Eine Volksdichterin

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Autor: Karl Schrattenthal
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Titel: Eine Volksdichterin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 647
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[647] Eine Volksdichterin. Die deutsche Naturdichterin Katharina Koch, von der ich den Lesern der „Gartenlaube“ in Nr. 39 des Jahrgangs 1872 und dann wieder in Nr. 28 des Jahrgangs 1892 berichtet habe, ist nun schon zwei Jahre tot. Derartige Erscheinungen, solch poetische Sonntagskinder sind selten. Als die nun Verewigte ihr Auge für immer geschlossen, dachte ich nicht daran, daß unter den deutschen Frauen im Volke noch eine sei, die unter ähnlichen drückenden Verhältnissen ihre Stimme – freilich fast ungehört – im Dichterwald erhebe. Und doch giebt es eine solche, und ihr Gesang soll nicht verhallen, denn sie verdient, ans Licht gezogen zu werden.

Frau Johanna Ambrosius-Voigt – das ist der Name der Dichterin – lebt als Bauernfrau in Groß-Wersmeningken bei Lasdehnen in Ostpreußen. Die Tochter eines armen Handwerkers, besuchte sie bis zu ihrem elften Lebensjahre die kleine Dorfschule ihres Heimatortes und blieb dann bis zu ihrer Verheiratung bei angestrengtester härtester Arbeit im Hause der Eltern, in dem Armut und Krankheit herrschten. Ihre weitere geistige Ausbildung verdankt sie, wie sie schreibt, dem Lesen der „Gartenlaube“. Es ist rührend, aus ihren Briefen zu vernehmen, wie sie und ihre Geschwister sich den Genuß dieser Lektüre nur dadurch zu verschaffen vermochten, daß sie den Morgenkaffee ohne Zucker tranken. „Wir haben entbehrt,“ heißt es in einem dieser Briefe, „freudigen Herzens, um nur dem Geiste Nahrung zu geben. Wenn wir die Finger blutig gesponnen und die gewisse Anzahl Stücke am Nagel war, dann langten wir nach unserer geliebten ‚Gartenlaube‘.“

Mit zwanzig Jahren verheiratete sich Johanna Ambrosius an einen Bauernsohn, nachdem sie auf einigen Gütern als Wirtschafterin thätig gewesen war. Neue Kämpfe, neue Sorgen! Aber in dem vielen Leid, das ihr zu teil wurde, trat die Muse als Trösterin ihr zur Seite, ihr ward gegeben, zu sagen, was sie litt. Das ist alles, was über ihr äußeres Leben zu berichten ist. Ein doppelter Zweck ist es, der mich zu diesen Mitteilungen veranlaßt hat. Einmal möchte ich erreichen, daß der schönen poetischen Begabung dieser Volksdichterin die gebührende Würdigung zu teil werde, dann aber hege ich die Absicht, der leidenden und in sehr ärmlichen Verhältnissen lebenden Frau durch die Herausgabe ihrer Gedichte helfend beizustehen, wie ich es seinerzeit mit so glücklichem Erfolge bei Katharina Koch gethan habe. Und das wird mir leichter gelingen, wenn ich das Interesse des großen Leserkreises der „Gartenlaube“ wachgerufen habe, ein Interesse, das, wie ich zuversichtlich hoffe, nicht ausbleiben wird, wenn die Leser nur erst mit der nachfolgenden Probe aus dem poetischen Schatze der Dichterin bekannt geworden sind. Karl Schrattenthal.     


 Laßt sie schlafen!
Hart am schatt’gen Waldessaume, wo die goldnen Aehren rauschen,
Wo die bunten Sommerkinder Küsse mit dem Zephyr tauschen,
Wo des Rehes keusche Augen schauen durch das Blattgehege,
Schläft, von Mittagsglut umflossen, sanft ein Mägdlein auf dem Wege.

Mit der Sonne um die Wette flimmern goldig ihre Löckchen,
Leicht bedeckt die bloßen Schultern von dem arg zerriss’nen Röckchen,
Zärtlich um die braunen Füßchen sich die schlanken Halme schmiegen,
Drauf gleich bunten Edelsteinen Schmetterlinge sanft sich wiegen.

Rings umher nur Bienensummen, holder Elfen Zwiegeflüster,
Weltverloren dringt der Tauben traulich Girren aus dem Düster,
Sich die langen Seidenhaare aus der Stirn die Aehre fächelt,
Alles atmet Glück und Friedens hold im Traum das Mägdlein lächelt.

Was es träumt, es gleicht dem Bilde, das Natur ringsum gewoben:
Noch von keinem Feind bedrohet, noch von keinem Sturm zerstoben –
Sieht sich glücklich gleich den Blumen, die um keine Nahrung sorgen,
Schwebt auf leichten Vogelflügeln jubelnd in den jungen Morgen,

Sieht in jedem Menschenkinde holder Engel Spielgenossen,
Vom Palaste bis zur Hütte einem Stamme all entsprossen. –
Kinderzeit, mit deinen Träumen führst, in Lumpen oder Seide,
All die süßen kleinen Lämmlein auf derselben Märchenweide!

Lange stand ich vor dem Mädchen, in Gedanken tief versunken,
Hab’ an diesem Unschuldsbilde, meine Seele satt getrunken,
Wehrte ab den wilden Knaben, der mit seinem Wanderstecken
Wollt’, zum Zeitvertreib und Scherze, aus dem Schlaf die Kleine schrecken.

Singend zog er in die Ferne, als ich leise schlich von dannen,
Und es ging ein ernstes Rauschen durch die immergrünen Tannen:
Gönnt der Jugend ihren Schlummer, laßt die Kindlein ruhig träumen,
Glaubt, es wird das kalte Leben niemals seine Pflicht versäumen!