Die Gartenlaube (1899)/Heft 16
[484 c]
16. Heft. | Preis 10 cents. | 1. August 1899. |
[484 d]
Seite | ||
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (7. Fortsetzung) | 485 | |
Jagdgehilfen des Maharadscha von Dschaipur. Von Dr. K. Boeck. Mit Abbildung | 495 | |
Wie ich zur Dichterin wurde. Ein Brief von Johanna Ambrosius. Mit Bildnis | 496 | |
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Die Nernstlampe. Von Franz Bendt | 499 | |
Bilder aus dem oberösterreichischen Mühlviertel. Von Eduard Zetsche. Mit Illustrationen von W. Gause | 500 | |
Der Lebensquell. Erzählung von E. Werner (Fortsetzung) | 502 | |
Beim Untersuchungsrichter. Kriminalistische Skizze von Professor Dr. Hanns Groß | 512 | |
Blätter und Blüten: Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Mißhandlung. S. 514. – Die Bergpartie. (Zu dem Bilde S. 488 und 489.) S. 514. – Türmers Abendrast. (Zu dem Bilde S. 505.) S. 514. – Das Helmholtz-Denkmal. (Mit Abbildung.) S. 515. – Die Drachenschlucht im Annathal bei Eisenach. (Mit Abbildung.) S. 515. – Anwendung von X-Strahlen zur Prüfung der Feuerungsmaterialien. S. 515. – Die Schauenburg bei Dossenheim an der Bergstraße. (Zu dem Bilde S. 513.) S. 515. – Der neue Berliner Müll-Schmelzofen. Von W. Berdrow. (Mit Abbildung.) S. 516. – Wie weit hört man den Donner? S. 516. | ||
Illustrationen: Jagdgehilfen des Maharadscha von Dschaipur. Von Dr. K. Boeck. S. 485. – Die Bergpartie. Von L. Blume-Siebert. S. 488 und 489. – Neidische Gesellschaft. Von C. T. Garland. S. 493. – Johanna Ambrosius. S. 499. – Abbildungen zu dem Artikel „Bilder aus dem oberösterreichischen Mühlviertel“. Von W. Gause. 1. und 2. Mühle und Hammerwerke am Sarmingbach. 3. Die „Braune Mühle“ bei Waldhausen. 4. Befestigtes Bürgerhaus und alter Wartturm bei Sarmingsteins. 497. Werfenstein. S. 500. In der Sägemühle. Schloß Clam. Mühle in der Clamschlucht. S. 501. Versandetes Hammerwerk. S. 502. – Türmers Abendrast. Von P. Kohlschütter. S. 505. – Ferienfreuden. Von Emil Czech. S. 509. – Die Schauenburg bei Dossenheim an der Bergstraße. Der Edelstein. Dossenheim. S. 513. – „Es geht nicht mehr!“ Von M. Budinsky. S. 514. – Das Helmholtz-Denkmal vor der Universität in Berlin. S. 515. – Blick in die Drachenschlucht bei Eisenach. S. 515. – Der neue Müll-Schmelzofen in Berlin. Von Ewald Thiel. S. 516. |
Neue Reiseführer. Die schon so reiche Litteratur der Reisehandbücher hat auch in diesem Sommer sehr wertvolle Bereicherungen erfahren. In der altbewährten Sammlung von Meyers Reisebüchern, die im Verlag des Bibliographischen Instituts in Leipzig erscheint, begegnet uns als völlig neues Unternehmen ein Reiseführer in die „Ostseebäder und Städte der Ostseeküste“. Es ist der erste Versuch, all die schönen Landstriche der waldumrauschten deutschen Ostseeküste vollständig und im Zusammenhange darzustellen. Bei der Gediegenheit seiner Ausführung setzt das Buch den Leser in die Lage, aus der Fülle der reizvollen Ortschaften, weiche dort als Sommerfrischen zu Ruf gelangten, sich einen den eigenen Bedürfnissen am meisten entsprechenden Aufenthaltsort auszusuchen. Das Buch ist aber auch ein sicherer Führer durch die Umgebung der Bäder, auf den Wanderungen an den Küsten und auf den Inseln der Ostsee. Denselben Dienst leistet es für alle Städte der Ostseeküste. 12 Karten und 16 Pläne sind dem ungemein praktisch eingerichteten Text beigegeben. Im gleichen Verlage erlebte das viel gerühmte Unternehmen „Der Hochtourist in den Ostalpen“ von L. Purtscheller und H. Heß eine zweite, vollständig umgearbeitete, stark vermehrte und auf drei Bände erweiterte Auflage. Diese handlichen Bände sind genau den Anschauungen und Bedürfnissen jener Besucher der Alpenwelt angepaßt, die im Besteigen auch schwieriger Bergspitzen geübt sind. Band I, mit 16 Karten, schildert die bayrischen und Nordtiroler Kalkalpen, die nordrhätischen Alpen, die Oetzthaler, Ortler- und Adamelloalpen. Band II, mit 14 Karten, hat die Salzburger und Berchtesgadener Kalkalpen, die oberösterreichischen und steirischen Alpen, die Zillerthaler Alpen, die Hohen und Niederen Tauern zum Gegenstand. Band III, mit 19 Karten, beschreibt das Gebiet der Dolomiten, der Karnischen Alpen und der südöstlichen Kalkalpen. Gleichzeitig erlebte der 3. Teil von Meyers „Deutschen Alpen“ die 4. Auflage. Auch sie erfuhr eine sorgfältige und durchgreifende Bearbeitung. Hier findet sich Wien, Ober- und Niederösterreich, Salzburg und Salzkammergut, Steiermark, Kärnten, Krain, Kroatien und Istrien in übersichtlichem Zusammenhange behandelt. Der Band enthält 12 Karten, 6 Pläne und 6 Panoramen. Demselben praktischen Gesichtspunkt, welchem die Dreiteilung des Meyerschen „Hochtouristen in den Ostalpen“ Rechnung trägt, findet sich auch die neue Auflage des berühmten Reisehandbuchs von Tschudi, „Der Tourist in der Schweiz“, die 34., angepaßt (Zürich, Verlag des Art. Institut Orell Füßli). Sie liegt in drei sehr handlichen Bänden vor, von denen der erste „Nordschweiz und Westschweiz“, der zweite „Urschweiz und Südschweiz“, der dritte die „Ostschweiz“ bespricht. Auch diese Auflage weist im Inhalt manche Erweiterung und Erneuerung auf, so völlig neu bearbeitete Karten vom Engadin, Vierwaldstättersee, Berner Oberland und Zermattthal. In Tschudis Werk ist gleichfalls auf die Bedürfnisse des Hochtouristen besondere Rücksicht genommen. Noch von anderen Reisebüchern der Meyerschen Sammlung als den obengenannten liegen neue Auflagen vor. Die 9. Auflage der „Rheinlande“, mit 20 Karten, 17 Plänen und 7 Panoramen, erfreut sich einer Neuerung, welche sie dem Gegensatz der geschilderten Landschaft zu der Hochalpenwelt verdankt. Den Rhein entlang findet der Radfahrer prachtvolle Straßen, um aufs genußreichste seinem Sport zu huldigen. Meyers „Rheinlande“ tragen jetzt diesem Umstände Rechnung. Die neue Auflage enthält eine ganze Reihe von Reiseplänen und eine große Zahl von Ratschlägen für Radfahrer. Der gleichen Neuerung freut sich auch die eben erschienene 8. Auflage des „Wegweisers durch den Schwarzwald“, welcher Odenwald, Bergstraße, Heidelberg und Straßburg mitumfaßt. Schildert er in letzterem Gebiet ja eines der herrlichsten Radlerreviere Deutschlands! Natürlich bleibt für den Fußwanderer in alter Weise gesorgt. Wie immer aber unsere Leser ihre Ferienreise ausführen, wohin immer sich ihr Marsch oder ihre Fahrt richte, an allen möge sich, dies wünschen wir aufs herzlichste, die Wahrheit des Liedes bewähren: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt!“
Praktische Uebersichtskarte der Schweiz. Besondere Rücksicht auf die Bedürfnisse der Touristenwelt ist bei der Ausführung einer neuen Karte der Schweiz genommen, welche kürzlich in A. H. Paynes Verlag in Leipzig erschienen ist. Diese Uebersichtskarte im Maßstabe von 1:400000 ist in fünf Farben gedruckt und giebt die Höhenstufen in sieben Tönen. Die Gletscher sind blau und die Hauptkämme in den höchsten Stufen weiß gelassen. Alle Verkehrseinrichtungen des vielbereisten Alpenlandes, Eisenbahnen, elektrische und Drahtseilbahnen sind nach Angaben der betreffenden Direktionen eingezeichnet.
Die auf starkes Papier gedruckte Karte, deren Größe 64 X 95 cm beträgt, ist in handliches Format gefaltet und als eine nützliche Ergänzung zu jedem „Führer“ durch die Schweiz zu bezeichnen.
Ein tapferes Ameisenvolk. Die hohe sociale Stufe, welche im Tierreich die Ameisen in ihren Staatenbildungen erreicht haben, ist bekannt.
Mit Erstaunen gewahren wir oft in dem Thun und Treiben der kleinen Insekten ein Gegenbild menschlichen Handelns. Wir kennen Ameisenarten, die Ackerbau treiben, andere sind als Sklavenhalter bekannt, viele sind kriegerischer Natur, und wir finden bei ihnen einen großen Teil des Volkes in körperlicher Ausbildung und in seinem wilden angriffslustigen Mut als Kriegerkaste entwickelt. Einen Zug heroischer Selbstaufopferung zum Besten des Gemeinwohls aus dem Leben der Ameisen erzählt Semon in seinem an biologischen Beobachtungen reichen Werke „Im australischen Busch“. In der Nähe des Lagers befand sich ein großer Ameisenhaufen, dessen Bewohner dem Gelehrten oft sehr peinliche Besuche abstatteten. Er mußte sich ihrer zu erwehren suchen. In der Absicht, den ganzen Staat zur Auswanderung zu zwingen, streute Semon eine Handvoll Naphthalinkrümchen auf den Haufen; in größter Aufregung stürzten alle auf die übelriechenden Brocken, um sie fortzuschleppen, und wenn auch jede Ameise nach kurzer Zeit, von dem schädlichen Geruch überwältigt, ihr Stück fallen ließ, so traten andere an die Stelle, und in weniger als zwei Stunden war auch der kleinste Naphthalinbrocken aus dem Nest entfernt. Da griff Semon in der Not zu einem drastischeren Mittel und warf Cyankalium auf den Haufen. Wer von den Ameisen das furchtbare Gift berührte, bezahlte es mit dem Leben; immer und immer wieder aber eilten die Tiere herbei, um die verderbenbringenden Brocken wegzutragen. Die Dunkelheit unterbrach Semons Beobachtungen; am andern Morgen aber fand er, daß der Haufen nicht verlassen war, wie man erwarten konnte; er war vielmehr in seiner ganzen Oberfläche wie ein Schlachtfeld mit toten Ameisen besät, die Cyankalistückchen waren aber verschwunden. „Mehr als die Hälfte des Volkes,“ schreibt Semon, „hatte in diesem Verzweiflungskampf den Tod gefunden; es war aber dem Todesmute der heroischen Geschöpfe geglückt, unter rücksichtsloser Aufopferung des eigenen Lebens das Gift aus ihrer Vaterstadt zu entfernen, indem sie es Millimeter für Millimeter fortschafften und jeden Schritt mit einer Leiche bedeckten.“ Nach Wegschaffung der Toten durch die Ueberlebenden, die noch an demselben Tage erfolgte, war wieder Ordnung geschaffen und die tapferen Tiere durften sich des ungestörten Besitzes der mit so ungeheuren Opfern behaupteten Heimat erfreuen; denn durch deren Heroismus besiegt, verzichtete der Forscher auf die Vertreibung der Ameisen und der Zoologe streckte vor seinen kleinen Gegnern edelmütig die Waffen. K. L.
[484 e]
[485]
Halbheft 16. | 1899. |
Nur ein Mensch.
Wochen vergingen. Der Oberamtmann Deuben und seine
Frau wunderten sich, daß Sabine nur ab und zu noch
kurze Karten schrieb, auf denen dann nichts zu lesen stand, als
daß es in Rom oder in Neapel, oder in Florenz sehr schön sei,
daß man dann und dann angekommen sei, an diesem und jenem
Tag weiter zu fahren gedenke und daß die nächste Adresse so
und so heiße.
„Sie vergißt in all dem Vergnügen ihre alten Eltern,“ sagte der Oberamtmann zu seiner Frau.
„Ja, ja, dieser allzu generöse Onkel Fritz verdirbt uns das Kind völlig für Mühlau. Eben schien sie sich in die Verhältnisse zu schicken. Ich sagte gleich, ich hielte die Reise für Unsinn.“ Sie schenkte ihrem Mann gerade den Kaffee ein.
Vor Erstaunen über eine derartige Behauptung legte der Oberamtmann sein Kreisblatt hin.
„Du, Alte! Du hättest gesagt, du wärest gegen die Reise?! Im Gegenteil, du warst Feuer und Flamme dafür. Ich äußerte gleich meine Bedenken. Wenn man doch nun mal bestimmt ist, Pförtner zu sein, muß man nicht Glöckner spielen wollen, sagte ich noch. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, sagte ich noch, und wenn ich nicht weiß, wie es in Rom aussieht, bin ich auch in Mühlau zufrieden.“
„Das kenne ich schon bei dir. Nachher willst du es immer gewesen sein, der den weiten Blick gehabt hat,“ sagte sie, ohne sich übrigens zu ärgern. Denn ihr Ueberlegenheitsgefühl gab ihr immer eine gewisse epische Ruhe.
Sie strich sich ein Butterbrot mit einer Sorgfalt, die den Alten reizte.
„Na ja, und wer hat ihn denn auch noch stets bewiesen?“ fragte er aufpochend. „Schon damals, als Sabine sich verlobte, sagte ich, daß sie warten solle: sie ist jung, sie hat ja keine Eile. Aber ihr Weiber könnt ja nicht! Das ist förmlich, als ob ihr von der Tarantel gestochen wäret. Als wenn ’n Ruhm drin läge, die Tochter früh unter die Haube zu bringen. Und habe ich nicht recht gekriegt? Wollt’ Gott, ich hätt’ es nicht. Aber so sehr glücklich ist sie doch wohl nicht ausgefallen, die Ehe.“
„Das konnte ich nicht vorher wissen, daß Zeuthern im Duell fallen würde,“ sagte sie und biß in ihr Butterbrot.
Gegen die schlagende Logik dieser Erwiderung fühlte Deuben sich machtlos. Er war so verblüfft über dieselbe, daß er nicht bemerkte, wie sie eigentlich nur schief auf seine Rede paßte.
Da er zwei Sekunden schwieg, sah die Frau sich als Siegerin an und sprach milde weiter: „Es ist ja auch nicht unsertwegen. Wir wissen ja doch, daß unser Kind liebevoll an uns denkt. Aber was soll man erzählen? Heute abend werden Turibius und Kolvater wieder fragen.“
„Ja, es ist wirklich peinlich,“ seufzte der Mann.
In den ersten vier Wochen hatte
[486] Sabine so glückliche, ausführliche, schöne Briefe, voll von Beschreibungen, geschickt. Sie genossen alles förmlich mit. Und es war auch eine große Genugthuung, diese Briefe an den Trioabenden vorzulesen. In Mühlau gehörte es noch nicht zu den alltäglichen Ereignissen, daß man eine vielwöchige Reise nach Italien machte. Turibius und Kolvater hielten die ganze Stadt auf dem Laufenden über die Reise der schönen Frau von Zeuthern.
Die große und etwas prahlerische Mitteilsamkeit, welcher sich der Oberamtmann und seine Frau hingegeben hatten, rächte sich nun.
Fast mit Unbehagen sahen sie dem heutigen Trioabend entgegen. In der vorigen Woche hatten sie davon gesprochen, daß „Sabinens Briefe zu Reinald hinausgeschickt worden seien.“ Das Mal vorher war von „Postunordnungen“ die Rede. Was sollte man heute sagen?
Sklaven der Kleinstadt, wie sie waren, fürchteten sie gleich immer: „man könne etwas denken!“ Und seufzend setzte sich die Oberamtmännin an ihr Klavier, um noch vorher ihren Part durchzuspielen.
Der alte Mann nahm seinen Beobachterposten am Fenster ein.
Ein Weilchen klang der Klaviervortrag, einer stammelnden, unvollkommenen Sprache gleich, durch das Zimmer. Die Oberamtmännin zählte laut. Auch ihre vieltaktigen Pausen.
„Bei Küps läuft es heute mal wieder toll,“ sagte der Alte, „seit ich hier sitze, sind schon an die fünf oder sechs Kunden dagewesen.“
Antwort verlangte er nicht auf seine Bemerkungen.
„Donnerwetter! Crolpa seine Frau mit’n Federhut. – Herrjes – ’n neuen Wintermantel hat sie auch!“
Den mußte die Oberamtmännin sehen. Sie eilte ans Fenster. „Ja. Wahrhaftig schon wieder. Alle Jahr einen! Na, wenn Crolpa es kann! Wo sie wohl hin will?“
Und Kopf an Kopf sahen die beiden Alten der Frau des Ackerbürgers Crolpa nach, ihre Stirnen neugierig an das Fensterglas drückend.
Drüben trat eben der Postbote aus Küps’ Hausthür.
„Na nu – Buller hat sich woll verspätet heute. Haben Sie was, Buller?“
Der Briefbote konnte das natürlich nicht hören, aber er guckte von freien Stücken herauf, sah den Oberamtmann und nickte verheißend.
„Er kommt über die Straße. Er hat was,“ sagte die Frau und ging ihm bis auf den Flur entgegen.
Eine Postkarte lesend, kam sie langsam wieder herein und trug im Gehen das Gelesene laut vor: „Liebe Mama! Wir sind soeben auf unserer Rückreise in Genua angekommen. Es ist hier sehr kalt und windig. Daß es Euch gut geht, freut mich. In kurzer Zeit sind wir wohl zurück. Ich telegraphiere noch. An Papa viele Grüße. Deine Sabine.“
Obgleich es vorgelesen war, reichte die Oberamtmännin die Karte noch ihrem Mann. Er setzte den Kneifer auf und las nochmal selbst.
„Ja,“ sagte er, „richtig aus Genua.“
Sonst war ja auch eigentlich nicht viel zu der Karte zu sagen.
„Daß es da aber kalt ist! Das müssen wir doch Kolvater erzählen.“
„Und hier ist noch was!“
„Was denn? Auch ’n italjänsche Freimarke! I, und ’ne fremde Schrift!“
Anstatt den Brief zu öffnen, zerbrachen sie sich noch einige Minuten den Kopf, wer ihnen aus Italien schreiben könne, denn Onkel Fritz oder Susanne hatten doch keine Veranlassung dazu.
„Na, woll’n mal sehn,“ meinte der Alte schließlich, öffnete, entfaltete den Bogen und las zunächst am Ende die Unterschrift: „Fritz Osterroth.“
„Siehst du. Das sagte ich gleich!“
„Aber keinen Ton hast du davon gesagt.“
„Lies nur, lies nur,“ drängte sie, doch noch mehr neugierig als rechthaberisch.
„Hochverehrter Herr Oberamtmann!
Sie waren so gütig, mir Ihre Frau Tochter bis zum ersten November anzuvertrauen. Nun ist es schon der fünfzehnte geworden und wir befinden uns immer noch in Italien. Auch tritt die Notwendigkeit an mich heran, Ihnen zu gestehen, daß ich Ihnen Ihre teure Sabine nicht so frisch und wohl zurückbringe, als meine herzliche Hoffnung war, es zu können.
Die ersten vier Wochen unserer Reise vergingen in Fröhlichkeit und Gesundheit. Es beglückte mich, damals zu sehen, wie herrlich Ihre Frau Tochter aufblühte, wie eifrig und klug sie alles in sich aufnahm, was uns die Gegenden und die Städte, welche wir sahen, Neues zeigten.
Aber in den allerersten Tagen unseres römischen Aufenthalts ward Ihre Frau Tochter von einem heftigen Malariaanfall betroffen. Zwar ist diese Krankheit ganz verschwunden und ihr Zustand völlig fieberfrei. Allein eine nervöse Depression ist doch zurückgeblieben. Immer hoffte ich, daß der Wechsel der Scenerie günstig einwirken werde. Allein, in völliger Teilnahmlosigkeit hat unsere liebe Sabine Rom, Neapel, Capri u. s. w. an sich vorbeiziehen lassen.
Meine Hoffnung, daß sich Stimmung und Zustand bessern möchten, verführte mich, Ihnen dies bis jetzt zu verschweigen. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, wenn die Dinge besser werden konnten, ohne Sie erst in Mitleidenschaft zu ziehen.
Lassen Sie mich Ihnen aber aufs nachdrücklichste sagen, daß von einer Gefahr nicht die Rede ist. Es handelt sich um die Nerven. Man nennt das für gewöhnlich: nur Nerven. Dieses ‚nur‘ ist mir immer ein Aergernis. Denn mit kranken Nerven leiden wir mehr und machen andere mehr leiden als mit akuten, organischen und in bestimmter Zeit wieder heilenden Erkrankungen.
Ich habe unserer teuren Sabine vorgeschlagen, den Winter an der Riviera zu verbringen. Zwar hat meine Susanne es sich vorgesetzt gehabt, bereits für den ersten Januar eine Stellung zu suchen, wo sie ihre so eifrig erworbenen Fähigkeiten verwerten kann. Aber sie ist bereit, die Ausführung ihrer Pläne bis Ostern zu verschieben, um sich ganz ihrer geliebten Freundin zu widmen. Und auch ich dachte daran, nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin, der für meine Angelegenheiten nötig wäre, mich den jungen Damen zuzugesellen. Allein Ihre Frau Tochter hat es abgelehnt. Mir scheint, sie fürchtet, Ihre Billigung dazu nicht zu erhalten.
Sodann habe ich vorgeschlagen, daß Sabine für den Winter mit ihren Kindern nach Berlin übersiedeln möge. Vergeben Sie mir die Offenheit, allein es erscheint mir unmöglich, daß eine junge Frau, deren Nervendepression an Schwermut grenzt, in dem stillen Mühlau leben soll.
In Berlin haben wir alles: hervorragende Aerzte, Stille, Anregung. Jedem Bedürfnis kann jeden Augenblick entsprochen werden. Und ich würde mich ganz und gar und in jeder Beziehung in den Dienst Ihrer Frau Tochter, meiner lieben Nichte, stellen.
Zu diesem meinem zweiten Vorschlag hat Sabine sich nicht ablehnend verhalten. Er schien ihr zu gefallen. Sie erwog ihn. Aber sie erwähnte öfters Ihrer und scheint zu glauben, daß Sie dagegen sein würden.
In jedem Falle, meinte sie, müßte ich dies mit Ihnen mündlich besprechen. So habe ich mich denn entschlossen, Ihnen Frau Sabine selbst zu bringen. Aber ich schreibe Ihnen dies vorher, hinter ihrem Rücken, um Sie dringlich zu bitten, Ihre Vorurteile gegen eine derartige Uebersiedelung Sabinens nach Berlin zu überwinden.
An meiner ernsten Teilnahme für Ihre Frau Tochter werden Sie nicht zweifeln; ich bitte Sie, auch nicht an meinem Verständnis für ihr Leiden zu zweifeln. Und aus Teilnahme und Verständnis heraus sage ich: Sabine kann nicht in Mühlau leben.
Ich bitte Sie, mir den Empfang dieses Briefes mit einem Wort nach München, Hotel Vier Jahreszeiten, bis zum 20. November zu bestätigen. Am 22. d. mit dem Mittagszuge kommen wir in Mühlau an.
Mit den verehrungsvollsten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin bin ich
Ihr ergebenster
Fritz Osterroth.“
[487] Nachdem dieser Brief gelesen und wieder gelesen worden war, brach die Oberamtmännin in Thränen aus. Der Oberamtmann saß konsterniert.
Im Zimmer wurde es dunkel. Guste kam mit der Lampe und fand ihre Herrschaft in sichtbarer Aufregung.
„Sind Sie krank, Frau Oberamtmann?“ fragte sie.
„Denk dir, Guste, Frau von Zeuthern ist sehr elend,“ schluchzte die Oberamtmännin.
„Aber, nee – so was! Zu’s Verjnügen ausjereist und denn krank!“ sagte Guste mehr objektiv als teilnehmend.
„Wo sind die Kinder?“ fragte der Oberamtmann seufzend.
Sein Herz war voll Mitleid und erhöhtem Verantwortlichkeitsgefühl, als er in diesem Augenblick der Kleinen dachte.
„Hinten. Lisbeth schneid’t sie Schlitten aus alte Spielkarten. Davon sind sie so still.“
„Alte,“ sagte der Oberamtmann, „ich hab’ eine Idee. Guste könnte mal eben nach Sebold längs laufen und ihn herbitten. Um diese Zeit ist er ja meist zu Hause.“
„Ach ja. Nicht wahr, Guste? Es sind nur fünf Minuten,“ sprach die Oberamtmännin fast bittend, denn sie wußte, wenn Guste noch nicht ganz mit ihrer Küche fertig war, ging sie sehr ungern davon.
Aber diesmal brummte Guste nicht, sondern ging.
„Malaria, das ist natürlich eine Krankheit, die Sebold in der Praxis noch nicht vorgekommen ist. Aber er muß uns doch etwas darüber sagen können,“ bemerkte der Alte.
Die Frau war ganz klein und still und hörte nur zu. Wenn ernste Dinge vorfielen, kam doch so eine Art von Schutzbedürftigkeit über sie und sie ließ dann ihren Mann reden, war sogar manchmal überrascht, daß er Kenntnisse hatte, die sie nicht bei ihm vermutete, Urteile fällte, die ihr imponierten.
Während sie nun die Rouleaus herabließ und der Lampenglocke den grünen Schirm überstülpte, zündete sich der Oberamtmann seine Pfeife an und nahm seinen Abendplatz in der Sofaecke ein.
„Auch im Holsteinischen, in der Marsch kommt die Malaria vor,“ fuhr er fort, „und die meisten Afrikareisenden sterben daran. Die Menschen werden gelb und mager dabei. Klimawechsel ist das beste. Ich begreife Onkel Fritz nicht, daß er nicht stantepede mit Sabine zurückgereist ist.“
Die Oberamtmännin schloß resigniert ihr Klavier. Heute wurde nichts aus dem Triospiel. Das ahnte ihr schon.
„Na, du merkst doch, daß Onkel Fritz sehr gegen Mühlau eingenommen ist,“ sagte sie, „nicht mal jetzt will er sie hier lassen, wo sie doch soweit gut zu Wege war, solange sie hier war.“
„Er will sie nicht hier lassen?“ wiederholte der Oberamtmann; „da haben wir ja noch drüber mitzureden; bin ich der Vater oder ist er es? Laß man erst Sebold kommen.“
Und Doktor Sebold kam.
Nun saßen sie zu dritt um den runden Tisch, im friedevollen Licht der grünbeschirmten Lampe. Aus der Pfeife des Oberamtmanns kräuselte in leichter, gewundener Linie der Rauch auf. Die Finger der Frau bewegten sich emsig über einem halben Strumpf, und manchmal blinkten die Nadeln, wenn sie gerade durch den Lichtschein geführt wurden. Auch Sebold nahm gern eine Cigarre und ließ ab und zu sehr bedächtig die Asche in den kleinen Kupferbecher fallen, den die Oberamtmännin vor ihn auf die weiße Theeserviette gestellt hatte. Von der Straße herauf drang in großen Zwischenräumen zuweilen ein klapperndes Wagenrasseln oder das Klingeln einer Hausthür.
Und in dieser friedlichen, kleinbürgerlichen Stille saßen sie und sprachen sehr eingehend über Sabine und ihr Leiden.
„Ich bitte Sie, lieber Oberamtmann: eine nervöse Frau und Berlin!“ sagte Sebold.
„Nicht wahr!?“ fragte die Mutter, dazu nickend.
„Onkel Fritz meint ja aber, da ist alles: Stille, wenn man will, und Zerstreuung, wenn man will, und besonders Aerzte,“ bemerkte der Oberamtmann mit einem humoristischen Zwinkern seiner Augen.
„Die Berliner Aerzte!! Na …“ sagte Sebold mit einem schnellen Augenaufschlag zum Plafond hinauf, wo so freundlich der weiße vibrierende Lichtkreis stand, den die Lampe hinaufsandte.
„Man liest ja immer viel,“ sprach der Oberamtmann.
„Reklame!“ betonte die Frau mit einer gewissen mitleidigen Verachtung.
„Jedenfalls gratuliere ich Ihnen im voraus zu der Rechnung, wenn der Herr Osterroth Ihre Tochter von einem Modearzt behandeln läßt,“ meinte Sebold. „Diese Herren sehen und sprechen einen Patienten eine Viertelstunde und wollen dann besser wissen, was ihm dient, als unsereiner, der den Patienten von Kindheit an kennt. Die Konstitution des Patienten genau kennen … das ist die Hauptsache!“
Sie sprachen hin und her und kamen zu dem Schluß, daß Mühlau ein unübertroffener Aufenthalt gerade gegen Malaria sei, ebenso für einen Nervösen. Das Klima war trocken, das Leben still. Dazu war Sebold hier, Sebold, der Sabine schon geimpft hatte und sie seit ihrem ersten Lebenstag kannte, denn auch draußen auf Heinsdorf war Sebold schon der treue Hausarzt der Familie Deuben gewesen.
Sie klammerten sich an das Klima und die Stille von Mühlau und an das Vertrauen zum Doktor Sebold, um das nicht auszusprechen, was außerdem sehr peinlich und ärgerlich ihre Gedanken bewegte.
Wie dachte sich Onkel Fritz das: in Berlin wohnen? Sollte Sabine auch da mit den Kindern sogar sein Gast sein? Das ginge denn doch über das hinaus, was man annehmen konnte.
Der Oberamtmann war im ganzen nicht fürs Nehmen. Geschenke empfangen ist manchmal ein teures Vergnügen, das nötigt zum Revanchieren. Sollte der Oberamtmann es bezahlen? Man brachte gern jedes Opfer für die Tochter, gewiß. Aber wenn man ein solches brachte, mußte man doch vorher wissen, daß das Geld nicht unnütz hinausgeworfen werde. Und sie versprachen sich nichts von Berlin, gar nichts.
„Ich als Mutter bin doch auch die nächste dazu, mein Kind zu pflegen, wenn es leidend ist,“ sagte die Oberamtmännin weinend und legte ihr Strickzeug hin, um ihr Taschentuch aus ihrer Kleidertasche hervorzusuchen.
Dabei brachte sie zwei kleine Aepfel heraus, die sie heut’ mittag in der Speisekammer für Leo und Milly eingesteckt, weil sie eben eine so drollige, kleine, ebenmäßige Façon hatten, darüber mußte sie nun durch ihre Thränen lachen.
Man kam auf andere Gedanken, und Sebold erzählte eine Geschichte von einer Dame, die einen Kondolenzbesuch machte, ihr weißes Taschentuch herauszog, um Mitleidsthränen zu trocknen, und dann sah, daß es ein dreieckiges Nachttuch ihres Mannes war, worüber alle vor Lachen fast gestorben waren.
Turibius und Kolvater erschienen und nahmen mit großen, lauten Anteilsworten und Gebärden die Nachricht entgegen. „Ach, das war ja ein Malheur ohne gleichen!“ – „Krank zu werden auf einer Vergnügungsreise!“ – „Gewiß hatte der alte Herr den Damen zu viel zugemutet; so ein Großstädter hat ja keine Nerven!“ – „Sie wird sich mit Essen verdorben haben. Die alte Oelkocherei in Italien, die ist nicht für jeden Magen!“
Noch einmal hielt Sebold einen Vortrag über Malaria, ihre Folgen und die beste Behandlung während der Rekonvalescenz. Dann empfahl er sich.
Auch Turibius und Kolvater wollten gehen. Etwas zögernd machten sie den Vorschlag, den sie für schicklich hielten.
„Aber nein,“ sprach der Oberamtmann mit Lebhaftigkeit, „das sehe ich nun nicht ein. Warum willst du dir die kleine Zerstreuung nicht gönnen? Sabine hilft es nicht, wenn du hier sitzest und weinst, und dir macht es doch mal Spaß, zu spielen.“
„Meinst du?“ fragte die Frau und sah in Zweifel und Wunsch die beiden musikalischen Freunde an. „Ich habe aber auch gar keine Brötchen vorbereitet über all der Aufregung.“
„Ih was, Guste deckt für uns alle vier heut’ mal im Eßzimmer auf. Die Herren nehmen vorlieb. Wir haben einen prachtvollen Schinken aus Heinsdorf bekommen. Und Guste ist ja groß in Rühreiern. Und was meinen Sie, Herr Musikdirektor, zu einem Grog nach dem Abendbrot,“ sagte der Oberamtmann wohlgelaunt.
[488]
[489] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [490] Die Oberamtmännin ging hinaus, sich schnell mit Guste zu besprechen, trat flüchtig bei den Kindern ein, ihnen zärtliche Gute Nacht-Küsse zu geben, und kam mit förmlich jugendlich roten Backen wieder zurück.
Bald klang die lächelnde Melodie des ersten Satzes eines Haydnschen Trios durch das Zimmer. Der Abend wurde noch sehr behaglich. Die gebeugten und geängsteten Geister richteten sich mit besonderer Lebhaftigkeit wieder auf, und nachher beim Grog erzählten der Oberamtmann und der Organist Geschichten aus alten Zeiten, wo es in Mühlau noch kein Gas und keine Garnison gab.
Am andern Tag sprach es sich in ganz Mühlau herum, daß Frau von Zeuthern an der Malaria erkrankt sei. Bei Küps im Laden wurde erzählt, daß sie nur noch wie ein Gespenst aussehen solle und im Krankenwagen zurücktransportiert werde, weil sie in den Armen ihrer Eltern sterben wolle. Man besprach bei dieser Gelegenheit noch gleich einmal wieder den Tod des Herrn von Zeuthern im Duell und daß Herr von Körlegg ausgerechnet nach Mühlau versetzt worden war. Auf einem Damenkaffee bei der Bürgermeisterin war davon die Rede, daß Malaria eine schreckliche, mit Ausschlag verbundene Krankheit sei, die durch Mangel an Salz entstehe. Eine heftige Meinungsverschiedenheit entbrannte zwischen den Damen. Frau Rechtsanwalt Meiners sagte, daß das eine ganz andere Krankheit sei, deren Namen sie nur im Augenblick nicht nennen könne, obgleich er ihr auf der Zunge liege – es sei auch so ein Wort mit „al“ darin. Der Friede konnte nur durch den neuen Brockhaus des Herrn Bürgermeisters wieder hergestellt werden, aus welchem die Bürgermeisterin laut den Artikel Malaria vorlas. Die Damen, welche dieser Krankheit so schrecklichen Ausschlag zugesprochen, waren beinahe enttäuscht. Man sprach über allerlei Fieber weiter, kam dadurch auf das Nervenfieber, an dem Frau von Müller gestorben war, und weiter auf die Verlobung des Fräuleins von Müller mit dem Leutnant Lauenstein, und war gerade bei den Schulden Lauensteins angelangt, als Frau Rechtsanwalt Meiners auf einmal schrie: „Ich hab’s, ich hab’s: Pellagra! Pellagra!“ –
Auch im Kasino wurde davon gesprochen, es war am Abend. Ihrer drei saßen um den Tisch unter der Gaslampe und spielten Skat. In der Ecke um den runden Tisch rekelten mehrere Herren und unterhielten sich schläfrig. Das ganze Zimmer war mit blauem Dampf angefüllt. Es war sehr heiß. Eine Ordonnanz ging ab und zu und brachte Bier.
Achim von Körlegg war unter den Skatspielern.
Hallendorf kam erst gegen 10 Uhr. Er hatte in der Stadt irgendwo Abendbrot gegessen und stand nun hinter Achim, seine langen Beine in gespreizter Stellung, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte in solcher Stellung eine unerträgliche Art, ohne sich vom Fleck zu bewegen, sich regelmäßig zu wiegen, vom Hacken zur Zehe, von der Zehe zum Hacken.
„Nett gewesen?“ fragte einer vom Tisch her.
„Nee. Langweilig.“ Er guckte Achim in die Karten.
„Was Neues?“ fragte wieder jemand.
„Nee. Meist wurde von der Geschichte mit Frau von Zeuthern gesprochen,“ sagte Hallendorf.
„Was für ’ne Geschichte?!“ rief Bläser.
„Herrjeses – hab’n Sie das denn heut’ mittag nich gehört?“ fragte Hallendorf. „Ach nee – Sie und Körlegg war’n schon weg. Natürlich ist die Hälfte der Räubergeschichten wieder mal glatt gelogen. Ich sprach Sebold vorhin, der weiß es genau.“
Achim gab gerade Karten herum. Er hörte jedes Wort.
Ihm war, als müßten ihm alle Kameraden ansehen, daß er die Farbe wechselte. Und seine Hände wurden ihm kalt.
Zum Glück wollten seine Mitspieler auch hören, was Sebold denn erzählt habe. Das Interesse für die „gnädige Frau“ war im Kasino beinahe Mode.
„Sagen Sie doch erst mal: was für ’ne Geschichte denn überhaupt?“ fragte Bläser ungeduldig. „Das muß neuesten Datums sein, ich war doch vorgestern bei Deuben auf Heinsdorf, und der sagte keinen Ton.“
„Die gnädige Frau sind unterwegs krank geworden. Malaria. Gleich den zweiten oder dritten Tag in Rom. Es soll schon ganz vorbei sein, bloß rasend nervös ist sie geblieben, beinahe melancholisch, sagte Sebold. Der alte Onkel, mit dem sie reist, hat es so lange verschwiegen. Aber nun mußte er damit ’rausrücken, weil sie wiederkommen. Andere Woche wohl. Und der alte Herr will sie absolut mit nach Berlin haben. Es scheint, der hat Geld wie Heu. Aber Oberamtmanns werden die Tochter nicht hergeben wollen. Sehr verständig! Die gnädige Frau sollte nur diesen Winter tüchtig tanzen und dann wieder heiraten. Das wäre das beste. Da vergehen den jungen Frauen die melancholischen Flausen.“
Ein paar Kameraden lachten und neckten Hallendorf, ob er sich noch immer einbildete, der rechte Arzt für die schöne Frau zu sein.
Dann sprach man weiter und spielte man weiter.
Achim war sich bewußt, mit keinem Wimpernzucken besondere Teilnahme verraten zu dürfen. Er wußte wohl, unter den Kameraden ging ein leises, leises Gerücht, daß er im Sommer einige Male mit Sabine gesehen worden sei. Er wußte auch, von Hallendorf selbst, daß man es so gedeutet: er, Körlegg, habe es sehr schwer genommen, daß durch ihn ein Mann gefallen war, der Weib und Kind hinterließ; er habe das Bedürfnis gehabt, sich zu vergewissern, daß man ihm nicht fluche. Und so zart war da wieder einmal die Kameradschaft, daß niemand daran rührte.
Die Wahrheit ahnte aber keiner!
So spielte er denn seinen Skat, nicht sonderlich schlechter als sonst, und sprach, nicht sonderlich weniger oder häufiger als sonst.
Aber als er allein heimgehen konnte, atmete er auf. Eine kalte, trockene Novembernacht umfing ihn und kühlte ihm das Gesicht.
Malaria! Er wußte, daß das nur ein Wort war. Er begriff, daß der alte Herr Sabinens Eltern etwas hatte hinwerfen wollen, daran sie sich halten konnten mit ihren Fragen und Gedanken. Leute, die wohnen und reisen und leben wie der alte Herr und die beiden Damen, bekommen nicht die Malaria. In den ersten Oktobertagen, gleich in Rom, hatte sie die Krankheit bekommen? Nein, da hatte sie seinen Brief bekommen!
Ob wohl der alte Mann mit der zarten, müden, leidvollen Seele nun alles wußte? Ob er mit seiner Fürsorge Sabine beschützte?
Als er in sein Zimmer trat, machte er Licht und holte, nach langer Zeit zum erstenmal wieder, Sabinens Bild heraus.
Er betrachtete es lange, tiefe Wehmut im Herzen, aber doch mit Ruhe.
Wie schön sie war!
Ob sie ihn wohl noch liebte? Oder haßte? Bei so leidenschaftlichen Frauen steht die Kraft zu beidem verhängnisvoll nahe bei einander.
Er durfte und er wollte nicht darüber grübeln. Es war zu Ende zwischen ihr und ihm – für immer.
Selbst das Mitleid und die Sorge durfte das leidenschaftliche Verlangen nach dem schönen Weibe nicht wieder auferwecken.
Aber der heiße Wunsch stieg in ihm auf, daß sie alles bald überwinden möge und sich in neuer Freudigkeit dem Leben zuwende. Und – dann seiner still gedenken möchte. Den wollte er nicht aufgeben – den kleinen verborgenen Platz in ihrem Gedächtnis! Denn auch er, er würde nie jene heißen Tage voll Verlangen und Wonne vergessen, jene Tage von Venedig. – –
Ihm war, als könne das Bild ihn verstehen. „Nicht wahr, Sabine,“ sagten seine Gedanken, „du wirst eines Tages wunschlos und in Milde meiner gedenken?“
Die Augen wurden ihm naß. Und er verschloß das Bild. Als er den Schlüssel abzog, war ihm, als habe er ein Begräbnis gefeiert, in stiller Einsamkeit der Nacht. – – –
Ob wohl Onkel Fritz alles wußte? Das war die Frage, die auch Sabine sich manchmal vorlegte, wenn sie sich aus ihrer müden Zerbrochenheit gewaltsam aufraffte, um für alle
[491] Teilnahme und alles Schöne, das der alte Herr ihr zu bieten bestrebt war, doch dankbar eine blasse Anteilnahme zu zeigen.
Sie fragte Susanne, ob sie gesprochen habe, und Susanne sagte: „Nein.“ Sabine glaubte ihr, denn sie log sonst nicht, die absolute Wahrhaftigkeit war ein hervorstechender Zug ihres Wesens. Aber diesmal log Susanne doch, und zwar auf Geheiß von Onkel Fritz.
Wie hätte Susanne ihm gegenüber schweigen können! Man mußte so weltabgewandt, so ganz in sich selbst versunken sein wie Sabine, um das überhaupt für möglich zu halten. In einer so engen, kleinen Vereinigung, wie drei Personen zusammen auf Reisen sie bilden, kann nicht einer von diesen dreien in eine plötzliche, furchtbare Veränderung des ganzen Wesens verfallen, ohne daß die andern beiden auf den Grund der Dinge zu sehen trachten. Einen Tag lang glaubte Onkel Fritz an die „Unpäßlichkeit“, aber schon am zweiten Tag, als er Sabine wiedersah und sie beobachtete, sah er, daß eine seelische Qual sie marterte. Er stellte Susanne zur Rede. Da war etwas vorgefallen; man litt und man vertraute sich ihm nicht an, der vielleicht helfen könne?!
„Ach nein, Onkel Fritz, da kannst du auch nicht helfen,“ sagte Susanne in Thränen ausbrechend. Und sie erzählte alles, wie es gewesen und geworden, von jener ersten Begegnung der beiden am Grabe Zeutherns.
Der alte Herr hörte zu, den Ellbogen auf dem Tisch, die Hand vor der Stirn, so daß sie ihm die Augen überschattete. Susanne ängstigte sich sehr, Onkel Fritz möge böse werden, obschon sie sich eigentlich nicht erinnerte, ihn jemals heftig gesehen zu haben.
Reuevoll gestand sie ein, daß sie gleich damals bei der Begegnung im Manöver hätte sagen müssen: Herr von Körlegg ist der Gegner Zeutherns gewesen. Aber schon damals habe ihr das Bewußtsein, daß Sabine ihn liebe, die Zunge gelähmt.
Aber Onkel Fritz wurde nicht böse. Er streichelte Susanne das Haar und sagte merkwürdigerweise:
„Armes Kind – armes Kind!“
Darauf weinte Susanne von neuem und viel gramvoller, ohne zu wissen warum. Denn sie – sie hatte doch nichts verloren! Man kann doch nicht verlieren, was man nie besessen hat?!
Dann saß Onkel Fritz lange und sah vor sich hin. Sein Gesicht sah noch ein wenig stiller und bleicher aus als sonst. Aber endlich spielte doch das bekannte milde Lächeln, das Susanne so an ihm liebte, um seinen Mund. „Es war ganz recht so, daß ihr schwieget,“ sprach er dann, „die Leidenschaft soll nicht gleich zur Instanz der Weisheit laufen und sie um Rat fragen. Das muß durchgekämpft werden. So oder so. Wen es trifft, der halte Stand, zum Siegen oder Sterben. Flucht? Nein, Flucht giebt es da nicht. Die Leidenschaft mit ihrem rasenden Flug überholt ihr Opfer doch.“
Susanne stand in ehrfürchtigem Schweigen. Sie fühlte, daß er rückwärts denken mochte, an jenes geheimnisvolle Ereignis seiner Jugend, das sein Leben in Schatten getaucht.
Auch that es ihrem Herzen wohl, daß er die Leidenschaft als etwas ansah, dem man, wenn es über einen kommt, nicht kampflos zu entrinnen vermag. Das entlastete Achim vollends. Ja, er hatte standgehalten. Aber er hatte gesiegt über sich selbst.
„Nun müssen wir Sabine helfen – tragen helfen, meine ich,“ sagte der alte Herr, „du mußt ihr nicht eingestehen und auch auf Fragen nicht zugeben, daß ich eingeweiht bin. Eine Lüge, welche die einfachste Zartheit gebietet.
Sabine soll nicht vor mir erröten. Und wie ich sie kenne, würde sie es. Sie ist sehr stolz. Das liebe ich auch an ihr. Und gerade wenn ein so stolzes Herz mit so elementarer Gewalt einem Ziel zustrebte, ist der Rückschlag zumeist furchtbar.“
„Ich werde ganz gewiß über unser Gespräch schweigen. – Ach, Onkel Fritz, glaubst du nicht, daß sie allmählich vergessen und überwinden wird?“
Er schüttelte leise das Haupt.
„Nein,“ sagte er, „ich glaube überhaupt nicht an die Möglichkeit, daß man Erlebtes und Erlittenes jemals vergessen kann. Nur wechselt das: bald stehen wir über, bald unter unseren Erinnerungen. Unter Menschen, die großartig beanlagt, heiter, interessant sind, wachsen wir über das Erlittene empor, und es scheint uns nur die Prämisse gewesen zu sein zu erlangter Reife. Ebenso in einer großen und schönen Natur. Aber wo weder Menschen noch Natur unsern individuellen Bedürfnissen zusagen, wachsen in unserer Erinnerung unsere Erlebnisse zu Riesen empor, die mit Keulen unsern Lebensmut totschlagen.“
„Wie viel mußt du gelitten haben, um so alles zu erkennen,“ wagte Susanne leise zu bemerken.
Er machte eine kurze, unwillige Bewegung und sprach dann weiter: „Großartige Menschen können wir ihr nicht bieten. Aber große Natur. Wir wollen mit noch mehr Umsicht unsere Reisetage ausnutzen. Nur fürchte ich: es ist noch zu frisch, das Leid.“
Da konnte Susanne sich doch nicht mehr halten. Sie fiel ihm um den Hals und rief enthusiastisch:
„Du bist ein großartiger Mensch, du!“
Und er schüttelte lächelnd den Kopf.
Sabine wurde mit einer Sorgfalt behütet und gepflegt, die sie gar nicht einmal immer bemerkte.
Es schien geradezu, als habe der alte Herr nun einen Lebenszweck gefunden. Kein Vater konnte zärtlicher sein. Aber über das Väterliche hinaus war noch etwas anderes in seinem Wesen, etwas Ritterliches und doch zugleich Zurückhaltendes.
Einmal, als seine Art wie unendliche Wohlthat auf Sabine wirkte, rief sie aus: „Wie soll ich noch leben ohne Ihre mich so grenzenlos verwöhnende Gesellschaft!“
Und da nahm er die Gelegenheit wahr, ihr von einem Winteraufenthalt an der Riviera zu sprechen. Sie lehnte es rundweg ab. Sie durfte ihre Wünsche ja gar nicht erst befragen. Sie fühlte gleich, daß ihre Eltern nicht beistimmen würden. Auch glaubte sie, es würde den alten Herrn zu viel Opfer an Bequemlichkeit kosten. Außerdem war es undenkbar, die Kinder nachkommen zu lassen. Es schien aber unmöglich, diese für so lange zu verlassen.
Dann schlug der alte Herr Berlin vor, und Sabine zeigte einen förmlichen Fiebereifer, darauf einzugehen und die Möglichkeit der Ausführung zu erwägen. Sie flehte Onkel Fritz an, mit nach Mühlau zu kommen, er allein konnte den Eltern das vorstellen und klarmachen.
Sie belebte sich etwas, seit dieser Plan festgehalten wurde.
Nach Mühlau mußte sie noch einmal, um eines bestimmten Zweckes willen – das stand als fixe Idee bei ihr fest. Aber da bleiben, da wohnen, ihm täglich an allen Straßenecken begegnen – – nein, nein. Eines Tages vielleicht mit einer Frau, seiner Frau am Arm? Nein, nein!
In leidenschaftlicher Exstase sagte sie: „Wenn ich in Mühlau bleiben muß, werde ich noch wahnsinnig!“
Da setzte sich Onkel Fritz hin und schrieb heimlich an den Oberamtmann, damit der sich an den Gedanken gewöhne, schon so hineinlebe, daß kein Widerstand reize und errege. Das war ein falscher Zug, den der alte Herr da that. Er kannte den Oberamtmann und dessen Frau nicht genug. Durch dieses Vorbereiten gab er ihnen nur Gelegenheit, all ihre kleinen Vorurteile und ihre Sparsamkeitsgelüste in Bereitschaft zu setzen, wie man Waffen vor dem Gefecht noch besonders blank putzt. Ueberrumpeln hätten sie sich vielleicht lassen. Da hätte es den Oberamtmann doch vielleicht momentan gestachelt, nicht minder generös zu sein als Onkel Fritz; oder Sabinens Anblick und Bitten hätten ihn und die Mutter gerührt. – Onkel Fritz war es so gewöhnt, Autorität zu sein, und da er am Schluß seines Briefes noch besonders unterstrichen betont hatte: „Sabine kann nicht in Mühlau leben!“ war für ihn die Sache schon innerlich entschieden. Er ahnte gar nicht, daß er für Deubens nicht im mindesten eine Autorität war. Im Gegenteil: seine offene Hand war dem Oberamtmann etwas, das er fast geringschätzte. Und was Onkel Fritz sonst besaß und was ihn bei vielen zur Autorität machte, seine reife Milde, sein ethisches Erkennen – dafür hatten der Oberamtmann und seine Frau nicht einmal von fern Schätzung; sie taxierten es weder hoch, noch gering, sie taxierten es gar nicht; es war für sie gar nicht da. –
Mit gutem Mut fuhr der alte Herr dem Norden zu. Vor seinem Geiste standen schon inhaltreiche Wintertage. Er hoffte, Sabine täglich zu sehen; sich ihren Kindern zu widmen; Sabine ins Theater zu führen; ihren Tisch mit Büchern, Journalen, Blumen täglich neu zu bedecken; ihr den einen oder anderen Menschen zuzuführen. Einmal mußte, mußte doch wieder ein [492] Lächeln auf diesem wunderschönen Angesicht erscheinen. Einmal mußte er doch weichen, dieser sphinxartige, brütende Ausdruck. –
Es war ein schlimmer Novembertag, als man in Mühlau ankam. Durch die windstille Luft fiel der Regen geradlinig herab, der ganze Himmel war zinnfarben. Die Reiser der kahlen Gebüsche, rechts und links vom roten Bahnhofsbau, glichen schwarzen Ruten. Die schwere, naßkalte Luft drückte den Rauch der Lokomotive herab, so daß er rußig und riechend über den Bahnsteig hinfegte. Das Dach des Hotelomnibus sah wie schwarzes Lackleder aus vor Nässe, und das Pferd, mit einer karierten orangefarbenen Decke zugedeckt, senkte kläglich den Kopf mit der in Strippen hängenden Mähne.
Unter Schirmen, von denen an jeder Rippe kleine Rinnsale flössen, standen der Oberamtmann und seine Frau. Als der Zug langsam anfuhr und viel weiter über den Platz hinaus, wo Sabinens Eltern standen, sagte der alte Herr plötzlich und sehr hastig: „Liebes Kind … Sie haben in Rom einen Malariaanfall gehabt! Die Folgen davon drücken noch ein wenig Ihr Befinden nieder. So schrieb ich Ihren Eltern.“
Sabine war gerade dabei, das Fenster herabzulassen, um ihren Eltern zuzuwinken. Jäh wandte sie sich um. Sie sah den alten Mann durchbohrend an, während langsam ein dunkles Rot in ihre Wangen stieg. Sie begriff, daß er alles wußte. Ein kurzer Kampf in ihr – ein sekundenlanges Aufwallen verletzten Hochmutes. Und dann das überströmende Erkennen all seiner Güte!
Sie reichte ihm die Hand und sah ihm in die Augen.
„Dank!“ hieß dieser Blick. „Heißen Dank!“
„Mühlau!“ schrie der Schaffner und riß die Thür auf.
„Ach, das wissen wir von selbst!“ sagte Susanne mit einem komischen Seufzer.
Der Oberamtmann und seine Frau, die die Notwendigkeit, bei solchem Wetter auszugehen, als eine Verschärfung des auf sie gefallenen Schicksals ansahen, setzten sich in Bewegung, nach der Spitze des Zuges zu. Im zweiten Wagen hatten sie ihre Tochter am Fenster bemerkt.
Und da kam Sabine auch schon schnellfüßig, wie sonst, ein Lächeln auf den Lippen, auf den Wangen noch den Nachglanz der eben gehabten Erregung.
Die Eltern waren betroffen, so sehr, daß sie darüber fast nicht zur Freude kamen. Sie hatten unklare Vorstellungen davon gehabt, daß Sabine äußerlich ganz verändert sein würde; sie waren in dieser Vorstellung sehr aufgeregt, unsicher, ja geradezu verlegen gewesen, denn sie wußten nicht, welchen Ton sie zur Begrüßung anschlagen dürften.
„Na, gottlob, du siehst ja so weit gut aus! Geht es denn besser?“ fragte die Mutter, als sie Sabine geküßt.
Im Oberamtmann stieg ein Groll gegen Onkel Fritz auf.
Uns so ins Bockshorn zu jagen! Das Kind ist ja ganz wohl, dachte er. Sabine hat gewiß nur ihre Launen gehabt, und Onkel Fritz, der sie nicht kennt, nahm das gleich für „Nerven“ –
Etwas langsam kamen Onkel Fritz und Susanne heran. Die ungemein ceremoniöse Begrüßung unter den triefenden Regenschirmen stellte sofort eine Stimmung von unerträglicher Ungemütlichkeit her.
Der Oberamtmann entschuldigte sich, nicht nach München geschrieben zu haben.
Onkel Fritz fror und haßte den Regen und war nicht jedermann gegenüber bereit, sich zu beherrschen. Mit den Mienen und Gebärden eines Menschen, dem sein gegenwärtiger Zustand recht lästig ist, stieg er in den Hotelomnibus.
„Heute abend haben wir doch das Vergnügen?“ fragte die Oberamtmännin.
Onkel Fritz, der wieder seine Lammfellmütze trug, lüftete sie ein wenig und sagte, daß sie alle drei sehr müde seien und daß die Eltern heute wohl auch Anspruch auf ihre Tochter allein hätten. Susanne versprach, im Laufe des Nachmittags einmal nach Sabinens Befinden zu sehen, und dann rasselte der Omnibus davon.
Im Hotel zum Kronprinzen saßen Bläser und Hallendorf mit einigen Kameraden bei einem Frühschoppen, der sich bis zum Mittag heute ausgedehnt hatte. Sie wollten doch den alten Herrn Osterroth und das Fräulein ankommen sehen, für welche oben der Staatssalon nebst zwei Schlafzimmern geheizt waren. Bläser erzählte von der Bekanntschaft damals im Manöver und saß dem Fenster zunächst, um womöglich einen erkennenden Blick von Susanne zu erhaschen und einen Gruß anzubringen.
Aber die Reisenden huschten schnell den Tritt des Wagens herab und ins Haus hinein. Nur den dicken blonden Haarknoten unter dem Rand des schwarzen Filzhütchens konnten die Herren so recht bewundern.
Gleich danach kam der alte Landauer vorbei, der Lärm, den seine schwerfällige Fahrt auf den Kopfsteinen des Straßendammes machte, hallte ordentlich zwischen den Häusermauern wieder.
Die Fenster des Wagens waren beschlagen, und so sahen die Herren nichts von Sabine. Sie mußten sich mit dem interessanten Bewußtsein begnügen, ihren gelben Rohrkoffer auf dem Bock neben dem Kutscher gesehen zu haben.
So war Sabine wieder daheim. Auf der Treppe stürzten ihr die Kinder entgegen. Leo jubelte. Bei Milly erwachte nach Kinderart erst jetzt nachträglich das Erkennen, daß sie ihre Mama so lange entbehrt habe, und sie weinte bitterlich.
Und im Halbdunkel, auf der Treppe kniete Sabine nieder, um ihre Kinder zu umarmen. Dabei wallte ein Gefühl in ihr auf, vor dem sie sich entsetzte.
War das Abneigung gegen ihre eigenen Kinder? Zorn gegen sie, die so unschuldig ihr im Wege zum Glück standen? Denn um ihretwillen konnte sie nicht des Geliebten Gattin werden!
Welche Abgründe giebt es im Menschenherzen! Erbebte Sabine vor dem, welcher sich ihr in ihrem eignen aufthat?!
Stürmisch, aber mit kalten Lippen küßte sie die Kleinen.
Später saß man zusammen um den Tisch. Wirklich eine Familie?!
Sabine hatte das Gefühl, als habe sich ein Abgrund zwischen ihr und den Ihren aufgethan. Sie hatte so viel erlebt! Durch ein Märchen voll Glück, durch ein Drama von Elend war sie seither gegangen. Und die Ihren hatten unterdes still behaglich beim Lampenschein, Pfeifendampf und Kaffeeduft gesessen.
Sie hatte so viel gesehen! Im Lande der Schönheit war sie gewesen, und während sie gemeint, blind und gleichgültig an den Wundern der Kunst und Natur vorbeizugehen, hatte sie doch, sie begriff es jetzt, unbewußt, mit allen Sinnen den Zauber aufgenommen. Und die Ihren hatten unterdes auf die Thür des Krämers Küps gepaßt und die Kleider der Frau Crolpa besprochen.
Wie sollte man sich wieder zusammenfinden!
Und war doch von einem Fleisch und Blut. War einander so nahe, wie sonst nichts mehr auf der Welt: Eltern und Kind, Mutter und Kinder.
Die Mutter betonte, daß man Sabinens Lieblingsgerichte gekocht habe. Der Vater erzählte Streiche, die Milly und Leo gemacht, und Antworten kecker, kluger Art, die sie gegeben hatten.
Nach und nach bemerkten sie dann auch und verständigten sich durch Blicke darüber, daß Sabine doch recht teilnahmlos scheine und wirklich leidend aussähe.
Da sie nun mit großer Vorsicht das Thema „Berlin“ vermeiden wollten, aber auch danach trachteten, ihre Meinung nicht gleich dadurch kundzuthun, daß sie etwa sagten: „Das stille Leben bei uns in Mühlau wird dir gut thun,“ so ward das Gespräch bald gezwungen.
Zum Glück kam Reinald gleich nach Tisch. Sabine umarmte ihn heftig, sagte, daß sie seiner Braut etwas mitgebracht habe, und zog ihn nach hinten in ihr Zimmer, wo Koffereinsätze, noch unausgepackt, auf Stühlen standen und auf dem Sofa und Wandschirm helle Kleider lagen und hingen.
Sabine kniete vor dem Koffer nieder und wühlte auf seinem Grunde. Ihre Bewegungen waren so hastig, sie schien so aufgeregt. Schon sprang sie wieder auf.
„Da, Reinald! Für dich habe ich noch eine Terracotte. Die kommt mit Fracht. Dies für Martha.“
Er bewunderte die hübsche Brosche und dankte viele Male.
Plötzlich warf Sabine sich an seine Brust.
„Reinald,“ sagte sie flüsternd, „ich kann nicht in Mühlau bleiben. Ich muß hier fort. Die Eltern ahnen noch nichts. Morgen wird Onkel Fritz mit ihnen sprechen, ob ich nicht nach Berlin ziehen solle. Steh’ mir bei! Ich flehe dich an!“
„Ach mein Gott,“ sagte Reinald gedrückt, „da wirst du
[493][494] wohl wenig Glück mit haben. Onkel Fritz hat ja schon geschrieben deswegen. Aber Papa und Mama wollen nicht.“
„Er hat geschrieben!“ sprach sie vor sich hin. Heimlich und immerfort hat er schon daran gedacht, wie er mein Los erleichtern kann. Er liebt und versteht mich mehr als meine eigenen Eltern, dachte sie.
Dann umklammerte sie Reinalds Arm. Ihre Augen brannten.
„Du mußt mir beistehen,“ sprach sie heftig, „du mußt, wenn du mich lieb hast. Stoßen Papa und Mama sich an der Geldfrage? Wollen sie nichts geben und auch nicht, daß ich von Onkel Fritz noch mehr nehmen soll? Dann schaff’ du mir das Geld! bitte, bitte!“
„Wie sollte ich das?“ fragte er verstimmt durch ihre heftigen Bitten. „Das Geld, das ich von Papa im Gut habe, kontrolliert er doch. Und überhaupt, wie sollte ich imstande sein, heimlich Geld zu schaffen? Und von Marthas Mitgift, die ich im Januar bekomme, kann ich dir doch auch nichts geben.“
„Ich kann aber nicht hier bleiben! Ich ertrag’ es nicht, ich werde wahnsinnig!“ murmelte sie.
Reinald sah sie aufmerksam an. Sein Gesicht war traurig.
„Sabine,“ sprach er, „wenn du dich so hast, müssen mir da nicht Gedanken kommen? Ich hab’ so was munkeln hören im Dorf. – Der Wirt, der mein Feind ist, machte mal so ’ne schnodderige Bemerkung von feinen Damen und Rendezvous und Franzosenlinde. Ich hab’ es nicht glauben wollen! Sabine, es giebt doch nicht in Mühlau einen Mann, dem du nicht begegnen kannst?!“
„Schweig!“ schrie sie. Bebend vor Zorn stand sie vor ihm, das Wetterleuchten einer maßlosen Erregung auf dem Angesicht. „Du läßt deine Schwester beschimpfen?“ sprach sie flammend, „du! Du glaubst, daß ich etwas Kleines und Unreines thun könnte? Ja denn, ich will von hier fort um eines Mannes willen. Aber die Augen brauche ich nicht niederzuschlagen, vor ihm nicht, vor niemand. Frage aber nichts!“
Reinald war beschämt und kleinlaut. Zugleich fühlte er sich seiner Schwester so seltsam entfremdet.
„Wenn du denn durchaus fort willst, mußt du lieber den Eltern alles gestehen,“ sagte er etwas trotzig.
„Das kann ich nicht – das niemals,“ murmelte sie, „sie würden mich nicht verstehen.“
„Na, dann kann ich dir nichts weiter raten,“ meinte er.
„Geh nur. Laß mich nur. Verzeih, daß ich dich mit meinen Angelegenheiten behelligte,“ sprach sie wie erschöpft, setzte sich auf den nächsten freien Stuhl und starrte vor sich hin.
„Aber Sabine. Sei doch nicht so!“
Und in dem Wunsch, brüderliches Interesse für sie zu bekunden, setzte er noch hinzu: „Am besten wäre es wirklich, du heiratetest bald. Das gäbe dir wieder festen Halt. Sieh mal, da ist Hallendorf – der denkt noch immer an dich. Ein ermunternder Blick von dir – und er beginnt von neuem, um dich sich zu bewerben. Das garantier’ ich.“
„Laß nur. Danke,“ sprach sie, „vielleicht später.“
Reinald merkte, daß sie ganz geistesabwesend war und gar nicht wußte, was ihre Lippen sprachen. Kopfschüttelnd ging er hinaus. Gottlob, daß seine Martha verständiger war und von ruhigerer Gemütsart!
Sabine wurde von einem unbändigen Heimweh nach Onkel Fritz und Susanne befallen. Die waren, so schien es ihr, die einzigen wahren Freunde, die sie noch auf der Welt hatte. Sie fühlte sich außer stande, auf Susannens angekündigten Besuch zu warten. Sie warf ihren Pelzmantel um, nahm ein Tuch um den Kopf und lief, die Straße entlang, zum Marktplatz, in das Hotel. Es war schon fast ganz dunkel. Dazu bückte sie sich tief unter ihren Regenschirm, um den Wind und die schräg daherjagenden Tropfen abzuhalten. Unter dem Rand des Schirmes sah sie, daß zwei Offiziere ihr entgegenkamen; sie waren schon dicht vor ihr, und wenn Sabine die Gesichter hätte sehen wollen, hätte sie den Schirm hochheben müssen. Aber sie hielt ihn nur fester an sich. Sie wollte keine Bekannten sehen und vielleicht gar angeredet werden. Daß es Achim von Körlegg sein könnte, der ihr hier im versiegenden Abenddämmer des Novembertages so nah’ vorbeiging, daß sein Ellbogen ihren Schirm streifte, ahnte sie nicht. Es fiel ihr merkwürdigerweise gar nicht ein.
Er aber, der mit einem Kameraden ging, sah sich flüchtig nach der dunklen, eiligen Gestalt um, und der Kamerad sagte: „Nanu, wer war denn das?“
Sie war nicht erkannt worden.
Bei Susanne und Onkel Fritz wurde sie mit Freuden empfangen. Die saßen so gemütlich um den Theetisch, als hatten sie ihr Leben lang nie wo anders gewohnt wie im Hotel zum Kronprinzen in Mühlau.
Sabine erzählte, daß sie von ihrem Bruder die Ungeneigtheit ihrer Eltern erfahren habe, sie von hier fortzulassen.
Darauf meinte der alte Herr, er wolle unter vier Augen mit ihnen reden. Sabine sah ihn erschreckt an. Er verstand den Blick. Er nickte ihr beruhigend zu. „Ich weiß, was ich zu sagen und was ich zu verschweigen habe,“ sagte er.
Sie errötete.
Nachher, als Susanne sie auf den Flur hinausbegleitete, hatten sie noch ein erregtes Flüstergespräch.
„Um eines flehe ich dich an, liebe, beste Susanne! Wenn ich hier bleiben muß – verlaß du mich nicht auch gleich! Bleibe bei mir! Wenigstens ein paar Wochen noch! Du mußt mir auch noch einen Dienst erweisen – einen großen, großen Dienst!“
„Welchen? Natürlich bin ich zu jedem bereit,“ versprach Susanne. Die andere küßte sie heftig.
„Ich danke dir! Ich werde dir’s schon sagen, wenn es soweit ist.“
„Morgen früh kommen wir zu dir. Während Onkel Fritz vorn mit den Eltern spricht, helfe ich dir, deine Sachen auspacken und einräumen.“
„Gut – ja. Ich werde nicht wieder in das Hotel kommen. Ich könnte doch ihm begegnen! Das wäre schrecklich. Eben gingen mir zwei von seinen Kameraden vorbei.“
„O Gott, wenn er es gewesen wäre!“ rief Susanne.
„Er war es nicht! Das hätte ich gefühlt. Ich glaube, ich würde in der Nacht unter Tausenden seine Gegenwart herausspüren. Ich würde – ich weiß nicht was. Gute Nacht! Auf morgen!“
In ihrem Elternhause empfingen sie Vorwürfe.
„Bei dem Wetter bist du noch ausgegangen!“ jammerte die Mutter.
„Zieh’ nur gleich trockenes Fußzeug an,“ sagte der Oberamtmann.
„Ihr thut ja gerade, als wenn ich die Schwindsucht hätte,“ sprach sie ungeduldig.
Milly und Leo standen verschüchtert und enttäuscht umher. Sie hatten sich so sehr auf die Mama gefreut! Und nun kümmerte sie sich kaum um sie.
Als Sabine abends im Bett lag, kam es ihr vor, als sei sie von ungeheuren körperlichen Strapazen tödlich erschöpft, so hatte der halbe Tag daheim sie angegriffen.
Und in der Stille, die sich nun über Menschen und Haus senkte, fing Sabine an, über sich nachzudenken. Besonders beschäftigte sie sich mit der Empfindung, die sie beim Anblick ihrer Kinder in sich aufwallen fühlte. Hab’ ich denn kein Herz? Bin ich eine schlechte Mutter? Ein liebloser Mensch?
Die Stelle in Achims Brief fiel ihr ein: „Denke an deine Kinder, lebe für sie!“ Dieser Hinweis hatte sie furchtbar verletzt, allen Trotz damals in ihr wachgerufen. Derlei kann nur ein Mann schreiben, der ein Weib weder wahrhaft liebt noch versteht.
Die Kinder? Die Kinder waren ein Teil ihrer selbst!
Wenn das Schicksal ihr damals den kleinen Sohn genommen hätte, wie er krank war – Achims Liebe, Achims Besitz hätten ihr nicht das Kind zu ersetzen vermocht, es nicht verschmerzen lassen! Ebensowenig konnten die Kinder ihr den Geliebten ersetzen, die einen und der andere – sie füllten doch ganz verschiedene Seiten ihres Wesens aus!
Ob ein Mann das wohl gar nicht begreifen konnte?!
Aus diesen Gedanken fuhr sie plötzlich erschreckt auf: Milly hustete im Schlaf. Auf nackten Füßen lief Sabine an das Bettchen der Kleinen. Da kam schon die Strafe für die böse Aufwallung von heute mittag: das Kind würde erkranken, sterben!
Vor lauter Herzklopfen konnte Sabine weder deutlich fühlen noch hören. Der Puls der Kleinen schien ihr zu rasen, der Atem zu keuchen. Sie betastete die Wangen des Kindes. Sie machte Licht, weil die Nachtlampe so unheimlich düster brannte und schwarze Schatten auf dem Gesicht der Kleinen lagerten.
[495] Endlich mußte Sabine begreifen, daß die Wange des Kindes kühl, der Schlaf ruhig, der Puls normal war.
Sie schlich an ihr Bett zurück und setzte sich auf dessen Rand.
Die Eltern? Wenn den Eltern aber etwas zustieße! Sie fühlte tief, daß sie ablehnend, ja unfreundlich gewesen war. Und sie mußte es sich doch gestehen, die Eltern hatten so viele Unbequemlichkeiten durch sie! So viel Sorgen trübten das Alter der beiden, das doch die Feierzeit nach so fleißigem Leben hatte sein sollen!
In Sabinens Augen standen Thränen. Wenn den Eltern jetzt etwas – zustieße, sie hätte doch vor Reue verzweifeln müssen! Und das Schicksal war oft so grausam. Es hatte schon manchmal Menschen für ewig auseinandergerissen, die mit einem lieblosen Wort sich nur für Stunden zu trennen meinten.
Von schreckhaften Vorstellungen gehetzt, lief Sabine über den Flur, um an der Schlafstubenthür ihrer Eltern zu horchen.
Drinnen war alles still. Nein, nicht still: der Oberamtmann schnarchte. Sein kräftiges Schnarchen drang so prosaisch durch die Nacht.
Es ernüchterte Sabine heilsam. Auf diese Weise mache ich mich krank, dachte sie und ging zu Bett.
Am andern Morgen, während Onkel Fritz mit den Eltern das entscheidende Gespräch führte, hatte Sabine schon alle Hoffnung aufgegeben, von Mühlau fortzukommen. Sie wußte, daß der alte Herr und ihre Eltern gleichsam Menschen aus verschiedenen Kulturzonen waren, zwischen denen eine Verständigung unmöglich war.
Und in der That: Onkel Fritz fand den festen Willen bei seinen Gegnern, auf Gründe nicht einzugehen und alle Vorschläge empfindlich zu nehmen. Besonders als der alte Herr sehr fein und vorsichtig den Geldpunkt berührte und andeutete, daß Sabine und die Kinder nebst Bedienung in Berlin quasi seine Gäste sein sollten – da wurde der Oberamtmann fast unangenehm. Es ging ihm wie vielen Knausern, er hatte nicht den Mut seiner Sparsamkeit und nahm es übel, wenn man ihn als geizig aufzufassen schien.
Das einzige, wozu sie sich verstanden, war, daß Susanne Osterroth, wenn sie das Opfer bringen wolle und ihre Mama nichts dagegen habe, – denn zwischen Eltern und Kinder dürfe man sich nicht drängen, schalteten sie anzüglich ein – bis Weihnacht bei Sabine bleiben könne. Und wenn Sabine sich unter der treuen Pflege ihrer Mutter von den Strapazen dieser unglücklichen italienischen Reise ganz wieder erholt haben würde, könnte sie ja vielleicht im Frühling eine kurze Zeit Onkel Fritz in Berlin besuchen, denn sie würde ja wohl auch einmal das Bedürfnis haben, das Grab ihres Mannes zu sehen, wogegen sich ja nichts sagen lasse.
Damit schien das Gespräch zu Ende. Der alte Herr stand am Fenster und sah nachdenklich auf die Straße hinaus.
Der Oberamtmann und seine Frau wechselten Blicke. Was wollte er nun noch? Warum stand er da so schweigend, wie einer, der mit Entschlüssen kämpft? Hat er ganz vergessen, daß wir hier sitzen? Wir, der Hausherr und die Hausfrau?
Ja, er hatte es vergessen. Er kämpfte einen Gedanken nieder, der so thöricht, so verblendend war … und der doch immer wieder zu ihm heranschlich.
Es gab wohl einen Ausweg, Sabine aus diesem Kerker zu retten – – –
Aber würde das nicht nur ein Wechsel des Gefängnisses sein? Keine Freiheit ihre Jugend auszuleben, würde das bedeuten! Kein Glück! Nur eine Rettung in einen friedlichen Hafen. Erlaubte sein Gewissen ihm, solche Rettung anzubieten? War es nicht besser für die Jugend, auf dem hohen Meer des Unglücks und der Leidenschaft einherzutreiben? Da gab es doch noch vielleicht unbekannte Ufer, ferne, noch unsichtbare Welten, die am Horizont einst auftauchen und ihr fröhliche Landung versprechen konnten – –
Sabine war jung, Jugend und Zukunft – das sind verwandte Worte. Nein – die Hand eines alten Mannes in Verzweiflung zu ergreifen, – nein, dazu durfte man sie nicht verführen, wenn man sie mehr liebte als sich selbst – – –
Der alte Herr wandte sich um. Er sah mit einem besonderen, zerstreuten Blick die beiden an.
„Ich kann die jungen Damen wohl rufen?“ fragte die Oberamtmännin.
Er nickte.
„Sabine! Sabine!“ rief die Mutter zur Thür hinaus.
Sabine und Susanne kamen sich vor wie Schulmädchen, die eine Censur bekommen, als ihnen der Oberamtmann das Resultat der Unterredung mitteilte. Er verlor bei außerordentlichen Anlässen sogleich seine innere Freiheit, sprach gewählter als sonst und redete sich in Rührung.
Susanne sah während dieser Rede ängstlich auf Onkel Fritz, aber der schaute zum Fenster hinaus. Wenn er merkte, daß Männer unfrei waren, wurde er verlegen. Er genierte sich in die Seelen der anderen hinein.
„Es heißt also scheiden,“ sagte Sabine mit einer Ruhe, die alle überraschte.
„Ja. Ich reise noch heute nachmittag,“ erklärte Onkel Fritz. Susanne besprach eifrig mit Oberamtmanns ihr Hierbleiben.
Sabine trat zu dem alten Herrn. Er sah sogleich, daß ihre Ruhe nur äußerlich war. Er verlor kein Wort, er schenkte sich jede Höflichkeitsphrase und sagte nicht, daß es ihm leid thäte.
„Werden Sie mir schreiben, Sabine?“ fragte er halblaut.
„So oft ich darf!“
Er griff nach ihrer Hand.
„Es kann schwer für Sie werden … hier …“ sprach er leise.
Sabine sah ihn an. Sie war sehr bleich, und gramvolle Schatten lagen um ihre Augen. Aber sie versuchte, ihrem Blick und ihrer Haltung Festigkeit zu geben.
„Ich will versuchen, stark zu sein,“ sagte sie einfach.
Sie drückten sich die Hand.
Und Sabine konnte nicht anders, sie mußte thun, wie sie damals in Venedig, in der Stunde ihres Glückes, gethan: sie neigte sich und küßte diese liebe alte Hand ………
Dann lief sie hinaus.
Das war ihr Abschied und ihr Dank.
Jagdgehilfen des Maharadscha von Dschaipur.
Aus dem weißgetünchten Parkthor des Fürstenpalastes zu Dschaipur sprengt eine glänzende Reiterschar; umringt von zahllosen indischen Großen und Hofbeamten, begiebt sich der Maharadscha auf die Jagd. Jede dieser schlanken Figuren ist ein Muster kraftvoller Hinduschönheit, ein Stolz der Radschputana, des Mutterlandes der „Fürstensöhne“ und der Kriegerkaste. Wie leibhaft gewordene Märchengestalten rauschen sie auf feurigen Araberhengsten vorüber, strotzend von Goldstickereien auf karmesinroten Sammetjacken oder umweht von zartfarbigen Schleiern und Gewändern aus kostbaren Stoffen. Hier und da klirren Kettenpanzer und Stahlhandschuhe. Weithin blitzen damascierte krumme Schwerter und kleinrunde Schilde, in deren Erz des Goldschmieds Hammer gar zierliche Figuren aus Gold- und Silberdrähten getrieben hat.
Die braunen Gesichter der Reiter sind zumeist umrahmt von vollen schwarzen Bärten, in der Mitte gescheitelt und energisch zur Seite und nach oben gestriegelt, gerade so, wie sich der letzte Maharadscha getragen. Eng liegen die Turbanwindungen um die trotzigen Brauen, unter denen manchmal, heimlich und schnell, recht düstere Blicke aufzuflackern scheinen, wenn die Augen sich nach der hochragenden Felsenburg des Fürsten, dem Tigerhort, wenden, von dessen Abhängen ein „Welcome!“ („Willkommen!“) in riesengroßen weißen Buchstaben meilenweit in die Lande hinausleuchtet, dort hingepinselt als mehr oder weniger aufrichtige [496] Begrüßung des Prinzen von Wales, wie dieser den Maharadscha von Dschaipur im Jahre 1876 besuchte.
Nicht dem dschungelbeherrschenden Königstiger gilt der heutige Jagdzug. Wohl eilen die Jäger, die Schikari, wilde Gesellen mit ausgesucht struppigen Bärten, jauchzend und schreiend hinter dem Zuge her. Ausstaffiert mit seltsamen Filzhüten, phantastischen grauen oder grünen Gewändern, auch wohl in rauhen Fellen oder gestickten Kollern aus Büffelleder, schwingen sie lebhaft ihre Lanzen mit silbernen Spitzen und lassen den Goldbeschlag ihrer Schilde aus durchsichtiger Rhinoceroshaut im Sonnenschein funkeln. Doch heute fehlen die Jagdelefanten, von deren Rücken die hochgeborenen Schützen aus bequemem silbernen „Haudah“-Pavillon die anspringende Bestie niederzuschießen und schließlich das Zeichen zu geben pflegen, daß der Rüsselträger den erlegten Tiger triumphierend in die Luft emporschwingt, ehe die Beute in die Stadt geschleift wird.
Aber ein anderes Mitglied des Katzengeschlechts hat heute eine Rolle zu spielen, als Jagdgehilfe, nicht als Jagdopfer.
In hurtigem Trabe schleppen inmitten des Jägerschwarms vier Kulis einen Kasten, einen „Palki“, an Tragstangen auf den Schultern. Durch die nicht völlig zugeschobenen Thüren dieses Käfigs schimmert das scheckige Fell eines Leoparden, der mit verhüllten Augen auf dem gepolsterten Boden liegt.
Heute mußte dieser „Schittah“ sein Lager im Gehöft seines Wächters verlassen, der ihn großzuziehen und sorgfältig abzurichten verstand. Wie unser Bild auf der linken Seite zeigt, ruht er dort sonst auf einem der landesüblichen niederen Bettgestelle. An einer Fessel aus Silber, führt das kostbare Tier, wohlgepflegt von mehreren Dienern, das sorglose Dasein eines Grandseigneurs, selbst die lästigen Fliegenschwärme werden ihm von einem eigens hierzu angestellten Hindu durch Wedeln verscheucht. Eine lederne goldgestickte Kappe bedeckt seine Augen, denn nichts soll seine Aufmerksamkeit erregen, nichts soll ihm vor das Gesicht kommen als das Wild, auf das sein ganzes Sinnen gelenkt wird. Sobald es den Fürsten gelüstet, die flüchtigen Antilopen zu jagen, welche die Dschungeln und Steppen durcheilen, wird dieser Schittah auf das Jagdfeld getragen, wie ich es oben beschrieben habe. Ist man auf einem hügeligen Punkte angelangt, von dem aus die Jagdgesellschaft die buschreiche Ebene ringsum und das arglos dort äsende Wild übersehen kann, dann wird dem Leoparden erst angesichts dieser fernen Rudel die Haube von den Augen gehoben. Geblendet vom Sonnenlicht, steht er bewegungslos da, nur die Nüstern beben krampfhaft. Dann aber, sowie er sein Ziel erkannt hat, duckt er sich zusammen und schleicht langsam und lauernd der Herde entgegen. Kaum wittern die zierlichen Antilopen ihren blutgierigen Todfeind, so wenden sie sich zur hastigen Flucht – doch schon hat auch der Schittah sein Schleichen in pfeilschnellen Galopp verwandelt und durchfliegt förmlich die trennende Strecke; zwei, drei mächtige Sprünge – und er sitzt fest auf dem Nacken des nächsten Tieres. Tief drückt er Krallen und Zähne in das Fleisch des schlankgebeinten Opfers, das unter der Last des entsetzlichen Reiters stöhnend hin und her wankt; schnell eilen die Jäger herbei und erlösen das Wild durch einen wohlgezielten Lanzenstoß von seinen Qualen. Dem Schittah aber werfen seine Wärter wieder die Kappe über die Augen und belohnen ihn mit den Eingeweiden des Wildes. Auch daheim wird durch eine tägliche Ration Antilopenblut der Jagdeifer des Tieres auf den höchsten Grad gesteigert; auf unserem Bilde steht die Schale voll Blut am linken Ende des Bettgestells, auf dem der Schittah nach vollbrachtem Weidwerk der Ruhe pflegt.
Auf dem anderen Bette neben ihm sitzt ein zur Jagd auf Steppenhasen dressierter Luchs, der eifersüchtig und fauchend die langen Pinselohren bewegt, lüstern nach dem Antilopenblut, dessen Duft von dem Nachbarbette zu ihm dringt.
Schüttet im Sommer der Südwestmonsun langandauernde Regen über die ausgedörrten Steppen der Radschputana, dann stellen die Wärter die Betten ihrer Schutzbefohlenen in die im Hintergrund des Bildes sichtbare Hütte, müssen aber auch dort die gezähmten Bestien vor den Stichen giftiger Fliegen, Moskitos und anderer Landplagen des schönen Indiens durch fleißigen Gebrauch ihrer Wedel aus zusammengedrehten Schnüren bewahren.
Wie ich zur Dichterin wurde.
Vor fünf Jahren brachte die „Gartenlaube“ den ersten Hinweis auf eine Dichterin, welche von Jugend auf in ländlicher Abgeschiedenheit gelebt hatte und als schlichte Bauernfrau in einem ostpreußischen Dorfe zu einem Talent herangereift war, das allgemeine Beachtung verdiente. Professor Karl Weiß-Schrattenthal, der sich bereits um die Gedichte von Katharina Koch ein ähnliches Verdienst erworben hatte, kündigte damals an, daß er im Begriff sei, der leidenden, in ärmlichen Verhältnissen lebenden Frau durch die Herausgabe ihrer Gedichte helfend beizustehen (vgl. Jahrgang 1894, S. 644). Unter den interessanten Mitteilungen über Johanna Ambrosius, die er unserem Leserkreis machte, befand sich die Angabe, daß nach der Schulzeit die hauptsächliche Quelle ihrer Bildung die „Gartenlaube“ gewesen sei. Mit warmen Worten rief er für das bevorstehende Erscheinen ihrer Gedichte das Interesse unserer Leser wach. Heute liegt jene erste Sammlung bereits in 36. Auflage vor, während die 1897 zuerst erschienene zweite Sammlung der Gedichte von Johanna Ambrosius nun auch schon die 6. Auflage erlebt hat. Die damals an dieser Stelle ausgesprochene Erwartung hat sich in reichstem Maße erfüllt. Der außerordentliche Erfolg und das begeisterte Lob, das diese unter so merkwürdigen Verhältnissen entstandenen Gedichte fanden, hat inzwischen aber auch Widerspruch geweckt. Die Angaben über den Bildungsgang von Frau Johanna Ambrosius-Voigt sind bezweifelt worden. Unter diesen Umständen hat das schlichte Selbstbekenntnis der Dichterin, das wir nun folgen lassen, doppelten Wert. Es entstammt einem Privatbrief derselben. Der Empfänger war der Schriftsteller Dr. G. Manz in Berlin, der sich nach Einzelheiten ihres Lebensganges erkundigt hatte. Die anregende lebenswahre Art, in der die schlichte Bauernfrau ihren dornenreichen Lebensgang erzählt, erschien dem Empfänger so fesselnd, daß er von der nachträglichen Erlaubnis, den Inhalt des Briefes in passender Form bekannt zu geben, am besten durch die Veröffentlichung in der „Gartenlaube“ Gebrauch zu machen glaubte. Der ungeschminkten Darstellung gegenüber, die Frau Ambrosius selbst von sich und ihren Schicksalen entwirft, würde jedes Wort des Kommentars abschwächend wirken. Mögen diese Bekenntnisse einer Schwergeprüften ihr zu den alten noch recht viel neue Freunde erwerben.
Der Brief lautet:
Mein Gedächtnis reicht weit zurück. Ich war geliebt von allen, die mich kannten. Meine Eltern waren stolz auf mich, denn ich soll schön gewesen sein, und die schlagfertigen Antworten, die ich bei jeder Gelegenheit gab, machten, daß sie mich verzogen.
Das hörte jedoch auf, als die Zahl der Geschwister sich mehrte. Das Lernen war mir eine Lust. Ich weiß noch, wie heute, mich meiner ABC-Fibel zu erinnern und das Ba, be, bu klingt mir oft in den Ohren. Unser Lehrer, ein Mann, der seiner Zeit weit voraus lebte und noch heute im Amt ist, hatte mich gern. Meine Schwester Martha, welche mir geistig bedeutend über ist, war wohl seine beste Schülerin. Daß die Kinder Ambrosius – Bruder Ewald mitgerechnet – sich hervorthaten, erweckte Neid, wie immer. Wir wurden schon damals gehaßt von den Nachbarsmüttern, deren Töchter unter uns saßen. Ich war klein und blaß. Fast jeden Winter wurde ich von einer Krankheit heimgesucht und mußte die Schule versäumen. Wir lernten damals sehr viel Religion und sehr viel auswendig. „Roland der Schildträger“ sprach ich nicht gedankenlos hin, nein, alles, was ich las, stand vor mir. Zu Handarbeiten hatte ich keine Lust. Puppen und Mädchenspiele liebte ich nicht. Zumeist trieb ich mich auf dem Felde oder im Walde herum – oder in Genossenschaft einiger Buben. Die Natur, das Land liebte ich schon damals leidenschaftlich. Meine Eltern hatten ein wenig roten Lehmboden gepachtet, und inmitten von Kartoffeln und Hafer machte ich mir ein Blumenbeet. Meine Freude über das
[497][498] Wachsen und Blühen, das ich täglich mehrere Male beobachtete, war mir genug. Im August hatte ich das 11. Lebensjahr zurückgelegt, am 15. September verließen meine Eltern Lengweten (im Kreise Ragnit), wo ich geboren bin und die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe.
Mein Vater las in den Wintermonaten Bücher aus der Leihbibliothek. Ich als elfjähriges Kind, das sehr viel Schulaufgaben zu machen hatte, habe nie in die Bücher geschaut, auch wurde es uns nicht erlaubt. Es war auch so lustig, bei der jungen Dienstmagd zu sitzen und deren Märchen und Lieder zu hören …
Meine Eltern waren beide arme Leute, als sie sich heirateten; Mutters Eltern sehr begabt, ihre beiden Brüder außergewöhnlich talentvolle Männer. Beide starben unvermählt in den besten Jahren. Der jüngste Bruder Mutters kam nach dem dänischen Kriege eine Zeit lang in unser Haus. Von ihm habe ich viele Lieder singen gelernt und viele Erinnerungen sind mit ihm verknüpft. Von meinem Vater habe ich das gute Gedächtnis wie die Züge, doch das Talent zum Fabulieren entschieden von Mutter und deren Familie. Mein Großvater mütterlicherseits war beliebt wegen seines urwüchsigen Humors.
Als meine Eltern Lengweten verließen, wußte ich noch nicht, was ich verloren. Die Schule in Titschken, dem neuen Wohnort, hatte mir nichts zu bieten. Kaum war mein Geist geweckt, kaum konnte ich einen halbrichtigen Aufsatz verfassen, mußte mein ganzes geistiges Leben gehemmt werden. Ich werde es nimmer, auch wenn ich hundert Jahre alt werde, verschmerzen, daß ich nicht richtig schreiben und sprechen lernen konnte. Schwester Martha dagegen, welche zweieinhalb Jahre älter denn ich war, beherrscht vollkommen die Rechtschreibung und führt einen brillanten Stil. Ich bin ein Nichtschen gegen Martha. Nun war mein Schulbildungsgang geschlossen, ein Weiteres gab es nicht mehr. Doch, konnte ich den Wissenshunger nicht stillen, gab es draußen Schönes genug zu sehen und zu hören. Meine Phantasie machte aus dem Kleinen sich das Große. Nie bevor ich im Jahre 1895 die Welt kennenlernte, habe ich eine See, eine Düne oder schöne Kunstsachen gesehen. Und doch sah ich alles in meinen Träumen viel schöner, als die Wirklichkeit es mir gezeigt. Daher überrascht mich nichts und imponiert mir nichts. So anmaßend es klingt, es ist aber so …
Die Zahl der Geschwister war auf sieben gestiegen, das kleine Besitztum der Eltern noch nicht halb bezahlt, da kam der grausame Winter 1867 mit seinem mir unvergeßlichen Jammer. Da sah ich die Not, die Landesnot! Schnee und Eis soweit die Blicke gingen, kein Vogel, kein lustiges Klappern der Dreschflegel! – Die Wege voll zerlumpter, frierender Menschen. Meine Eltern beide krank. Das neugeborene Schwesterchen wurde von Martha erzogen. Ich, augenleidend, saß an der Wiege, doch spann ich in dem Winter mein erstes Garn. Den Wocken erhielt ich zu Weihnachten und besitze ihn heute noch …
Und doch, so viel Jammer auch bei uns war, meine Natur ist nie darin stecken geblieben, immer wußte ich die Geschwister und Eltern durch Erzählungen und drollige Einfälle aufzuheitern. –
Im Herbst 1868 wurde ich eingesegnet und stand in der Mädchenreihe der Landgemeinde oben als Nummer eins. Jetzt kam die „Gartenlaube“, die unser geliebter Herr Präzeptor in Lengweten hielt, in unser Haus. Marlitts Geschichten entzückten die jungen Mädchenherzen. Doch wir lasen alles andere auch mit großem Interesse und folgten aufmerksam jeder Schilderung. Ich besaß eine große Vorliebe für die Gutzkowschen Briefe und historischen Sachen. Auch Herman Schmids Geschichten ergötzten mich. Sieben Bände „Gartenlaube“ sind von mir gelesen worden. Es mag wohl gut sein, wenig und Gutes zu genießen; zu viel möchte ich nie, weder geistige noch leibliche Speise haben.
Arm waren und blieben wir, und verhöhnt wurden wir von allen kurzsichtigen Bauern, unter denen wir wie andere Vögel lebten. Mit zwölf Jahren konnte ich Brot backen, melken und alle groben Arbeiten. Spinnen und weben lernte ich ein Jahr darauf. So unter Arbeit und wieder Arbeit verrann die Zeit. Es behagte mir nicht länger zu Hause, ich ging als Wirtschafterin auf einige Stellen, kehrte aber bald zurück aus eigenem Antrieb, da ich mehr sah, wie ich sehen wollte. Ideale sanken und ich stand vor der Wirklichkeit, die mir nicht gefiel. Zum erstenmal lernte ich auch das Ungeheuer, die gesellschaftliche Lüge kennen.
Ich vermählte mich, 20 Jahre alt, mit dem Sohn eines Bauern. Wir waren beide arm, da beide Eltern uns nichts geben konnten. So zogen wir zu meiner Großmutter, welche ein Häuschen und ein kleines Feld hatte, und nahmen dieses in Pacht. Es reichte natürlich nicht zum Leben und mein Mann hat für wenige Pfennige den Tag im Winter gedroschen, ich machte Handarbeiten für die Bauerstöchter. Die Jahre waren unbeschreiblich. Dazu war jede geistige Nahrung fort … Ich lebte ganz weltverloren in der Hütte. Mein Mann verdiente ein Jammergeld. Begegnet Ihnen einmal eine höchst ärmlich gekleidete Landfrau mit einem Tuch um den Kopf, dann denken Sie, so ging Johanna Ambrosius einst. Ich kenne die Schule des leiblichen und mehr noch des geistigen Elends von Grund auf. Und wer Seele von Seele unterscheiden kann, wird auch wissen, daß beides gleich drückt. Nie ist mir damals, noch früher eingefallen, einen Vers zu machen, doch mein Herz hat immer gedichtet. Jede Ruhepause schaute ich in die Weite und suchte die Schönheit der Natur zu meiner Gesellschaft. Ich konnte den ganzen Sonntag Nachmittag auf einem Grabenrand sitzen und in das wogende Feld schauen oder einem Würmchen zusehen, wie es unermüdlich einen Grashalm zu erklettern suchte. Geistige Anregung, Bücher, Zeitungen waren unerreichbare Wünsche. Man meint, ich hatte Bibel und Gesangbuch, auch das nicht. Ein Gesangbuch hatte ich wohl, eine Bibel kostete Geld, und wo sollte ich es hernehmen?
Wir verließen nach dem Tode meiner Großmutter das Dorf und zogen nach Alxnupönen, einem reizend gelegenen Dörfchen hinter Lasdehnen, hart an der Scheschuppe. Daselbst lebten wir noch zweieinhalb Jahre mit Holzfällern zusammen in einem Hause in Armut und Not. Die Natur – es ist nahe an der polnischen Grenze – ist hier besonders schön. Der rauschende von lieblichen Ufern umgebene Fluß war bald mein bester Freund, und manches Bild habe ich damals in die Seele aufgenommen, welches erst so spät zum Ausdrucke kommen sollte.
Endlich gab mein Schwiegervater, der mit seiner Familie mir geistig völlig fremd stand, die Wirtschaft dem ältesten Sohne ab und mein Mann erhielt 500 Thaler. Ich bekam gleichfalls 200 Thaler, da meine Mutter eine Erbschaft gemacht. Mit diesem Gelde kauften wir in Wersmeninken unser 8 Morgen großes Besitztum für 1400 Thaler. Ich war damals sehr magenleidend, abgezehrt zum Skelett. Jetzt hieß es wieder sparen, um die Zinsen und Abgaben zu bestreiten. Doch ich hatte mein eigen Land, mein eigen Haus! Wer kann mir nachfühlen, wenn ich naßgeregnet vom Felde kam und ein Stück trocken Schwarzbrot mit Milch auf der Schwelle des Hauses verzehrte? Wer weiß von dem stillen Glück, wenn ich nach meinen saubergehaltenen netten Kindern ausschaute und ihr Vesperbrot zurechtlegte? Meine lieben guten Kinder waren mir alles und sind mir alles. –
Es war im Oktober 1884. Noch immer hatte ich kein Buch außer Kalender und Bibel, welche ich mir gekauft, und Gesangbuch im Hause, ich sehnte mich auch gar nicht, etwas von „draußen“ zu wissen. Da kam mir, vom Schmerz des Unverstandenseins ausgepreßt, eine Melodie mit Worten in den Mund. Ich sang und sprach zugleich das, was mich bewegte und quälte, aus. Dieses Lied findet sich im 2. Band meiner Gedichte. Es lautet:
„Wen hat man geschlagen, wie man mich schlug?
Wer hat getragen, was ich ertrug?
Ich würde nicht weinen in heißem Schmerz,
Fänd’ ich auf Erden ein gleiches Herz!
Das getroffene Wild, es darf doch schrei’n,
Wenn die Kugel ihm dringt ins Herz hinein,
Den Sklaven brennt Fessel und Peitschenhieb,
Und doch träumt er von Freiheit und Lieb.
Nur du, Herz, mußt sein geduldiglich,
Kein Freiheitsschein darf locken dich,
Du darfst nicht schreien in deiner Qual,
Und stirbst du den Tod auch tausendmal.
‚Sei getrost,‘ ruft mir oft eine Stimme zu,
,Habe Mut, ertrage alles in Ruh,
O rütt’le nicht an der Fessel so sehr,
Sie schneidet nur und schmerzt noch mehr.‘
Und soll ich sie tragen mein Lebelang,
So ist der Seele darob nicht bang;
Nicht murren will ich, o Herr, es sei:
Nur in der Ewigkeit mach’ mich frei! …“
[499] Die Einsamkeit, meine angeborene Phantasie, das ewige Grübeln und der Schmerz mögen mich wohl zum Dichten getrieben haben. Es ist geradezu hirnverbrannt, wenn man behauptet, ich habe „Gartenlaubengedichte umgearbeitet“. Ich kann nichts umarbeiten, selbst nicht meine eigenen Gedichte. Und Goethe „nachmachen“, wäre gar nicht gegangen, ich kannte nichts von Goethe.
Es mögen 200 Gedichte fertig gewesen sein, als Martha ohne mein Wissen einige Proben der Zeitschrift „Von Haus zu Haus“ einsandte, die auch gedruckt wurden.
Neujahr 1890 suchte mich zum erstenmal die Influenza auf, aber so heftig, daß ich dem Tode nahe war. Ein Arzt konnte nicht genommen werden. Ich lag bis Februar. Mein Töchterchen, damals eingesegnet, wartete mich und besorgte das Essen. Ich hätte einem von meinen Neidern gewünscht, mich damals zu sehen. Unser Einkommen war mit 200 Mark angegeben und kann jederzeit vom Herrn Amtsvorsteher Klinckat in Laukehlischken, Post Lasdehnen, erfragt werden.
1894, wieder im Januar, faßte mich die Influenza und ich lag drei volle Monate zu Bett. Kurz vor meinem Krankwerden hatte Herr Professor Schrattenthal mir eine Probenummer seiner „Rundschau“ gesandt. Ich schickte drei Gedichte zur Probe, er verlangte mehr … Herr Schrattenthal hatte meinen Namen gewiß in „Unser Verkehr“ gefunden, einem Blatte, welches auch einige meiner Gedichte gebracht hat.
Wenn man meint, daß ich jetzt „im Himmel“ bin, irrt sich eben der Mensch. Doch ich habe keine Sorgen mehr darüber, wo ich das Geld zur Pension für meinen Jungen hernehme.
Weihnachten 1894 erschien mein erstes Buch. Nun kommt mir das alles vor wie die Erfüllung eines schönen Traumes.
Kurz vor dem Feste hatte es wieder sehr traurig mit meiner Kasse ausgesehen. Ich verfaßte in der Küche, selbstverständlich ohne Papier und Stift, das Gedicht „Weihnachtszeit“, welches die „Gartenlaube“ annahm. Es lautet:
„Mein Herz, was weinst du heut’?
’s ist Weihnachtszeit!
Doch ist für meine Lieben
Nichts, gar nichts übrig blieben;
Kein Licht im Haus,
Kein Bäumlein kraus;
Der Weihnachtsmann blieb heute aus.
Ich kann mein Kind nicht seh’n
So lauschend steh’n,
Sein Auge blickt so scheu umher;
‚Mutter, giebt’s keine Weihnacht mehr?
Kein Zuckerbrot?
Kein Aepflein rot?
Ist unser Weihnachtsmann gar tot?’
Ich riß in wildem Weh
Mein Kind zur Höh’:
,Schau nach dem sternbesäten Raum,
Das ist der Armen Weihnachtsbaum.
Sieh, welche Pracht
Der Herr gemacht!‘
Die Mutter weint, das Kindlein lacht!“
Dann kam der Erfolg. Von Weihnachten 1894 ist, glaube ich, kein Tag ohne Briefe vergangen. Die Königin von Rumänien schrieb mir eigenhändig einen Brief, den ich jedem mit Stolz vorlesen kann. Ich gebe ihn aber nicht in die Oeffentlichkeit.
Wie Berlin mich geehrt, wissen Sie ja.[1] Marie Seebach brachte mir einen riesigen Lorbeerstrauß, und Blumen hatte ich massenhaft im Zimmer.
Im Juli des Jahres 1895 fuhr ich zum erstenmal in meinem Leben mit der Bahn. Bad Elster brachte mir einen verlorengegangenen Teil meiner Gesundheit zurück. Dann reiste ich nach der Schweiz; Nürnberg, der Rheinfall, die Aussicht vom Rigi und die herrliche Fahrt über den Bodensee waren schön.
Mein Name ist um die Erde gegangen, ohne eine Aenderung in meinem inneren Menschen hervorgebracht zu haben. Mein Leben ist Mühe und Arbeit gewesen, und ich werde immer arbeiten, so lange ich kann. Ich besitze ein festes Gottvertrauen und weiß, daß Gott allein treu ist. Ich nehme meine Muse als ein Gnadengeschenk Gottes an und werde mir Mühe geben, nur wirkliche gesunde Nahrung den Menschen zu geben. Ich suche nie nach Motiven, dichte oft 3 bis 4 Monate kein Lied, dann auf einmal mehrere an einem Tage ….
Schon manchem Fragesteller habe ich Berichte über mein Leben geschrieben, doch wenn diese mir gedruckt zugingen, waren sie fast immer entstellt. Schrieb ich: ich war arm, hieß es: sie hat gehungert. Schrieb ich: ich war krank, hieß es: sie ist gekrümmt und schreibt mit groben Händen Zeile für Zeile mühsam. Jetzt habe ich fast Angst, noch etwas zu berichten, da alles so entstellt worden ….
Verzeihen Sie gütigst das Kunterbunt des Briefes; ich hatte Wäsche und mußte immer abbrechen. Denken Sie sich, für das Honorar, welches Sie mir sandten, kaufte ich mir eine Wäschemangel! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für den Glückwunsch zum Ehrenpreise.[2] Ja, das kam so unverhofft, wie – das Glück!
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Die elektrische Glühlampe, welche vor etwa siebzehn Jahren auf der Elektrotechnischen Ausstellung zu Paris zum erstenmal dem großen Publikum vorgeführt wurde, rief damals eine Revolution in der künstlichen Beleuchtung hervor. Ihr mildes, vornehmes Licht fand nicht einen einzigen ebenbürtigen Rivalen. Sie wäre fraglos sofort in alle Kreise der Bevölkerung eingedrungen, wenn es nicht ihr hoher Preis verhindert hätte!
Die Gastechniker hatten bis dahin mit einer gewissen Gelassenheit ihre Obliegenheiten erfüllt und standen nun plötzlich einem schier unüberwindlichen Gegner gegenüber. Im heißen Kampfe haben sie seitdem versucht, das verlorene Gebiet wieder zu erobern, und es ist ihnen dies thatsächlich mit der Auerlampe gelungen. Allerdings waren es vorwiegend wirtschaftliche Gründe, die der Lampe des Wiener Chemikers zum Siege über das elektrische Licht verhalfen.
Die elektrische Glühlampe, hygieinisch wie ästhetisch die Krone aller Beleuchtungsarten, ist für die Verwendung außerhalb des Heims der Reichen und der großen öffentlichen Etablissements zu teuer. Trotz des fieberhaften Eifers, mit dem die Zauberer unserer Zeit, die Elektrotechniker, sich bemühten, den Uebelstand zu heben, wollte es dennoch nicht in genügender Weise gelingen. Durch die Nernstlampe, von der jetzt alle Welt spricht, dürfte endlich eine elektrische Lampe für das bürgerliche Haus geschaffen worden sein.
Die ältere Edisonglühlampe besteht bekanntlich aus einer luftentleerten Glasbirne, in der sich ein Kohlebügel befindet. Wird der elektrische Strom durch den Bügel geschickt, dann erhitzt sich dieser auf eine sehr hohe Temperatur und verbreitet Wärme und Licht. In einer Lampe kommt es natürlich nur auf die Menge des Lichtes an, und die zugleich entstehende Wärme muß als Verlust betrachtet werden. In der elektrischen Glühlainpe ist der Verlust sehr groß, denn nur drei Prozent der zugeführten elektrischen Kraft setzt sich in Licht um. Wollte man wiederum versuchen, die Temperatur des Kohlebügels zu erhöhen, so würde er ohne weiteres zerfallen, und die Lampe wäre vernichtet.
Es war den Lichttechnikern seit lange klar, daß in dieser Weise nichts Wesentliches mehr zu erreichen sei!
Alle Metalle, auch die Kohle der Glühlampe, sind mehr oder minder gute Elektricitätsleiter. Als Gegenstück hierzu finden sich in der Natur gar viele Körper, die für den elektrischen Strom durchaus nichtleitend sind. Man hat sie deshalb bisher bei Lampenkonstruktionen [500] ganz außer acht gelassen. Es ist das Verdienst des Professors Walther Nernst in Göttingen, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß solche Nichtleiter durch Erwärmung zu Leitern gemacht werden können. Diese Thatsache liegt der neuen Glühlampe zu Grunde!
Sie baut sich der Hauptsache nach aus einem stäbchenförmigen Nichtleiter (Magnesia und Porzellan) auf, zu dessen beiden Enden die Drähte eines Stromkreises führen. Wird der Nichtleiter erhitzt – Nernst führt das im einfachsten Falle mit einem Streichholz aus – dann durchfließt ihn zunächst ein wenig Elektricität, die die Wärme vermehrt; die Stromzufuhr wird größer und größer und erzeugt endlich ein der Tagesbeleuchtung sehr ähnliches Licht!
Da die Nichtleiter unverbrennliche Körper sind, so bedürfen sie nicht des Schutzes der luftentleerten Glasbirne und machen den Bau der Lampe verhältnismäßig wohlfeil.
Neben der soeben geschilderten einfachsten Form hat Nernst auch Lampen mit automatischem Vorwärmer konstruiert. In ihnen wird unmittelbar neben dem Nichtleiter ein Platindraht, der um ein Thonröhrchen geschlungen ist. in den Stromkreis eingeschlossen. Tritt der Strom in die Lampe, dann verlegt ihm der Nichtleiter den Weg und er geht zunächst durch das Platindrähtchen. Es glüht, und seine Wärme genügt, um den Nichtleiter vorzuwärmen und leitend zu machen.
Professor Nernst hat sich bei der praktischen Ausgestaltung seiner Lampe der Unterstützung bewährter Techniker, der Ingenieure der Allgemeinen Elektricitätsgesellschaft in Berlin, bedienen können. Die Nernstlampe dürfte deshalb allem Anscheine nach fertig und durchaus gebrauchsreif in nicht zu ferner Zeit auf dem Markte erscheinen. Sie ist durch ihren einfacheren Aufbau und die wirtschaftlichere Ausnutzung der elektrischen Kraft wohlfeiler als die ältere Glühlampe. Sie wird voraussichtlich das elektrische Licht populär machen.
Bilder aus dem oberösterreichischen Mühlviertel.
Gleich zwei anderen Teilen des Landes Oberösterreich, dem Inn- und dem Traunkreis, führt auch das Mühlviertel seine Bezeichnung auf einen Flußnamen zurück, auf die große Mühl, die als „Muhel“ schon 1180 im Landbuche als Grenzfluß gegen Bayern genannt wird. Man fühlt sich aber beinahe versucht, den Namen des Ländchens nicht von dem Flusse „Mühl“, sondern von den schier zahllosen Säge- und Mahlmühlen abzuleiten, die sich in dichter Folge an den Wasserläufen der Gegend angesiedelt haben. Ueberall dringt uns ihr Rädergebraus entgegen und blinken die fallenden Wasser durch die Erlen und Buchen hervor – stets neue Illustrationen zu Schuberts „Müllerliedern“ bietend.
Hingelagert zwischen Donau und Böhmerwald, ist das Mühlviertel in seinem landschaftlichen Charakter wesentlich verwandt jenem der beiden Nachbargebiete, des Bayrischen Waldes und des niederösterreichischen Waldviertels. Es bildet Hügel und weite Hochflächen auf granitner Unterlage, belebt durch zahlreiche Flüsse und Bäche, die, goldbraun und forellenreich, bald als stille Waldspiegel das Auge erfreuen, bald in kraftvollen Stürzen dem großen Strome zustreben. Von den Höhen des Landes, die sich im Blöckenstein bis zu 1378 Metern erheben, von den Wehrtürmen der hochgelegenen Burgen sieht man – überrascht und entzückt – hinüber auf die sanftblau dämmernde, vielgezackte Kette der Hochalpen. Oetscher und Traunstein, der Hohe Priel, der Watzmann, kurz, alle die trotzigen Bergkönige vom Wiener Schneeberge bis zum Berchtesgadener Hochthron, ragen in der Ferne empor. Der Wald bildet noch heute einen mächtigen und prächtigen Teil dieser Landschaft; einst war er in ihr vorherrschend, und die endlosen Forste des „großen Nordwaldes“ überschatteten auch unser gutes Mühlviertel. Noch heute, also nach tausend Jahren, nennt das Volk dieses ganze, weite, bayrisch-österreichische Gebiet einfach „Im Wald“; man „is im Wald z’ Haus“, man kommt „aus’m Wald“. Jahrhunderte hindurch bildete der „Nordwald“ zugleich einen natürlichen Wall, einen fast undurchdringlichen Verhau gegen den bösen slavischen Nachbarn; die Schlachten gegen den zweiten Feind, die Reitervölker der Avaren und Ungarn, wurden unten an der Donau und Enns, zuletzt (955) am Lech geschlagen, und es galt ein hartes Stück Arbeit, bis die karolingische Ostmark dauernd dem Reiche angegliedert war. Die Bajuvaren, bayrische Edle, die Hochstifte und Klöster von Passau und Bamberg mit ihren Leuten erwiesen sich dabei immer wieder als standhafte Verteidiger der Kultur des Landes.
In friedlichen Jahrzehnten rasch aufblühend, stattete die junge Mark bald in der schönsten Weise dem Mutterlande ihren Dank ab. Denn als im 12. Jahrhundert jener reizvolle Frühling des ritterlichen Minnegesanges aufging, da trieb er gerade hier unvergänglich schöne Blüten, in Liedern voll Innigkeit und naivem Wohllaut und von so künstlerischer Vollendung, daß sie auch von den späteren der höfischen Glanzzeit nicht mehr übertroffen wurden. Da saß unweit von Linz der ritterliche Sänger von Kürenberg und in unserem Mühlviertel selbst Herr Dietmar von Aist, dessen Burg wohl in jenem schwermütig schönen Thale der Aist stand, deren Wasser so dunkel sind, daß sie die „schwarze Waldaist“ genannt wird. Seine Lieder begrüßen die Frühlingszeit und klagen, wenn Sommerwonne und Lindenlaub wieder schwinden: „geschwigen sint die nahtegal, sie hat gelassen ir süßes singen“. Die liebende Frau aber blickt sehnend dem fliegenden Falken nach; er hat es gut:
„So wo1 dir, valke, daz du bist,
Du vliugest, swar dir lieb ist.“
Von diesen Dichtern der Frühzeit hinweg haben wir allerdings einen gehörigen Schritt zu machen, bis wir dem Mühlviertel in der poetischen Litteratur wieder begegnen. Erst um die Mitte unsres Jahrhunderts hat Julius v. d. Traun (J. A. Schindler) sein schönes Skizzenbuch „Oberösterreich“ geschrieben, das Werk eines echten lebensfreudigen Poeten, und fast gleichzeitig schuf Adalbert Stifter seinen „Hochwald“, eine Dichtung, die noch lange warmfühlende Herzen erfreuen und rühren wird und deren Schauplatz unsere Gegend geliefert hat. Sie spielt in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, und ihr Held ist ein schöner Schwedenjüngling. In jene Epoche fiel das größte geschichtliche Erlebnis des Landes: die Schweden mit ihren heranziehenden Regimentern bildeten die letzte Hoffnung der evangelischen oberösterreichischen Bauern, [501] die in jenen Jahrzehnten bis 1632 in wiederholten glorreichen Aufständen so verzweifelt für ihre religiöse Ueberzeugung kämpften. Immer wieder heulten die Sturmglocken durch die Pfarreien unseres Mühlviertels, flog das nächtliche Aufgebot (die „Ansag’“) von Hof zu Hof und eilten Tausende von Männern hinab nach den Lagern und Schlachtfeldern der Ebene, wo sie oftmals siegreich kämpften, endlich aber unterlagen.
Wenn wir heute die Donau, welche die Südgrenze des Mühlviertels bildet, hinabfahren, dann sehen wir vom Deck unseres schönen Dampfers aus auf so manche der Burgen und Orte, welche diese Kämpfe und noch viele frühere erlebt haben. Wohl am weitesten zurück reichen die Mauerreste jener Burgen, die sich einst auf den Felshöhen über den so lange gefürchteten Stromschnellen „Wirbel“ und „Strudel“ unterhalb Grein erhoben, den Strom bewachend – zuzeiten wohl auch ausbeutend. So der auf S. 500 abgebildete Werfenstein (Werben-, Werbel-, Wirbelstein), der urkundlich zuerst 1293 erscheint, als er schon nicht mehr Raubschloß, sondern bereits landesfürstliche Burg war. Wirbel und Strudel bedeuteten die langen Jahrhunderte hindurch Schrecken und Verderben für die armen Donauschiffer. Schon der Römer hatte durch hineingeworfene Münzen den erzürnten Flußgott zu versöhnen gesucht, und bis in unser gegenwärtiges Jahrhundert hatte das Stift Waldhausen das Recht, Almosen von den aus den Stromschnellen herauskommenden Schiffen einzusammeln, und dafür die Pflicht, die in denselben Verunglückten („di toten, di in der Tünaw verderbent“) zu begraben. Heute freilich bergen beide Stellen keine Gefahr mehr; die Raubburgen liegen in Trümmern, die Giftzähne der Klippen sind ausgebrochen, und wer etwa jetzt mit der Hoffnung herangereist käme, hier das Gruseln erlernen zu können, der würde sich schwer enttäuscht finden. Landschaftlich aber ist die Strecke zwischen Grein und Sarmingstein eine der schönsten zugleich des Donauthales und des unteren Mühlviertels. Der prächtige Strom, die dunklen Waldberge, alte Burgen und malerische Ortschaften, neben deren stattlichen und wehrhaften Patricierhäusern aus der guten alten Zeit, mit ihren Schießscharten und runden Ecktürmchen (s. Abbildung 4 S. 497), immer häufiger schmucke, moderne Villen emporwachsen, vereinigen sich zu Bildern von stets neuem malerischen Reiz. So fehlt es denn auch im Mühlviertel nicht an zahlreichen Sommerfrischen, aber sie haben noch einen wesentlich anderen Charakter wie jene drüben im vielbesuchten und weltberühmten Traunviertel, im Salzkammergut, wo die elegante Welt der „oberen Zehntausend“ den Ton des Lebens angiebt. Hier dagegen kann man sich noch überall ungestört der Freude am Volkstümlichen und dem Naturgenusse hingeben. Mit den Eingeborenen ist es nicht schwer, aufrichtig gut auszukommen. Es sind echt bajuvarische Leute, die hier wohnen, die sich noch viel von alten Eigentümlichkeiten bewahrt haben. Auch an ihrer alten Tracht halten sie fest. Die Abbildung 4 auf S. 497 zeigt uns Frauen mit den großen nach hinten zurückgeschlagenen Kopftüchern und den schlichten Jacken. Zu Johanni lodern unten am Stromufer wie auf den Berggipfeln immer noch die einst so beziehungsreichen „Sonnwendfeuer“ auf und werden „Hollerkrapfen“ aus den weißen Blütendolden des Holunders gebacken. Auch hier gedeiht die schneidige Poesie der Vierzeiligen, der „Schnadahüpfl’n“, und beim nationalen Tanze, dem „Ländler“, ist ja dessen Namensverwandtschaft mit dem „Land’l“, wie der Oberösterreicher gern seine Heimat nennt, ohnedies nicht zu verkennen. Auf den Höhen stehen zahlreich in altdeutscher Weise die großen bäuerlichen Einzelhöfe.
[502] Aus dem schwülen Grunde des Donauthales empor ins freie Hochland und seine Thäler zu wandern, bleibt aber immer das Schönste, was der städtische Sommergast hier unternehmen kann. Der Reiz jener waldigen Felsschluchten mit ihren tosenden Wassern ist unerschöpflich. Bald zieht der Weg durch eine so vollkommene und weltferne Waldeinsamkeit wie jene, die hoch über der wilden Ranna hinauf zum Falkenstein führt, oder er bietet in einer Kette von Wasserfällen und Stegen, von Hämmern und Mühlen Bilder des frischesten Lebens. Als ein wahres Prachtstück muß hier vor allem der untere Teil des Sarmingbaches genannt werden, dessen Wasser in überraschender Wucht und Fülle über gigantische, dunkelfarbige Felstrümmer herabstürzen. An seinen Ufern steht eine Reihe von alten Hammer- und Mühlenwerken, die sich mit ihren offenen Rädern, den triefenden, grünüberwucherten Gerinnen, den rauchenden Schloten und geflickten Dächern ebenso kühn wie malerisch in diese Wasser- und Felsenwelt hineingebaut haben (s. Abbildung 1 und 2 auf S. 497).
Manche liegen in tiefster Abgeschiedenheit wie das Idyll der „Braunen Mühle“ unweit von Waldhausen, das unser Zeichner stimmungsvoll auf Seite 497 (Abbildung 3) wiedergegeben hat, und auch an etlichen elegischen, verfallenen oder versandeten Hammerwerken, wie wir eines auf obenstehender Abbildung dargestellt sehen, fehlt es nicht. Betritt man das Innere einer der vielen lebhaften kleinen Sägemühlen (s. die obere Abbildung S. 501), so findet man es zwar von einem recht bescheidenen Leben erfüllt, doch auch diesem fehlt es nicht an poetischer Eigenart.
Von den Höhen grüßen zu den rauschenden Wassern Burgen herab; meist zerfallen wie der Wartturm bei Sarmingstein (s. Abbildung 4 S. 497), oder auch wohlerhalten wie der kühne Renaissancebau des Schlosses Clam (s. Abbildung S. 501), das seit drei Jahrhunderten im Besitze der gräflichen Familie Clam-Martinitz ist und dessen gewaltiger Bergfried weithin über das Land sieht. Nun glänzt auch die Donau wieder herauf, und über den dunklen Forsten des Hochlandes taucht die Reihe der fernen Hochalpen empor mit ihrem „Sehnsuchtsblau“ – um einen schönen Ausdruck Adalbert Stifters zu gebrauchen. Und auch für mancherlei leibliche Erquickung ist wohl gesorgt. Unterwegs locken die goldbraunen Tümpel und weißen Stürze des Baches unwiderstehlich in ihre Flut. Im Schutze moosiger Felswände, überhangen von Farnkräutern, blauen Glockenblumen und goldgrünem Gezweig, giebt es hier Badeplätze, wie sie sich Nixen, Dichter und Maler nicht anheimelnder wünschen können. Dichte Büsche von Heidelbeeren bieten ihre reiche Ernte dar, und im Hochlande oben empfängt uns eine Luft von köstlicher Frische und Würzigkeit; dem Durstigen winkt manches gute Wirtshaus mit Hammerwerk. Rosengarten, Weinlaube und kühlen Bieren. Hier umherzustreifen, womöglich in bunter Schar: mit fröhlichen Gesellen und einigen von den frischen und anmutigen Töchtern des Landes – das ist gar schön, am schönsten natürlich in den Tagen der eigentlichen Jugend. Aber auch später, wenn man schon einige Wanderjahre hinter sich hat, wird man inmitten der anregenden Fülle dieser Natur beinahe wieder der hoffnungsvolle junge Mensch, der wünschereich und zukunftssicher in die zu erobernde schöne Welt hinauszieht. Und daß das Mühlviertel Oberösterreichs kein übles Stück dieser schönen Gotteswelt ist – darauf möchten wir mit unserem Berichte gern überzeugend hingewiesen haben.
Der Lebensquell.
(Fortsetzung.)
Die Sonne brannte heiß nieder auf den steilen, schattenlosen Felspfad, den die Maultiere langsam erstiegen. Drei Tage lang hatte der Sturm angehalten und die sonnige griechische Insel war gar nicht wiederzuerkennen gewesen, mit der schäumenden See ringsum und den flatternden Nebelschleiern an den Bergen. Jetzt aber war es wieder ruhig geworden auf dem Meere wie in den Lüften, und die Landschaft ringsum zeigte sich in der alten, leuchtenden Pracht.
Die kleine Gesellschaft, die auf dem Wege zu einem vielgerühmten, aber etwas entfernten Aussichtspunkte war, hatte sich in zwei Gruppen geschieden; voran ritt Frau von Wilkow mit Herrn Wellborn, und in einiger Entfernung folgten Robert Adlau und Geheimrat Rottenstein. Der letztere parlamentierte fortwährend mit dem Führer, der zum Glück etwas Deutsch verstand und das Tier am Zügel leitete. Er empfahl ihm immer wieder von neuem, es ja nicht loszulassen und vor allen Dingen zu verhüten, daß es durchgehe.
„Auf solchem Wege geht kein Maultier durch,“ sagte Adlau, der unmittelbar vor ihm ritt. „Es hat genug mit dem Klettern zu thun, aber da oben liegt ja schon das kleine Bergnest, in einer halben Stunde werden wir dort sein!“
„Das thut auch not,“ meinte der alte Herr, indem er sein Taschentuch hervorzog und sich den Schweiß abtrocknete. „Zwei Stunden sich langweilen in der Sonnenglut und zum Schluß noch dieser halsbrecherische Felsweg als Spezialvergnügen! Ich habe mir die Sache nicht so schlimm gedacht, sonst –“
„Hätten Sie uns nicht dazu angestiftet,“ ergänzte Adlau. „Diesmal tragen Sie allein die Verantwortung für jeden vergossenen Schweißtropfen. Mir lag gar nichts an der Partie, ich gab nur Ihrem ausdrücklichen Wunsche nach.“
Rottenstein widersprach nicht, er seufzte nur verstohlen. Es war ja richtig, er, der geschworene Feind aller unbequemen und anstrengenden Ausflüge, hatte den heutigen selbst angestiftet und trotz aller Hindernisse auch durchgesetzt. Der arme Geheimrat, der „auch einmal eingreifen wollte“, war längst zur Erkenntnis gelangt, daß dazu Talent gehörte, wie es seine selige Frau in so hervorragendem Maße besaß, das ihm aber völlig abging.
Zuerst hatte er Not und Mühe mit Robert gehabt, der durchaus nicht mit wollte, wie er denn überhaupt jede Gelegenheit vermied, die ihn zu einem längeren Zusammensein mit Elfriede von Wilkow zwang. Endlich gelang es, ihn zu [503] überreden, aber nun gab es wieder eine Scene mit Elfriede, die, als sie von seiner Teilnahme hörte, die ihrige entschieden verweigerte. Sie wich schließlich nur der Vorstellung, daß das als eine Art Flucht gedeutet werden könnte.
Zuletzt kam noch die schwerste Aufgabe, Herrn Wellborn abzuschütteln.
Das hatte auch Mühe gekostet, war aber leider nicht gelungen. Ferdinand Wellborn war überall, erfuhr alles; er erfuhr auch von diesem Ausfluge, den man ihm verheimlichen wollte, und stellte sich pünktlich beim Aufbruch ein, aber mit einer Kassandramiene. Er kam als Warner – sein Wetterglas hatte wieder einmal trübe Ahnungen. Jedenfalls war es gefährlich, sich bei solchen Anzeichen in das Innere zu wagen. Der Geheimrat fand das auch und redete ihm eifrig zu, zurückzubleiben, aber umsonst. Als der junge Mann sah, daß seine Warnungen nichts fruchteten, beschloß er opfermütig, das Schicksal seiner Reisegefährten zu teilen. Er setzte sich auf das erste beste Maultier, vorsichtshalber nahm er jedoch sein Wetterglas mit, das unter anderen ungewöhnlichen Eigenschaften auch die besaß, daß es jede Bewegung und jeden Ortswechsel vertrug.
Natürlich war Herr Wellborn heut’ wie immer an seinem gewohnten Platz, an der Seite der jungen Frau. Die beiden waren stets voran, und Adlau machte gar keine Miene, sie einzuholen, sondern ritt im langsamsten Schritt neben dem alten Herrn.
„Sie sind mir doch nicht böse, Robert,“ begann jetzt Rottenstein, „daß ich Sie für heut’ noch in Beschlag nahm, aber morgen, am letzten Tage Ihres Hierseins, gehören Sie ja doch ganz Ihrer Familie, und wir sehen uns schwerlich vor dem Frühjahr wieder.“
„Vielleicht auch dann nicht einmal. Wenn Sie erst in Aegypten sind, ist es eigentlich nur eine Spazierfahrt nach Indien hinüber, und von da nach China ist’s auch nicht weit. Es wurde ja vorhin bereits eine Reise um die Erde in Vorschlag gebracht.“
„Ja, von Wellborn, der heut’ wieder einmal das Blaue vom Himmel herunter schwatzt. Aber mit der Idee findet er doch keinen Anklang bei meiner Tochter, denn in dem Falle streike ich, trotz aller Vaterliebe! Das weiß Elfriede.“
Adlaus Blick richtete sich mit einem eigentümlichen Ausdruck auf die Voranreitenden, dann zuckte er spöttisch die Achseln.
„Ich glaube kaum, daß auf Ihre Teilnahme dabei gerechnet wird. Den Schwiegervater nimmt man gewöhnlich nicht mit auf die Hochzeitsreise.“
„Schwiegervater? Hochzeitsreise?“ Der alte Herr ließ vor Schreck den Zügel fallen. – „Sie meinen?“
„Ich meine, daß dieser junge Herr da vornan ganz plötzlich einmal vor Ihnen stehen wird, um den väterlichen Segen zu erbitten.“
Der Geheimrat sah ganz entsetzt aus; er hatte nie auch nur entfernt daran gedacht, daß die allerdings sehr augenfälligen Huldigungen des jungen Fabrikherrn einen ernsteren Hintergrund haben könnten. Das fehlte noch, daß er die Gelegenheit benutzte, die man einem anderen geben wollte!
„Sie scherzen,“ sagte er halb unwillig, halb ängstlich. „Da traue ich meiner Tochter denn doch einen besseren Geschmack zu. Sie wird doch nicht einen solchen Schwachkopf –“
„Bitte, Sie unterschätzen den jungen Mann,“ fiel Robert ein. „Sie ahnen gar nicht, was sich in dieser Tiefe birgt. Die Fabrik, die ihm sein Geld eingebracht hat, verachtet er als höchst trivial und will sich ganz und gar höheren Richtungen zuwenden. Er will berühmt werden und mit seinen Werken die ganze Welt in Erstaunen setzen, wie er mir neulich anvertraute. Vorläufig leistet er sich eine Reisebeschreibung. Er wollte mir absolut das erste Kapitel vorlesen, das er immer mit sich herumschleppt, ich habe aber nachdrücklichst dafür gedankt.“
Der Spott dieser Worte hatte doch einen etwas herben Beigeschmack, aber Rottenstein achtete nicht darauf. Das drohende Gespenst dieses so ganz unerbetenen Schwiegersohnes, das da plötzlich vor ihm auftauchte, raubte ihm alle Fassung. Er traute freilich seiner Tochter einen derartigen Geschmack nicht zu, aber er kannte auch den Starrkopf seiner Friedel, die sich schon einmal aus Trotz zu einem Jawort hatte hinreißen lassen.
Inzwischen ritt Wellborn ahnungslos an der Seite seiner Dame und erschöpfte sich in Aufmerksamkeiten, die heut’ besonders gnädig aufgenommen wurden. Endlich war das Ziel erreicht, ein kleiner, hochgelegener Bergort, malerisch und armselig wie die meisten in der Umgegend. Aber die Unterkunft in dem häufig von Fremden besuchten Wirtshause war leidlich, und selbstverständlich wurde hier eine mehrstündige Rast gemacht.
Nach einem in Anbetracht der Verhältnisse ganz annehmbaren Frühstück wandte man sich nach dem eigentlichen Aussichtspunkte, der, noch eine Strecke entfernt, am Ausgange des Dorfes lag.
Dort, auf einem felsigen Abhange, wo ein einsames, halb zerfallenes Gehöft stand, öffnete sich ein weiter und umfassender Ausblick über den schönsten Teil der Insel. Der Punkt war in der That herrlich. Adlau, der mit dem Fernglase in der Hand die Landschaft musterte, nannte dem Geheimrat die einzelnen Ortschaften und Berggipfel, da Herr Wellborn mit seinem unvermeidlichen Reisebuche anderweitig in Anspruch genommen war. Er half der gnädigen Frau, die ihr Skizzenbuch mitgenommen hatte, einen geeigneten Platz zum Zeichnen aussuchen. Als man endlich die Wahl getroffen hatte, breitete er mit der äußersten Sorgfalt seinen Plaid über die Steinmauer, um einen bequemeren Sitz zu schaffen. Rottenstein sah in stiller Verzweiflung zu, er hatte schon verschiedene, aber ganz erfolglose Versuche gemacht, den Diensteifrigen von der Seite seiner Tochter wegzubringen, – da auf einmal kam ihm ein rettender Gedanke.
„Bitte, Herr Wellborn, um ein paar Worte, ich möchte Sie etwas fragen!“ Damit faßte er den jungen Mann ohne weiteres beim Arm und zog ihn einige Schritte seitwärts, während er mit gedämpfter Stimme fortfuhr: „Was muß ich denn da von Adlau hören! Sie stellen sich uns ganz bescheiden als Fabrikbesitzer vor, und dabei sind Sie Schriftsteller, werden ein großes Reisewerk veröffentlichen, ein berühmter Mann werden – und das erfährt man erst jetzt nach wochenlanger Bekanntschaft!“
Herr Wellborn sah unendlich geschmeichelt aus bei diesem Vorwurf, aber er erwiderte stolz bescheiden:
„Das ist vielleicht noch verfrüht – die Berühmtheit meine ich – ich beabsichtige allerdings – das Werk ist nämlich noch nicht geschrieben.“
„Ja, das sagte mir Adlau, aber er sprach doch von einem Manuskripte, das Sie ihm vorlesen wollten.“
Wellborn nahm eine tiefbeleidigte Miene an. „Ich wünschte allerdings seine Kritik über das erste Kapitel – ich habe natürlich bis jetzt nur unsere Seereise und Korfu behandelt – aber er nahm das sehr merkwürdig auf, durchaus ablehnend, man möchte beinahe sagen – grob!“
„Das sieht ihm ähnlich, er kann ja stellenweise recht grob sein,“ gab der Geheimrat zu. „Aber das ist bei ihm nur äußerlich, er hat trotzdem sehr eingehend mit mir darüber gesprochen, und ich interessiere mich ungemein für solche Dinge. Da könnten Sie ja –“ er zögerte doch einen Augenblick, in der dunklen Vorahnung dessen, was er damit auf sich herabzog, vollendete dann aber opfermutig: „Da könnten Sie es ja mir vorlesen.“
Das Gesicht des angehenden Schriftstellers verklärte sich förmlich bei diesem Vorschlag.
„Herr Geheimrat – Sie wollen es kennenlernen?“
„Selbstverständlich – aber hier wird das nicht angehen. Meine Tochter hat jetzt nur Sinn für ihre Skizze und Adlau ärgert Sie am Ende wieder mit irgend einer rücksichtslosen Bemerkung, er scheint mir heute sehr kritisch angelegt. Kommen Sie, wir gehen nach dem Wirtshause zurück, da sind wir ganz ungestört.“
Wellborn zögerte, er hätte es offenbar vorgezogen, auch Frau von Wilkow als Zuhörerin zu haben, aber die letzte Bemerkung entschied. Er hatte keine Lust, nochmals die „stellenweise Grobheit“ des Hinterwäldlers auszuhalten, und willigte deshalb ein.
[504] „Wir gehen nach dem Wirtshause!“ rief der alte Herr jetzt laut den beiden anderen zu. „Laß dich nicht stören, Elfriede, vollende ruhig deine Skizze, und Sie, Robert, werden wohl auch noch etwas hier herumsteigen wollen. Ihr braucht euch gar nicht zu beeilen, wir haben ja Zeit, mindestens noch eine Stunde!“
Damit faßte er das Opfer seiner Intrigue freundschaftlich unter den Arm und zog es mit sich fort. Jetzt brauchte er sich nicht mehr anzustrengen mit dem Reden, das besorgte Wellborn, der sich in seinen litterarischen Plänen erging und dabei sein Manuskript, ein sehr dickleibiges Heft, aus der Tasche zog.
Unter anderen Umständen hätte der Umfang dieses ersten Kapitels dem Geheimrat einen gelinden Schauer verursacht, heut’ aber blickte er mit außerordentlichem Wohlgefallen darauf und ließ sich sogar die Schrift zeigen. Das dauerte ja jedenfalls noch viel länger als eine Stunde, da konnte sich jene andere Angelegenheit hinreichend entwickeln! Wellborn dagegen war sehr angenehm berührt durch diese so lebhaft kundgegebene Teilnahme, und so langten denn beide im allerbesten Einvernehmen beim Wirtshause an.
„So, nun wollen wir es uns gemütlich machen!“ sagte der alte Herr. „Bestellen Sie uns noch etwas von dem ausgezeichneten Tropfen, den sie da drinnen haben! Dann setzen wir uns drüben unter die Oliven, und es kann losgehen.“
Der Platz war gut und der Wein war noch besser. Zwar gaben die Oliven nur spärlichen Schatten, aber man wußte sich zu helfen. Der Reiseschirm wurde an den Zweigen befestigt, gerade über dem Haupte des Geheimrats, der seelenvergnügt dasaß, sich und seinem Gefährten fleißig einschenkte und im stillen meinte, nun könne er allenfalls das Unvermeidliche aushalten.
Wellborn hatte sein Wetterglas vor sich auf den Tisch gestellt, dann sein Manuskript aufgeschlagen und las jetzt. Er begann mit der Abfahrt von Triest, lichtete dort pünktlich um zwei Uhr dreiundzwanzig Minuten die Anker und steuerte hinaus in die blaue Adria, dann verzeichnete er gewissenhaft nach dem Reisebuch jede Insel und jede Küste, die nur irgendwie in Sicht kamen, und landete endlich glücklich in Korfu, wo nun die Geschichte erst eigentlich begann.
Der Geheimrat hörte kaum zu, er trank behaglich seinen Wein und malte sich dabei in Gedanken die Scene aus, die jetzt voraussichtlich droben am Felsenabhang spielte. Im Anfange würde sie etwas stürmisch verlaufen, davon war er überzeugt. Bei einem Eisenkopf wie Robert und einem Starrkopf wie seiner Friedel waren keine friedlichen Auseinandersetzungen zu erwarten, aber schließlich würde die Sache doch in Ordnung kommen, und dann fiel auch diese verwünschte ägyptische Reise ganz von selbst weg. Dann brauchte er nicht mehr aufs Kamel und auf die Pyramiden zu steigen, sondern steuerte fröhlich heimwärts mit seinen Kindern, und in Lindenhof … hier spielte der griechische Wein dem alten Herrn doch einen Streich, die Umgebung wurde nebelhaft und undeutlich und die Gedanken auch. Aus den Oliven wurden die Linden des heimischen Gartens, zwischen denen befremdlicherweise die Kamele umherspazierten, und drüben in Brankenberg ragte eine riesige Pyramide auf. Dazu schwatzte und klapperte irgend etwas eintönig und unermüdlich, wie das Rad der Sägemühle am Fuße des Weinberges, aber die alte rheinische Mühle klapperte nur griechische Ortsnamen, und dann sah und hörte der Geheimrat nichts mehr, er war sanft und fest eingeschlafen.
Der Schirm, der zwischen den Olivenzweigen schaukelte, senkte sich tief herab, bis auf seine Nasenspitze. Ferdinand Wellborn, der auf diese Weise das Gesicht seines Zuhörers nicht sehen konnte, nahm dessen Schweigen für höchste Aufmerksamkeit und las ungestört weiter.
Inzwischen vergnügte sich das „nervöse“ Wetterglas auf dem Tische in aller Stille, indem es die ganze Wetterskala durchlief. Es hüpfte hinauf bis zum höchsten Stand, und dann sank es von neuem, tief, immer tiefer, bis es endlich beim Erdbeben angelangt war. Da schien es ihm zu gefallen, denn da blieb es stehen.
Robert Adlau und die junge Frau waren in der That zurückgeblieben, aber dies unerwartete Alleinsein schien beiden gleich unerwünscht. Elfriede hatte, als die beiden anderen Herren aufbrachen, eine unwillkürliche Bewegung gemacht, wie um sie zurückzuhalten, besann sich aber schon im nächsten Augenblick und vertiefte sich mit einem flüchtigen „Auf Wiedersehen, Papa!“ ganz in ihre Skizze.
Adlau zog die Stirn kraus, blieb aber ruhig am Abhange stehen, wo er die Aussicht betrachtete. Keiner wollte dem anderen zeigen, wie peinlich ihm dieser Zufall war, denn dafür nahmen sie es doch beide.
Das Stillschweigen hatte schon ziemlich lange gewährt, da schien Adlau endlich einzusehen, daß er nicht immer so stumm durch das Fernglas blicken könne. Er schob es zusammen, trat zu der jungen Frau und machte eine Bemerkung über ihre Zeichnung und den malerischen Vorwurf, ein paar kurze Worte, die ebenso einsilbig beantwortet wurden.
Malerisch war der Vorwurf allerdings. Das kleine Gehöft, das hier so einsam und abseits von den anderen lag, war augenscheinlich längst von seinen Bewohnern verlassen. Das Dach war zerfallen, den Fenstern fehlten die Läden und im Innern regte sich nichts. Eine hohe Steintreppe, mit tief eingesunkenen Stufen, führte zu der geschlossenen Thür, über der sich, roh in Stein gemeißelt, die Umrisse eines Heiligenbildes zeigten. Die niedrige zerbröckelnde Mauer, die den Vorplatz umgab, trug noch die steinernen Pfeiler der landesüblichen Veranda, aber das Weinlaub, das sie umspann, wucherte verwildert und ungepflegt, in wirren Ranken, die hier die Mauern umklammerten und dort, tief niederhängend, ein Spiel des Windes waren.
Durch das Blätterdach fielen die Sonnenstrahlen und spielten in zuckenden, goldigen Lichtern auf dem Boden. Sie huschten weiter bis zu der tiefen Mauerblende, wo es verstohlen aufblinkte wie von rinnendem Naß. Früher sprudelte wohl hier ein Felsenquell mit seinem hellen Strahl, das sah man noch an der kunstlosen Röhre und dem geborstenen steinernen Becken, das ihn auffing. Jetzt war er längst schon versiegt, nur eine kleine, kaum sichtbare Wasserader schlich über das feuchte Gestein und rann langsam, Tropfen um Tropfen, nieder, um sich dann in einer Spalte des felsigen Grundes zu verlieren. Ringsum Verfall und Verödung und hier der versiegende Quell!
Aber diese öde, verlassene Stätte lag in einer Umgebung, deren Reiz selbst das verwöhnteste Auge fesseln mußte. Die weinumrankten Pfeiler umschlossen wie mit einem Rahmen ein weites Landschaftsbild voll lachender, sonniger Schönheit. Es war in den letzten Tagen des Oktober, aber noch lag Sommerpracht und Lichtglanz auf allen Fluren, nur das rötlich schimmernde Weinlaub und der bräunlich goldene Hauch auf einzelnen Baumgruppen mahnte daran, daß es auch hier einen Herbst gebe.
Aus dem matten Graugrün der Oliven, die in endlosen Wäldern Thäler und Höhen bedeckten, tauchten schlanke Pinien und dunkle Cypressen auf. Hier oben an den Berghängen wucherte die Erika in mächtigen Gesträuchen und Aloë und Kaktus senkten ihre Wurzeln in das Felsgestein. Dort drüben lag Korfu mit seinem Hafen, und vom Festlande herüber grüßten die Berge von Epirus schon im leichten Schneegewande. Sie hoben sich scharf und klar empor in die sonnige Luft. Weiter hinaus verschwammen all die Gipfel und Höhenzüge des Gebirges im schimmernden Duft, und dort, ganz in der Ferne, blaute das Meer – die nordischen Gäste, die an die ernsten Formen und Farben ihrer Heimat gewöhnt waren, konnten wohl geblendet sein von dieser Schönheitsfülle und diesem Sonnenglanz.
Frau von Wilkow schien nur Sinn für ihre Skizze zu haben. Sie zeichnete, nur dann und wann flüchtig aufblickend, eifrig weiter. Adlau lehnte ihr gegenüber an einem der Pfeiler, aber sie mochte es wohl fühlen, daß sein Blick auf ihrem Antlitz ruhte, denn jetzt war sie es, die das wiederum eingetretene Schweigen brach.
„Sie reisen also übermorgen, Herr Adlau?“
„Jawohl, gnädige Frau, wie es bestimmt war.“
„Werden Sie es denn aushalten in den engen Verhältnissen zu Hause, nach dem bewegten Leben, das Sie geführt haben? Ich fürchte, Sie werden dort –“
[505]
[506] „Versumpfen! Die Gefahr liegt allerdings sehr nahe.“
„Das Wort galt meinem Vater,“ sagte Elfriede kühl.
„Vielleicht auch ein wenig mir. Unsere Ansichten sind in diesem Punkte nun einmal verschieden, freilich hat die Welt uns beiden auch ein ganz verschiedenes Gesicht gezeigt. Sie durchstreiften als vornehme Touristin die Länder und ließen sich tragen von den Wogen des Lebens, bei voller Meeresstille. Ich habe im Sturm mit ihnen gerungen, da ist von Genuß nicht viel die Rede, man kommt überhaupt nicht zu Atem dabei.“
„Aber man kommt doch zum Ziele, wie der Augenschein lehrt.“
„Ich beklage mich ja auch nicht,“ sagte Robert gelassen. „Eine harte Lehrzeit hat auch ihr Gutes, sie übt und stählt die Kraft. Aber nun sie überwunden ist, will ich mich auch nicht länger hin und her treiben lassen, nun steure ich ans Land. Ich muß endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben, deutschen Boden! Sie, gnädige Frau, sind darin glücklicher beanlagt, und Sie hatten ja stets das beneidenswerte Vorrecht, Herrin Ihres Schicksals zu sein.“
Der Spott reizte Elfriede, sie nahm jenen vornehm nachlässigen Ton an, der unter Umständen recht verletzend sein konnte, und hier sollte er verletzen.
„Ich habe es allerdings verlernt, auszuhalten in unserem kalten, grauen Norden, in der Enge der deutschen Verhältnisse. Ich bin verwöhnt durch die Schönheitsfülle des Südens, durch den großen, freien Verkehr des Reiselebens, der keine kleinlichen Vorurteile und Rücksichten kennt. Das ist für mich der Lebensquell geworden, aus dem ich getrunken habe jahrelang; nun kann ich ihn nicht mehr entbehren.“
„Sie können nicht? Das heißt, Sie wollen nicht.“
„Vielleicht auch das – ich will nicht!“
„Und hat er Ihnen denn wirklich Glück gegeben, dieser gerühmte Zaubertrank?“ fragte Adlau langsam, mit scharfer Betonung.
Die Frage kam so jäh und unvermittelt, daß die junge Frau leicht zusammenzuckte; aber schon in der nächsten Minute faßte sie sich und antwortete mit einem kurzen, entschiedenen Ja. Robert richtete das Auge fest und finster auf sie.
„Das sagen Sie einem anderen, aber nicht mir! Ich habe Sie ja einst gekannt, es ist freilich schon lange her, aber ich weiß es doch noch, wie das Glück aussieht in Ihrem Antlitz. Als ich Sie jetzt wiedersah, eine bleiche, müde Frau, ohne Lebensmut und Lebensfreude, da sah ich auch, daß Sie krank waren, bis in die Seele hinein, und Sie sind es noch! Sie mögen sich im Anfange berauscht haben an diesem ‚Lebensquell‘, aber das hat nicht standgehalten, jetzt betäuben Sie sich nur noch mit diesem Tranke. Sie haben mit der Heimat auch den Boden unter den Füßen verloren.“
Er sprach nur zu wahr, das wußte niemand besser als Elfriede, aber die verwöhnte Frau war es nicht gewohnt, die Wahrheit zu hören, und der schroffe Ton verletzte sie. Das war noch der Robert von einst, der mit seiner rücksichtslosen Energie überall durchgriff, ohne danach zu fragen, ob er die Empfindungen anderer verletzte. Er war der alte geblieben.
„Es steht doch wohl einzig bei mir, wie ich mein Leben gestalten will!“ erklärte sie mit aufflammendem Trotz. „Sie predigen mir und sind doch selbst eine Art Weltfahrer gewesen! Es zwang Sie ja niemand, die Heimat aufzugeben!“
Das übereilte Wort war kaum heraus, als Elfriede es auch schon bereute. Vor dem Blick voll herben Vorwurfs, der sie traf, senkte sich ihr Auge, und rasch ablenkend, fügte sie hinzu:
„Pastor Adlau war wenigstens nicht einverstanden damit. Er wollte seinen einzigen Sohn nicht verlieren.“
„Und er hat ihn doch verlieren müssen!“ sagte Robert bitter. „Ja, es traf ihn hart, daß ich mich meiner Stellung und all den heimischen Verhältnissen entriß, und er hat mich schweren Herzens fortziehen lassen! Aber ich hörte nicht auf ihn. Ich wollte mit aller Gewalt reich werden und das in kürzester Frist. Warum – das wissen Sie vielleicht noch, Frau Baronin?“
Die junge Frau schwieg, sie hatte wieder den Stift zur Hand genommen und zog hastig Linie um Linie in ihrem Skizzenbuche.
Adlau hatte seinen Platz verlassen und stand jetzt dicht vor ihr, aber es bebte ein verhaltener Groll in seiner Stimme, als er fortfuhr:
„Ihre Frau Mutter machte es mir ja in so überzeugender Weise klar, daß ein junger Landwirt ohne Vermögen, wie ich es damals war, keine Aussichten für die Zukunft habe, daß er sich vielleicht erst in zehn oder zwölf Jahren eine bescheidene Häuslichkeit gründen könne und daß ihre Tochter sich nicht auf so lange binden dürfe. Ein bescheidenes Heim war ja überhaupt nicht nach dem Geschmack der Frau Rätin. Da hieß es: entweder entsagen oder sich ‚Aussichten‘ schaffen, und ich zog das letztere vor. Drüben in der Neuen Welt war ja so mancher schon zu Glück und Reichtum gekommen, warum sollte es mir denn nicht glücken? Ich warf kurz entschlossen den Gutsinspektor über Bord und ging nach Amerika. Man ist bisweilen noch so unglaublich naiv mit fünfundzwanzig Jahren und meint, man könne ohne viel Mühe die halbe Welt erobern – ich meinte das damals auch!“
Er hielt inne, als wartete er auf eine Antwort, doch diese erfolgte nicht; wohl aber bebte der Stift in der Hand der jungen Frau, die sich tief auf ihre Zeichnung herabbeugte, und sie merkte es nicht einmal, daß sie mit allerlei wirren Linien die ganze Skizze verdarb. Robert schien doch etwas anderes erwartet zu haben als dies hartnäckige Schweigen, allein er machte keinen Versuch, es zu brechen, sondern ließ das Thema plötzlich fallen.
„Doch das sind alte, vergessene Geschichten, die uns beide nichts mehr angehen! Wir haben ja beide Carriere gemacht im Leben, jeder auf seine Weise. Ich will nicht undankbar sein gegen die Fremde, mir hat sie viel gegeben. Was ich bin und habe, danke ich ihr, aber zum ‚Lebensquell‘ ist sie mir nie geworden. Der war fern in der Heimat zurückgeblieben, und ich habe mich oft genug danach gesehnt, wie ein Wanderer in der Wüste. Jetzt will ich mich wieder satt trinken daran, will endlich wieder schaffen auf heimischem Boden! Ich frage nicht danach, ob er im kalten, grauen Norden liegt, denn auf meiner Scholle bin ich der Herr und das Dach über meinem Haupte ist mein. Mehr brauche ich nicht – was sonst noch notthut, nehme ich auf mich!“
Er hatte sich emporgerichtet und seine Augen blitzten in stolzer Genugthuung. Es lag etwas wie Neid in dem Blick, mit dem Elfriede auf den Mann schaute, der wie die verkörperte Kraft und Energie vor ihr stand. Er war gesund geblieben im heißen Kampfe des Lebens, gesund an Leib und Seele, und sie, der dies Leben alles gegeben hatte, was es an Gütern nur schenken konnte, sie? – Es stieg plötzlich bitter und verzweiflungsvoll in ihr empor, wie das Weh um etwas unwiederbringlich Verlorenes.
„Sie sehen, ich habe doch kein rechtes Talent zum Weltfahrer,“ hob Adlau wieder an. „Aber ein anderer scheint sich unter Ihrer Leitung dazu ausbilden zu wollen. Der getreue Ritter begleitet Sie ja auch nach Aegypten, wie ich höre.“
„Herr Wellborn hat allerdings gebeten, sich uns anschließen zu dürfen,“ sagte Elfriede, ohne den Spott beachten zu wollen. „Wir haben nichts dagegen. Er ist ein angenehmer Reisegefährte, eine harmlos heitere Natur.“
„Jawohl, sehr harmlos – wie alle Schwachköpfe!“
Die junge Frau schlug heftig ihr Skizzenbuch zu und erhob sich.
„Herr Adlau, Sie sind sehr rücksichtslos in Ihren Urteilen.“
„Aber nicht ungerecht, das werden Sie zugeben. Trotzdem steht Herr Wellborn in hoher Gunst bei Ihnen. Bitte, gnädige Frau, nicht diese Miene der Entrüstung! Ich thue Ihrem Geschmack wirklich nicht die Beleidigung an, da irgend ein Interesse vorauszusetzen. Der gute Narr ahnt es ja gar nicht, daß er diese Gunst im Grunde nur mir verdankt.“
„Ihnen?“ wiederholte Elfriede mit scharfer Betonung. „Ich wüßte doch nicht –“
„Aber ich weiß es!“ fiel Robert mit ausbrechender Gereiztheit ein. „Ich weiß, wem dies Spiel gilt, das ich oft genug habe mit ansehen müssen, wer damit gestachelt und gereizt werden soll. Sie kennen nur zu gut noch meine alte eifersüchtige [507] Schwäche. Nun denn ja, es hat mich gereizt, trotz alledem, ich will’s nicht leugnen! Aber jetzt, wo wir uns trennen, werden Sie den albernen Menschen doch wohl endlich fortschicken. Auf Ihrer Reise nach Aegypten ist er doch überflüssig, sollte ich meinen!“
Dies Geständnis der Eifersucht brach grollend, fast wider Willen aus seinem Innern hervor, aber es war doch immer ein Geständnis und es verfehlte nicht seinen Eindruck auf die junge Frau, deren Antlitz sich plötzlich tief und glühend färbte. Ihre Stimme bebte, als sie unsicher und halblaut sagte: „Was kümmert Sie denn das, wenn Sie in Brankenberg sind? Da liegen ja Länder und Meere zwischen uns.“
„Müssen Sie denn nach Aegypten, Elfriede?“ Es klang ein alter, lang’ nicht gehörter Ton auf in der Frage, in dem Namen, den er zum erstenmal wieder aussprach. „Ihr Vater bringt Ihnen ein Opfer mit dieser Reise, er sehnt sich fortwährend nach seinem Lindenhof. Es steht ja nur bei Ihnen, die Orientfahrt aufzugeben und – heimzukehren.“
Elfriede antwortete nicht, sie fühlte, welches Opfer hier verlangt wurde; nicht das Opfer einer Reise, die ihr höchst gleichgültig war: der Stolz, der Starrsinn in ihr sollten sich beugen. Sie kämpfte augenscheinlich mit sich selber. Ein gutes Wort, eine Bitte hätte in diesem Augenblick alles entschieden, aber Robert Adlau verstand es nun einmal nicht, zu bitten, am wenigsten da, wo er sich im Rechte fühlte. Ihr Zögern reizte ihn aufs äußerste.
„Werden Sie bleiben? Werden Sie den zudringlichen Burschen ein für allemal verabschieden?“ fragte er, beinahe drohend, und der herrische Ton rief den ganzen Trotz der jungen Frau wach. Sie richtete sich beleidigt empor.
„Ich weiche keinem Befehl!“
„Und ich verlange keinen Gnadenbeweis, sondern eine Entscheidung! Gehen Sie nach Aegypten? Ja oder Nein?“
„Ja!“ kam es kurz und hart von Elfriedens Lippen.
In den tief verfinsterten Zügen Adlaus zuckte es, ob vor Zorn oder Schmerz, das ließ sich nicht entscheiden, denn schon in der nächsten Minute verneigte er sich mit eisiger Kälte.
„So wünsche ich Ihnen glückliche Reise, Frau Baronin – leben Sie wohl!“
Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden, sonst hätte er es vielleicht gesehen, wie die junge Frau eine Bewegung machte, als wollte sie ihm nacheilen – zu spät, denn er verschwand bereits hinter der Mauer.
Sein Schritt war längst verhallt und Elfriede stand noch immer bleich und regungslos an dem weinumrankten Pfeiler und schaute hinaus in die Landschaft. Aber sie sah nichts von all der lachenden, sonnigen Schönheit da draußen. Endlich wandte sie sich langsam zum Gehen, ihr Blick glitt noch einmal mit dem alten müden Ausdruck durch das verlassene Gemäuer. Ringsum Verödung und Verfall – und dort der versiegende Quell!
Der Dampfer, der von Alexandrien kam und für einige Stunden in Korfu anlegte, war rechtzeitig eingelaufen und die Reisenden, die ihn zu der Fahrt nach Triest benutzen wollten, rüsteten sich, an Bord zu gehen. Die Träger schleppten von allen Seiten Gepäck herbei, während ein Teil der Boote bereits abstieß und nach dem Schiffe steuerte, das ziemlich weit draußen im Hafen lag.
Geheimrat Rottenstein kam aus seinem Hotel und schlenderte langsam und anscheinend ganz absichtslos durch das Gewühl am Ufer. In Wirklichkeit war er auf dem Wege nach dem Rahnsdorfschen Hause, hatte das aber weislich seiner Frau Tochter verschwiegen, sonst hätte es vermutlich wieder einen Sturm gegeben wie vorgestern. Der alte Herr befand sich in sehr niedergedrückter Stimmung, denn er konnte sich nicht verhehlen, daß sein „Eingreifen“, auf das er so stolz gewesen, kläglich gescheitert war. Zwar wußte er nicht, was eigentlich zwischen Elfriede und Adlau geschehen war, und hatte auch nicht gewagt, danach zu fragen, aber die Sache war zu Ende, ganz zu Ende, das stand fest.
Der arme Geheimrat war aus dem süßen Schlummer, dem er sich damals unter den Oliven so behaglich hingegeben hatte, jäh und unliebsam geweckt worden, zunächst durch den Sonnenschirm, der seinen Halt in den Zweigen verlor und ihm gerade auf die Nase fiel. Herr Wellborn, der ebenso jäh in seiner Vorlesung unterbrochen wurde, sprang erschrocken auf und warf dabei den Tisch mit Krug und Gläsern um, während er sein kostbares Wetterglas noch glücklich auffing und vor dem Fall bewahrte. Da erschien auf einmal Frau von Wilkow ganz allein, sehr bleich und in einer Aufregung, die sie sich vergebens zu verbergen bemühte.
Sie hatte sich, ihrer Erklärung nach, beim Zeichnen da oben, in dem „abscheulichen Gemäuer“, einen heftigen Kopfschmerz zugezogen und wollte sofort aufbrechen, da sie ihre Migräne im Anzug fühlte. Die Frage ihres Vaters, wo denn Robert bleibe, wurde mit der kurzen Bemerkung abgefertigt, Herr Adlau mache noch eine Kletterpartie in die Berge hinauf und komme später nach, er werde die Gesellschaft wohl noch einholen. Wellborn eilte in das Haus, um die Maultiere zu bestellen, und zehn Minuten später brach man wirklich auf.
Der Rückweg war freilich sehr ungemütlich. Elfriede sprach überhaupt gar nicht, der Geheimrat nur das Notwendigste, so mußte Ferdinand Wellborn denn allein die Kosten der Unterhaltung tragen, was er auch mit Vergnügen übernahm. Er hatte natürlich nichts bemerkt, glaubte an den Kopfschmerz und brachte sechs oder acht verschiedene Mittel dagegen in Vorschlag. Schließlich kam er wieder bei seinem Lieblingsthema an und erklärte, die Unheilsatmosphäre, die sein Wetterglas verkünde, sei allein schuld an dem Kopfschmerz der gnädigen Frau.
Adlau hatte die Gesellschaft natürlich nicht eingeholt, überhaupt nichts weiter von sich hören lassen. Er hatte nur heute morgen dem Geheimrat seine Karte mit einigen Abschiedsworten gesandt, eine Empfehlung an Frau von Wilkow war nicht beigefügt.
Der alte Herr wußte nun Bescheid, er hatte es vorausgesehen, aber so fremd und kalt wollte er doch nicht von dem Manne scheiden, den er am liebsten Sohn genannt hätte, er wollte ihm wenigstens persönlich Lebewohl sagen und war jetzt gerade auf dem Wege zu ihm.
Da stieß er natürlich wieder auf den unvermeidlichen Wellborn, der ein eigenes Talent besaß, gerade da aufzutauchen, wo er am unbequemsten war, und in solchen Fällen war er überhaupt nicht wieder loszuwerden. Er blieb auch heute dieser freundlichen Gewohnheit treu und hing sich sofort an den Geheimrat, dem er nicht von der Seite wich. Dieser machte zwar einige krampfhafte Versuche, ihn abzuschütteln, vergebens, Ferdinand blieb und ließ vergnüglich das Mühlwerk seiner Rede klappern.
Er erkundigte sich zunächst nach dem Befinden der gnädigen Frau, die gestern leider für ihn unsichtbar geblieben war. Er hatte auf seine Anfragen nur die betrübende Thatsache erfahren, daß die Migräne noch immer anhalte. Dann kam er ganz unvermittelt auf den Dampfer zu sprechen, der draußen im Hafen lag, und mit dem auch Herr Adlau abreisen wolle. Dieser Herr aus Amerika habe sich vorgestern doch ganz merkwürdig benommen. So ohne weiteres zurückzubleiben und die Gesellschaft im Stiche zu lassen! Man merke es, daß ihm der Hinterwäldler noch im Blute stecke. Ob er denn wenigstens einen Abschiedsbesuch gemacht habe?
„Nein!“ rief der Geheimrat, der jetzt den letzten Rest seiner Geduld verlor. „Aber ich habe hier noch einige Einkäufe zu machen, und Sie sollten sich bei meiner Tochter melden lassen. Sie befindet sich heute besser, viel besser, ich glaube, sie nimmt Besuch an.“
Dies Mittel that endlich die gewünschte Wirkung, der junge Mann machte schleunigst Kehrt und wandte sich nach eiliger Verabschiedung zu dem Hotel zurück, während Rottenstein ebenso eilig nach dem Rahnsdorfschen Hause steuerte, das er denn auch ohne weiteren Zwischenfall erreichte.
Er kam gerade zur rechten Zeit. Adlau war eben im Begriff, von den Seinigen Abschied zu nehmen, und über seine heute sehr düsteren Züge flog der Ausdruck einer freudigen Überraschung, als er den alten Herrn erblickte, er hatte ein Lebewohl von dieser Seite wohl nicht erwartet. Auch der Konsul schien verstimmt, er sagte nach der ersten Begrüßung etwas ärgerlich:
„Das trifft sich heute sehr ungeschickt, jetzt können wir [508] unserem Robert nicht einmal das Geleit bis zum Dampfer geben! Sie wissen es vermutlich, daß Prinz Karl heute in Korfu erwartet wird. Seine Jacht ist bereits in Sicht und wird in einer halben Stunde landen, ich muß in meiner amtlichen Eigenschaft beim Empfange sein und Meta soll der Prinzessin einen Blumenstrauß überreichen. Es hilft nichts, Schwager, du mußt allein hinausfahren.“
„Aber ich bitte dich,“ wehrte Adlau ab. „Je kürzer wir den Abschied machen, um so besser ist es, und übrigens wird es jetzt Zeit zum Aufbruch.“
„Ich werde Sie vertreten, Herr Rahnsdorf,“ sagte der Geheimrat. „Keine Einwendung, Robert, ich gebe Ihnen das Geleit bei der Abfahrt. Die See ist ja heute spiegelglatt, und in spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“
Robert fügte sich, und man ging gemeinsam zu dem Boote, das mit dem Gepäck bereits am Ufer harrte. Der Abschied war in der That kurz, aber um so herzlicher. Adlau hob noch einmal die Kinder empor, um sie zu küssen, schüttelte dem Schwager die Hand und ließ der Schwester eine letzte Umarmung zu teil werden.
„Also im Sommer in Brankenberg! Ich rechne auf euer Versprechen, und die Kinder bringt ihr selbstverständlich mit. Weine nicht, Meta, es ist ja diesmal nur eine Trennung auf Monate. Behüt’ Gott, Schwager! Auf frohes Wiedersehen!“
Er sprang in das Boot und Rottenstein folgte ihm, noch ein Grüßen und Winken hinüber und herüber, dann steuerte die Barke hinaus und dem Dampfer zu.
Dort herrschte bereits reges Leben, die Boote legten an und stießen ab, die Reisenden kamen an Bord und auf dem Verdeck wurden die Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen. Es war immer noch eine halbe Stunde bis dahin und die beiden Herren, die sich einen stilleren Platz auf dem Vorderdeck gesucht hatten, konnten ungestört plaudern. Aber das Gespräch stockte öfter, es lag doch ein gewisser Zwang darauf, obgleich der vorgestrige Tag und Adlaus Zurückbleiben von keiner Seite erwähnt wurde. Endlich sagte dieser, im Tone der Entschuldigung:
„Ich habe im Drange der Abreise nicht einmal mehr Zeit gefunden, Ihnen einen Abschiedsbesuch zu machen. Ich konnte nur meine Karte senden, und es war sehr freundlich, daß Sie trotzdem gekommen sind.“
„Die Karte war mir doch gar zu förmlich,“ entgegnete der Geheimrat, mit einem leisen Vorwurf. „Ich wollte Sie wenigstens noch einmal sehen und Ihnen einen Gruß an die Heimat mitgeben.“
„Herzlichen Dank! Und Sie gehen also wirklich nach Aegypten?“
„Ich muß ja wohl, da Elfriede darauf besteht!“
Die Antwort wurde in sehr beweglichem Tone gegeben, und dabei ließ der Geheimrat einen sehnsüchtigen Blick über den Dampfer hingleiten. „Wenn Sie wüßten, Robert, wie ich Sie um die Heimkehr beneide!“ schloß er wehmütig. „Wie gern ginge ich mit Ihnen nach Haus!“
Adlau stäubte ruhig die Asche von seiner Cigarre und fragte ganz gelassen: „Nun, warum thun Sie es denn nicht?“
„Was – soll ich thun?“
„Mit mir nach Triest fahren und von da weiter nach dem Rhein.“
„Jawohl, nach unserem Rhein! Machen Sie mir doch das Herz nicht noch schwerer mit Ihrem Scherz!“
„Ich scherze durchaus nicht, es ist mir vollkommen Ernst mit dem Vorschlage. In meiner Kabine ist der zweite Platz noch frei, wie ich heute morgen zufällig erfuhr. Das Wetter verspricht uns eine ganz ruhige Seefahrt, es bedarf nur einer kurzen Rücksprache mit dem Kapitän, und an mir haben Sie einen bequemen Reisegefährten. Allerdings können Sie nicht mehr ans Land, aber das ist auch nicht nötig. Meine Reisekasse steht Ihnen zur Verfügung, meine Koffer gleichfalls. Für die Paar Tage kann ich Ihnen mit dem Nötigen aushelfen, und in Triest ordnen wir telegraphisch die sofortige Nachsendung Ihres Gepäckes an, die Sache ist ganz einfach.“
Der Geheimrat blickte ihn höchst verdutzt an, jetzt wußte er wirklich nicht mehr, ob das Scherz oder Ernst sei.
„Aber Robert, was fällt Ihnen denn ein? Meine Tochter ist ja doch hier in Korfu und will nach Aegypten.“
„Nun daran hindert Ihre Abreise sie doch nicht? Natürlich muß Frau von Wilkow benachrichtigt werden, Sie senden einige Zeilen ans Land, um sie zu verständigen. – Da ist ja noch Ihr Hoteldiener! soll ich ihn rufen?“
„Um Gottes willen, nein!“ wehrte der alte Herr entsetzt ab. „Ich glaube wahrhaftig, Sie wären zu einem solchen Streiche fähig!“
Statt aller Antwort zog Adlau die Uhr und warf einen Blick darauf. „Wir haben noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Entschließen Sie sich rasch! Denken Sie an Ihr Lindenhof, an die gemütlichen Winterabende am Kamin. Warum wollen Sie durchaus in der Wüste schwitzen? Und dann die Pyramiden, die Kamele – Sie müssen ja hinauf, wenn Sie erst in Aegypten sind!“
„Nein, nein!“ rief der Geheimrat verzweiflungsvoll. „Aber ich kann doch nicht – lassen Sie mich in Ruhe, Robert – ich kann doch meine Tochter nicht allein im fremden Lande sitzen lassen.“
„Nun, was das betrifft – die Baronin ist selbständig, ist völlig vertraut mit dem Reiseleben und hat ihre erprobte Kammerjungfer bei sich. Wie viele Damen reisen nicht heutzutage’ allein! – Sie haben natürlich Checks auf Kairo genommen, tragen Sie sie bei sich?“
„Nein, sie liegen noch in Korfu, bei unserem Banquier, aber –.“
„Um so besser, dann kann Frau von Wilkow sie ohne weiteres dort erheben. Sie sehen – da wird schon der Anker aufgewunden, es ist die höchste Zeit! Hier ist mein Notizbuch, schreiben Sie nur ein paar Worte, das genügt für den Augenblick.“
Rottenstein wußte nicht, wie ihm geschah, er hatte plötzlich Stift und Notizbuch in der Hand und Robert, der neben ihm stand, diktierte ihm kurz und bündig:
„Ich fahre mit Adlau nach Triest, von da weiter nach Haus – alles Nähere brieflich – Checks auf Kairo findest Du bei unserem Banquier – viel Vergnügen in Aegypten! – Dein Dich liebender Vater.“
Bis hierher hatte der alte Herr mechanisch nachgeschrieben, er stand ganz willenlos unter dem Zwange dieses fremden energischen Willens, als er aber nun gar noch seine Vaterliebe bekräftigen sollte, da hörte er auf.
„Aber Robert, ums Himmels willen, das geht ja nun und nimmermehr! Elfriede wird außer sich sein, und mit vollem Rechte. Sie wird –“
„Dein Dich liebender Vater,“ wiederholte Adlau diktatorisch.
„Haben Sie das? Gut! Die Adresse werde ich selbst schreiben. – Warten Sie noch eine Minute, Sie sollen eine Botschaft mit an das Land nehmen.“
Die letzten Worte waren an den Hoteldiener gerichtet, den er inzwischen herbeigewinkt hatte, und der eben das Schiff verlassen wollte. Robert faltete rasch das Blatt, adressierte es und übergab es dem Manne.
„An Frau Baronin von Wilkow, sofort zu übergeben, und mündlich bestellen Sie, der Herr Geheimrat sei soeben mit mir nach Triest abgefahren. – Hier!“
Das Geldstück, das in die Hand des Dieners glitt, machte diesen sehr bereitwillig. Er versprach pünktliche Besorgung und eilte dann nach der Schiffstreppe; es war in der That die höchste Zeit, denn eben wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Der Geheimrat that einen Schritt, als wollte er nacheilen, aber Robert ergriff ihn ohne weiteres am Arme und hielt ihn fest.
„Jetzt kein Schwanken mehr! Sie haben einmal den Entschluß gefaßt –“
„Nein, Sie haben ihn gefaßt!“ rief der alte Herr, völlig außer sich. „Ich habe gar nichts gethan, ich habe überhaupt nicht gewußt, wie mir geschah, und bin gar nicht zu Atem gekommen bei der Geschichte. Sie standen ja neben mir und kommandierten wie ein General – Sie sind ja ein schrecklicher Mensch!“
Der „schreckliche Mensch“ hielt ihn noch immer fest und sah in aller Gemütsruhe zu, wie die Schiffstreppe emporgezogen wurde und das letzte Boot abstieß, dann erst ließ er sein Opfer los, dessen Entweichen jetzt nicht mehr zu befürchten war, denn [509] gleichzeitig setzte sich der Dampfer in Bewegung und glitt langsam aus dem Hafen.
„So, jetzt schwimmen wir!“ sagte Adlau, im Tone tiefster Befriedigung. „Nun will ich nach der Kajüte und Rücksprache wegen Ihres Platzes nehmen. Freuen Sie sich doch, Herr Geheimrat, jetzt geht es nach Hause!“
Damit ging er, aber der arme Geheimrat dachte nicht daran, sich zu freuen. Er war halb betäubt auf die Bank niedergesunken und überlegte sich jetzt erst die unerhörte Geschichte. Er konnte sich die Scene ausmalen, die dort im Hotel spielte, wenn Elfriede die Nachricht erhielt, mit der Adresse von Adlaus Hand. Das vergab sie ihm nie, er hatte ja auch selbst das vernichtende Bewußtsein, eine Art Rabenvater zu sein, der sein Kind allein im fremden Lande zurückließ! Ja, dieser Robert war ein Gewaltmensch! Je mehr der alte Herr zur Besinnung kam, desto heftiger grollte er mit seinem einstigen Liebling, der an allem schuld war. Aber mitten in diesem Groll schlug er auf einmal mit der Hand auf die Banklehne und sagte überzeugungsvoll:
„Aber wahr ist’s doch! Gerade ein solcher Mann hat dir gefehlt, Friedel – und mir ein solcher Schwiegersohn!“
Am Rhein war der Frühling eingezogen. Die Rebenhügel standen überall im zarten frischen Grün, im Walde sang und klang es von tausend neuerwachten Stimmen und die Wellen des Stromes blitzten im Sonnenschein. Es war ein Maientag von jener zarten, duftigen Schönheit, die nur der deutsche Frühling kennt.
Die Besitzung des Geheimrats Rottenstein war nur ein kleines Landgut, aber wie geschaffen zum behaglichen Ruhesitze des Alters. Das nicht große, aber sehr freundliche Haus lag im Schatten der alten Linden, die ihm den Namen gegeben hatten. An den ausgedehnten Garten schloß sich das Weingütchen, die höchste Freude des alten Herrn, der seinen Wein selbst zu keltern pflegte. Von der rebenumsponnenen Veranda, die an der Hauptseite des Hauses lag, hatte man einen schönen Blick auf den Rhein, zur Linken stiegen die sonnigen Weinberge des Ufers empor und zur Rechten ragte in einiger Entfernung, aus den dichten Laubmassen eines Parkes, ein mächtiges Gebäude auf, Schloß Brankenberg, das länger als ein Jahrhundert im Besitz einer alten Adelsfamilie gewesen war und jetzt einen neuen Herrn hatte.
Auf der Veranda saßen der Geheimrat und sein Gutsnachbar und auf dem Tische funkelte in den Gläsern der Wein, „eigenes Gewächs“, auf das der alte Herr ungemein stolz war. Der heimische Winter schien ihm sehr gut bekommen zu sein, er sah weit wohler und frischer aus als im Herbst, er gehörte nun einmal zu den Naturen, die nur auf dem Heimatboden gedeihen. Robert Adlau hatte sich gar nicht verändert in seiner markigen, kraftvollen Erscheinung, nur etwas bleich sah er heute aus, und die breite schwarze Binde, die er um die Stirn trug, schien auf irgend eine Verletzung hinzudeuten.
„Also auf die glückliche Genesung!“ sagte Rottenstein, sein Glas erhebend. „Das ist freilich schnell genug bei Ihnen gegangen, Robert. Ein anderer hat wochenlang mit einer solchen Kopfwunde zu thun, und Sie laufen schon nach acht Tagen wieder umher, als ob gar nichts geschehen sei.“
„Es war ja nicht all des Aufhebens wert, das davon gemacht wurde,“ entgegnete Adlau mit einem Achselzucken. „Eine längere Betäubung, infolge des Sturzes, ein etwas starker Blutverlust – mir thut nur mein schöner Fuchs leid, der bei der Geschichte draufgegangen ist.“
„Nun besser doch der Fuchs als Sie! Uebrigens sah die Sache im Anfange recht gefährlich aus. Sie ahnen gar nicht, was das für ein Anblick war, als ich nach Brankenberg gerufen wurde und Sie anscheinend leblos und blutüberströmt daliegen sah. Der Doktor machte auch zuerst ein sehr bedenkliches Gesicht, und auch jetzt meint er, eine Natur wie die Ihrige sei ihm noch nicht vorgekommen.“
„Ja, meine Natur ist gut. Uebrigens habe ich dem Inspektor tüchtig den Kopf gewaschen, weil er nichts Gescheiteres wußte, als schleunigst zu Ihnen zu schicken und Sie zu erschrecken mit der Nachricht. Was ging denn das Sie an!“
„Was es mich anging?“ rief der Geheimrat unwillig. „Glauben Sie, daß mir Ihr Leben und Sterben gleichgültig ist?“
„Nun ja – Ihnen vielleicht nicht,“ sagte Robert langsam. „Andere freilich –“ er brach plötzlich ab, als habe er schon zu viel gesagt, der alte Herr aber fiel eifrig ein:
„Ja, andere Freunde haben Sie freilich nicht hier, aber das ist doch nur Ihre eigene Schuld. Ich wollte Ihnen längst schon eine Strafpredigt halten wegen dieses Einsiedlerlebens, das Sie nun bereits seit sechs Monaten führen. Sie haben keinen einzigen Besuch in der Nachbarschaft gemacht, verkehren mit niemand, ziehen sich hartnäckig von jeder Geselligkeit zurück. Wie halten Sie es denn nur aus in dem großen, öden Schlosse, so ganz allein?“
„Nun, im Sommer wird es ja Leben genug geben, wenn meine Schwester mit Mann und Kindern kommt,“ entgegnete Adlau ausweichend. „Für jetzt habe ich noch sehr viel zu thun, viel mehr, als ich anfangs glaubte. Ich habe bisher noch gar keine Zeit für die Geselligkeit gehabt.“
[510] „Ja, Sie kehren in Ihrem Brankenberg so ziemlich das Unterste zu oberst,“ lachte der Geheimrat. „Unsere Landwirte sperren Mund und Nase auf über all das Neue, das da aus dem Boden hervorwächst, aber um so mehr nimmt man Ihnen die Zurückgezogenheit übel. Ich muß es oft genug hören, daß ich in der ganzen Umgegend für Sie der einzige Mensch zu sein scheine.“
„Und der will mich jetzt auch verlassen,“ warf Robert mit etwas gezwungenem Scherz ein. „Sie wollen ja nach der Schweiz.“
Rottenstein nickte und ließ einen schmerzlichen Blick über seinen Garten hingleiten, der in voller Lenzespracht blühte und duftete. „Im nächsten Monat. Meine Tochter hat sich für den Sommeraufenthalt in Interlaken entschieden, und dort treffen wir uns. Ich habe sie ja seit einem halben Jahre nicht gesehen.“
Die letzten Worte klangen sehr weichmütig. Adlau blickte ihn mit halb spöttischer, halb mitleidiger Miene an.
„Ich fürchte, ich habe Ihnen einen schlechten Dienst geleistet mit der damaligen Entführung. Sie sind gar nicht angelegt für einen solchen Gewaltstreich und haben ihn gewiß längst schon bereut.“
„Nicht doch! Ich war ja froh, diesem ewig drohenden Aegypten, mit seinen Pyramiden und Mumien, zu entrinnen, aber freilich, Elfriede – sie nahm mir das sehr übel. Ich habe bittere Dinge lesen müssen.“
„Warum warfen Sie nicht die ganze Verantwortung auf mich allein, wie ich Ihnen riet?“
Der alte Herr schwieg verlegen, er hatte das allerdings gethan, aber das war nur ein erschwerender Umstand gewesen in den Augen seiner Frau Tochter. Er wußte am besten, was er brieflich hatte aushalten müssen.
„Nun, Sie können ja bald mündlich Abbitte leisten,“ spottete Robert. „Malen Sie meine Unthat so schwarz als möglich, ich habe nichts dagegen. – Frau von Wilkow ist also noch in Konstantinopel?“
„Jawohl, und sie beabsichtigt noch einige Wochen dort zu bleiben. Ich erwarte jetzt bestimmte Nachricht darüber, ich schrieb ihr vor acht Tagen, gerade an dem Tage, wo Sie mit dem Pferde gestürzt waren.“
Adlau, der eben im Begriff war, das Glas zum Munde zu führen, setzte es jäh und heftig wieder hin. „Sie haben das doch nicht etwa geschrieben?“
Rottenstein geriet etwas in Verwirrung. Er hatte es allerdings seiner Tochter geschrieben, sogar am Abend des Tages, an dem der Unfall stattgefunden hatte. Dieser zornigen Frage gegenüber wagte er es aber nicht, das einzugestehen, und deshalb klang seine Antwort sehr diplomatisch:
„Wenn Sie es nicht wünschen, werde ich in meinem nächsten Briefe nichts davon erwähnen.“
„Ich bitte ausdrücklich darum. Man hat in Konstantinopel schwerlich Interesse für solche Dinge, wenn man sich in so vortrefflicher Gesellschaft befindet.“
Die Worte klangen in herbster Bitterkeit, aber der Geheimrat hielt es für besser, die Anspielung nicht zu verstehen.
„Elfriede ist allerdings in guter Gesellschaft,“ sagte er mit anscheinender Unbefangenheit. „Ich erzählte Ihnen ja, daß sie in Kairo mit Mister und Mistreß Thornton zusammentraf, der englischen Familie, bei der sie im Sommer zum Besuch war. Sie hatten schon damals dies Zusammentreffen verabredet und machten nun gemeinschaftlich die ganze Reise.“
„Mit dem unvermeidlichen Anhängsel, dem geistreichen Herrn Ferdinand Wellborn?“
„Ja, den scheinen sie allerdings nicht losgeworden zu sein! Von Aegypten ist er mit nach Palästina gegangen, von da nach Konstantinopel, und ich bin überzeugt, er taucht auch in der Schweiz auf. Ich fürchte jetzt auch, er steuert auf ein ganz bestimmtes Ziel los, und solch ein unermüdliches und beharrliches Werben wirkt schließlich bei jeder Frau. Elfriede besonders ist unberechenbar in mancher Hinsicht. Wenn sie sich wirklich überreden ließe, ihr Jawort zu geben, dann –“
Robert stand plötzlich auf und griff nach seinem Hute.
„Dann verdient sie einen solchen Gatten,“ sagte er mit äußerster Schroffheit. „Ich wünsche der gnädigen Frau Glück dazu.“
„Sie wollen schon fort?“ fragte Rottenstein bestürzt. Er war ärgerlich auf sich selbst, er wußte es ja längst, daß Adlau die Berührung dieses Punktes nun einmal nicht vertrug, und hatte sich doch dazu verleiten lassen.
„Sie sind ja kaum eine halbe Stunde hier gewesen,“ fuhr er bittend fort. „Haben Sie es denn so eilig?“
„Jawohl, ich will noch nach dem Reichenauer Forste und mir den dortigen Bestand ansehen. Das Waldrevier soll verkauft werden, es wurde mir angeboten und es liegt mir sehr bequem. Da heißt es, sich rasch entschließen und zugreifen. Also auf Wiedersehen!“
Er ging nach flüchtigem Gruße; der alte Herr blickte ihm nach und schüttelte den Kopf.
„Er kann’s nicht verwinden – trotz alledem!“ sagte er halblaut. „Er wirtschaftet zwar in Brankenberg herum, daß einem Hören und Sehen vergeht, aber Freude hat er nicht daran, und dies Einsiedlerleben kommt auch nur von dem Groll und der Verbitterung her. Ja ja, Friedel, den Robert hast du auf dem Gewissen!“
Ob Elfriede wirklich so ganz gleichgültig war gegen die Nachricht, die er ihr geschrieben hatte? Man hatte ihn damals mit der Schreckensbotschaft vom Schreibtische fortgerufen, und als er zurückkam, noch ganz unter dem ersten Eindruck des Unfalls, der im Anfange gefährlich genug schien, hatte er nur eine Nachschrift unter den halb vollendeten Brief gesetzt: „Ich komme eben von Brankenberg, wo Robert schwer verwundet liegt. Ein Sturz mit dem Pferde – es steht leider alles zu befürchten!“
Das war ja nun glücklicherweise ganz anders gekommen, aber antworten mußte man doch wenigstens auf eine derartige Meldung.
Der Geheimrat saß allein bei seinem Glase, aber der Wein schmeckte ihm nicht mehr, und er versank in trübe Gedanken. Nun kam der Sommer, die schönste Zeit am Rhein, und andere kamen aus weiter Ferne, um das zu genießen, aber er selbst mußte sein behagliches Heim verlassen und auswandern, nach der großen, von Menschen überfüllten Sommerfrische der Schweiz. Es blieb ihm ja nichts anderes übrig, wenn er sein einziges Kind wiedersehen wollte. Elfriede hatte ihm in ihren Briefen mit vollstem Nachdruck wiederholt, sie werde nie wieder Lindenhof betreten, solange der Herr von Brankenberg in seinem Schlosse wohne. Bei der Nähe der beiden Orte hätte sich allerdings eine Begegnung nicht vermeiden lassen!
Da hieß es also wieder monatelang in ungemütlichen Hotelzimmern wohnen und den ganzen Lärm des Reiseverkehrs aushalten, der dann auf seiner Höhe stand. Da ging es wieder Tag für Tag hinaus, auf alle möglichen Berggipfel, zu Pferd, zu Wagen, mit den Bahnen, eine ruhelose Hetzjagd vom Morgen bis zum Abend. Diesmal aber dachte der geplagte Vater nicht daran, durchzugehen, er hatte genug an dem einen Male.
Er griff schließlich nach der Zeitung, um auf andere Gedanken zu kommen, und hatte wohl eine Stunde lang gelesen, da fuhr draußen am Gitterthor ein Wagen vor. Er sah auf: die beiden Koffer deuteten auf Fremde und der Herr, der soeben ausstieg, schien auch den Kutscher nach dem Namen des Landhauses zu fragen. Rottenstein wurde aufmerksam, die Gestalt kam ihm so bekannt vor. Das konnte doch unmöglich – aber jetzt kam der junge Mann durch den Garten, im eleganten, hellen Reiseanzuge, einen Strohhut auf dem sorgfältig gekräuselten Haar, den unvermeidlichen Bädeker in der Hand – wahrhaftig, das war Ferdinand Wellborn und kein anderer!
Dem Geheimrat fuhr der Schrecken in alle Glieder. Das konnte nur einen Grund haben. Elfriede hatte ihr Jawort gegeben und ihr Verlobter kam nun, um sich den väterlichen Segen zu holen. Eine andere Erklärung gab es gar nicht für dies plötzliche Auftauchen.
„Friedel, das hättest du mir und dem Robert doch nicht anthun sollen!“ stöhnte der alte Herr verzweifluugsvoll. „Solch einen Schwiegersohn, das halte ich nicht aus!“
Wellborn kam bereits die Stufen der Veranda herauf, prallte aber förmlich zurück, als er den Hausherrn erblickte, den das Weinlaub seinem Blick bisher entzogen hatte.
„Herr Geheimrat – Sie sind wirklich noch am Leben?“
„Warum soll ich denn nicht am Leben sein?“ fragte der Geheimrat, der seinen künftigen Schwiegersohn in ziemlich gereizter Stimmung empfing. „Haben Sie vielleicht etwas dagegen?“
[511] „O nein, durchaus nicht – ganz im Gegenteil! Aber es ist doch merkwürdig, daß Sie so dasitzen!“
„Ich finde es noch weit merkwürdiger, daß Sie da sind. Ich glaubte Sie in Konstantinopel.“
„Ja, dort war ich noch vor drei Tagen, aber jetzt bin ich hier,“ sagte Ferdinand verwirrt. „Sie sind also wirklich ganz munter und lebendig?“
„Das sehen Sie doch!“ rief der alte Herr, höchst beleidigt durch diesen fortwährenden Zweifel an seiner Lebendigkeit. „Haben Sie vielleicht geglaubt, mich als Leiche zu finden?“
„Ja, das glaubten wir allerdings – das heißt, wir fürchteten es,“ verbesserte sich Wellborn schnell, als jener entrüstet auffuhr. „Die gnädige Frau war in Todesangst und wollte auf der Stelle abreisen, die Kammerjungfer erklärte, in den zwei Stunden nicht packen zu können, da wurde sie einfach mit dem Gepäck zurückgelassen. Die Frau Baronin nahm nur das Allernotwendigste mit – mich hat sie auch mitgenommen. Das heißt, sie wollte es durchaus nicht, aber Mistreß Thornton bestand darauf, daß sie in dieser Angst und Aufregung nicht allein reisen dürfe – und die Kammerjungfer wird mit den Koffern nachkommen.“
„Aber so erklären Sie mir doch endlich die Ursache!“ unterbrach ihn Rottenstein, der bei diesem ohne jede Pause hervorgesprudelten konfusen Bericht die Geduld verlor. „Ich verstehe kein Wort von der ganzen Geschichte, so reden Sie doch vernünftig!“
Der Aufgeregte mochte es wohl selbst fühlen, daß sein Vortrag einigermaßen der Klarheit entbehrte, und so fing er denn noch einmal von vorn an.
„Wir waren in Konstantinopel, mit unseren englischen Reisegefährten, da kam der Unglücksbrief, mit der Nachricht von Ihrem Unfall, von dem schweren Sturze. Mister Thornton wollte erst telegraphisch nähere Nachrichten einziehen, aber die gnädige Frau wollte nichts davon hören und beschloß die sofortige Abreise. So nahmen wir denn den Orient-Expreßzug und sind nur so durch die Länder geflogen, es war eine höchst anstrengende Fahrt. Und nun sitzen Sie hier bei einer Flasche Wein und man sieht Ihnen gar nichts mehr an. O, das ist merkwürdig, höchst merkwürdig!“
Dem Geheimrat ging jetzt ein Licht auf und sein ganzes Gesicht verklärte sich dabei. Das also war die Wirkung jener Nachricht aus Brankenberg gewesen! Nun kommst du doch, Friedel, und noch dazu mit dem Orient-Expreßzug! triumphierte er innerlich, aber er sah doch ein, daß er den Vorwand bestätigen müsse, den seine Tochter für ihre plötzliche Abreise erfunden hatte. „Ja, die Geschichte war gar nicht so gefährlich, als sie anfangs aussah,“ sagte er im gemütlichsten Tone. „Ich bin allerdings die Treppe heruntergefallen –“
„Nein, Sie fielen ja in den Graben, weil der Wagen ein Rad verlor,“ berichtigte Wellborn, der die Sache viel genauer wußte als der Betroffene selbst.
„Richtig, in den Graben! Ich weiß das nicht mehr so genau, mein Kopf hat doch etwas gelitten. Eine kleine Gehirnerschütterung, die aber Gott sei Dank nichts auf sich hatte. Doch nun sagen Sie mir vor allen Dingen, wo ist denn eigentlich meine Tochter?“
„Ist sie denn noch nicht hier?“ fragte Ferdinand höchst betroffen. „Mein Gott, sie hat mich ja schon vor zwei Stunden verlassen und einen Fußweg nach Lindenhof genommen, der bedeutend näher sein soll als die Fahrstraße – durch den Reichenauer Forst, wie sie sagte.“
Der alte Herr sprang vom Stuhle auf. Der Reichenauer Forst! Da gab es nur einen Fußweg und der Wald war überhaupt nicht so groß, daß man sich darin verfehlen konnte. Da lief die Friedel dem Robert ja geradezu in die Arme! „Bravo!“
Er hatte das letzte Wort ganz laut gerufen und fügte nun erklärend hinzu:
„Ich freue mich nämlich sehr, daß meine Tochter da ist!“
„Bitte, vorläufig ist sie noch nicht da,“ warf Ferdinand mit besorgter Miene ein. „Wir fanden keinen Wagen auf der kleinen Station, wo wir ausstiegen; es mußte erst in das Dorf geschickt werden, und der Stationsvorsteher sagte, es könne wohl eine Stunde dauern. So lange wollte die gnädige Frau aber nicht warten, sondern zu Fuß vorausgehen. Ich wollte sie natürlich begleiten, aber sie meinte, ich müsse bei dem Gepäck bleiben. Das that ich denn auch und habe die Koffer gleich mitgebracht.“
Der gute Ferdinand erzählte das ganz naiv, ohne zu merken, welche klägliche Rolle er dabei spielte. Er war es freilich längst gewohnt, von der Dame seines Herzens als eine Art höherer Kammerdiener behandelt zu werden, der auf der Reise alles nötige besorgte, und den man dann, je nach Bedarf, entweder mitnahm oder bei dem Gepäck zurückließ, das fiel ihm gar nicht mehr auf. Geheimrat Rottenstein aber wurde jetzt auf einmal die Liebenswürdigkeit selbst. Er lud den jungen Mann zum Sitzen ein, bot ihm Wein an und äußerte gar keine Besorgnis wegen des Ausbleibens seiner Tochter. Sie kenne den Weg ja genau, man müsse eben warten. Ihm war diese Verspätung der sicherste Beweis, daß Elfriede „jemand“ begegnet sei.
Wellborn war sehr angenehm berührt von dieser Liebenswürdigkeit. Er nahm Platz und begann zu erzählen, wobei er wie gewöhnlich alles mögliche durcheinander schwatzte. Zunächst von der Reise, die er das Glück gehabt hatte, in Gesellschaft der gnädigen Frau zu machen. Es herrsche so unendlich viel Sympathie zwischen ihnen beiden, die Frau Baronin liebe das Reiseleben, er auch, er habe sich jetzt sogar zu einer Reise um die Erde entschlossen. Dann kam er plötzlich ganz unvermittelt auf seine Fabrik, die schon seinen Papa zum reichen Mann gemacht habe und fortwährend glänzende Geschäfte mache. Er habe zwar nicht Rang und Titel zu bieten, aber sonst ständen alle Annehmlichkeiten des Lebens zu Gebote, ihm, dem glücklichen Erben, und einem Wesen, das er nicht nennen wolle, das aber vielleicht erraten werde, da es dem Herrn Geheimrat sehr nahe stehe – kurz, er steuerte, zwar noch etwas schüchtern, aber doch unverkennbar, auf den väterlichen Segen los.
Das hatte nun zwar jetzt keine Gefahr mehr, aber der Geheimrat sah doch ein, daß er es nicht zu einem förmlichen Antrage kommen lassen dürfe. Er lenkte deshalb rasch ab und erkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden des Wetterglases.
In dem Gesicht des jungen Mannes zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei dieser Frage, aber er zog sofort das Glas hervor, das er natürlich wieder bei sich hatte, stellte es auf den Tisch und betrachtete es mit nachdenklicher Miene.
„Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte,“ gestand er. „Denken Sie nur, mein Wetterglas stand in Aegypten fortwährend auf Regen, monatelang – und am Nil regnet es ja überhaupt nicht.“
„Da hat sich das Ding eben geirrt, das passiert ihm ja gewöhnlich,“ meinte der alte Herr wohlwollend. „Da hat mein Gärtner ein zuverlässigeres Wetterglas. Sein Laubfrosch saß gestern abend trotz des Regens auf der höchsten Stufe seiner Leiter, und heut’ haben wir wirklich herrliches Wetter.“
„Das zeigt mein Glas ja auch an!“ rief Wellborn triumphierend. „Da sehen Sie selbst – Beständig – höchster Stand! Nein, wie mich das freut!“
„Wohl weil es so selten vorkommt?“ sagte der Geheimrat, aber Ferdinand lächelte etwas verschämt.
„O nein, aus einem anderen Grunde. Ich bekenne mich da einer gewissen Schwäche schuldig. Es ist eine Art Aberglaube – lachen Sie nur, Herr Geheimrat – aber ich nehme diesen günstigen Stand als ein glückliches Vorzeichen für mein Eintreffen in Ihrem Hause, für einen Wunsch, eine Hoffnung, die ich noch nicht nennen will, deren Erfüllung mich aber zum Glücklichsten der Sterblichen –“
Da steuerte er schon wieder auf den Segen los. Rottenstein mußte zum zweitenmal dazwischen fahren, und diesmal erkundigte er sich mit krankhaftem Eifer, wie weit denn das große Reisewerk gediehen sei. Er empfing auch ausführlichen Bescheid. Die Reisebeschreibung war fertig und sollte demnächst erscheinen, in glänzender Ausstattung, natürlich auf Kosten des Verfassers, dessen Mittel ihm das ja erlaubten. Damit geriet Ferdinand wieder ins Schwatzen und fand kein Ende dabei.
Der alte Herr hörte so wenig zu wie damals uuter den Oliven, aber heute schlief er nicht ein, sondern schwelgte in dem erhebenden Bewußtsein, schließlich doch erfolgreich eingegriffen zu haben, wenn auch ganz absichtslos. Er war es ja doch gewesen, der die Nachricht aus Brankenberg gesandt hatte.
(Schluß folgt.)
[512]
Alle Rechte vorbehalten.
Beim Untersuchungsrichter.
Das heutige Strafverfahren hat von der Kriminalistik gelernt, alle modernen Einrichtungen und alle erdenklichen fremden Wissenschaften und Künste für seine Zwecke auszunutzen. Dadurch gewinnt man unabsehbar viel an Zeit, man hat aber auch Erfolge aufzuweisen, wo man früher die Hände in den Schoß legte und nichts thun konnte. –
Der Untersuchungsrichter kommt des Morgens ins Amt, der Einlauf wird gemeldet, darunter ein August Karl Fricke aus Hannover, wegen bedenklichen Besitzes von offenbar gestohlenen Kostbarkeiten; da der Mann besonders lebhaft seine Unschuld beteuert, wird er zuerst vernommen. Er heißt August Karl Fricke, ist Elektrotechniker aus Hannover, sucht Arbeit, besitzt ein Privatzeugnis auf obigen Namen, Beschäftigung und Herkunft und hat die bei ihm gefundenen Kostbarkeiten von einem Unbekannten gekauft, der sie aus Not billig abgeben mußte; Fricke nahm sie, da er damals Geld hatte und vorteilhaften Weiterverkauf erhoffte.
„Also, Sie sind Elektrotechniker,“ beginnt der Untersuchungsrichter, „wo haben Sie denn gearbeitet?“
Fricke nennt Siemens & Halske, Schuckert, kurz, Firmen, die wir alle aus den Blättern kennen.
„Sehen Sie einmal unsere Glühlampen an – was ist das für ein System?“
„Nun, ein ganz gewöhnliches, wie man es überall hat.“
Der Untersuchungsrichter schellt, ein Diener kommt. „Gehen Sie einmal sofort hinüber in das Elektricitätswerk, ich lasse Herrn Ingenieur Müller auf einen Augenblick zu mir bitten.“
Unterdessen nimmt der Untersuchungsrichter mit Herrn Fricke das herkömmliche Protokoll auf, bis Ingenieur Müller eintritt.
„Herr Ingenieur, ich bitte Sie, sich mit diesem ‚Elektrotechniker‘ ein bißchen zu unterhalten – ich glaub’s ihm nicht, daß er einer ist.“
Der Ingenieur spricht einige Augenblicke mit Herrn Fricke und sagt zum Untersuchungsrichter: „Herr Doktor, dieser Jüngling hat keine Ahnung, was Elektricität ist, und hat nie bei einem Elektrotechniker gearbeitet.“
Der Untersuchungsrichter dankt dem Ingenieur, dieser empfiehlt sich, und ersterer versichert Herrn Fricke, daß er nicht der Herr Fricke ist.
„Ja, wer soll ich denn sein?“ antwortet dieser, und der Untersuchungsrichter erklärt, dies einstweilen noch nicht zu wissen: „aber morgen spätestens sage ich’s Ihnen.“
Nun besieht der Untersuchungsrichter mit dem „Fricke“ die Kostbarkeiten, die dieser vom „Unbekannten“ gekauft hat: goldene Ringe, zwei goldene Uhrketten, eine goldene Uhr, eine silberbeschlagene Cigarrentasche, reichsdeutsches Geld, Edelsteine ohne Fassung, silbernen Stockgriff etc., lauter schöne, teure Sachen. Eine genaue Besichtigung derselben ergiebt, daß die Cigarrentasche ein Silberschild trägt, darauf Studentenwappen weiß-gold-blau, Zirkel und die Widmung: „Hildebrand s. l. Hadubrand“. Die goldene Uhr trägt auf dem Innenmantel ein Wappen und die Inschrift „Zu Weihnacht 1891 von Deinem treuen Vater“. Sonst ist nirgends eine Inschrift, ein Namen etc. zu entdecken, aber der Untersuchungsrichter sagt zu seinem Schriftführer: „Jetzt haben wir ihn schon; das Wappen kennt der Skriptor der hiesigen Bibliothek, ein gewaltiger Heraldiker. Alter und Lebensberuf des Bestohlenen haben wir auch beiläufig; wenn jemand von seinem Vater eine schöne goldene Uhr bekommt, so hat er entweder gerade den Doktor gemacht, oder er ist Leutnant geworden – kurz, er ist gerade ins praktische Leben getreten. Da ist man also so etwa 22, 23 Jahre alt, also 91 von 99 abgezogen, giebt 8, der Bestohlene ist also 30 bis 31 Jahre alt, also junger Beamter, Oberleutnant oder Rittmeister – kurz, mit der Uhr geht es schon.“ Ans Telephon und mit dem Herrn Universitätsskriptor verbunden: „Hier Untersuchungsrichter Dr. Rolling – bitte, was ist das Wappen: quergeteilt, oben roter Löwe in Gold, unten 3 weiße Pfähle in Schwarz?“ – „Aber das ist doch das bekannte Wappen der Freiherren v. M.“ – „Gut, danke.“ – „Bitte.“ – „Schluß.“
Der Untersuchungsrichter sagt seinem Schriftführer, er werde sich auf eine halbe Stunde entfernen, um sich bei dem alten Stiftsfräulein v. G. Rats zu erholen, die alle adeligen Verwandtschaften in Mitteleuropa kenne; der Gothaer Almanach habe diesmal im Stich gelassen, da die Familie der Freiherren v. M. so ausgebreitet ist, daß mindestens 4 oder 5 Oberleutnants und Regierungsassessoren und Gesandtschaftsattachés darunter sind, denen allen die Uhr gehören kann.
Die elektrische Bahn entführt den Untersuchungsrichter zum alten Stiftsfräulein. „Ich bin der Untersuchungsrichter Dr…“
„Um Gottes willen – was wollen Sie von mir?“
Mit Mühe beruhigt der Untersuchungsrichter die lebhafte alte Dame und bringt sein Anliegen vor. Jetzt ist die Dame in ihrem Elemente. „Ja freilich, freilich – eine Tante des Adam Jobst v. M., die gute, selige, alte Melitta v. Z. – Sie haben sie vielleicht gekannt? Nein? Also, diese war die Schwester einer Cousine väterlicherseits des alten Obersten v. A., dessen Sohn hier verheiratet ist mit der Tochter des Onkels –“
„Verehrtes Fräulein, das merke ich mir unmöglich, ich danke Ihnen tausendmal, wenn ich weiß, daß Baron A. in der Langenstraße ein Verwandter des bestohlenen Freiherrn v. M. ist.“
Mit Mühe entwischt der Untersuchungsrichter weiteren Verwandtschaftsauseinandersetzungen, bedankt, empfiehlt sich und fährt zum Baron A. Diesem erzählt er den Sachverhalt, worauf der Baron meint, daß nur der Oberleutnant v. M. von den X-Kürassieren der Bestohlene sein könne, denn der Vater des Assessors war 1891 schon lange tot, der Attaché ist stets in Washington etc. Vielen Dank! Der Untersuchungsrichter fährt zurück, und bald hat er die telegraphische Antwort: „Wurde voriges Jahr um Uhr, Kette und 1000 Mark durch Einsteigen in ebenerdiges Fenster bestohlen. Oberleutnant v. M.“
„Also eine Etappe hätten wir,“ seufzt der Untersuchungsrichter, „jetzt auf die Tasche mit dem Studentenwappen los! Schlagen wir unsern Universitätsalmanach nach, da finden wir alle Couleurwappen und Zirkel. Gut, da ist das unsrige auch schon; es ist die ‚Havelia‘ in Berlin.“ Nun geht ein Telegramm an die Polizeiverwaltung Berlin: „Ist einem Studenten mit Kneipnamen Hadubrand der ‚Havelia‘ Cigarrentasche mit Zirkel gestohlen worden?“ Nachmittags langt die Antwort ein: „Stud. jur. Josef Rothe Cigarrentasche, Ringe, Geld durch Einsteigen in ebenerdiges Fenster gestohlen. Verdächtig Johann Gelter, Schrotschußnarbe linke Schulter, Hamburg vorbestraft.“
Nun wird Fricke befragt, ob er Johann Gelter sei. Ob er Schrotschußnarbe habe. Beide Fragen: Nein. Eine Narbe in der linken Schulter entdeckt der Arzt – der Untersuchte behauptet aber, das sei von einem Messerstich, den er bei einer Rauferei bekam. Der Arzt kann die Möglichkeit nicht in Abrede stellen. „Ob da nicht Röntgenstrahlen helfen könnten?“ fragt der Untersuchungsrichter. „Möglich,“ antwortet der Gerichtsarzt. Kurz darauf fahren der Untersuchungsrichter, der Verdächtigte und zwei handfeste Aufseher auf die Universität zu Professor T., der viel „röntgenisiert“, und der Untersuchungsrichter bittet den berühmten Gelehrten, ihm „den Kerl gütigst zu perlustrieren“. Der Bitte wird sofort entsprochen und der Professor erklärt: es sind drei kleine, runde Schatten da, die höchstwahrscheinlich eingeheilte Schrotkörner seien; es ist also der „Schrotschuß“, von dem die Berliner Polizei wußte, sicherlich realer Natur. Der Fricke jedoch will noch immer nicht der Gelter sein. Aber in Hamburg glauben sie schon an Bertillon, den Erfinder einer Methode von körperlichen Messungen an Verbrechern für deren Signalement[1], und so geht endlich noch ein Telegramm nach Hamburg: „Bitte um Bertillonsignalement für Johann Gelter, Schrotschuß linke Schulter, dort vorbestraft.“ Das Signalement mit allen genauen Maßen langt telegraphisch an und der Verhaftete wird als Dieb bezeichnet, der stets in ebenerdige, offene Fenster einsteigt. Nun wird er hier genau nach Bertillons genialer Methode nachgemessen, alles stimmt auf den Millimeter mit dem Hamburger Johann Gelter, und nun gesteht der August Karl Fricke, daß er in der That der Johann Gelter ist und beide Diebstähle an dem Oberleutnant v. M. und dem Studenten Rothe selbst verübt hat.
[513]
[514]
Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlung. In den Tageszeitungen muß leider häufig genug von Fällen berichtet werden, in denen die eigenen Eltern ihre Kinder in barbarischer Weise mißhandeln oder ihre geringe Kraft zu Diensten als Straßenverkäufer oder Handlanger bei Haus- oder Werkstättenarbeiten in einer Weise ausnutzen, dass die armen Wesen körperlich und geistig darüber zu Grunde gehen oder unheilbaren sittlichen Schaden davontragen.
Um diesen Uebelständen, welchen in sehr vielen Fällen auf gesetzlichem Wege kaum gesteuert werden kann, einen Damm entgegenzusetzen, haben bereits im Jahre 1896 Frauen wie Frau Dr. jur. Kempin und Frau Zoeller-Lionheart in Berlin ein energisches Eingreifen, nach dem Vorbilde des Tierschutzvereins, von privater Seite einzuleiten versucht. Allein die vereinten Bemühungen der beiden Frauen scheiterten au der Gleichgültigkeit der Frauen ihres Kreises.
Da schlug, wie ein zündender Funken, ein durch alle Zeitungen verbreiteter Aufruf der Frau von Oertzen auf Dobrow in viele mit der leidenden kleinen Menschheit mitempfindende Herzen. Es meldeten sich zu der neuen angestrebten Schutzvereinigung hilfsbereite Mitglieder aus allen Teilen Deutschlands, und am 3. November 1897 konstituierte sich unter dem Vorsitz der Anwältin Frau Dr. jur. Kempin der Berliner Lokalverein.
Die schwere, unheilbare Nervenerkrankung dieser Dame brachte aber leider sofort eine Stockung in die Bestrebungen des jungen Zweigvereins. Der Hauptverein, der seinen Sitz nach Berlin verlegen wollte, hemmte außerdem eine Zeitlang ein geplantes energisches Vorgehen.
Dennoch ist es dem Lokalverein, der den Namen des „Vereins der westlichen Berliner Vororte zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Mißhandlung“ angenommen hat, in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, erstens seine Mitgliederzahl schnell zu vermehren, dann fünf mißratene Kinder in öffentliche oder Privatanstalten zu besserer Ueberwachung und Erziehung unterzubringen. Ferner sucht der Verein durch Zuschriften die Aufmerksamkeit der Aerzte, Armenärzte, Volksschullehrer, Geistlichen, Krankenpflegerinnen und Barmherzigen Schwestern auf seine Bestrebungen zu lenken und durch ihre Mithilfe das nötige Material für ihre Schutzthätigkeit zu gewinnen.
Der Verein hat aus seinem kleinen Sammelschatz in Charlottenburg einen Knabenhort gegründet, in dem Schüler jeder Konfession und jeden Alters während der nicht schulpflichtigen Nachmittags- und Abendstunden einen gesunden Aufenthalt und sachgemäße Ueberwachung und Anleitung zu Handarbeiten oder körperlichen Uebungen finden, wo man geistig und körperlich sie auszubilden bestrebt ist und ihnen eine kleine Erfrischung darreicht. Man hofft, dadurch dem demoralisierenden Herumtreiben auf den Straßen bei den unbeaufsichtigten oder mißleiteten Kindern entgegenwirken zu können, die ein so großes Kontingent zum Rowdytum als Heranwachsende später stellen.
Der Verein der westlichen Vororte nimmt durch jedes seiner Vorstandsmitglieder Anmeldungen zum Beitritt und schriftliche Berichte über Fälle von Kindermißhandlung etc. an, prüft sie taktvoll auf ihren Wert hin und stellt sich, zum weiteren Verfolg jeden einzelnen Falles, mit den maßgebenden Behörden in Verbindung. Der Verein als Ganzes beabsichtigt schließlich, nach dem Vorbild von Amerika und England auf die gesetzlichen Bestimmungen durch Petitionen bei dem Reichstag einzuwirken, damit den unglücklichen Schutzlosen das werde, was sie besser behüten kann als jede Privathilfe – der mächtige Schutz der Landesgesetze.
Die Bergpartie. (Zu dem Bilde S. 488 und 489.) Zu den Annehmlichkeiten, welche der Aufenthalt in ländlicher Sommerfrische den erholungsbedürftigen Städtern bereitet, gehört gewiß nicht in letzter Reihe die ungenierte harmlos heitere Geselligkeit, welche sich dort so leicht unter den Gästen entwickelt. Wie auffrischend wirkt ein solcher Verkehr, der ganz außer allem Zusammenhang mit den Sorgen und Lasten, Verpflichtungen und Rücksichten des Lebens im Alltagsgeleis steht! Wie rasch knüpft die Gemeinsamkeit des Aufenthalts, der Freuden und Unterhaltungen, denen man im Freien nachgeht, ein Band zwischen den Gemütern, welche den Reizen der schönen Natur mit gleicher Liebe entgegentreten! Auch die lustige Gesellschaft auf unserem Bild, die sich inmitten eines herrlichen Hochgebirgsthals zusammengefunden hat, verdankt ihre gehobene Stimmung nächst dem Genuß der freien Natur dieser Art von Geselligkeit. Auf einem schattigen Grasplatz mitten im Felsgestein am Wege, der ihrem eigentlichen Ziel, der Spitze des Aussichtsbergs, zuführt, haben sie Rast gemacht: der fidele alte Herr, der seinen Kindern, dem Herrn Studenten mit der bunten Mütze und dessen Schwestern, nichts nachgiebt an Rüstigkeit im Wandern, und der so jubelnd in den Jodelruf einstimmt, mit welchem das junge Ehepaar hinter ihm die längsterwarteten, endlich herannahenden Nachzügler begrüßt. Auch der kleine Teckel beteiligt sich an dem Jubel, während das Söhnchen des noch im Aufstieg begriffenen Paares sich an dem Quellbrünnlein sein Glas füllt, um mit diesem Labetrank in das Hoch einzustimmen, das der Bruder Studio ausbringt mit rotem Tiroler. Wahrlich, die Zwei haben allen Anlaß, mit wehenden Tüchern solch’ herzliche Bewillkommnung zu erwidern!
Nicht ohne Neid mag die einsame Dame, die nur in Begleitung eines Führers zur Aussichtsspitze hinaufreitet, Zeugin der lebhaften Scene werden.
Türmers Abendrast. (Zu dem Bilde S. 505.) Hoch oben über dem Glockenstuhl des Kirchturms hat der Türmer sein Heim. Weltentrückt und doch die Welt, die ihn umgiebt, weit überschauend, übt er hier sein wichtiges Wächteramt. Er hat Auslug zu halten nach allen Himmelsgegenden über die Stadt hin, um jeden Ausbruch von Feuersgefahr warnend anzuzeigen, und hat die Aufsicht über die Turmuhr und die Glocken, welche hehren Klanges den Gang der Stunde verkünden. Es ist ein ernster Beruf, den er zu erfüllen hat, und nur Männer von Gewissenhaftigkeit und Ordnungsliebe werden sich ihm widmen. Daher herrscht in den Türmerwohnungen Sauberkeit; selten fehlt es ihnen an Blumenschmuck und den Spuren einer sinnigen Pflege desselben. Die meisten Türmer lassen sich auch nicht genügen an der Erfüllung ihrer Aufsichtspflichten: in ihrer Mußezeit pflegen sie ein Handwerk zu treiben, dessen Ertrag ihrem Haushalt zu Gute kommt.
Doch ist dann die Zeit des Feierabends herangenaht, hat der Türmer sie mit festem Glockenschlag der Bürgerschaft angekündigt, da gönnt er sich auch einmal eine Weile behaglichen Aufatmens und genießt des Segens, der auf gethaner Arbeit ruht. Unser Bild zeigt [515] einen solchen Glücklichen. Auf der vor seiner Wohnung sich rund um den Turm ziehenden Galerie steht er neben seiner jungen Frau, die sich mit ihm in die Pflichten des Türmeramts teilt, und fühlt sich froh in seiner luftigen Höhe, zu welcher der Lärm der Stadt nur gedämpft heraufklingt.
Das Helmholtz-Denkmal vor der Berliner Universität, welches am 6. Juni feierlich enthüllt wurde, ist eine Schöpfung des Bildhauers Prof. Ernst Herter, der seiner Zeit aus dem engeren Wettbewerb als Sieger hervorging. Es ist dem Künstler gelungen, die geistige Bedeutung und persönliche Liebenswürdigkeit des großen Naturforschers, welcher mit mächtigem Geist die Physik der Erkenntnis unseres Seelenlebens dienstbar machte, in warmer Lebensfülle darzustellen. Auf dem Sockel aus rotgeädertem Marmor mit der schlichten Inschrift „Helmholtz 1821 – 1894“ erhebt sich die Gestalt des Gelehrten in weißem Tiroler Marmor. Sprechend ist der Ausdruck ernster Gedankenarbeit in dem energischen Gesicht. Die Gewandung zeigt die wirkliche Tracht eines Berliner Professors und Akademikers bei feierlichen Gelegenheiten; über den Frack legen sich die weiten Falten des Professorentalars. Von ungezwungener Natürlichkeit ist die Haltung; sie veranschaulicht getreu die Art, wie Helmholtz sich bei seinen Vorlesungen gab. Wir sehen ihn beim Vortrag; die Rechte begleitet die Rede mit einer erklärenden Geste; die Linke stützt sich auf Bücher, welche auf einem Renaissancesockel liegen, dessen drei Seiten mit Reliefornamenten geschmückt sind. Dieselben stellen physikalische Instrumente dar, unter denen der Augenspiegel, Helmholtz’ berühmte Erfindung, nicht fehlt.
Das Denkmal ist im Vorgarten des Berliner Universitätsgebäudes aufgestellt worden.
Bei der Einweihung, welcher die Kaiserin und Prinz Friedrich Heinrich beiwohnten, feierten namens des Komitees Staatsminister v. Delbrück, namens der Universität deren Rektor Prof. Waldeyer den großen Naturforscher in schwungvollen Reden.
Die Drachenschlucht im Annathal bei Eisenach. (Mit Abbildung.)
Bleibt der Grundcharakter des Thüringer Waldes, wenigstens in seinem nordwestlichen Teile, ein mehr anmutiger denn großartiger, so hat dieses deutsche Mittelgebirge – das grüne Herz Deutschlands! – doch eine Sehenswürdigkeit zu verzeichnen, die wie eine tiroler Klamm anmutet: die Drachenschlucht bei Eisenach.
Oberhalb Eisenach durchschreitet man das ein gut Stück von Villen noch bekränzte Marienthal, bis endlich die Natur in ihre Rechte tritt. Gewaltige Felsbastionen rahmen das Thal ein. Zur Rechten grüßt von hoher Zinne die Wartburg, links türmt sich die steile Wand des Breitengescheid auf. Schluchten öffnen sich; Bergwelle drängt sich an Bergwelle. Dann engt sich der Grund. Das Annathal beginnt! Ein verträumter Teich spiegelt der Bäume neigende Wipfel wieder. Waldvögel lärmen im Dickicht, ein Bach plätschert zur Seite. Von den Wänden rieselt es in feinen Wasserfäden. Immer dichter rücken die Felsen zusammen. Jetzt herrscht nur noch süßes Dämmerlicht. Ein kleiner Wasserfall braust nieder. Daneben ist in die grünbemooste Felswand ein großes A gegraben, zu Ehren der Königin Anna der Niederlande, einer Schwester der verstorbenen Großherzogin Sophie. Dann reißt vor uns die Drachenschlucht auf. Es tropft und rieselt, raunt und rinnt von allen Seiten die glitschrigen, grünen Felswände herab. Der Sonne Licht ist entflohen. Oft zeigt die Schlucht kaum 1 m Breite. In den felsigen Kessel, der die Drachenschlucht abschließt, stürzt ein Bach herab. Im oberen Annathal, durch welches der Weg zur „Hohen Sonne“ hinaufführt, begrüßen wir wieder das Sonnenlicht und das Wehen der Wipfel.
Anwendung von X-Strahlen zur Prüfung der Feuerungsmaterialien. Bekanntlich verhalten sich die verschiedenen Körper den X-Strahlen gegenüber nicht gleichmäßig. Die einen sind durchlässig, andere weniger, wieder andere sind völlig undurchlässig. So weisen auch die Bestandteile mineralischer Brennstoffe bezüglich ihrer Durchlässigkeit erhebliche Unterschiede auf. Denn während reine Kohle den Strahlen gar keinen Widerstand bietet, zeigen sich die Beimengungen derselben, wie Silikate, Schwefelkies etc., als undurchlässige Körper, und bei der Durchleuchtung mit den Strahlen verrät sich dem Auge die Anwesenheit selbst des dünnsten Schwefelkiesfädchens oder des kleinsten Stückchens Schiefer. Als Schattenstreifchen oder als dunkler Fleck wird es auf der hell beleuchteten Fläche deutlich sichtbar.
Auf diese Thatsache hat nun ein französischer Gelehrter ein Verfahren gegründet, mit Hilfe der X-Strahlen die Reinheit und damit zugleich auch den Wert der Feuerungs-Materialien zu bestimmen. Mit dem von ihm erfundenen Apparat ist er imstande, die Beimengung von Fremdkörpern bis auf 0,005 zu bestimmen. Ueber den Apparat selbst sind genaue Einzelheiten bisher noch nicht veröffentlicht worden, und nur das Folgende ist bekannt. Eine keilförmig gestaltete Celluloidschachtel, von deren Flächen zwei rechtwinklig zu einander stehen, während der spitze Winkel der dritten Seite derart gewählt ist, daß er zu einer an der Längsseite angebrachten Skala in einem bestimmten Verhältnis steht, wird mit dem gut durcheinander gemengten Staub der zu prüfenden Kohle gefüllt und mit X-Strahlen beleuchtet. Je nach der Menge der Verunreinigungen wird entweder bereits in der Nähe der Keilspitze oder mehr nach dem breiten Keilende zu die Durchlässigkeit aufhören. Die Zahl der Skala der Längsseite nun, die an diesem Punkte sich findet, giebt den Prozentsatz der Beimengungen an. Nach dieser Methode kann man ebenso bequem wie Kohle auch Theer, Asphalt etc. auf ihre Beimengungen prüfen. Dr. –t.
Die Schauenburg bei Dossenheim an der Bergstraße. (Zu dem Bilde S. 513.) An den Vorbergen des Odenwaldes, die sich zum Rhein abflachen, entlang zieht die altberühmte Straße dahin, welche schon zur Karolingerzeit von Frankfurt a. M. ins Neckarthal führte, Seitenstraßen nach den alten Kaiserstädten Worms und Speyer zum Rhein hinabsendend. Die Bezeichnung „Bergstraße“ fiel ihr schon im Mittelalter zu und wurde auch damals schon auf das ganze Gelände angewandt, das sich zwischen Darmstadt und Heidelberg, dem Odenwald und dem Rhein ausdehnt. Von wunderbarer Fruchtbarkeit ist dieser schöne Landstrich, Nußbäume und Edelkastanien gedeihen herrlich zwischen den Rebengärten und Laubwäldern, die mit ihrer grünen Pracht die Berge umhüllen, von denen malerische Burgtrümmer zum Rhein herniederschauen. Und die Burgen wie die vielen kleinen und großen Ortschaften an der Straße künden von einer Kultur, deren Überlieferung sich im glanzvollen Schimmer der deutschen Heldensage verliert. Ueber dies Gelände zogen die Burgundenkönige von Worms aus zur Jagd im Odenwald; hier plante der finstere Hagen Siegfrieds Tod; nach dem Nibelungenlied war das Kloster Lorsch bei Worms eine Stiftung der Königin Ute und die Grabstätte Siegfrieds. Thatsächlich wurde Lorsch unter Philipp dem Kurzen gegründet. Karl der Große wohnte der Einweihung der prächtigen Klosterkirche durch den Erzbischof Lull von Mainz bei. Ludwig der Deutsche wandte dem Stift seine ganz besondere Gunst zu; er fand hier seine letzte Ruhestätte. So gelangten die Aebte von Lorsch im frühen Mittelalter zu seltener Macht, in fürstlicher Stellung herrschten sie über [516] einen großen Landbesitz. Fast alle Burgen der Bergstraße, zu deren Trümmern jetzt der Naturfreund fröhlich wallfahrtet, wurden von ihnen errichtet, so die Starkenburg bei Heppenheim, die Windeck bei Weinheim, das Auerbacher Schloß, auch die Edlen von Handschuhsheim und von Schauenburg waren Burgmannen der Aebte von Lorsch.
Doch in den Mainzer Erzbischöfen bekamen die letzteren allmählich übermächtige Rivalen. 1231 erhielt Erzbischof Siegfried von Mainz von Kaiser und Papst die Herrschaft über das Kloster und seinen Besitz übertragen. Doch auch Mainz konnte sich nicht lang’ in Ruhe des umneideten Besitzes freuen: die Pfalzgrafen bei Rhein machten ältere Ansprüche geltend; häufige Fehden entbrannten; um 1460 gewann Kurfürst Friedrich der Siegreiche von der Pfalz die Herrschaft Schauenburg, wobei die Burg in Trümmer gelegt ward.
In den Stürmen des Dreißigjährigen Krieges, welche wiederholt über die Bergstraße brausten, ging dann das alte Kloster Lorsch zu Grunde. 1803, als das Erzstift Mainz säkularisiert ward, fiel dessen Besitz an der Bergstraße Hessen-Darmstadt zu, was Kurpfalz noch von dem Landstrich besaß, kam dagegen an Baden.
Das sind in Kürze die historischen Erinnerungen, welche ein Besuch der malerischen Trümmer heraufbeschwört, die heute noch von der Schauenburg vorhanden sind. Sie liegen über dem Dorf Dossenheim unweit Heidelberg auf einem südlichen Ausläufer des Oelbergs, dessen felsgekrönte Kuppe, der „Edelstein“, zum Neckar und weiterhin zum Rhein grüßt. In dem schönen Prachtwerk „Die Bergstraße mit ihren Schlössern, Klöstern und Burgen von Heinrich Hoffmann“ (Verlag von Edm. v. König in Heidelberg), aus welchem wir die stimmungsvollen Ansichten von der Schauenburg, dem Dorf Dossenheim und der Felskuppe des „Edelsteins“ auf S. 513 wiedergeben, wird die in stiller Einsamkeit gelegene Ruine als ein auch baugeschichtlich besonders interessantes Denkmal gepriesen. Der Uebergang der altgermanischen Wallburg in die Feudalburg des 12. und 13. Jahrhunderts läßt sich an diesen Mauerresten deutlich wahrnehmen. Ein altgermanischer kleinerer Ringwall gab den Grund zur Anlage der Burg, deren Lage unweit des Zusammenflusses von Rhein und Neckar von besonders wichtiger strategischer Bedeutung war. Das sauber gehaltene Dorf Dossenheim liegt ungefähr gleich weit von Heidelberg und Weinheim, welche neben der hessischen Ludwigsbahn eine Straßenbahn verbindet. Für beide ob ihrer schönen Lage weitberühmten Städte bildet die Schauenburg einen beliebten Ausflugspunkt; nicht weniger für die hessischen Sommerfrischorte der Bergstraße, Heppenheim, Bensheim, Auerbach, Zwingenberg, Jugenheim, Seeheim, die von Frankfurt a. M. und Darmstadt aus so gern aufgesucht werden.
Der neue Berliner Müll-Schmelzofen. (Mit Abbildung.)
[Da der Verfasser erst 1954 verstorben ist, kann dieser Text hier erst ab 2025 transkribiert werden.]
W. Berdrow.
Wie weit hört man den Donner? Aus der Anzahl der Sekunden, die zwischen Blitz und Donner verstreicht, läßt sich annähernd berechnen, wie weit die nächste Stelle des Blitzes von dem Beobachter entfernt ist. Man multipliziert die Zahl der Sekunden mit 340, da der Schall in der Sekunde 340 m zurücklegt. Sind zwischen Blitz und Donner 10 Sekunden verflossen, so beträgt die Entfernung 3400 m. Auf Grund solcher Beobachtungen ist ermittelt worden, daß der Donner nur auf verhältnismäßig kurze Strecken zu hören ist. Starkes Geschützfeuer vernimmt man noch in einer Entfernung von 100 bis 120 km, während für die Wahrnehmbarkeit des Donners in der Regel 20 bis 25 km als die weitesten Entfernungen berechnet worden sind. Nur ausnahmsweise wurde zwischen Blitz und Donner die Zeit von etwa 100 Sekunden beobachtet, so daß etwa 35 km als die äußerste Grenze für die Hörbarkeit des Donners gelten dürfen.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[516 a]
Taillenverzierung. Zu den jetzt so beliebten Kostümen mit Jacke steht ganz besonders hübsch ein Einsatz aus Damast oder Moiré, mit Krepp- oder Gazerüschen besetzt, der wie eine Krawatte über irgend einer einfachen Weste getragen werden kann. Der rückwärts geschlossene Kragen ist von demselben Seidenstoff wie der kleine dreieckige Latz, die weißen Plissees, mit schmalen Spitzen ooer Gazerüschen besetzt, sind durch eine gleiche Rüsche auf dem Seidenstoff befestigt. Sehr schön wirkt auch ein Stück Spitze auf farbig seidener Unterlage als Einsatz.
Plastische Arbeiten aus Kork. In neuerer Zeit wendet man sich auch vielfach in Deutschland den von den Italienern seit langem schon hergestellten plastischen Arbeiten aus Kork zu. Diese interessanten Arbeiten stellen in der Regel Landschaften, Häuser, Burgen etc. dar, die bildähnlich unter Glas eingerahmt werden; man kann aber auch reizende kleinere Bildchen anfertigen, welche wie plastische Ansichtskarten wirken und, auf den Nipptisch gestellt, dem Auge eine aparte Abwechselung gewähren. In dieser Form dürfte die auch Felloplastik genannte Arbeit besonders bei den Liebhaberkünstlern bald weitere Verbreitung finden, zumal jetzt komplette Arbeitskästen in den Handel gebracht werden, die nicht nur sämtliche feine Werkzeuge, wie Messerchen, Sägen, Feilchen, Korkhobel etc. enthalten, sondern auch geeignetes Korkmaterial, deren Beschaffung bisher viel Schwierigkeiten machte. Auch ein fertiges Probebild liegt bei, ebenso genaueste Anleitung mit Illustrationstafeln. Unbedingt muß nun aber geraten werden, sich nicht sofort an gar zu schwierige Aufgaben zu wagen, sondern gewisse Vorübungen vorzunehmen, um die Bearbeitung des Materials genau kennenzulernen. Hierzu gehört nicht nur das Spalten, Anschneiden, Aussäagen, Feilen etc., sondern auch die Nachahmung der verschiedenen Formen, wie Quadersteine, Gewölbebogen, Mauern, Fenstersimse, Säulchen, Trümmerwerk, Felsgestein, Gebüsch, Bäume, Rasen, Wege etc.
Alles dies ist bei den großen, in einem kastenartigen Rahnten aufzubauenden Arbeiten unbedingt erforderlich, einzelnes davon kann je nach dem Motiv aber auch bei den kleinen Bildchen Verwendung finden. Nach genügender Vorbildung versuche man eine kleine plastische Arbeit zusammenzustellen. Man nehme ein Stück gute weiße Pappe in Kabinettgröße, zeichne darauf die Umrisse eines interessanten Gebäudes, einer Burg etc. und fertige sich in gleicher Größe auf Papier eine genaue Detailzeichnung an. Um die größtmöglichste Plastik zu wahren, schneidet man sich sodann ganz feine, fast papierdünne Korkplättchen zurecht, auch etwas stärkere von etwa 1 mm Dicke. Erstere werden den Umrissen der Zeichnung entsprechend zugeschnitten, auf den Karton geklebt und später durch Herausschneiden der Fensteröffnungen, Aufleimen schmaler Simschen, Balkons etc. weiter bearbeitet. Letztere werden den unteren Korkplättchen an allen jenen Stellen vorgeklebt, welche massiger heraustreten sollen und also perspektivisch mehr nach dem Vordergrund zu liegen kommen, zum Beispiel vorstehende Flügelanbauten, vorgelagerte Mauern etc. Je tiefer im Hintergrund, desto dünnere Korktäfelchen sind also zu nehmen und umgekehrt. Ist die Entfernung zu groß, so malt man am besten alle Einzelheiten, Fenster etc. mit Farbe auf, andrerseits hinterklebt man sehr im Vordergrund liegende größere Fenster mit Gelatinepapier. So giebt es noch verschiedene Fingerzeige, die aus der Anleitung schnell zu erlernen sind.
Serviettenetui für die Reise. Wer zu längerem Aufenthalt in einer Sommerfrische weilt, legt gewöhnlich Wert darauf, im Gasthause immer wieder seine richtige Serviette zu erhalten. Manche
Damen nehmen sich deshalb ein Serviettenetui mit, welches sehr leicht herzustellen und beim Einpacken durchaus nicht platzraubend ist (s. Abb.).
Aus Schifferleinen oder sonstigem waschbaren Stoffe schneidet man einen Streifen von etwa 30 cm Länge zu 22 cm Breite, säumt die Ränder ein und umgiebt sie mit schmaler gehäkelter Spitze; als Futter dient Satin oder Kattun.
Zwei am Ende der einen Breitseite angenähte Bindebänder, welche zum Schließen der Rolle dienen, wenn die Serviette hineingewickelt ist, vervollständigen das Etui, dessen Außenfläche noch das in Stielstich gestickte Monogramm der Besitzerin trägt. H. R.
Wattiertes und zusammenlegbares Fußbänkchen. Viele ältere Leute, besonders Damen, können beim Aufenthalt in öffentlichen Gärten, im Eisenbahnwagen etc. nicht gut eine weiche bequeme Stütze für die Füße entbehren. Deshalb empfiehlt sich das rechts oben abgebildete Fußbänkchen, welches aus einfachem Holz von jedem Tischler billigst angefertigt wird; die Höhe beträgt 12, die Länge 30 und die Breite 18 cm. Die Beine des Schemelchens sind nicht fest angeleimt, sondern mit Metallgelenk befestigt, so daß sie sich umklappen lassen und alsdann an der Innenwand unten anliegen, wo sie durch Häkchen oder dergleichen festgehalten werden. Auf der oberen Fläche des Bänkchens befindet sich, durch messingne Tapezierernägel befestigt, ein flaches wattiertes Kissen von etwa 23 cm Länge und 14 cm Breite, das man sich sehr gut selbst anfertigen kann. Hüben und drüben an dies Polster ist eine kräftige Lederkordel angenäht, mittels welcher die Fußbank, nachdem die Beine umgeklappt worden, sich bequem tragen läßt.
Schwammtuch für die Reise. Ein Stück dünnen gemusterten Guttaperchastoffs, das im Viereck 40 cm mißt, wird ringsum mit farbiger Litze eingesäumt, während an einer Ecke zwei lange Bindebänder und eine Schlinge zum Aufhängen angenäht werden.
Mittels letzterer an der Wand hinter dem Waschtische aufgehängt, schützt das Tuch die Tapete vor der Berührung der nach täglichem Gebrauch feucht gewordenen Schwämme. Auf Reisen legt man die Schwämme in die Mitte des ausgebreiteten Tuches, schlägt dessen vier Enden kreuzweise übereinander, so daß eine Tasche entsteht, und bindet dieselbe mit Hilfe der Bänder zu. Dies Verfaähren hat vor dem sonst in Gebrauch stehenden Schwammbeutel den Vorzug größerer Leichtigkeit beim Einpacken; auch hält das Tuch länger als der Beutel und kann nach dem Aufwickeln immer wieder gut ausgelüftet werden.
Koffer-Etikette. Praktisch für die Hochsaison der Reisezeit, in der leider öfter einmal der Koffer eine andere Reiseroute nimmt als sein Besitzer, ist ein Etikette-Etui aus Leder zum Einschieben eines mit Namen und Endstation versehenen Kartons, das dem Koffer angeschnallt wird. Die Wiedererlangung des Ausreißers ist dadurch bedeutend erleichtert.
Das Etui besteht aus zwei je 11 cm langen, 6 cm breiten Lederteilen, die bis auf den einen abzurundenden Querrand aufeinander fest gesteppt werden. Die offenen Querränder erhalten einen Einschnitt, durch den, nach dem Einschieben der Adresse, der kleine Schnallriemen zu ziehen ist.
Schutzhülle für ein Fahrrad. Heimgekehrt von froher Ausfahrt wird das Stahlroß sauber gereinigt und blitzblank geputzt, aber bis zum nächsten Gebrauch lagert sich nur zu leicht wieder der Staub auf demselben. Dies zu verhindern, fertigt man eine Schutzhülle aus grauem Leinen oder aus Baumwollstoff, die auch besonders praktisch bei einem weiteren Transport des Rades ist. Man gebraucht zwei Stoffteile, die der Form des Rades entsprechen, am geraden unteren Rande ihre größte Breite haben und nach oben abzurunden sind; ihre Höhe entspricht reichlich der des Rades. Will man das Abschrauben der Lenkstange vermeiden, so muß oben noch ein Keil in Breite derselben vorgesehen werden. Die Verbindung der Teile, bis auf die unteren Ränder, geschieht durch französische Naht oder Bandeinfassung. Der untere Rand ist zu säumen und mit Knopfschluß einzurichten.
[516 b]
Allerlei Kurzweil.
Silbenrätsel.
Aus diesen 30 Silben sind 20 zweisilbige Wörter zu bilden, von denen je zwei insofern immer ein Paar bilden, als die Endsilbe des ersten Wortes auch die Anfangssilbe des zweiten bildet. Zehn Silben müssen also je zweimal benutzt werden. Die Wörter bezeichnen: 1. a. einen Mädchennamen, b. eine Gattung Affen; 2. a. einen ehemaligen Städtebund, d. einen Wind; 3. a. eine Blume, b. eine Oelpflanze; 4. a. einen Mädchennamen, d. ein Nahrungsmittel; 5. a. einen Berg in Palästina, k. einen Nebenfluß der Oder; 6. a. eine Stadt in Oberitalien, b. einen deutschen Maler; 7. a. einen Edelstein, b. eine Sumpfpflanze; 8. a. eine Insel bei Italien, b. eine Stadt am Rhein; 9. a. den Pfleger einer nützlichen Art Insekten, b. ein Doldengewächs; 10. a. einen Teil von Afrika, b. einen italienischen Dichter. – Die Anfangsbuchstaben der Wörter unter a. und auch die Endbuchstaben der Wörter unter b. sollen eine wildwachsende Blume nennen. A. St.
Wechselrätsel.
Mit dem l am Ende
Flieg’ ich durch den Klee;
Mit dem r hingegen
Leb’ ich in der See. F. Müller-Saalfeld.
Homonym.
Ich als Befehl – das kannst du nicht!
Als Hauptwort ich – das bist du nicht! E. S.
Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.
Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 15.
Nicht auf dem weichsten Pfühle
Es sich so herrlich ruht
Wie in des Waldes Kühle
Am Ufer frischer Flut.
Hier wähnt das Herz geborgen
Sich froh von jeder Pein;
Es schlummern alle Sorgen
In diesem Frieden ein.
Und Glück wir selig tauschen
Für jedes Weh, das schied,
Wenn Wald und Wellen rauschen
Uns zu ihr traulich Lied. J. Proelß.
Auflösung des Kryptogramms auf dem Umschlag von Halbheft 15.
Auflösung der Arithmetischen Aufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 15.
a.
b. 8 Blättchen mit 88, 10 mit 71 und 7 mit 64 ergeben 1862;
c. 11 Blättchen mit 88, 1 mit 71 und 13 mit 64 ergeben 1871;
d. 8 Blättchen mit 88, 14 mit 71 und 3 mit 64 ergeben 1890.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 15.
für Bücher von E. Scherenberg u. K. Buhle.
Werbung für „Technikum Mittweida“ und „Technikum Altenburg S.-A.“
und Produktwerbung für „Sapolio“
Zur Zeit hier nicht dargestellt. ]
- ↑ Vgl. den Artikel über das Anthropometrische Signalement im Jahrgang 1896, S. 287[WS 1].
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ In der Nummern-Ausgabe: S. 268.