –“

„Ja, ja, Heine, wenn’s nur nicht zu spät ist, aber setzen Sie sich doch.“

„Die Luxuspferde könnten doch, ich meine die Rappen – die Viecher stehen sich ja die Beine in den Leib, wann hat sie denn die gnädige Frau mal gefahren? Und der Shetlandpony – der Lothar ist ja noch viel zu klein. Und das frißt und frißt, und der Wilhelm frißt auch mit sein unnützes Brot.“

„Ja, Heine, daran habe ich auch schon gedacht, und nun vollends, wo das Futter knapp wird.“

„Ja, wenn Sie aber auch gleich die gesamten Kühe im Dorfe mit füttern wollen, Herr Mohrmann –“

„Das lassen Sie nur, Heine, das muß sein, bis die Leute sich erholt haben. Das Grummet schwamm ja in hellen Haufen mit fort.“

„Wir könnten’s später gut verkaufen; na, aber ’s ist wahr, das Herz geht einem über bei solchem Elend.“

„Lassen Sie nur Stroh schichten für heute abend, in der Weizenscheuer, Heine, und stellen Sie Wache, daß da nicht etwa einer raucht; Ihre Frau muß in der Leuteküche ordentlich was kochen, was Kräftiges.“

„Etwa Speck mit Erbsen, Herr Mohrmann, denn grünes Gemüse – da können wir uns ja vorläufig den Mund wischen.“

„Schön, Heine, – wenn ich nur wüßte, wie’s werden soll!“

„Es wird schon gut werden, Herr Mohrmann. Wenn jetzt einfacher gelebt wird, kann meine Frau wieder mehr Milch und Butter fortschaffen; zuletzt war’s ein bißchen schwach damit. Wir sparen, Herr Mohrmann, wir sparen, wir haben’s ja doch früher auch gethan, warum nicht jetzt? Wir kommen auch durch dieses Jahr.“

Und der ehrliche treuherzige Mensch verläßt seinen Herrn und Anton lacht bitter hinter ihm her. Was wußte der von den Verbindlichkeiten, die ihn drücken! Ach, alter Freund, mit deiner Milch und Butter, mit dem Abschaffen der Pferde machst du das verfahrene Schiff nicht wieder flott, nach diesem Unglück nicht, da hilft nicht einmal mehr der Ertrag aus der Flußspatgrube!

In diesem Augenblick steckt Heine wiederum den Kopf durch die Thür. „Ich vergaß ganz, zu sagen, Herr Mohrmann, unsere Frau Pastorin ist die Nacht gestorben. Es hat kein Mensch bemerkt, sie hat noch ebenso dagelegen, wie sie eingeschlafen ist, die Hand auf dem kleinen Anto seinem Kopf, der auch noch schlief. Frau – – ihre Schwester hat sie so gefunden.“

„Meine – Christel?“ fragt Anton.

„Ja, Herr Mohrmann; die andere konnte, glaube ich, nicht kommen, die hat da oben im Dorfe, wo Frau Christel wohnt, einen Oekonom, einen Witmann, kennengelernt und ihn geheiratet. Die Leute reden ja, er habe eigentlich Frau Christel gewollt, aber die – Herrgott, ich wollt’ nur sagen, die arme Pastorin hat ausgelitten.“ Und er geht. und schließt die Thüre hinter sich und Anton Mohrmann bleibt allein in seinem Kummer, seinem Schmerz, seinen wachgerüttelten Erinnerungen, die ihn wie blasse Gespenster umtanzen mit großen, vorwurfsvollen Augen.


Anton hat am Begräbnistage einen Kranz geschickt und ist dann in den Landwirtschaftlichen Verein in die Stadt geritten, Er hätte gern der ehemaligen Schwägerin die letzte Ehre gegeben, aber um Christels willen bleibt er fern.

Die große Stube im „Deutschen Hause“ ist dicht gefüllt mit Herren, die Wasserkatastrophe hat sie zusammengeführt. Mehr oder weniger haben sie alle gelitten, Wartau und Altwitz jedoch am meisten, dann kommt Thissow. Man berät her und hin, erzählt haarsträubende Geschichten aus den Stunden der Gefahr, hier und da auch einige komische, und trinkt viel echtes [312] Bier. Im ganzen kommt nichts Rechtes heraus. Der eine will, sobald er pflügen kann, auf den überschwemmten Acker Raps säen, die meisten lassen ihn als Brache liegen bis zur Wintersaat. Dem Altwitzer Grafen sind sämtliche Grummetfeimen verschwemmt.

Anton sitzt dabei und raucht seine Cigarre. Irgend einer neckt ihn, meint, er könne es mit ansehen, er habe ja seine sichere Einnahme da unten her vom Harz, er sei auch wohl nur so traurig, weil er Strohwitwer geworden sei.

Das ist das Signal zu einem allgemeinen Erkundigen nach Frau Mohrmann. Möglich, daß die Wahrheit nicht bekannt wurde, möglich, daß man glaubt, die schöne Frau sei zur Stärkung ihrer Nerven in die Schweiz gereist, am wahrscheinlichsten aber ist es eine ganz lasterhafte Neugier, dem Grund dieser plötzlichen Abreise auf die Spur zu kommen.

Anton sitzt wie in einem Kreuzfeuer, das er scheinbar ruhig aushält; innerlich schüttelt er sich vor Zorn, und sobald es thunlich ist, steht er auf, um sein Pferd zu bestellen.

„Seien Sie doch kein Frosch, sie wartet ja doch nicht daheim!“ ruft ihm einer nach; der Landrat von Logow ist’s mit dem berühmten Mundwerk. Anton thut, als hört er es nicht, und da das Pferd noch nicht vorgeführt ist, bestellt er dem Kellner, er gehe langsam voraus, der Hausknecht möge ihm den Gaul nachbringen. Wie er vor dem Wartauer Schloß eine halbe Stunde später absteigt, kommt ihm der Diener entgegen mit den Worten: „Herr Buchenberg ist angekommen.“

Von einer bösen Ahnung erfaßt, begrüßt Anton den Leiter der Flußspatwerke; das ernste Gesicht des Mannes weissagt nichts Gutes, und bei einer Cigarre und einem Glas Rheinwein, der eilig gebracht wird, sagt Buchenberg: „Keine guten Nachrichten, lieber Anton. Da ist mir meuchlings eine Gesellschaft Engländer in die Flanke gefahren, ihr Mutungsgesuch befindet sich bereits in den Händen des Bergamtes; es betrifft ein großes ausgedehntes Gebiet am Südharz. Dasselbe Unternehmen, das ich dir vor zwei Jahren so dringend anempfahl, weil die Bedingungen für die Versendung des gewonnenen Materials ungleich günstiger sind als die unsrigen, denn der Wasserweg ist stets der billigste und die Saale liegt dem fraglichen Terrain nicht gar fern.“

Buchenberg hat recht, und Anton beißt sich auf die Lippen; er war in der Versammlung der eifrigste Gegner des Projekts gewesen, weil er die zu große Ausdehnung des Unternehmens, die neuen Betriebskosten scheute und – wer konnte auch damals vermuten, daß so bald noch andere den Schatz entdecken würden, der dort im Boden ruht? Außerdem, damals steckte er schon in Verlegenheiten durch seine luxuriöse Einrichtung des Schlosses, den kostspieligen Haushalt. Er hatte also Buchenberg auf günstigere Zeiten vertröstet, die freilich ausblieben. „Und was soll nun werden?“ fragt er gepreßt.

„Das will ich eben mit dir besprechen, mit dir und Sybel. Zunächst schlage ich vor, wir berufen eine Versammlung der Besitzer der Kuxe. Du und Sybel als die beiden Hauptbeteiligten, ihr müßt darauf bestehen, daß ein billigerer Transportweg geschaffen werde; die Abfuhr des Materials mit Geschirren bis zu dem meilenweit entfernten Bahnhof ist zu kostspielig und wir können, wie gesagt, nur konkurrieren mit dem neuen Unternehmen, wenn wir billiger liefern, als es bis jetzt geschehen.“

„Das sehe ich ein!“ sagt Anton, „aber – – “

„Und dazu bietet sich jetzt eine treffliche Gelegenheit,“ unterbricht der andere.

„Wieso?“ fragt Anton und sieht mit gerunzelter Stirn an Buchenberg vorbei. „Ich habe drei Mißernten gehabt, jetzt die Wasserkatastrophe, und wenn’s nun auch mit dem Gewerke rückwärts geht, dann –“

„Mensch, laß mich doch ausreden!“ ruft Buchenberg. „Also höre: In etwa vier Wochen wird die Klingelbahn durch den Unterharz dem Verkehr übergeben, ein kleiner Bahnhof derselben an der Burgwiese liegt uns nicht allzu fern, liegt überhaupt günstig, und darum bauen wir eine Schmalspurbahn von der Grube bis zu dem genannten Bahnhof. Es werden so gegen acht Kilometer sein, und zwar etwa sechs und ein halb Kilometer durch fiskalischen Wald und Heide und anderthalb Kilometer durch Wiesen und Triften des Rittergutes Broderode. Mit dem Fiskus werden wir einig; ich habe bereits den Regierungsrat von Zedwitz darüber gesprochen, der sehr für die Anlage ist im Interesse der ärmlichen Bewohner, denen wir Arbeit geben; und der Besitzer des Rittergutes ist selbst Kuxinhaber und wird uns nur zu gern gefällig sein. Allerdings kostet die Sache Geld, denn wir würden auch zwei Brücken bauen müssen, und zwar eine ziemlich lange durch den Bruch; aber die Geschichte bringt’s wieder ein, reichlich wieder ein, auch ist unser Reservefonds nicht ganz unerheblich, und endlich – wir könnten eine Anzahl neuer Aktien ausgeben, die wir jetzt über Pari an den Markt zu bringen alle Aussicht haben.“

„Ich Zöge mich doch am liebsten ganz zurück und verkaufte meinen Anteil,“ bemerkt Anton verstimmt.

„Natürlich! Zünde dir dein eigenes Haus an – ob wir mit kaput gehen, das braucht dich nicht zu kümmern. Sobald du die Prioritäten auf den Markt schmeißt, sind wir schon angezweifelt, und eines Tages ist der Kladderadatsch da! Das Gegenteil soll geschehen; du und Sybel, ihr müßt einen großen Teil der neuen kaufen zum Parikurs, das könnt ihr verlangen; je weniger im Handel, desto besser – verstanden? Ihr seid die am meisten Gefährdeten, geht die Sache schief; ihr müßt sie halten, sonst ist eines schönen Tages der Krach da und ihr habt gar nichts.“

In diesem Augenblick meldet der Diener, daß das Abendessen serviert sei, und die Herren gehen hinüber. Sie sitzen allein am gedeckten Tisch, Anton grübelnd und rechnend, Buchenberg redend, einen Grund nach dem andern anführend, um zu beweisen, daß sein Vorschlag das einzig Richtige sei, das Werk auf der Höhe und konkurrenzfähig zu halten.

„Gut,“ sagt Anton endlich, „ich werde mit dir fahren morgen früh.“

„Nein, nein!“ ruft Buchenberg, den Mund noch voll Taubenpastete, „morgen ist zu spät, heute noch! Morgen in aller Frühe müssen wir Sybel bearbeiten, ehe der alte Freund hinausfährt nach seiner Fabrik; dann werden die Aktionäre telegraphisch zusammengetrommelt. Jede Stunde ist von Wichtigkeit, laß nur anspannen; der Zug geht um zehn Uhr, wir haben noch eine Stunde Zeit.“

Anton klingelt und bestellt den Wagen.

„Apropos,“ fragt Buchenberg, „wo ist denn deine Gattin – doch nicht krank?“

„Verreist,“ antwortet Anton kurz.

„Ach so? Na, es ist die Saison dafür – warum bist du denn nicht mit? So ’n schönes junges Weib läßt der Philister allein in der Welt umher kutschieren! Bist du gar nicht eifersüchtig?“

„Nicht im mindesten,“ sagt Anton kühl, indem er sich erhebt.

„Na prosit, sie soll leben!“ Buchenberg hält das Glas hoch und wundert sich über die laue Art, mit der Anton anstößt. „Höre, wenn ich bedenke, wie du früher warst,“ fährt er fort, „als Student, und dann noch später, als ich dich im Inspektorhause da drüben besuchte – Mensch, was ist eigentlich aus dir geworden? Johann der muntere Seifensieder ist ja in seinem schwermütigen Stadium ein Waisenknabe gegen dich! Ich sehe dich noch drüben neben deiner ersten Frau –. Na, Herrgott, nimm’s mir nicht übel, Anton, ich rühre vielleicht an delikate Geschichten – komm’, gieb mir die Hand, es war nicht böse gemeint!“

„Ich weiß ja, Bester! Du entschuldigst mich nun aber einen Augenblick; ich will nur sagen droben, daß ich verreise; Heine muß es auch wissen. Bitte, bediene dich, iß den Nachtisch, und hier liegen die Cigarren; ich bin so rasch als möglich wieder bei dir.“

Eine halbe Stunde später fahren die Herren nach Leipzig. Als Anton nach zwei Tagen zurückkommt, sieht er noch finsterer aus als vorher. Der Bau der schmalspurigen Bahn ist beschlossen und Anton hat eine bedeutende Anzahl neuer Aktien gezeichnet. Der Kostenanschlag, den ein Sachverständiger in aller Eile gemacht hat, um überhaupt eine Ahnung zu gewinnen, was der Bau kosten wird, übersteigt die Befürchtungen bei weitem, ist aber trotzdem genehmigt worden. Die Aussichten auf Gewinn sind für die Aktionäre vorläufig verzweifelt schlechte, trotzdem hoffen sie, bis auf Anton, der überhaupt an nichts Gutes mehr glaubt, das Gewerk auf der Höhe zu erhalten. Das Kapital zum Ankauf neuer Aktien hat Anton als dritte Hypothek auf Wartau eintragen lassen; er weiß nur eins – daß er alles thun muß zur Rettung des Gewerkes.

(Fortsetzung folgt.)

0

[313]

Eine Wanderung durch das Berliner Reichspostmuseum.

Von Gustav Klitscher.0 Mit Abbildungen von E. Thiel.

Schon gleich nach dem französischen Kriege hatte der geniale Begründer des deutschen Reichspostwesens den Plan gefaßt, eine Sammlung von Lehrmitteln zu vereinigen, welche geeignet wären, bei den Unterrichtskursen für Verkehrsbeamte, sowie für Studienzwecke allgemeiner Natur als Ergänzung des Lehrstoffs zu dienen. Aber erst im Jahre 1874 konnte nach Ueberwindung mannigfacher Schwierigkeiten mit der Einrichtung einer Plan- und Modellkammer begonnen werden. Den Grundstock dieser Sammlung bildeten die Gegenstände, welche die Reichspostverwaltung auf der Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 ausgestellt hatte. Inzwischen ist aus diesen bescheidenen Anfängen eine Sammlung hervorgewachsen, zu deren Registrierung ein Katalog von etwa 600 enggedruckten Seiten nötig ist, und die ein wohl hier und da noch lückenhaftes, aber doch weit umfassendes Bild nicht nur des Post- und Telegraphenwesens der Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch des Schrifttums, des Nachrichtenwesens und der Beförderungseinrichtungen aller Völker und Zeiten bietet. Bis vor kurzem war noch dieses Reichspostmuseum in den engen Räumen des alten Reichspostamtes sozusagen vor den Augen allzu Neugieriger versteckt. Nunmehr aber ist es in die hellen, luftigen Säle des neuen Prachtbaues an der Ecke der Leipziger- und Mauerstraße gebracht worden und wird sich sicher der allgemeinen Aufmerksamkeit erfreuen. Und lehrreich und anregend ist in der That ein Gang durch diese Räume, denn er enthüllt in sinnlich anschaulicher Darstellung eine Geschichte des Verkehrs vor den Augen des staunenden Beschauers.

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Chinesischer
Postreiter. 0

Indischer Eilpostbote
mit Schwimmapparat.

Die ältesten uns erhaltenen Schriftproben und Schreibgeräte stammen aus Aegypten und Assyrien. Von ihnen besitzt das Museum eine ganze Reihe in Original oder Nachbildung, darunter einen Gipsabguß des bekannten Basaltsteines von Rosette, der durch seinen Text in drei Sprachen zum ersten Schlüssel für die Entzifferung der Hieroglyphen wurde. Aus griechischer Zeit fällt besonders eine Skytala, der Stab für die Geheimschrift der Spartaner, und eine Schultafel in Wachs mit einem Versdiktat auf. Sehr hübsch sind die Bilder zweier Briefschreiberinnen, die in Pompeji und Portici gefunden wurden; das Briefschreiben muß danach schon damals den jungen Damen ebenso viel Kopfzerbrechen gemacht haben, wie es das heute auch noch thun soll. Für die Art wie man im Mittelalter schrieb, ist besonders die Hamiltonsche Sammlung wichtig geworden, deren Original sich im kgl. Museum zu Berlin befindet, und aus der das Postmuseum prächtig ausgeführte Reproduktionen besitzt. Aber auch aus den Schätzen anderer Sammlungen ist an Text wie Illustrationen eine gute Auswahl getroffen, in der man nicht allein die Schrift, sondern auch die Art wie man schrieb, die Form der Briefe, Bücher, Pulte und anderer Schreibgeräte, gut erkennen kann. Aus der neueren Zeit sind dann neben den handschriftlichen Proben auch die Erzeugnisse der frisch erfundenen Druckerkunst vorhanden; während aus dem 16. Jahrhundert nur erst eine geschriebene Zeitung erhalten ist, kommen später gedruckte Gazetten zu Tage. Aus dem 17. Jahrhundert finden sich schon gefaltete Briefe mit Portovermerk, Briefumschläge aus aller Herren Ländern, man merkt, daß man in das Zeitalter der regelmäßigen Posten gekommen ist.

Ursprünglich geschah die Beförderung von Nachrichten, mündlichen oder schriftlichen, zwischen räumlich voneinander entfernten Personen naturgemäß durch Boten, und zwar durch Boten zu Fuß, da der Mangel an gebahnten Straßen den Gebrauch von Reittieren im allgemeinen stark erschwerte. Eine Inschrift des Museums bezieht sich auf Philonides, den Eilboten Alexanders des Großen, von dem Plinius erzählt, daß er 1200 Stadien (etwa 200 km) in 9 Tagesstunden zurückgelegt habe, was man aber wohl dem guten alten Plinius nicht so ohne weiteres zu glauben braucht. Neben dem Stein befindet sich eine verkleinerte Nachbildung der Bronzestatue von Max Kruse in der Nationalgalerie, Philippides, den Siegesboten von Marathon darstellend, welcher vom Schlachtfelde in ununterbrochenem [314] unterbrochenem Laufe nach Athen eilte und mit der Freudenbotschaft: „Freut euch, der Sieg ist unser!“ vor den ängstlich harrenden Archonten entseelt zusammenbrach.

An diesen klassischen Vorgänger erinnert der Bote von Basel dessen Statuette (siehe untenstehende Abbildung) das dortige Rathaus schmückt. Er wurde im Jahre 1444 vom Rat der Stadt Straßburg im Elsaß beim Herannahen der Armagnaken nach Basel geschickt und soll, nachdem er seine warnende Botschaft überbracht hatte, tot niedergesunken sein. Seine Kleidung ist im Original halb schwarz, halb weiß. Diese zwiefache Färbung scheint im Mittelalter bei Botenröcken allgemein üblich gewesen zu sein und hat sich in der Schweiz bis ins 18. Jahrhundert erhalten. Die Botentasche hängt an einem um den Leib geschnallten Riemen, auf der linken Seite der Brust trägt er das Wappenschild von Basel angeheftet. Solch ein Wappenschild war das ständige Abzeichen der Boten; auch der Berner Läufer, vom Lerberbrunnen daselbst, trägt das Wappen seiner Vaterstadt. Die Farben seines Anzuges sind schwarz und rot. Von ihm wird die Geschichte erzählt, daß er, einstmals zu König Heinrich IV von Frankreich geschickt, diesem seinen Auftrag deutsch ausrichtete. Der König äußerte sein Erstaunen darüber, aber der freie Schweizer antwortete, man brauche sich nicht zu wundern, daß ein Läufer von Bern nicht Französisch, wohl aber, daß der König von Frankreich nicht Deutsch verstehe. Wie immer in solchen Anekdoten, war auch diesmal der Monarch sehr gnädig und lachte über den Spaß. – Aus dem 17. Jahrhundert ist das Bild eines Nürnbergischen Boten erhalten, der einen Brief mit der für jene Zeit etwas renommistischen Inschrift in der Hand trägt: „Gute Zeutung auß Türkey und Ostindien“. Dem Bild sind folgende lustigen Verse beigegeben:

„Ich bin die Post zu Fuß; ich trage diß und das:
Denck an den kühlen Wein, so bald ich werde naß.
Geh ich durch einen Thal, und höre Vögel singen,
so denck ich zu dem Tisch, da die Schalmeyen klingen.
Ich gehe durch den Wald und manchen Dörner-Strauß,
und traure, daß noch weit ist zu des Wirtes Haus.
Geh ich auf einen Weg, da fleüßt ein Wässerlein,
So denck ich morgens gleich an den gebränden Wein.
Sobald ich angelangt, will jeder Zeitung fragen;
doch kann ich unverschnaufft, 12 Dutzet Lügen sagen.
Frau wirtin traget auf, und setzt das beste zu:
Es zahlen diese Zech des Boten neüe Schuh.“

Heutzutage erinnert bei uns an den alten Boten, der zu Fuß von Ort zu Ort zog, eigentlich nur noch der Landbriefträger. Ihm werden aber, wo es irgend angeht, schon Pferd und Wagen beigegeben. Wie mühsam anderwärts auch heute noch der Dienst des Postboten sein kann, erfahren wir in dem Museum aus einer Reihe von Photographien und plastischen Modellen verschiedener Postboten, die unser Zeichner unter Hinzufügung landschaftlicher Staffage abgebildet hat. Da sehen wir zunächst die russische Post im Kaukasus, wie sie sich unter Kämpfen und Gefahren durch den Winterschnee des Gebirges hindurcharbeitet. Ueberhaupt sind die weniger kultivierten Länder das eigentliche Feld des Fußboten. In Indien (s. unsere Abbildung S. 313) ist er sogar für gewisse Strecken mit Schwimmgürtel und Schwimmblasen ausgerüstet, damit er an Flüssen nicht etwa den Umweg über entfernte Brücken zu machen braucht, während er in Argentinien (s. unsere Abbildung S. 315) für die Wanderungen in den Kordilleren einen dicken Bergstock trägt und den Kopf gegen Sonnenstich umwickelt hat. Der japanische Briefträger, dessen Abbildung nach einem Aquarell auf Seide im Postmuseum ausgeführt ist, trägt europäische Kleidung, nur der Kontrolleur, der neben ihm steht, hat noch die alte Landestracht bewahrt.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0314 2.jpg

Statuette eines
Baseler Briefboten

Dänischer Kugelpostwagen.

Die berittenen Boten zur schleunigen Ueberbringung von Nachrichten waren auch schon im Altertum bekannt. Die griechischen Schriftsteller erwähnen die Reiterposten der Perser, und Julius Cäsar verteilte Reiterstationen zwischen seinem Heere und Rom, um die Nachrichten von seinen Siegen möglichst rasch nach der Hauptstadt gelangen zu lassen. Den ersten wirklichen Postreiter besitzt das Museum in dem sogenannten „kleinen Kurier“ nach einem Kupferstich von Albrecht Dürer. Aus dem 17. Jahrhundert stammt die Abbildung eines Postreiters, der die Nachricht vom Abschluß des Westfälischen Friedens überbringt; das Bild trägt die Unterschrift: „Neuer Auss Münster vom 25 dess Weinmonats im Jahr 1648 abgefertigter Freud- und Friedenbringer Postreuter“. Er trägt das Posthorn, und dies bleibt nunmehr ein Attribut der Postillone, so zwar, daß es niemand sonst gestattet war, es zu führen. Friedrich der Große hat dieses Privileg einmal in einer seiner schlagenden Randbemerkungen bestätigt. Ein Herr v. Q. im Cleveschen, den der Hochmutsteufel gar zu sehr plagte, hatte es schon durchzusetzen gewußt, daß er in den Grafenstand erhoben wurde, eine Gunst, die der geldbedürftige König wohl hauptsächlich darum erwiesen hatte, weil durch die zu zahlenden Gebühren ein gut Stück Geld in die Staatskasse kam. Nunmehr aber stellte das neugebackene Gräflein die Forderung, sich einen eigenen Postillon mit Posthorn halten zu dürfen, worauf Friedrich erwiderte: „Ich erlaube Euch alle Arten von Hörnern zu tragen, nur keine Posthörner.“ Heutzutage spielt der berittene Postbote noch eine große Rolle in China (s. unsere Abbildung S. 313). Solch ein chinesischer Kurier hat täglich 300 bis 600 Li (ungefähr 130 bis 175 km) zurückzulegen, und selbst auf längeren Reisen von 10 bis 18 Tagen wird er nicht abgelöst.

Ferner ist das Museum an Abbildungen und Modellen von Wagen überreich. Neben dem Streitwagen der alten Aegypter finden sich die verschiedenen Arten zwei- [315] und vierrädriger Gefährte der Griechen und Römer. Im Mittelalter galt die Benutzung eines Wagens zunächst als weibisch, der Mann ritt. Allmählich aber kam die Benutzung der Wagen mehr und mehr auch allgemein auf. Nur daß der Zustand der Wege eine Wagenfahrt nicht gerade zu einem besonderen Vergnügen machte. Ums Jahr 1673 hatte ein braver Mann, der Weigel hieß, eine zerlegbare Feldkutsche gebaut, die auf die Beschaffenheit der damaligen Straßen manch peinlichen Schluß zuläßt.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0315 1.jpg

Postbote in den
Kordilleren.     

Japanischer Postbote, einen
      Briefkasten leerend.

In der Erläuterung zu seinem Kunstwerk sagt er nämlich: „Auf der Kutsche sitzt und lieget man so sanft und bequem, daß die sonst unausbleiblichen Stöße, weil die Wagen des ungleichen Weges halber immer hin- und herschlagen, von der natürlichen Büge des Leibes ganz lieblich aufgenommen, und das Schüttern, es mag der Wagen über unsanften Weg aufspringen, so hoch er will, von dem künstlichen Polsterwerk in lieblich Hetzschen verwandelt wird. Ja wenn auch durch Verwahrlosung des Knechts der Wagen außer dem Geleiß oder über einen hohen Stein oder Hügel geführet, nothwendig umbfallen müßte, so können den noch die drinnen Sitzenden ohne Schaden des mit Umbfallens sein. Denn die zur andern Seiten können den Schlag geschwind aufmachen, zugleich alle miteinander Herausspringen (welches in den gemeinen Kutschen nicht möglich), die bei der fallenden Seiten aber können sich bald umbwenden oder in dem umbfallenden Wagen sich nur contra Welzen, so werden sie von dem Wagen frei.“ Auch der nebenstehend abgebildete kursächsische Hof- und Reisewagen vom Jahre 1730 zeigt durch seine massive Bauart, wie man mit den Unbilden der Wege rechnen mußte. Er hatte eine Bespannung von vier bis acht Pferden und war mit einem Hemmschuh und hinten mit einer Gabel versehen, die das Zurückgleiten von einer glücklich erklommenen Höhe verhindern sollte. Hinter dem Kutscher ist reichlich Platz für Reisekoffer; das Futter für die Pferde wurde auf dem Verdeck mitgeführt. Das Original des Wagens befindet sich im Marstall zu Dresden; das Modell im Reichspostmuseum ist 60 cm lang.

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Das Geburtshaus Heinrich Stephans
zu Stolp i. Pommern.

Aus neuerer Zeit sind die verschiedensten Postkutschen vorhanden. Da ist „der Thurn und Taxis’sche bequeme Schwimmer“, die „Preußisch Naglersche weich gepolsterte, rasch bespannte Kutsche“ und die „bequem dehnliche bayerische Chaise“. Da findet sich ferner eine englische Mail coach aus den vierziger Jahren und ein sonderbarer dänischer Kauz (s. die Abbildung S. 314), von dem auf einem Täfelchen ausdrücklich zur Belehrung des Beschauers, der etwa glauben könnte, die Fahrgäste wären darin wie Wurstfüllsel gestopft mitgeführt worden, gesagt wird, daß er nicht zur Personen-, sondern nur zur Briefbeförderung diente. Daß sämtliche Gefährte der deutschen Reichspost im Museum vorhanden sind, versteht sich von selbst. Einen interessanten Gegensatz zu diesen modernen Gespannen bilden die Gefährte, mit denen heute noch in Rußland in den Eiswüsten Sibiriens und den asiatischen Steppen die Post befördert wird (s. unsere Abbildung S. 313.)

Auch die Eisenbahn, soweit die Post sie sich dienstbar gemacht hat, ist vertreten. Wie Spielzeug für große Kinder stehen da die mit sauberstem Fleiß bis ins kleinste naturgetreu gearbeiteten Modelle der deutschen, englischen und amerikanischen Bahnpostwagen.

In einen kostbaren Spielwarenladen könnte man sich auch versetzt glauben, wenn man in der Schiffsabteilung Umschau hält, wo Christoph Columbus’ Caravelle „Santa Maria“ einträchtig neben dem Schnelldampfer „Kaiserin Auguste Viktoria“ steht, umgeben von einer Flotte der bemerkenswertesten Fahrzeuge. – Einen besonderen Besuch seitens des Liebhabers verdient die Postwertzeichensammlung. Diese enthält so ziemlich alles, was erschienen ist an den mit Wertstempeln versehenen Marken, Umschlägen, Streifbändern, Postkarten und Postanweisungen aller Länder. Außerdem finden noch die Postkarten und Postanweisungen ohne Wertstempel, sowie die nicht in den amtlichen Verkehr gekommenen Probe- und Versuchsexemplare (Essais) von Post- und Telegraphenwertzeichen Berücksichtigung.

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Kursächsischer Hof- und Reisewagen.

Das Telegraphen- und Telephonwesen nimmt einen bedeutenden Raum des Museums ein. Hier überwiegt naturgemäß [316] das Technische. Vor lauter Drähten, Spulen, Knöpfen, Tastern, Kabeln, Batterien und Klopfern wird dem Laien ganz wirr im Kopf.

Der erste Morse-Apparat vom Jahre 1837.

Wer aber liebevolles Verständnis mitbringt, der kann hier auf verhältnismäßig engem Raum die ungeheure Umwälzung vom optischen Telegraphen bis zum Mikrophon überschauen. Und manch einfach rührendes Stück ist unter der überreichen Fülle: so Morses erster Apparat (s. nebenstehende Abbildg.), den er sich selbst noch aus Holz und Draht kunstlos zusammengebastelt hat, und das erste Telephon von Philipp Reis aus dem Anfang der sechziger Jahre. Wie anders sieht dagegen die vollständige Fernsprechstation aus, die, von Siemens & Halske hergestellt, im Hofzug des Kaisers angebracht ist!

Das Telephon in seiner ersten Gestalt.

Der Schluß unserer Wanderung führt uns an einen Platz stillen Gedenkens, in den Ehrensaal, dem Andenken Heinrich Stephans geweiht. Hier hängt das photographische Bild des unscheinbaren kleinen Hauses zu Stolp (s. unsere Abbildg. S. 315), in dem vor nunmehr 67 Jahren als Sohn eines Schneiders der Mann geboren wurde, der nicht nur der Begründer der deutschen Reichspost, sondern der Reformator des gesamten Postwesens überhaupt werden sollte. Es ist ein weiter Weg von jenem Stübchen in Hinterpommern bis zu diesem Gedenksaal, wo in stolzer Menge nebeneinander liegen Ehrenbürgerbriefe und Adressen in kostbarster Ausstattung, das Adelsdiplom und der Kranz, der auf dem letzten internationalen Postkongreß in Washington Stephans leider schon verwaisten Stuhl schmückte. Diesen Kranz hat Geh. Ober-Postrat Neumann über das Meer mit herübergebracht; er ist es auch, der mit Unterstützung des Herrn Rechnungsrats Rack das Postmuseum im Sinne des großen Toten leitet und stets darauf bedacht ist, es um interessante Gegenstände zu bereichern.

Aus der Fülle der Sammlungen konnten hier natürlich nur Einzelheiten, gewissermaßen Stichproben gegeben werden. Wer sich näher über das Museum unterrichten will, der findet alles Wissenswerte in dem großen Katalog sowie in dem zwar etwas veralteten, aber immer noch sehr lesenswerten Buch von F. Hennicke, „Das Reichspostmuseum“. Wer aber nach Berlin kommt, versäume nicht, die Schätze des Museums anzuschauen.


Schmerzlose Operationen bei erhaltenem Bewußtsein.

Von Dr. J. Herm. Baas.

Es ist noch nicht lange her, daß die Chirurgie der mittelalterlichen Auffassung entwachsen ist. Noch im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts galt es als eines auf Universitäten gebildeten Arztes unwürdig, dieselbe praktisch auszuüben, und nur erst sehr wenige Aerzte hatten den Mut, diesem Vorurteile zu trotzen. Gehörte doch auch der Chirurg in manchen Staaten noch um die Mitte dieses Jahrhunderts zum niederen ärztlichen Personal und staatlich zu den zünftigen Handwerkern. Ja einfach als „Handwürcken“ bezeichneten früher die Chirurgen selbst gut deutsch ihre Thätigkeit, und auch ihre Werke schrieben oder vielmehr mußten sie deutsch schreiben. Und wo an Universitäten Chirurgie gelehrt wurde, war die Vortragssprache die deutsche, die als „populär“ galt, im Gegensatze zu der lateinischen für die „inneren“ Aerzte. In der Praxis mußte oder sollte doch der Chirurg in ernsteren Fällen stets einen dieser „gelehrten“ Aerzte zuziehen und dessen Anordnungen als eine Art Handlanger befolgen, obwohl dieselben günstigen Falls nur aus Büchern ihr chirurgisches Wissen geschöpft hatten. Wie ist das jetzt alles anders geworden! Heute gilt die Chirurgie fast mehr als die innere Medizin.

Unter den glänzenden Fortschritten unseres Jahrhunderts nun, welche der heutigen Kunst der Chirurgie, in erster Linie den chirurgischen Operationen, den jetzigen Stempel vorher nie erhörter Kühnheit und Vollkommenheit aufdrücken und dabei oft geradezu staunenswerte Erfolge möglich und sogar alltäglich machen, stehen drei oben an. Es sind dies die allgemeine Schmerzbetäubung (Narkose, Anästhesierung) vor, die Verhütung der Blutvergiftung (Anti- resp. Asepsis) nach und die Blutsparung während des „Handwürckens“ des Wundarztes.[2] Von diesen drei Großthaten aber ist nur die zuletzt genannte eine rein deutsche Erfindung, die beiden andern gehören den Amerikanern und Engländern an.

Die Beseitigung des Schmerzgefühls durch Einatmung von Lachgas, Aether oder Chloroform – das war die zeitliche Aufeinanderfolge der angewandten Mittel – erfolgt durch Aufhebung des Gesamtbewußtseins. Das ist einesteils mehr als nötig ist, denn es genügt ja offenbar, wenn nur der Schmerz in dem Körperteil, an welchem operiert werden soll, beseitigt wird, anderseits hat sie, was schlimmer ist, eine nicht geringe Anzahl von zum Teil sehr störenden Beschwerden und Nachwehen zur Folge. Am schwerstwiegenden aber ist es, daß sie bis heute trotz aller angewandten Vorsichtsmaßregeln nicht ganz frei von unmittelbaren Gefahren für das Leben ist.

Auf Veranlassung des Chirurgenkongresses hat der verdiente Berliner Professor Gurlt eine vergleichende Statistik ausgearbeitet, die sich über 327500 Fälle der allgemeinen Betäubung oder Narkose aus den jüngst verflossenen sieben Jahren erstreckt. Davon endeten 137 mit dem Tode, und zwar entfiel ein Todesfall auf 2039 Chloroformierungen, einer auf 5019 Fälle bei Einatmung von Aether und einer auf 7594 bei Anwendung von Chloroformäther. Im Jahre 1896/97 belief sich der Verlust bei 27029 Chloroformierungen auf 29, bei 19856 Aetherisierungen dagegen nur auf 3; doch muß dazu bemerkt werden, daß diese ganze Statistik eine sozusagen auserlesene ist, die aus besonders günstig gestalteten Verhältnissen herrührt. Sicherlich werden viele ungünstige Fälle ja gar nicht veröffentlicht.

Diese Gefahren der allgemeinen Betäubung gaben den Aerzten Anlaß, nach anderen Mitteln und Verfahren zu forschen, welche ein schmerzloses Operieren ermöglichten. Sehr erwünscht erschien es dabei, Mittel zu finden, die nur in dem zur Operation bestimmten Körperteil das Schmerzgefühl beseitigen, im übrigen aber den menschlichen Organismus nicht beeinflussen würden. In dieser Richtung hat ein Franzose eine neue Art freilich noch nicht ganz örtlicher, weil vom Blute aus wirkender Schmerzbeseitigung durch Einspritzung narkotischer Mittel, besonders des Morphiums, unter die Haut mit der Nadelspritze erfunden. Von einem Engländer stammt eine andere Methode, die eine rein örtlich begrenzte Aufhebung der Empfindung herbeiführt und in der Bestäubung der Haut mit Aether besteht. Diese beiden Verfahren nun waren Vorläufer einer wichtigen Erfindung, die wir einem deutschen Arzte verdanken.

Die Thatsache, daß auch die Einspritzung von starken Morphium- und Kokainlösungen unter die Haut nicht frei von Gefahren ist, gab dem Berliner Arzt C. L. Schleich Anlaß zu einer erneuten Fragestellung an die Natur, wie man die

[317]

Am Hochsitz.
Nach einer Originalzeichnung von A. Richter.

[318] allgemeine Narkose ganz umgehen könne. Der weltberühmte Helmholtz schrieb einst an den englischen Arzt Tait, daß es bei einer Erfindung schwieriger sei, den richtigen Gedanken zu finden, als nachher die nötigen Experimente zu machen; der erste sei die Hauptsache, die letzteren nur die auch von andern anzustellende Probe auf dessen Richtigkeit. Auch Schleich suchte und fand zunächst nur den richtigen Gedanken und stellte demgemäß den Satz auf, daß jede salzartige Lösung von einer bestimmten, erst näher festzustellenden Stärke (Konzentration) die Eigenschaft haben müsse, die örtliche Schmerzempfindung zu verändern, sie entweder zu steigern oder herabzusetzen. Die praktische Aufgabe war dann aber, diesen Satz auch durch Versuche oder, was dasselbe ist, durch direkte Fragen an die lebenden Nerven in Form von Experimenten zu prüfen und zu beweisen. Hauptsächlich waren die niedersten Stärkegrade zu finden, bei welchen Salzlösungen noch schmerzstillende Wirkungen ausüben. Die dazu notwendigen Versuche machte Schleich nunmehr aber nicht, wie gebräuchlich, an vom Menschen abweichenden Tierorganismen, sondern an sich selbst, zum Teil unter eigner Gefährdung. Dabei gelangte er zu der überraschenden Entdeckung, daß selbst einfaches Wasser, ebenso eine schwache Lösung von 2 Gramm Kochsalz auf 1 Liter (1000 Gramm) Wasser, dann eine Lösung von Kokain oder Morphium von noch viel geringerer Stärke, z. B. von einem Gramm Kokain auf 10 Liter Wasser, nach Ueberwindung des ersten schmerzhaften Einstichs die Schmerzempfindung in der Umgebung der Einspritzungsstelle aufhebe. Um diese Wirkung zu erzielen, war es aber nötig, daß die betreffende Lösung, auf niedere Temperatur, am besten auf 0°C, abgekühlt, in die Haut – nicht unter dieselbe – oder in ein anderes Körpergewebe derart eingespritzt wurde, daß die betreffende Stelle mit der Flüssigkeit durchtränkt (infiltriert) ward, also anschwoll (ödematös wurde).

Das war das Ei des Kolumbus in Bezug auf die örtliche Schmerzabtötung vor chirurgischen Operationen, zunächst für die bei weitem zahlreichsten, die kleinen, in der Folge aber auch für die großen, sogar bis zu den größten Operationen; denn die Schmerzlosigkeit der Teile war etwa eine halbe Stunde lang vollkommen, ohne daß das allgemeine Bewußtsein, wie bei Chloroformierung etc., im geringsten gestört ward und, was das wichtigste ist, ohne jede Gefährdung des Lebens. Sein Verfahren nannte Schleich „Infiltrationsanästhesie“, weil die Schmerzlosigkeit wesentlich auf dem Wege der Durchtränkung der Gewebe und der Umspülung der Nerven mit einer Salzlösung zustande kommt. Im Verfolg der Versuche machte er auch die Hautstelle, an welcher der erste Einstich der Nadel geschehen sollte, unempfindlich, indem er sie mit feinst verteiltem Aethernebel bestäubte.

Für die Praxis stellte Schleich drei Stärkegrade der Lösung her; die stärkste enthält als Grundlage in 1 Liter Wasser 2 Gramm Kochsalz, was auch für alle andern gilt, aber auch gleich viel Kokain und 25 Decimilligramm Morphium, so daß, selbst wenn man von dieser namentlich bei entzündeten Teilen zu verwendenden stärksten Lösung 25 Gramm verbraucht, nur erst die kleine Menge von Kokain erreicht wird, welche gesetzlich als unschädlich zugelassen ist. Bei Anwendung der mittleren wird dagegen bloß die halbe und bei solcher der schwächsten gar nur eine fast homöopathische Kokaingabe verbraucht: die letztere enthält ja auf 10 Liter schwacher Kochsalzlösung nur 1 Gramm Kokain. Auch diese bewirkt noch Unempfindlichkeit, so daß dieser Arzneistoff nur eine sehr untergeordnete Hilfs- und die Durchtränkung des Gewebes sicher die Hauptwirkung haben muß. Als „Normallösung“ gilt die von mittlerer Stärke.[3]

Die praktische Durchführung des Verfahrens verlangt natürlich, wie jede andere medizinische Maßregel, eine gewisse gereifte Erfahrung. Sie gelingt also nicht ohne weiteres jedermann. Und selbst dem Geübtesten und Erfahrensten versagt sie manchmal, wie jede andere medizinische Hilfe; doch wird die Zahl der nicht befriedigenden Fälle immer geringer – das gestehen so ziemlich alle zu – je geübter und erfahrener in der Auswahl der Lösungsstärke und Krankheitsfälle der Operateur geworden ist. In der Regel verursacht die richtig ausgeführte Einspritzung gar keine Empfindung, in manchen Fällen ein leises Brennen, in einzelnen jedoch stärkere Schmerzen; das letztere ist aber bei Geübten zum Glück eine Ausnahme und kommt hauptsächlich bei entzündlichen Leiden vor.

Außer einem Aetherzerstäuber zur Schmerzlosmachung des ersten Einstichs genügt eine Nadelspritze von der Art, wie sie von den Morphiumeinspritzungen her bekannt ist, die aber etwas größer ist als bei letzteren. Bei nicht sehr empfindlichen Patienten ist jedoch die Aetherzerstäubung ebenso unnötig wie bei den Morphiumeinspritzungen, der Schmerz des ersten Einstichs ist ja so unbedeutend wie bei diesen, ebenso die nachfolgende Empfindung während der Einspritzung. Die Assistenz eines anderen Arztes oder Gehilfen ist ganz entbehrlich. Die Spritze sowohl wie die einzuspritzende Lösung müssen natürlich desinfiziert sein.

Um das einfache Verfahren möglichst deutlich zu machen, wollen wir einen Fall aus dem Leben zu Hilfe nehmen.

Eine Kranke leidet an jener schmerzhaften Entzündung eines Fingers, die man als „Umlauf“ bezeichnet, zu dessen rascher Heilung ein tiefer Einschnitt nötig ist, der bisher oft vom Patienten nicht gestattet wurde, weil er noch mehr Schmerzen in Aussicht stellte. Man machte ihn ja fast ausnahmslos ohne Schmerzbetäubung, weil die Chloroformierung im Verhältnis zu der kurzen und kleinen Operation zu bedenklich war. Der neuen deutschen Anästhesierungsweise dagegen ist es zu danken, daß diese wie zahlreiche andere sogenannte kleine, aber doch oft sehr schmerzhafte Operationen jetzt schmerzlos und ohne Gefahr ausgeführt werden können. In unserem Falle geschah dies, während die Patientin mit abgewandtem Gesicht sich lebhaft unterhielt. Die Ausführung gestaltete sich folgendermaßen: ohne vorhergegangene Bestäubung der ersten Einstichsstelle mit Aether – den kleinen Stichschmerz übersah die Patientin infolge ihrer Unterhaltung – wurde kurz hintereinander rund um den Finger herum in der Nähe der entzündeten Stelle die notwendige Zahl Einspritzungen der oben beschriebenen starken Lösung gemacht. Das geschah in der Art, daß der folgende Einstich stets, wie es Regel ist, in den durch die vorhergehende Einspritzung schon schmerzlos gewordenen Teil der Haut fiel. Nach Beendigung der Einspritzungen ward dann rasch und tief eingeschnitten. Von alledem war der Kranken nichts zum Bewußtsein gekommen, so daß sie sogar an den Arzt die Frage richtete, ob denn nicht mit der Operation bald begonnen werde, und sehr erstaunt war, als sie nunmehr erfuhr, daß alles schon zu Ende sei, noch mehr, als sie aufgefordert wurde, jetzt einmal anzusehen, was inzwischen geschehen war.

Aehnlich verhält sich die Sache bei allen jenen in der täglichen Praxis so überaus zahlreichen kleinen Operationen, welche die großen Hospitaloperationen, wie wir sie hier nennen wollen, sicher um das Achtzigfache an Zahl übertreffen. Gerade bei solchen zeigt es sich am deutlichsten, ein wie großer Fortschritt der Humanität in der Krankenbehandlung der Gesamtheit aus der Schleichschen Erfindung erwachsen ist. Im Vergleich zu diesen Anästhesierungen bilden ja die bei großen Operationen notwendigen Chloroformierungen sozusagen die Ausnahme. Und da die letzteren hauptsächlich der Praxis der berühmten Chirurgen zufallen, erklärt es sich auch, daß bis jetzt die Schleichsche Methode gerade von seiten der akademischen Chirurgen viel weniger als von den gewöhnlichen Praktikern geprüft worden ist. Immerhin ist sie in vielen Hunderten, ja Tausenden von Fällen schon erprobt worden, namentlich auch im Auslande, speciell in Amerika. Aber auch bei großen Operationen hat sie nicht weniger die Probe bestanden, z. B. bei Entfernung von Geschwülsten aus der Uuterleibshöhle, bei Bruchoperationen, Knochenoperationen, Amputationen von Gliedmaßen etc.

Manchem Leser dürfte der Gedanke kommen, daß gerade die Erhaltung des Bewußtseins eine Schwierigkeit, ja einen Nachteil der Schleichschen Anästhesierung bilde. Dem gegenüber kann aber zum Glück die Erfahrung angeführt werden, daß in all den vielen Fällen, die bis jetzt ausgeführt wurden – leider fehlt eine genaue Statistik noch –, dies nicht zugetroffen ist. Bei richtigem Vertrauen des Patienten zu seinem Arzte genügt gewöhnlich schon die Versicherung, daß alles schmerzlos verlaufen werde, um jede Angst zu beseitigen, selbst bei Frauen und Kindern. Es bleibt ja auch jedem, der nicht zusehen will, wie er operiert wird, unbenommen, sich die Augen zu verdecken oder fest verbinden zu lassen. Der richtige Takt und Ernst des Arztes aber wird es verhüten, daß während der Operation über diese gesprochen wird. Und selbst manche Ueberängstliche werden sicher durch die Erklärung beruhigt, daß [319] sie im Vergleich zu der Chloroformierung den unschätzbaren Vorteil haben, jede Lebensgefahr zu vermeiden. Wird einmal das Schleichsche Verfahren dem Publikum bekannter und geläufiger geworden sein, als dies bis jetzt der Fall ist, so wird auch die noch hier und da auftretende Furcht vor dem Unbekannten wegfallen. Das Infiltrationsverfahren erfordert öfter zwar etwas mehr Zeit als die allgemeine Narkose, doch fallen dafür auch die nicht geringen Störungen und Nachwehen dieser weg; denn der Patient fühlt sich nach Beendigung der Operation sofort vollkommen wohl.

Die Erfindung dient auf die denkbar vollkommenste Weise der täglichen Praxis und erspart dadurch eine größere Summe von Schmerzen, als dies durch die allgemeine Narkose seither der Fall war, und dazu auch an Geld, weil sie ohne jede Assistenz von jedem Arzte ausgeführt werden kann. Der deutschen Wissenschaft aber gereicht sie zur Ehre, weil diese, die seither nur aufnehmend an der Erfindung und bessernd an der Kunst der Anästhesierung beteiligt war, jetzt zum erstenmal den Weg betreten hat, der sie auch in Bezug auf diese Humanitätssache zur Lehrerin der anderen Völker macht, deren Schülerin sie in derselben bisher nur gewesen ist.


Die Feuerprobe.

(Zu dem Bilde S. 320 und 321.)

Um die Gestalt Heinrichs II, der als römisch-deutscher Kaiser in den Jahren 1002 bis 1024 regierte, hat die Nachwelt einen Kranz von Legenden gewoben. Ein Teil derselben bezieht sich auch auf seine Gemahlin Kunigunde, die gleich ihm durch einen frommen Lebenswandel sich auszeichnete. Aus dem Schatz dieser sagenhaften Ueberlieferungen schöpfte der Ende vorigen Jahres verstorbene Maler Konrad Weigand, als er die packende Zeichnung schuf, welche sich auf den folgenden Seiten wiedergegeben findet.

Der Teufel beneidete Kunigunde um ihren guten Ruf und brachte sie am Hofe derart in schlimmen Verdacht, daß selbst Kaiser Heinrich II der üblen Nachrede Glauben schenkte und seine Gemahlin der Untreue beschuldigte. Um sich von diesem ungerechten Verdacht zu reinigen, wählte die Kaiserin das Ordal des glühenden Eisens. Nachdem sie inbrünstig zu Gott gebetet hatte, schritt sie barfuß über zwölf glühende Pflugscharen, ohne sich im geringsten zu verletzen. Angesichts dieses Wunders fiel der Kaiser vor seiner Gemahlin auf die Kniee und leistete ihr feierlich Abbitte. Zu Bamberg, wo Kaiser Heinrich II im Jahre 1007 das später berühmt gewordene Bistum gründete und in dessen Dome sich sein und seiner Gemahlin Grabmal befindet, soll sich jenes Gottesurteil ereignet haben.

Das Weigandsche Bild zeigt uns den Beginn der ernsten Handlung. Eine treue Dienerin der Verdächtigen fleht vergebens den Kaiser um Gnade an; er ist nicht gesonnen, der Beschuldigten die schwere Prüfung zu erlassen. Während die glühenden Eisen bereits nebeneinander gelegt werden, betet Kunigunde, von der Geistlichkeit umringt, zum Himmel, daß er sie beschützen und ihre Unschuld erweisen möge. Wie die neuere Geschichtsforschung nachwies, entstand jene Legende im zwölften Jahrhundert. Wenn aber auch der Vorgang geschichtlich nicht verbürgt ist, so hat das Weigandsche Bild doch einen hohen kulturgeschichtlichen Wert. Es gewährt uns in seiner packenden Wirkung einen tiefen Einblick in die eigenartige Rechtspflege des Mittelalters.

Die Sitte, in schwierigen unklaren Rechtsverhandlungen die Gottheit selbst anzurufen, damit sie durch Zeichen oder Wunder über Schuld und Unschuld entscheide, ist uralt. Wir finden sie noch heute bei vielen Naturvölkern vor, und sie war auch bei allen arischen Völkern üblich. Als nun die Heiden in Europa zum Christentum bekehrt wurden, konnten diese alten Gewohnheiten der Rechtspflege nicht ohne weiteres beseitigt werden. Die Kirche und die weltlichen Behörden suchten jedoch den heidnischen Brauch nach Möglichkeit einzuschränken. Diese Gottesurteile oder Ordalien, wie man sie nach dem angelsächsischen Worte ordal (Urteil) nannte, durften nur dann als äußerstes Beweismittel zur Feststellung der Wahrheit stattfinden, wenn die üblichen Gerichtsverfahren versagten und namentlich der Eid und die Stellung von Eideshelfern nicht genügten. Außerdem wurde ihre Leitung in die Hände der Geistlichkeit gelegt.

Bei den germanischen Völkern wendete man verschiedene Arten der Ordalien an. Die verbreitetste war das Kampfurteil oder der Zweikampf, bei dem es schwächlichen Personen, den Weibern, den Geistlichen und Leuten vornehmen Standes erlaubt war, als Stellvertreter andere, sogar bezahlte Kämpfer vorzuschieben.

Galt es bei einer Mordthat, den Thäter zu ermitteln, so wurde das Bahrrecht angewandt. Der Beschuldigte mußte an die Bahre treten, auf die man den Ermordeten gelegt hatte, und die Wunden mit der Hand berühren. Fingen diese an zu bluten oder zu zittern, oder veränderte sich die Gesichtsfarbe des Toten, dann war der Angeklagte der Schuld überführt.

Ein weiteres Ordal war die Probe des geheiligten Bissens. Man gab dem Beschuldigten einen vorher gesegneten Bissen Brot, damit er ihn verschlucke. Vermochte er es nicht zu thun, dann war seine Schuld erwiesen. Daher soll das Sprichwort „Daß mir das Brot im Halse stecken bleibe!“ stammen.

Das Kreuzurteil, bei welchem die streitenden Parteien mit aufgehobenen Händen an einem Kreuze stehen mußten und das denjenigen schuldig erklärte, der zuerst die Hände sinken ließ, war nur kurze Zeit gebräuchlich: es wurde durch Ludwig den Frommen bereits im Jahre 826 verboten.

Am berühmtesten von allen Ordalien sind aber im Laufe der Zeit die Wasserprobe und die Feuerprobe geworden. Die erstere wurde in zweifacher Art geübt. Zunächst gab es die Probe mit kaltem Wasser. Dabei wurde der Angeklagte an einem Strick ins Wasser geworfen: sank er nach unten, so galt dies als Zeichen seiner Unschuld, schwamm er oben drauf, so sprach dies für seine Schuld. Bei der zweiten Abart dieses Gottesurteils, der Probe mit heißem Wasser, mußte der Beschuldigte, falls er sich vom Verdacht reinigen wollte, einen Ring oder Stein aus einem mit siedenden Wasser gefüllten Kessel mit bloßem Arm unverletzt hervorholen.

Dieses Ordal bildet gewissermaßen den Uebergang zu der Feuerprobe, die wiederum in mehreren Abarten angewandt wurde. Der Angeklagte konnte seine Unschuld dadurch erweisen, daß er seine Hand eine genau bestimmte Zeit lang in das Feuer hielt und sie unverletzt zurückzog, oder es wurde von ihm verlangt, daß er, nur mit einem Wachshemde bekleidet, unversehrt durch einen brennenden Holzstoß schritt. Schließlich gab es noch zwei Proben des heißen Eisens; bei der einen mußte der Beschuldigte ein glühendes Eisen von bestimmtem Gewicht eine genau vorgeschriebene Strecke, z. B. neun Schritte, weit tragen, bei der andern barfuß über 6, 9 oder 12 glühende Pflugscharen gehen.

Die Gerichte des Mittelalters müssen mit den Ordalien keine guten Erfahrungen gemacht haben, denn dieselben wurden nach und nach aufgehoben und verschwanden im 14.Jahrhundert fast gänzlich aus der Gerichtspflege. Erst in der trüben Zeit der Hexenprozesse wurden einige derselben, namentlich die kalte Wasserprobe, aus der Rumpelkammer abergläubischer Rechtsmittel hervorgeholt.

Bemerkenswert ist es nun, daß im „Hexenhammer“, der im Jahre 1489 herausgegebenen Anleitung zum henkermäßigen Verhören und Ueberführen der Hexen, den Richtern die Anwendung der Probe des glühenden Eisens und des kochenden Wassers widerraten wird. Denn schon durch natürliche Mittel, Kräutersäfte und dergl., könne das glühende Eisen unschädlich gemacht werden; der Teufel vermöge aber solches noch viel eher zu vollbringen. So wurde im Jahre 1483 im Territorium der Grafen von Fürstenberg eine Hexe verhaftet. Es gelang nicht, ihr durch die Folter ein Geständnis zu erpressen, und nun erbot sie sich, ihre Unschuld durch die Probe des glühenden Eisens zu erweisen. Der junge Graf war in solchen Dingen nicht erfahren, und er gab der Hexe auf, das glühende Eisen drei Schritte weit zu tragen; doch diese trug es sechs Schritte weit und erbot sich zur Wiederholung des Ordals. Erfreulicherweise wurde die vermeintliche Hexe auf freien Fuß gesetzt. Vor Richtern, die auf die Ratschläge des „Hexenhammers“ achteten, wäre es ihr schlecht ergangen, denn darin hieß es: „Verlangt eine Hexe die Probe des

[320]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0320.jpg

Kunigunde, die Gemahlin Kaiser Heinrich II, wird der Feuerprobe unterworfen.
Nach einer Originalzeichnung von K. Weigand.

[321] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [322] glühenden Eisens, so soll sie der Richter fragen, wie sie die Frechheit haben könne, so etwas zu fordern, und ihr die Probe verweigern.“

Man ersieht aus diesen Mitteilungen, daß schon damals in Deutschland Mittel bekannt waren, mit welchen die Haut gegen die Einwirkungen hoher Hitze weniger empfindlich und bis zu einem gewissen Grade „feuerfest“ gemacht werden konnte. Solche Künste wurden aber nicht allein von europäischen Zauberern geübt. Im fernen Orient und in Asien hat es seit jeher wunderliche „Heilige“ gegeben, die durch Proben ihrer Feuerfestigkeit die Volksmenge in Erstaunen versetzten. Ja sie leben dort noch heute, und Reisende können in Aegypten und Indien oft derartige Vorführungen der Fakire mit eigenen Augen schauen. In Kairo leisten diese Leute bedeutend mehr, als ehemals bei dem Ordal der Feuerprobe verlangt wurde. Sie schreiten nicht nur über glühende Pflugscharen, sondern sie bleiben mit bloßen Füßen auf einer zur Rotglut erhitzten eisernen Schaufel stehen, bis diese dunkel geworden ist; sie tragen glühendes Eisen in der Hand und lecken sogar daran; sie nehmen glühende Kohlen in den Mund und halten brennende Fackeln an den bloßen Arm, ohne sich zu verletzen.

Vor etwa 30 Jahren wurden ähnliche Vorführungen in spiritistischen Cirkeln veranstaltet. In Kiesewetters „Geheimwissenschaften“ ist ein Bericht über die Wunderleistungen des Mediums Home abgedruckt. Derselbe nahm im Zustand der Verzückung eine glühende Kohle aus dem heißesten Teil eines hellen Feuers und trug sie rings im Zimmer umher, so daß jedermann sehen und fühlen konnte, daß sie eine wirkliche war. Aber noch weit seltsamer ist die Mitteilung, daß dieses Medium in seinem Verzückungszustand dieselbe Gabe bei anderen Personen entdecken oder dieselbe auf andere übertragen konnte. Er legte z. B. eine glühende Kohle auf das Haupt eines Herrn Hall und strich dann dessen weißes Haar zu einer Art Pyramide über der roten Kohle. Bei dieser Vorführung wurden weder Haut noch Haare der Versuchsperson im geringsten verletzt.

Daraus folgern nun die Anhänger der modernen Geheimwissenschaften, daß es eine Art „mediumistischer Widerstandsfähigkeit“ gegen die Verbrennung gebe. In dem Zustand der Verzückung soll dieselbe bei gewissen Personen sich einstellen. Man wird uns wohl nicht verargen können, wenn wir an diese Behauptung nicht glauben, bis diese Versuche durch einwandfreie Personen nachgeprüft worden sind. Wir wissen wohl, daß in dem sogenannten Zustand der Verzückung, wie in der Hypnose und bei gewissen Nervenleiden, die Empfindung für Schmerz aufgehoben werden kann. Dann fühlen solche Personen die Schmerzen der Verbrennung nicht, aber ihre Haut wird doch mit Brandwunden bedeckt. Ein Hypnotisierter oder Kranker, der eine Zeit lang keine Empfindung gegen den Verbrennungsschmerz besitzt, ist noch lange nicht feuerfest im Sinne der Feuerprobe.

Die Hexen und die Zauberkünstler pflegten die Mittel zur Hervorbringung ihrer Künste geheimzuhalten; redseliger waren schon die Gaukler, die zu verschiedenen Zeiten durch das Bestehen mannigfacher Feuerproben das Publikum gewerbsmäßig unterhielten. Durch sie hat man denn auch erfahren, wie es möglich sei, einzelne Körperteile bis zu einem gewissen Grade gegen die Verbrennung zu sichern. Eins dieser Kunststücke wurde schon im 17. Jahrhundert gelegentlich des Auftretens eines englischen Tausendkünstlers Namens Richardson bekannt. Dieser Mann legte eine glühende Kohle auf die Zunge, fachte durch den Atem die Glut an, briet dann auf der Kohle ein Stückchen Fleisch und verschlang alles. Sein Diener erzählte, daß Richardson durch Bestreichen mit einer Säure seine Zunge gegen glühende Gegenstände unempfindlich mache. Gründlicher wurde noch die Sache aufgeklärt, als ein spanischer Tausendkünstler, Lionetto, im Jahre 1809 in Neapel auftrat und durch ähnliche Feuerkünste Aufsehen erregte. Ein Professor Sementini untersuchte die Sache und stellte verschiedene Versuche an. Durch entsprechende vorsichtige Behandlung der Handhaut mit Alaun gelang es ihm, dieselbe in hohem Grade gegen rotglühendes Eisen unempfindlich zu machen. Er konnte nun auch glühende Schaufeln anfassen, ohne die Hand zu verbrennen. Er fand ferner, daß durch eine Salbe, in der gleichfalls Alaun enthalten war, die Zunge derart präpariert werden konnte, daß sie durch siedendes Oel nicht verbrüht wurde. Natürlich durfte die Berührung erhitzter Gegenstände, wie dies auch bei der Feuerprobe der Fall war, nur kurze Zeit dauern.

Wenn wir nun bedenken, daß man schon im Altertum den Alaun benutzte, um Holz unverbrennbar zu machen, daß z. B. die alten Griechen ihre Schlachttürme zu diesem Zwecke mit einer Alaunlösung bestrichen, so wird man zugeben, daß findige Köpfe, die an Gaukeleien Gefallen fanden, auch Versuche angestellt hatten, mit demselben Mittel ihre eigene Haut schwer verbrennbar zu machen. Wir haben schon erwähnt, daß im „Hexenhammer“ von natürlichen Mitteln, Kräutersäften u. dergl. gesprochen wird, vermöge deren man sich gegen Verbrennungen und Verbrühungen bei der Feuerprobe schützen könne. A. de Rochas veröffentlichte vor einer Reihe von Jahren in der „Revue scientifique“ eine ganze Anzahl von Rezepten, die im Mittelalter zum Feuerfestmachen empfohlen wurden.

Für die Gegenwart haben sie keine praktische Bedeutung. Nur das eine möchten wir hervorheben, daß die Veranstaltung solcher Versuche nicht gefahrlos ist. Mitunter versagen die Mittel und dann erfolgen schlimme Verbrennungen, die langwierige Leiden und selbst den Tod nach sich ziehen können. Auf diese Weise sind schon Tausendkünstler und Fakire, die gegen das Feuer gefeit zu sein glaubten, verunglückt. Ferner ist das Präparieren der Haut durch scharfe Salben zu verpönen, indem dieselben Hautentzündungen und Vergiftungen nach sich ziehen können, noch gewagter ist es, die Zunge einer solchen Behandlung auszusetzen. Wir müssen darum unsre Leser eindringlich warnen, solche Versuche anzustellen, die um so zweckloser sein würden, als durch sie nur das bestätigt werden kann, was den Gauklern und Tausendkünstlern seit Jahrtausenden bekannt war.

Schließlich sei noch erwähnt, daß nicht jede Haut sich zu derartigen Kunststücken eignet. Die Empfindlichkeit und Reizbarkeit der Menschen ist verschieden; das gilt auch der Hitze gegenüber. Leute, die viel mit heißen Gegenständen hantieren, haben eine weniger empfindliche Haut als solche, die ihre Hände schonen. Mancher Mann, der im Bureau arbeitet, kann einen heißen Teller nicht angreifen, den seine in der Küche bewanderte Frau ohne jede Schmerzempfindung festhält. Noch abgehärteter ist die Haut von Menschen, die in Schmieden und Metallgießereien beschäftigt sind. Diese können mitunter Proben von Feuerfestigkeit geben, die geradezu unglaublich erscheinen. Wiederholt wurde von Arbeitern berichtet, die ihre Hand einen Augenblick in geschmolzenes Kupfer oder Eisen tauchen konnten, ohne sich zu verbrennen. Das sind erst recht gewagte und gefährliche Kunststücke, die niemand nützen können. Die Feuerprobe ist längst ein überwundener Standpunkt; was schon den Hexenrichtern nicht mehr imponieren konnte, sollte in unserer aufgeklärten Zeit selbst als Spielerei nicht geduldet werden. M. Hagenau.     



Blätter und Blüthen.


Gustav Unkart †. (Mit dem Bildnis S. 323.) Die Wahrheit des Goetheschen Spruches: „Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, wenn man ihn wohl zu pflegen weiß“, hat gewiß jeder schon im Leben beobachten können. Wie aber durch eine solche rechte Pflege, durch unablässiges, zielbewußtes Streben aus einem kleinen Kreise ein großer, weltumfassender zu werden vermag, das zeigt so recht das Wirken Gustav Unkarts, der am 22. Februar 1898 in Hamburg aus dem Leben geschieden ist. Zweiundzwanzig Jahre hindurch war er Vorsitzender des „Vereins für Handlungscommis von 1858 in Hamburg“, der unter ihm einen ungewöhnlich hohen Aufschwung genommen hat. Als Unkart im Jahre 1870, nachdem er bereits sieben Jahre dem Verein angehörte, in seinen Vorstand – die „Verwaltung“, wie er sich nennt – aufgenommen wurde, zählte der Verein 3000 Mitglieder, was für die damaligen Verhältnisse bereits eine stattliche Zahl war. Wenn er heute aber bis auf 55000 Mitglieder gestiegen ist, so verdankt er das neben dem gewaltigen Aufschwung, den Handel und Industrie Deutschlands im allgemeinen und Hamburgs im besonderen seitdem genommen hat, in erster Linie dem nun seiner langjährigen, verdienstvollen Thätigkeit Entrissenen. Gegenwärtig ist der Hamburger Verein in seiner Art das größte kaufmännische Institut der Welt, dem nur wenige andere Vereine an Mitgliederzahl und umfassendem Wirken nahe kommen. Er war der erste, der die Stellenvermittelung in solchem Umfange in die Hand nahm und dadurch eine neue und hochwichtige Art sozialpolitischer Hilfsthätigkeit schuf. Der deutsche Kaufmannsstand besitzt jetzt eine ganze Reihe mustergültig [323] organisierter und auf dem Grundsatze der Gegenseitigkeit beruhender Stellenvermittelungsinstitute, die bis in die entlegensten Ortschaften verzweigt sind und diese mit den Mittelpunkten des Handels in Verbindung setzen. Daneben bestehen Pensions- und Krankenversicherungsvereine; beispielsweise zählt die Pensionskasse des Hamburger Vereins 7000 Mitglieder und besitzt ein Vermögen von 4½ Millionen Mark.

Gustav Unkart.
Nach einer Aufnahme von Benque & Niedermann, Hofphotographen in Hamburg.

Gustav Unkart war am 25. Juli 1842 zu Leobschütz als Sohn eines Pfarrers geboren und zu Neuhaus bei Sonneberg in Thüringen aufgewachsen. Durch die lange, arbeitsreiche Zeit jedoch, die er in Hamburg zugebracht, und durch die tiefen Einblicke, die er als Leiter des Vereins gewonnen, war er gewissermaßen ein Sohn jener Metropole des deutschen Handels geworden, die nun sein Ableben aufrichtig beklagt. Der Hamburger Verein bildete den Angelpunkt seiner Lebensthätigkeit, um ihn drehte sich sein ganzes Sinnen und Trachten und an ihm hing er mit unauslöschlicher Liebe. Trotzdem hat er aber nicht für diesen Verband allein gewirkt, sondern sein Blick und seine Fürsorge reichten weiter und umfingen den ganzen Stand der Handelsangestellten mit warmem Interesse. In Hamburg soll – ganz dem Wesen und der Sinnesart des Verstorbenen entsprechend – sein Andenken dauernd durch eine Stiftung festgehalten werden, die den Namen „Unkart-Stiftung“ tragen und der Unterstützung bedürftiger Handelsangestellter dienen wird. A. M.     

Unter Blüten.
(Zu dem Bilde S. 297.)

Ob sich alle Sträucher mühten,
Zu entfalten blüh’nde Pracht:
Schöner sind zwei Mädchenblüten,
Die der Jugend Reiz umlacht.

Leis die Schlummernde zu wecken,
Sinnt der Freundin Uebermut;
Ladet doch im Marmorbecken
Schon zum Bad die kühle Flut.

Sich der Jugend zu gesellen,
Muß der Liebe Sendung sein;
Seht, der Venus Tauben stellen
Sich zu frommem Gruße ein!

Schönheit gleich dem Blütenregen
Bald im Windeshauch versprüht,
Wenn der Liebe reicher Segen
Nicht im tiefsten Herzen blüht.
 R. v. G.

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde in Geisenheim. (Mit Abbildung.) Der Baum, den wir heute unsern Lesern im Bilde vorführen, ist dadurch merkwürdig, daß er zwei Laubkronen, eine obere und eine untere, besitzt. Er steht zu Geisenheim im Rheingau und ist ein Exemplar der kleinblättrigen sogenannten „Winterlinde“. Seine Höhe beträgt 21 m. Der Stamm hat 1 m über dem Boden einen Umfang von 3,67 m, in der Höhe von 6,50 m aber nur noch einen Umfang von 2,70 m, die Spitze der unteren Krone erreicht 6 m Höhe. Die eigenartige Gestalt ist der Linde durch Menschenhand verliehen worden. Vor Jahren wurden in den unteren Teil des Baumes Lindenreiser in regelmäßigen Abständen voneinander eingepfropft. Diese bilden jetzt starke Aeste, welche die stattliche schattenspendende untere Krone darstellen. Die Linde dürfte ein Alter von 150 bis 180 Jahren besitzen.

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde in Geisenheim.
Nach einer photographischen Aufnahme von C. Hertel in Mainz.

Woraus besteht der Mensch? Welche müßige Frage, wird mancher denken: aus Fleisch und Knochen in der Hauptsache, und noch einigen kleinen Anhängseln, wie Haaren, Nägeln etc. Aber so ist’s doch nicht gemeint, vielmehr ist die Antwort auf die Frage gar nicht so leicht, wie aus dem Folgenden hervorgeht. Der Leib des Menschen besteht aus 13 Grundstoffen, 5 gasförmigen und 8 festen. Die ersteren sind Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Chlor und Fluor, die festen: Kohle, Calcium, Phosphor, Schwefel, Kalium, Natrium, Magnesium und Eisen. Den Hauptbestandteil bildet der Sauerstoff in einem Zustande äußerster Verdichtung. Auf einen Normalmenschen von etwa 80 kg Gewicht würden sich nach den genauen Untersuchungen, die hierüber angestellt sind, diese Stoffe folgendermaßen verteilen: Sauerstoff 44 kg (unter gewöhnlichen Verhältnissen, im gasförmigen Zustand, würde dies Quantum einen Raum von 28 cbm einnehmen), Wasserstoff 7 kg (die, um als Gas Unterkunft zu finden, einen Raum von etwa 80 cbm beanspruchen würden), Stickstoff 1,72 kg, Chlor 0,8 kg, Fluor 0,1 kg. Unter den festen Stoffen überwiegt die Kohle, von der 22 kg vorhanden sind, hierauf folgt das Calcium mit 1,75 kg, Phosphor mit 0,8 und Schwefel mit 0,1 kg, endlich das Kalium mit 80, das Natrium mit 70, das Magnesium mit 50 und das Eisen mit 45 g. Dr. – dt.     

Maienblasen in Innsbruck. (Zu dem Bilde S. 293.) Wie in anderen deutschen Städten, so wird auch in der tirolischen Landeshauptstadt Innsbruck der erste Tag des Wonnemonats Mai nach alter Sitte mit Musikklängen freudig begrüßt. Und zwar ist hierfür seit jeher der malerische, altersgraue Stadtturm ausersehen, von dessen Rundgalerie am ersten Mai in früher Morgenstunde die Musik hinausdringt über die Dächerreihen ins freie Land und hinauf zu den Bergen, welche das grüne Innthal umkränzen.

Ringsum liegt noch alles in stiller Ruhe, kein Wagengerassel in den Straßen und Gassen, wenig Menschen begegnet man auf den Bürgersteigen, die breite Innbrücke zeigt sich fast gänzlich öde und leer, da knarrt hoch oben in dem fast sechzig Meter bis zur Spitze messenden Stadtturm das Pförtchen zum äußeren Rundgange, und bald nachher tönt die Melodie des „Mailüfterl“ frisch und fröhlich in den sonnigen Morgen hinaus. Aus dem Erkergemach über dem Rundgang streckt Vater Oelhofer, der nun schon bald fünfundzwanzig Jahre lang als sturmerprobter Turmwart hier oben in luftiger Höhe haust, seinen Kopf durch das kleine Fenster und raucht als buchstäblich „höchste“ Persönlichkeit im Auditorium dieses Maienkonzertes ein Morgenpfeifchen, während bald da, bald dort in der Nachbarschaft ein Fenster sich öffnet und Tücher gegen die Turmgalerie geschwenkt werden als Begrüßung sowohl der Maienmusik, als auch des lange ersehnten Wonnemonats selbst.

Eine weitere, gewiß „hochgeborene“ Persönlichkeit – da deren Wiege hier oben hoch über dem Getriebe der sonstigen Innsbrucker Menschheit stand – finden wir auf unserem Bilde in des Turmwarts freundlichem Töchterlein, das wohl besonders sich freuen mag, das Alltagsleben auf der Hochwarte der Stadt, nach der langen, eintönigen Winterszeit, durch das melodische Liederkonzert der schmucken Musikanten unterbrochen zu sehen. Von der Umgebung grüßt zunächst unten am alten Stadtplatze der Erker an der einstigen Innsbrucker Herzogsburg mit dem goldenen Dachl zur luftigen Turmgalerie herauf, weiter draußen spannt sich die Innbrücke über den vielbesungenen Alpenfluß, und rings um die von mancherlei spitzen Kuppeltürmen überragten Häuserreihen erheben sich die Berge in all ihrer stolzen Pracht, ernst und wild, starr und schneebedeckt, indes vor den Thoren thalauf und -nieder und im nahen Mittelgebirge schon alles grünt und blüht in voller Frühlingsherrlichkeit.

Die Lieder sind bald verklungen, und nun wird’s wieder still und einsam im Turme bis zur Reisezeit im Sommer; dann steigen von den vielen tausend Alpenfahrern, welche die schöne tiroler Hauptstadt besuchen, alltäglich Dutzende zum Stadtturm hinan, da dessen luftiger Rundgang eine reizend schöne Fernsicht auf Stadt und Land, über Berg und Thal gewährt, ein Landschaftspanorama, wie es sonst eben nur auf entfernteren Höhen sich bietet. J. C. Platter.     

Verbrauch von Bodenbestandteilen durch die Pflanzen. Es ist eine altbekannte Thatsache, daß die Pflanzen zusammen mit dem Wasser durch ihre Wurzeln kleine Mengen von Mineralsubstanzen, die sie zum Aufbau ihrer Organe nötig haben, aus dem Boden aufnehmen. Wie uns die Aschenanalyse zeigt, kommen bei den einzelnen Pflanzen nur geringe Mengen in Betracht, die an die Massen des verbrauchten Wassers nicht heranreichen. So haben Untersuchungen gezeigt, daß eine einzige Sonnenrose in 140 Tagen dem Boden 66 Liter Wasser entnahm, während ein Hektar eines 115jährigen Buchenwaldes vom 1. Juni bis zum 1. Dezember 2,4 bis 3,5 Millionen Liter verbrauchte. Freilich bleibt ja das Wasser nicht in der Pflanze, es verdunstet, hauptsächlich durch die Blätter, fast vollständig wieder, während die in ihm gelöst enthaltenen Mineralbestandteile in der Pflanze abgelagert werden. Aber wenn auch die Menge der Mineralsubstanzen in der einzelnen Pflanze nur gering ist, so ergeben sich doch für die Pflanzenwelt eines größeren [324] Bezirks so gewaltige Werte, daß man es kaum für möglich hält. Das geht aus einer interessanten Arbeit von Woldrich hervor, der sich die Aufgabe gestellt hat, nachzuweisen, welche Massen mineralischer Nährstoffe jahraus jahrein durch die Vegetation dem Boden, und zwar speciell des Ländergebietes von Böhmen, entzogen werden. Woldrich berechnete, daß alljährlich die Feldpflanzen Böhmens dem Erdboden wenigstens 563 Millionen Kilogramm mineralischer Stoffe entziehen, Wiesen und Weiden wenigstens 274 Millionen Kilogramm, Wälder und Gärten 25 Millionen Kilogramm, die gesamte Pflanzenmenge also mindestens 862 Millionen Kilogramm. Zum Transport dieser ungeheuren Menge würden 4310 Güterzüge zu je 20 Wagen, der Wagen zu 200 Centner Tragfähigkeit angenommen, nötig sein.

Die Pfingstlichteln in Berchtesgaden. (Mit Abbildung.) Altheidnische und christliche Sitte haben sich vereint, um an zahlreiche Zeitpunkte im Jahre gewisse Bräuche anzuknüpfen, die teils mit Wandlungen des Naturkreislaufes, teils mit den Erinnerungen an kirchengeschichtliche Ereignisse und Personen zusammenhängen. Als ein solcher Zeitpunkt erscheint auch das Pfingstfest. Die Zeit, um welche der Lenz in seine vollste Pracht eintritt, mag wohl bei unseren germanischen Vorvätern im grauen Heidentume noch eine viel dringendere Veranlassung zu festlicher Stimmung gewesen sein als heutzutage. Jene Festlichkeiten, welche da, wo sich noch alter Brauch im Volke erhalten hat, um Pfingsten gefeiert werden, lassen deutlich erkennen, wie in manchen Gegenden rätselhafte heidnische Ueberlieferung, anderwärts dagegen christliche Anschauungen den Grundzug der Festveranstaltungen bilden. Man wird solche Sitten immer am lebendigsten in rein ländlichen Gegenden finden, wo noch nicht die Aufklärung und die modernen Interessen einer industriellen Bevölkerung das Althergebrachte weggewischt haben. So ist es insbesondere in den verschiedenen Landbezirken Altbayerns der Fall. In den Ortschaften der zur Donau sich abdachenden Hochebene herrschen – oder herrschten wenigstens bis vor wenigen Jahrzehnten – Pfingstbräuche, die nur aus einer kaum mehr verständlichen heidnischen Ueberlieferung erklärt werden können. So namentlich der Umritt eines Zuges, dessen Hauptperson eine komische Figur, der „Pfingstl“, ist, welcher schließlich ins Wasser geworfen wird.

Die Pfingstlichteln in Berchtesgaden.
Nach Skizzen von F. Menter gezeichnet von F. Bergen.

Wo durch ein vielhundertjähriges Hausen unter dem Krummstabe die Bevölkerung veranlaßt worden ist, sich tiefer in das Christentum einzuleben, hat auch die Pfingstsitte ein christliches Gepräge angenommen. So in dem bergumschlossenen Berchtesgadener Ländchen, dessen Volk seit achthundert Jahren von den Pröbsten und Mönchen des Berchtesgadener Stiftes in christlicher Sitte erzogen ward. Hier hat sich die schöne Sitte der „Pfingstlichteln“ bis in die neueste Zeit erhalten. Zur Erinnerung an die Ausgießung des heiligen Geistes über die Apostel werden hier Kerzchen angezündet, die entweder von Kindern durch die Straßen getragen oder auch auf Balkongeländern, Brüstungen und Planken befestigt werden. Manchmal sieht man zwölf solcher Kerzen nebeneinander auf einem Balkon oder Mäuerchen brennen; dahinter sitzt dann gewöhnlich, in einem Gebetbuche lesend, eine alte Frau, die außer ihrer Freude an den Lichtern auch zu sorgen hat, daß durch dieselben kein Schadenfeuer entsteht. Es macht einen eigenen Eindruck, diese kleinen Lichtchen im Kampfe mit der großen, auf die Felsberge des Thales niederstrahlenden Frühlingssonne zu sehen. M. H.     

Mörtel der ägyptischen Pyramiden. Wer je in den Katakomben Roms oder in den altrömischen Amphitheatern gewesen ist, der hat sich wohl auch gewundert über die ungeheure Festigkeit des Mörtels, durch den die aufeinanderlagernden Steinmassen in diesen mehrere tausend Jahre alten Bauten unauflöslich verbunden erscheinen. Man hörte darum und hört auch heute noch oft die Behauptung aufstellen, so fest verständen wir jetzt nicht mehr zu bauen. Da ist es denn interessant, zu wissen, daß chemische Untersuchungen des Mörtels dieser alten Bauten ergeben haben, daß er genau so zusammengesetzt ist wie unsere heutigen Mörtel. Noch viel älter als diese römischen und griechischen Bauwerke sind nun die Pyramiden Aegyptens, die trotz ihres hohen Alters nicht die geringsten Spuren des Verfalls zeigen und an denen wohl noch viele weitere Jahrtausende vorüberziehen werden, ohne sie zu Fall zu bringen. Das Bindematerial, das die alten Aegypter benutzten, muß also wohl noch besser gewesen sein. In Amerika hat man nun Mörtel von der ältesten und größten, der Cheopspyramide, untersucht, und siehe da, er stimmte in der Zusammensetzung mit unseren besten Mörteln nahezu völlig überein. Daraus geht hervor, daß wir, wenn wir nur wollen und unser bestes Material nehmen, wohl mindestens ebenso fest bauen können, wie es den alten Aegyptern und Römern möglich war. Dr. –dt.     

Am Hochsitz. (Zu dem Bilde S. 317.) Auf der Jagd spielt der Wind eine Hauptrolle. Man kann sich noch so gedeckt ansetzen und so vorsichtig als nur immer möglich pirschen – hat der Jäger keinen Wind, das heißt, zieht die Luft von ihm nach dem Wilde hin, so wird er wenig Glück haben: es wittert ihn, bevor er es sieht oder schußmäßig heran ist. Deshalb baut sich der Jäger, um vom Winde nicht abhängig zu sein, Hochsitze oder Kanzeln, und der Künstler, Albert Richter, zeigt uns auf seinem Bilde eine solche, in deren Nähe sich eine „Körnung“ befindet. Seit Jahren wechselte in der „Dresdener Heide“ ein „Eingänger“, ein Hauptschwein, und als dasselbe eine aus Kartoffeln, Eicheln und Mais angelegte Körnung angenommen hatte, forderte der Oberförster an einem schönen Maitag den Künstler auf, sein Glück mal zu versuchen und vom Hochsitz den prächtigen „Eingänger“ zu skizzieren. Da aber auch Dam- und Rotwild auf die Fütterung kam, hatte der Forstlehrling zwei am Morgen erlegte junge Füchse neben dieselbe gelegt, die das Wild „vergrämen“ sollten, den Schwarzkittel aber, der ja auch „Luder“ annimmt, wohl kaum von der Körnung abhalten würden. Als es dämmerig wurde, knackte es in der Dickung, aber statt des Keilers zog ein Kolbenhirsch heran, vorsichtig schleichend, hin und herwechselnd, als bekäme er Wind von den Füchsen, könnte aber trotzalledem seine Sehnsucht nach der Körnung nicht bemeistern. Plötzlich aber warf er sich herum uno stürmte polternd und prasselnd durch die Dickung zurück. Diesen auf der Kanzel erlauschten Vorgang hat dann unser Künstler in seinem Bilde wiedergegeben. K. B.     

Passionata. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ist es eine Erinnerung an Beethovens „leidenschaftliche Sonate“, welche dem Künstler vorschwebte, als er diesen dunkelschönen Frauenkopf schuf? Stürmisch wie dort die Töne, sich verschlingend, brausen, hat es hier in der jungen Seele gewittert: Haß und Liebe, heißes Verlangen und treuloses Abwenden haben sich wie Wellen der Sturmflut übereinander hingewälzt, bis endlich die Kraft erschöpft war, die heißen Thränenströme versiegten und schwermütige Ruhe an Stelle der Verzweiflung trat. Nun klingen die Töne ernst und trauervoll, von süßer Erinnerung sehnsüchtig durchwoben, so wie hier der Blick der Augen sich tief und schwermutsvoll in die Ferne richtet. Festgeschlossen bleibt der Mund, der von höchster Wonne und großen Schmerzen zu reden vermöchte, die Hand vergräbt sich in die dunklen Haarwellen und träumerisch ruht das schöne Haupt weit vorgeneigt, als lausche es den klagenden Stimmen, die von gestorbener Liebe und bösen Schicksalsmächten singen. Nur in den Angen glimmt es noch leise wie ein unheimlicher Funken, der nicht verlöscht und des Augenblicks harrt, da ein plötzlicher Windstoß ihn wieder zur verzehrenden Flamme anfacht. Auf dem Marmortisch vor der Schönen aber liegen, achtlos hingestreut, halbentblätterte Rosen, ein Sinnbild eines kurzen, nun zerstörten Liebesglücks.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Allerlei Winke für jung und alt.

Kakemono heißen die Bilder zum Aufhängen, mit denen die Japaner ihre Veranden und Pavillons ausschmücken, aus Stoff oder Papier, oder beidem zusammen. Diese gute Idee eines beweglichen und leicht aufzubewahrenden Wandschmuckes ist auch in unsere Weise zu übersetzen. Dort ist meist die Malerei eingerahmt durch ein ornamentales Stoffmuster von sanften Farben, welches das Bild hebt. Dies müßte man in Aquarellmalerei nachahmen, wemm man nicht einen leichten Seidenstoff verwenden will. Das Ganze ist ein Stück nicht zu starken Aquarellpapiers, auf Schirting gezogen in der Art der Landkarten, und wie diese mit Stäben oben und unten versehen. Hübscher macht es sich, wenn der Stab mittels einer Goldlitze festgeschnürt ist, die mit Schleifen oder Quasten zum Aufhängen dient. Auch eine Oelstudie auf Malleinwand läßt sich auf diese Weise als gutes Dekorationsstück fertig machen. J.     

Wandborte. Zum Schmuck für die Veranda, wenn sie frisch getüncht worden, eignet sich sehr eine aufgemalte farbige Bordüre, die sich unterhalb der Decke hinzieht und, in wenigen einfachen Tönen gehalten, dem Raum etwas festlich Heiteres giebt. Das Malen auf die Mauer selbst ist unbequem, obwohl sich mit den gewöhnlichen Leimfarben und hübsch breiten Pinseln gute Wirkungen erreichen lassen. Wer sich’s bequem einrichten will, schneidet sich aus grobem Meterpapier die nötigen Streifen zurecht, steckt sie auf einem langen Tisch fest und malt oder schabloniert eine Bordüre wie die anbei dargestellte mit Leim- oder Temperafarben darauf. Es ist praktisch, beim AUsschneiden der Schablone aus Karton nur die Hauptformen ganz auszuschneiden, von den Stielen nur ab und zu ein Stück, das als Anhaltspunkt dient, dann nutzt sich die Schablone nicht so schnell ab und verzieht sich weniger, während man leicht mit dem Pinsel ergänzen kann, was fehlt. Die Streifen klebt man auf die Wand mit Kleister sorgfältig fest; wenn sie genau die Farbe derselben haben, ist kein Abschluß nötig; sonst grenzt man sie durch einen breit aufgemalten Rand oder eine schmale aufgenagelte Holzleiste nach unten ab. – Unsre Bordüre verlangt nur helles und dunkleres Rot und etwas Gelb für die Aepfel, helles und dunkles Grün für die Blätter und warmes Braun für die Stiele; eine kräftig braune Umrandung macht sich gut.

Schmetterlingswolle heißt eine ganz besonders hübsche Wolle, die kürzlich in den Handel gekommen ist. Der sehr weiche Faden zeigt in seinen Uebergängen verschiedene lichte Farben, die beim Wirken und Häkeln eine Art von unbestimmten Mustern ergeben, ein milder Grundton – taubengrau, hellbraun etc. – herrscht vor. Die Wolle eignet sich sehr für leichte Kopftücher und dergleichen; auch als Ueberzug eines Sofakissens macht sie sich gut, wenn derselbe aus losen Stäbchenreihen ganz einfach gehäkelt und mit passender Seide unterlegt wird.

Tischdecken aus gewebten Borten und Leinwand. Ueberall erhält man jetzt die schönen, farbig gewebten Borten, die zuerst in Tirol aufkamen, blau, rot oder gelb auf weißem Grund. Drei von diesen gewebten Streifen, etwa 12 cm breit, und zwei weiße Leinwandstreifen von der doppelten Breite dazwischen, mit einem Lochsaum oder Durchbruch angesetzt, und eine einfache Leinenspitze, vielleicht auch eine selbstgehäkelte von guipureartigem Muster, um den Rand gesetzt, das ergiebt eine sehr hübsche Kaffeetischdecke, die viel weniger Mühe macht als die gestickten und im Waschen weniger leidet als jene. J.     

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0324 a 3.jpg

Tischdecke aus gewebter Borte.

Adressenbuch – ein praktisches Geschenk auf den Schreibtisch der Hausfrau. Wer nicht selbst buchbindert, läßt sich ein nettes Buch aus weißen Blättern mit Kartondeckeln (Holzpappe) und Leinwandrücken, oder ganz in Leder gebunden, herstellen, brennt oder punzt den Deckel, malt ihn aus, wählt auch vielleicht Wappen oder Namenszug des Empfängers statt des ornamentalen Blumenschmuckes und teilt das Buch in einzelne Rubriken mit ebenfalls verzierten Titelblättern, die am Rande kenntlich gemacht werden können. Dies ist für unseren Zweck praktischer als die angeklebten Buchstaben des Alphabets. In das Buch schreibt man Adressen von Bekannten, von Bezugsquellen und Geschäftsleuten, die Titel empfohlener und verliehener Bücher etc. je in eine Rubrik zusammen, zu bequemem Nachschlagen. J.     

Das Selbstanfertigen von Kleidern ist eine so lohnende Ersparnis, daß sich noch viel mehr Frauen und Mädchen daran begeben sollten. Die meisten finden es unmöglich, einen Journalschnitt ihrer Person anzupassen, und verzichten zu früh auf den Versuch, der doch an der Hand von guten Lehrbüchern für Zuschneiden, wie sie die großen Modezeitungen herausgeben, leicht genug zu machen ist. Es gelingt sicher, wenn man als Grundlage dafür eine ältere, gut sitzende Taille zertrennt, das Futter sorgfältig mit wenig heißem Eisen bügelt und nun den Schnitt der Musterzeitung auf dieses Futter legt. Die Unterschiede fallen sofort in die Augen, und es ist nicht schwer, die neue Form mit den Linien der eigenen Figur in Einklang zu bringen und sich so ein bleibenden Grundmuster zu verfertigen. Ganz ebenso verhält es sich mit den Aermeln, deren Länge und Weite sich immer nach dem eigenen Arm richten muß. Für die Röcke finden sich in allen Musterzeitungen stark verkleinerte Schnittübersichten, deren Weite man nur mit dem eigenen Längenmaß zu kombinieren hat. Selbstverständlich wird zum Selbstschneidern Uebung in allen den kleinen Handgriffen erfordert, welche bei Herstellung eines Kleides nötig sind; sie sollte eben unseren Haustöchtern zeitig beigebracht werden, indem sie bei der Hausschneiderei mithelfen und allmählich zu so viel Selbständigkeit gelangen, um wenigstens das Verändern getragener Sachen, sowie die Anfertigung von einfacheren Kleidern und Blusen selbst besorgen zu können. Es kommt bei dieser Thätigkeit viel mehr Gewinn heraus als beim Sticken, Häkeln oder Holzbrandmalen, ganz abgesehen von dem Zuwachs an praktischer Tüchtigkeit fürs Leben!




Hauswirtschaftliches.

Neue Restverwendung von Hammelfleisch. Jede Hausfrau weiß, wie schlecht gerade Hammelfleischreste sich wohlschmeckend verwenden lassen, sie wird deshalb ein treffliches Restergericht davon mit Freude begrüßen. Man braucht zu dieser Speise 150 g gekochte, erkaltete Maccaroni, die in ganz kleine Stückchen geschnitten werden, und 250 g gewiegtes kaltes Hammelfleisch. Beides mischt man untereinander, giebt eine Messerspitze Paprika, einen Theelöffel gewiegte Petersilie, eine halbe geriebene Zwiebel und etwas Salz dazu. 1/4 l Milch bringt man ins Kochen, giebt 20 g Butter und 30 g glatt gerührtes Mehl dazu und rührt eine dicke Sauce davon, die man nebst einer Messerspitze aufgelöstem Fleischextrakt unter die gemischten Zuthaten rührt. Die Masse muß erkaltne, wird dann zu länglichen Rollen geformt, diese werden nun in Ei und Semmel gedreht und in Schmalz ausgebacken. Ich gebe sie zu Sauerkraut als passende Beilage. L. H.     

Apfelsinen als Nachtisch hübsch herzurichten. Aus zwölf schönen Apfelsinen stellt man zwei hübsche Dessertschüsseln her, die man auf verschiedene Weise herrichtet. Zu der einen Schüssel nimmt man sechs Apfelsinen, schneidet sie quer mitten durch und macht mit scharfem Messer rings um die Schale entlang fahrend das Fleisch am Rande los, worauf man mitten durch das Fleisch einen Kreuzschnitt macht. Für jede Apfelsinenhälfte rechnet man 1½ Theelöffel guten Cognak und ebensoviel gestoßenen Zucker. Man verrührt beides miteinander und beträufelt die Orangenhälften, etwa zwei Stunden vor dem Anrichten beginnend, allmählich mit dem süßen Cognak, der das Apfelsinenfleisch ganz durchziehen muß. Man richtet die Apfelsinenhälften auf flacher, mit grünen Blättern belegter Schale pyramidenförmig an und wird mit ihnen besonders bei den Herren großen Erfolg haben. Für die dem Pikanten abgeneigte Damenwelt sind die andern sechs Apfelsinen bestimmt. Von ihnen schneidet man oben einen Deckel, höhlt sie behutsam aus und schneidet das von den Kernen befreite Fruchtfleisch in Würfelchen. Vorher hat man eine Weincreme bereitet, unter die man etwas aufgelöste Gelatine rührt. Man schlägt die Creme, bis sie anfängt steif zu werden, mischt jetzt das Apfelsinenfleisch unter sie und füllt die Orangen damit. Die Oberfläche wird mit gewiegten Pistazien bestreut und der Deckel oben wieder aufgesetzt. Man kann übrigens die Früchte, zumal wenn sie groß sind, auch mitten durchschneiden und die Hälften ebenso wie die ganzen Apfelsinen füllen. He.     

Leberspeise für den Abendtisch. Man kocht ½ k fettes frisches Schweinefleisch mit einer Zwiebel, einem Lorbeerblatt, etwas Gewürz in Wasser weich, läßt es erkalten und wiegt es fein. Eine kleine Kalbsleber häutet man, schabt sie und rührt sie durch ein Sieb. Man mischt die Lebermasse mit dem gewiegten Fleisch, thut eine in Butter gedünstete, gewiegte Zwiebel, eine Obertasse voll Fleischbrühe, drei ganze Eier, zwei Löffel geriebene Semmel und wenig geriebenen Majoran (oder auch Thymian) daran. Die Masse wird in eine vorgerichtete Form gefüllt und im Ofen im Wasserbade 11/4 Stunde gebacken. Man stürzt die Speise, läßt sie erkalten und giebt folgende Sauce dazu: Ein säuerlicher Apfel wird geschält und gerieben und dann mit reichlich saurer Sahne, etwas Oel, Essig, Senf, Zucker, Pfeffer und Salz zu einer dicklichen wohlschmeckenden Sauce gerührt.

Bei einfachem Abendessen ist diese Leberspeise als Hauptschüssel vortrefflich. He.     

Ofenfarbe. Zur warmen Jahreszeit werden viele Oefen außer Thätigkeit gesetzt, welche durch das fortwährende Feuern im Winter oft recht unansehnlich geworden sind und darum gern mit irgend einer Farbe aufgefrischt werden. Besonders eiserne Öefen pflegt man mit Asphaltlack neu zu lackieren und muß dann beim Wiederheizen die Erfahrung machen, daß der Lack schnell verbrennt und hierbei viele Tage lang ein häßlicher Geruch entsteht. Man nehme als Ofenfarbe – auch für Thonöfen – kein anderes Bindemittel als Natronwasserglas, welches man mit noch einmal so viel abgekochtem Wasser verdünnt und mit der gewünschten Farbe verrührt.

Für eiserne Oefen nimmt man Kienruß oder Frankfurter Schwarz. Sollen Ornamente etc. vergoldet werden, so verrührt man auch das Bronzepulver mit Wasserglasflüssigkeit. Wasserglas erhält man in jeder Droguenhandlung. Sollen eiserne Oefen schön schwarz glänzen, so bestreicht man sie mit einer Farbe aus 100 Teilen Wasserglas und 10 Teilen Kienruß und bürstet sie hiernach kräftig mit 20 Teilen Graphitpulver ab, die man in 100 Teile Leimwasser mischt.

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Allerlei Kurzweil.


Magisches Zeichenrätsel „Der Weinpokal“.
Von Al. Weixelbaum.

Die Punkte sind Vokale.


Kreuzrätsel.

Die Buchstaben sind so zu ordnen, daß die einander entsprechenden wagerechten und senkrechten Reihen bezeichnen: 1. ein schmerzstillendes Mittel, 2. einen Nadelholzbaum, 3. einen See in Tirol, 4. eine Stadt im östlichen Frankreich.
A. St.     


 Rätsel.

Verehrter Leser, willst du’s wagen,
Mit diesem Rätsel dich zu plagen?
Du lösest – sagst du – selbst das schwerste!
Nun:
 „Mancher Sänger hat die Erste,
Die Zweite manche Sängerin,
Doch ist der Ersten Fuß dahin,
Wird meine Erste im Verein
Mit meiner Zweiten zu – Gestein.“
 Oscar Leede.


Skataufgabe. 0 Von K. Buhle.

Ein Pechvogel verliert mit folgenden Karten:

(tr.B.) (p.B.) (car.B.) (tr.As) (tr.K.) (p.As) (c.Z.) (c.K.) (c.D.) (car.As)

in der Mittelhand ein Spiel, welches er an jeden der beiden Gegner, die beide in ihren 10 Karten gleichviel Augen und dasselbe unverlierbare Spiel haben, mit 48 bezahlen muß. – Ein anderes Mal bekommt er wieder in Mittelhand dieselben Karten, spielt aber diesmal ein anderes Spiel, das er für sicherer hält, verliert aber wiederum und muß sogar an jeden Gegner, von welchen der erstere in seinen Karten 7 Augen mehr hat als der andere, 90 bezahlen, während er, wenn er die frühere Spielart wieder gewählt hätte, diesmal gewonnen und von jedem Gegner 96 bekommen hätte.

Welches Spiel hat der Spieler das erste Mal und welches das zweite Mal angesagt? Wie waren in den beiden Fällen jedesmal die Karten verteilt und wie war der Gang des Spiels?


 Homonym.

Ob dir wohl das Wort bekannt ist,
Das ein Glied, ein Fluß, ein Land ist?      E. S.


Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 9.

  1. D f 2 – d 4       c 5 – e 3 +
  2. D f 6 – e 7       D h 8 – d 4 +
  3. D e 7 – c 5       D b 4 – d 6 +
  4. D f 8 – g 5 +++! h 4 – f 6 +
  5. a 1 – g 7 +++ und gewinnt.


Auflösung des Buchstaben-Ornaments auf dem Umschlag von Halbheft 9.

Der Welt mehr geben als sie uns giebt,
Die Welt mehr lieben, als sie uns liebt,
Nie um den Beifall der Menge werben,
Macht ruhig leben und selig sterben.
 Fr. v. Bodenstedt.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Dienstag, Gastein.


Auflösung des Kombinationsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9.
1. Dohle, Elster; 2. Robert, Emil; 3. Drossel, Lerche; 4. Eisen, Natrium; 5. Amiens, Reims; 6. Therese, Ida; 7. Sparta, Theben; 8. Enns, Drau; 9. Linse, Erbse; 10. Tieck, Herder; 11. Aachen, Trier

Der Edlen Art ist edle That.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Doge, Dogge.


Auflösung des Umstellungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Fehler, Helfer.




[Werbung - vor allem von Firmen des amerikanischen Marktes - hier nicht abgebildet.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Beiderwand ist ein grober Stoff aus baumwollener Kette und streichwollenem Schuß. Das Gewebe ist noch heute unter dem Namen „Beiderwand“ in Holstein bekannt und wird besonders von Köchinnen gerne getragen.
  2. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1881 Seite 191: „Drei Großthaten der Humanität“ vom Verfasser.
  3. S. „Schmerzlose Operationen. Oertliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten etc.“ von Dr. C. L. Schleich. 3. Anfl. 1897.