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Die Gartenlaube (1899)/Heft 17

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[516 c]

17. Heft. Preis 10 cents. 15. August 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[516 d]

Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (8. Fortsetzung) 517
Der Monte Pincio in Rom. Von Dr. Albert Zacher. Mit Abbildungen 528
Der Dortmund-Ems-Kanal. Von E. Meinhard. Mit Abbildungen 530
Das lebende Bild. Erzählung von Adolf Wilbrandt 532
Fürst Bismarck und Fr. Ludw. Jahn. Von Carl Euler. 538
Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl. Von Alex. Braun. Mit Illustrationen von Fritz Bergen 540
Der Lebensquell. Erzählung von E. Werner (Schluß) 542
Blätter und Blüten: Die „König Wilhelm-Rast“ bei Rezonville (Mit Abbildungen.) S. 546. – Ueber Reise- und Marschgeschwindigkeit im Mittelalter. S. 546. – Am neuen See im Berliner Tiergarten. Von Alfred Holzbock. (Zu dem Bilde S. 537.) S. 546. – Die deutsche Kaiserin in Berchtesgaden. (Mit Abbildungen.) S. 547. – Wasserdampf als Sprengstoff in Schlagwettergruben. S. 547. – Das Gauß-Weber-Denkmal in Göttingen. (Mit Abbildung.) S. 548. – Für die Gründung eines Bismarck-Archivs. S. 548. – Das Grab des Daphnis. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 548.
Illustrationen: Abbildungen zu dem Artikel „Der Monte Pincio in Rom.“ Die Piazza del Popolo in Rom. Von der Terrasse des Monte Pincio aus gesehen. S. 517. Ein Abend auf dem Monte Pincio zu Rom. Von F. Müller-Münster. S. 520 und 52l. Die Spanische Treppe. Der Brunnen vor der Villa Medici. Die Terrasse des Monte Pincio. S. 529. – Des Löwen Morgengruß. Von F. Specht. S. 525. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Dortmund-Ems-Kanal“. Die Ueberführung des Kanals über die Lippe bei Olfen. S. 530. Uebersichtsplan des Dortmunder Hafens. Das Schiffshebewerk zu Henrichenburg. S. 531. – Neckerei. Von Ch. Landelle. S. 533. – Am Neuen See im Berliner Tiergarten. Von M. Plinzner. S. 537. – Abbildungen zu dem Artikel „Die ‚Kinderzeche‘ in Dinkelsbühl“. Von Fritz Bergen. Die „Kinderlore“ mit den Kindern vor dem Rat. S. 540. Der Aufmarsch der Kinder vor der Schranne und der Spruch des kleinen Obristen. S. 541. Stadtansichten aus Dinkelsbühl. S. 542. Obrist Klaus Sperreut verkündet der Stadt den „Pardon“. S. 545. – Die „König Wilhelm-Rast“ bei Rezonville. Das Reliefbild der „König Wilhelm-Rast“ bei Rezonville. S. 546. – Die Begrüßung der deutschen Kaiserin in Berchtesgaden durch die Schuljugend. Das „Grand-Hotel“ in Berchtesgaden, Quartier der deutschen Kaiserin. Von Fritz Bergen. S. 547. – Das Gauß-Weber-Denkmal in Göttingen. S. 548.


Hierzu Kunstbeilage XVII:0 „Das Grab des Daphnis“. Von M. Rieder.




Kleine Mitteilungen.


Jeannette Schwerin †. Die große Bewegung, welche sich in der Frauenwelt zur Hebung der Lage der Arbeiterinnen und zur Erweiterung des weiblichen Arbeitsfeldes vollzieht, hat soeben eine ihrer bedeutendsten Förderinnen verloren. Frau Jeannette Schwerin, welche am 14. Juli in Berlin plötzlich starb, war eine der begabtesten und erfolgreichsten Führerinnen dieser Bewegung in der Reichshauptstadt. Eben war sie noch anf dem Internationalen Frauenkongreß in London zum Mitglied des Hauptausschusses gewählt wnrden, und kurz zuvor hatte sie die Redaktion des „Centralblattes deutscher Frauenvereine“ übernommen, als der Tod sie ihrer segensreichen Wirksamkeit entriß. Sie mußte sich vor kurzem einer schweren Operation unterziehen, an deren Folgen sie verschieden ist; ihr Leichenbegängnis zeigte durch die überaus große Beteiligung, welcher Liebe und Verehrung die Verstorbene sich erfreute. Sie war die Tochter des Dr. Abarbanell, der sich 1848 in der Berliner Volksbewegung hervorthat; seit siebenundzwanzig Jahren war sie mit dem Arzte Dr. Schwerin verheiratet, der als Vorsitzender des großen Berliner Handwerkervereins sich ebenfalls große Verdienste auf dem Gebiete gemeinnützigen Wirkens erworben hat. Jeannette Schwerin ist Gründerin der „Auskunftsstelle“ der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ in Berlin, zu deren Vorstand sie von Beginn an gehörte. Diese Auskunftsstelle giebt jedem Hilfesuchenden aufs genaueste darüber Bescheid, in welchen Wohlthätigkeitsanstalten, Stiftungen etc. Mittel vorhanden sein könnten, um ihm zu Hilfe zu kommen. Ferner gründete sie eine „Centralstelle für das Studium der Arbeiterinnenfrage“, wirkte erfolgreich für die Errichtung der ersten Volkslesehalle in Berlin und entfaltete ihre glänzende Redegabe sehr eindringlich zu Gunsten der Einrichtung besonderer Fabrikinspektorate für die Arbeiterinnen. Dabei war Jeannette Schwerin eine ausgezeichnete Hausfrau.

Adolf Pichler. Am 4. September dieses Jahres wird der rüstige Altmeister der deutschen Dichter Tirols, Adolf Pichler, seinen achtzigsten Geburtstag begehen. In Innsbruck, wo er bis zur Vollendung seines siebzigsten Jahres als Professor der Mineralogie wirkte, hat am 6. Juli bereits eine Vorfeier stattgefunden, ein Fackelzug wurde unter starker Beteiligung dem Dichter gebracht, der in seinen Werken mit so viel Liebe und Verständnis die Schönheit seiner Heimat und die kraftvolle Eigenart seiner Landesgenossen zu schildern verstanden hat. Adolf Pichler kam als Sohn eines Mautbeamten in Erl bei Kufstein zur Welt. Er studierte in Innsbruck zunächst Rechtswissenschaften, wandte sich aber in Wien der Medizin und den Naturwissenschaften zu. Die große Bewegung des Jahres 1848 fand in ihm einen begeisterten Teilnehmer; als Hauptmann einer Schützencompagnie bestand er mehrere siegreiche Gefechte an der italienischen Grenze. Im Herbst 1848 wurde er Lehrer am Innsbrucker Gymnasium, 1867 erhielt er die oben genannte Professur an der dortigen Universität.

Als Dichter trat Pichler schon im Vormärz hervor; 1846 ließ er seine freiheitlich gestimmten „Frühlieder aus Tirol“ erklingen. Auch seine nächsten Bücher gehörten der Lyrik an. Als er dann in Prosa „Allerlei Geschichten aus Tirol“ erzählte, durfte sich die „Gartenlaube“ seiner Mitarbeit erfreuen. Seine gereifte liebenswürdige Persönlichkeit und ihr interessantes Erleben spiegelt sich gar treulich in den anziehenden erzählenden Dichtungen „Neue Marksteine“ und dem Erinnerungsbuch „Zu meiner Zeit, Schattenbilder aus der Vergangenheit“.

Für Blumenfreunde. Es ist nicht immer leicht, einen in Feld und Wald gepflückten Strauß Blumen zu Hause gut in Gefäße zu ordnen. Die langstieligen darunter lassen sich leicht in Vasen unterbringen, aber was mit den anderen kleinen, oft sehr kurzstieligen Blumen thun, besonders wenn es nur wenige sind? Sie fallen in kleine Väschen leicht hinein, und auf Tellern mit Sand sehen sie nicht hübsch aus. Aus dieser Verlegenheit hilft uns leicht ein Streifen weichen Bleis, der im Kreis oder als Spirale in jede Vase, jedes flache Gefäß gelegt werden kann. Durch diese Unterstützung sehen gerade die kurzstieligen unscheinbaren Blumen sehr hübsch aus; sie bleiben an dem gewünschten Platz stehen, denn man kann den Bleirand beliebig groß oder klein, hoch oder niedrig machen. Wenn nötig, wird er mit etwas Moos gedeckt, das gut zu den Blumenfarben steht. Rosen kann man auf diese Weise in flacher Glasschale zum prachtvoll großen Strauß ausbreiten und die langstieligen Blumen aufs schönste hoch übereinander aufbauen.

Die Bleistreifen, denen man mit leichtem Druck jede beliebige Form geben kann, sind in jeder Eisenhandlung erhältlich.

Wer es einmal versucht hat, seine Blumen, besonders auch für Tafelschmuck, mit Hilfe von Bleibändern zu arrangieren, mag diese nicht mehr entbehren.

Das Pressen von Naturpflanzen. Die Natur mit ihrem Reichtum an Blumen und Pflanzen weckt bei Tausenden die Lust am Pressen und Aufbewahren derselben zu Sammlungs- oder anderen Zwecken. Aber selten gelingt es bekanntermaßen, blaue und rote Blumen in ihrer natürlichen Farbe zu erhalten, und selbst das sorgfältigste Arbeiten und tägliche Umlegen der Blumen zwischen den Fließpapieren in der Presse sichert nicht immer den gewünschten guten Erfolg. Man kann diesen jedoch leicht erreichen, wenn man eine Imprägnierungsflüssigkeit zu Hilfe nimmt, welche aus 12 g Salicylsäure, 25 g Kampfer und 150 g Glycerin besteht; jedes löst man einzeln in 1/3 l gutem Alkohol und gießt dann alles zusammen, wonach die Lösungen noch tüchtig durch Schütteln gemischt werden. Die zum Pressen bestimmten Fließpapiere läßt man sodann in einem flachen Gefäß mit der Flüssigkeit gut durchtränken und an der Luft trocknen. Am ersten Tage preßt man die Blumen, aber nur sanft, in üblicher Weise zwischen gewöhnlichem Fließpapier, am zweiten Tage legt man ein imprägniertes Papier unter, bestreicht die Blumen mittels Pinsels mit der Imprägnierungsflüssigkeit, die in gut verkorkten Flaschen aufzubewahren ist, und deckt ein gewöhnliches Fließpapier darüber. Am dritten Tage ersetzt man letzteres durch ein imprägniertes Fließpapier und erhöht zugleich den Druck der Presse. Das Mittel bewährt sich bei den meisten Pflanzen ganz vorzüglich, und namentlich blaue und rote Blumen behalten dabei ihre natürliche Farbe. Man nehme die Arbeit stets am Tage vor, da die Alkoholflüssigkeit feuergefährlich ist.

Engerlinge im Garten – welchen Verdruß bedeutet das! Kein Pflänzchen ist vor ihnen sicher, sie zerfressen alles: die zarten Würzelchen der Gemüse, die härteren der Baumpflanzungen, und der Rasen geht förmlich ein. Um Engerlinge zu vertreiben, rät man häufig, Maulwürfe einzusetzen. In der Not frißt der Maulwurf Engerlinge, wenn er aber Regenwürmer genügend hat, verschmäht er sie, ganz abgesehen davon, daß im kleinen Garten der Maulwurf auch kein angenehmer Gast ist. Man kann Engerlinge aber ziemlich leicht auf folgende Weise fortbringen. Es wird auf der einen Seite desjenigen Beetes, in dem sich die Engerlinge besonders stark aufhalten, ein Graben aufgeworfen, 40 cm tief. Auf die Sohle des Grabens bringt man eine 25 cm hohe Schicht Dünger. Die Engerlinge ziehen alle nach dem Dünger und sammeln sich massenhaft unter ihm. Wird der Dünger im Verlauf von einigen Wochen gehoben, so läßt sich eine tüchtige Menge der lästigen Gäste ohne Mühe sammeln und zur Fütterung für die Hühner gebrauchen. Man bringt den Dünger nachher wieder ein und wiederholt das Aufdecken, bis der Fang sich nicht mehr lohnt. Dann macht man eine längere Pause. Im Herbst ist diese Art des Fanges am lohnendsten. Die Engerlinge suchen dann einen warmen Unterschlupf und sind im zeitigen Frühjahr fast alle unter dem Dünger versammelt.

Blumenversendung. Ein gutes Mittel, um selbst im Sommer frische Blumen und Zweige so zu verpacken, daß sie unverwelkt ankommen, verrät uns eine erfahrene Gärtnerin. Sie erkundigt sich genau voraus, wann sie zur Post müssen, um sie möglichst wenig Zeit unterwegs zu lassen, und schneidet sie womöglich frühmorgens oder nach Sonnenuntergang ab. Dann umwickelt sie das abgeschnittene Ende jedes Stieles sehr fest erst mit nasser und darüber mit etwas trockener Watte, packt, die Blumen im übrigen ganz trocken und fest aufeinander und deckt noch trockene grüne Blätter oder Holzwolle darüber. Kommen die Blumen an, so werden sie wieder ganz frisch, wenn man zuerst die Stiele ein wenig kürzt und dann die ganzen Stengel und Zweige in eine flache Schüssel voll Wasser bringt, so daß die Köpfchen der Blumen auf den trockenen Rand zu liegen kommen; in wenig Stunden erholen sie sich wieder.

[516 e]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. Els.

DAS GRAB DES DAPHNIS
Nach dem Gemälde von M. Rieder

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 17

[517]

Halbheft 17.   1899.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.

(8. Fortsetzung.)

Schon am ersten Tage bemerkten Oberamtmanns, daß das, was für sie ein Opfer bedeutet hatte, nämlich Susanne zum Dableiben einzuladen, viel Segen trug.

Ihre Tochter, von deren nächtlichen Seelenkämpfen sie nichts ahnten, bestrebte sich ersichtlich, gleichmäßiger, geduldiger zu sein. Sie schrieben es Susannens Einfluß zu.

Und dann war Susanne auch sogleich derart gut Freund mit Leo und Milly, daß die Kinder förmlich an ihr hingen und Festtage durch sie erlebten.

Außerdem hatte sie eine frische, unbefangene Art, mit dem Oberamtmann umzugehen, dessen pedantische Tyrannei ihr nicht imponierte, die sie einfach für Spaß nahm und gerade hierdurch oft entwaffnete.

Mit der Oberamtmännin spielte sie jeden Nachmittag von Vier bis Fünf vierhändig. Die Oberamtmännin hatte eine gewisse Leidenschaft für Ouvertüren, und die Ouvertüre zu „Dichter und Bauer“ war ihr Liebling. Eifrig im Takt sich wiegend, mit freudigem Gesicht, saß sie dann vor den Tasten. Sabine

Die Piazza del Popolo in Rom.
Von der Terrasse des Monte Pincio aus gesehen.

[518] verzweifelte oft daran, immer und immer wieder dies selbe Stück hören zu müssen. Die schmeichelnd banalen Melodien blieben ihr in unerträglicher Weise im Gedächtnis haften und vermengten sich mit ihren todtraurigen Gedanken.

So flössen die Tage in melancholischer Friedlichkeit dahin.

Eines Nachts kam von Osten her mit schneidenden Winden auf einmal der Winter. Schnee trieb gepeitscht am Fenster vorüber, und als es gegen Mittag stiller wurde, fiel er sanft und unaufhörlich und deckte die Straßen und Dächer. Die Fassade des spitzgiebligen Hauses vom Nachbar Crolpa war beinahe anzusehen wie ein altes Gesicht mit einer weißen Haube herum.

Der Oberamtmann saß behaglich am Fenster. Das mochte er leiden, wenn die Welt so in stillem, weißem Schnee sich versteckte. Und für den Landmann war es auch gut.

„Morgen haben wir schönes Wetter. Da solltet ihr mal ein bißchen an die Luft,“ sagte er zu Susanne, „bisher wollt’ ich ja nichts sagen, bei dem Regen alle Tage! Aber die ewige Stubenhockerei taugt nicht. Ich mein’, Sabine wird eher magerer und blasser als wohler. Und wir leben doch so still und gemütlich und haben keine Aufregung. Und Sie selbst, Susannchen – Sie sind nicht mehr so frisch wie vor vierzehn Tagen. Ihre Mama kommt uns auf den Pelz. Sie müssen an die Luft.“

„Sabine mag nicht ausgehen und ich mag sie nicht verlassen.“

„Sie sind eine treue kleine Seele,“ sagte der Oberamtmann und sah ihr wohlgefällig in die klaren Augen.

Freilich wird Sabine magerer und bleicher und freilich werd’ ich weniger frisch, dachte Susanne, wenn man so die halben Nächte nicht schläft!

Alles, was am Tage zugedeckt bleiben mußte, gruben sie des Nachts aus.

Ruhelos wanderte Sabine hin und her. Hörend, mit all ihren Gedanken wach und interessiert, lag Susanne im Bett.

Die Kinder schliefen jetzt mit Lisbeth oben in der Schrankstube. So hatten die beiden Freundinnen die Nacht für sich, zu besprechen, was sie beide nie ermüdete, daran sie sich nie satt sprachen.

Sabinens Liebe und Sabinens Haß. Achims Recht und Achims Unrecht.

Einmal gestand Sabine es zu, vernichtet von her Macht det Thatsachen, daß der Mann, der ihren Gatten erschossen, in der That niemals ihrer Kinder zweiter Vater hätte werden können. Und dann war Achim der herrlichste Mann, und mit flammenden Augen rief sie, daß es wert sei, zu leben, um ihn still und von fern zu lieben, dann weinte Susanne vor Rührung und verstand sich ganz mit der Freundin.

Aber das andere Mal glomm der Zorn auf gegen ihn und sich. Sie schwor, ihn zu hassen. Nicht leben zu können, weil ein Mann sie geküßt, der nicht ihr Gatte wurde! Sie nannte ihn feig, herzlos, wankelmütig. Und dann richtete Susanne sich auf und verteidigte ihn mit feurigen Worten.

Der Gram und der Zorn waren häufiger als die gute Stimmung. Aber so oder so: Susanne sah, daß die Unglückliche sich aufzehrte. Oft erschrak sie über die Magerkeit ihrer brennenden Hand.

„Wenn ich dir doch nur Ruhe schaffen könnte,“ klagte sie.

Da gestand Sabine ihr, daß es wohl ein Mittel gebe, ihr die Ruhe, zurückzubringen.

„Geh du zu ihm,“ sagte sie, „fordere meine Briefe von ihm zurück. Ich habe eine schreckliche Vorstellung. Er wird mich bald vergessen – er hat es vielleicht schon! Er wird eine andere lieben! Er wird heiraten! Dann wird vielleicht eines Tages eine andere, die mich nicht kennt und nicht versteht, über diese Briefe kommen. Der Gedanke quält mich.“

„Du wirst ihn tödlich beleidigen mit solcher Zumutung,“ rief Susanne.

„Er hat mich auch tödlich beleidigt, als er meine Liebe zurückwies,“ sprach sie finster, den geheimsten Trieb verratend, der sie zu diesem Wunsch drängte – den Trieb, wieder zu schlagen, wo sie sich geschlagen wähnte.

„Schicke deinen Bruder!“

„Reinald einweihen? Damit er es Martha anvertraut?“ fragte sie.

„Das wird er nicht!“

„Männer können nicht schweigen, am wenigsten vor ihrer Braut. Da sind sie alle jammervolle Schwätzer.“

„Laß Onkel Fritz ihn schriftlich bitten,“ schlug Susanne vor.

„Nein! All dies sei mit Schweigen zwischen ihm und mir bedeckt. Zwei Menschen wissen nur um mein Elend. Du – mit der ich alles reden kann. Er – der mich mit Schweigen schont und versteht. Laß mir das! Das ist die einzige Wohlthat, die mir ward.“

„Aber ich kann doch nicht zu ihm gehen!“ rief Susanne. Sie zitterte vor dem Gedanken.

„Du mußt! Du hast mir versprochen, mir jeden Dienst zu leisten, den ich fordern würde. Es ist auch nicht um die Briefe allein. Du sollst ihm sagen, daß er fort von hier zu gehen hat. Er und ich sind zuviel in einer Stadt! Du siehst es ja: wir wagen uns nicht auf die Straße, aus Angst, ihn zu sehen. Er muß sich von hier versetzen lassen.“

So sprach Sabine, herrisch und entschlossen, jede Nacht, immer wieder.

Es war ihre fixe Idee, sie kam immer darauf zurück und forderte nur dies eine. Sie sagte, daß sie dann ruhig werden würde, ganz ruhig. Eher aber nie.

Durch das tägliche Reden fing Susanne an, die Ausführung für möglich zu halten. Nur ….

Alles Zagen, alle „wenn“ und „aber“ hatten einen innerlichen Grund. Die äußerlichen Umstände eines solchen Unternehmens schreckten sie nicht. Daß jemand sie beobachten, sich darum kümmern könne, wenn sie zu Achim von Körlegg ging, fiel ihr gar nicht ein. Sie war in Berlin aufgewachsen, wo man von seinem Nachbar nichts weiß und wo es vorkommen kann, daß man erst in der Zeitung liest, daß nebenan Mord und Totschlag war.

Es gab für sie und Sabine überhaupt in Mühlau keine Mühlauer. Es gab in der ganzen Welt nur einen Menschen und nur eine Angelegenheit.

Und beide hatten heimlich den verzehrenden Wunsch, genau zu wissen, wie Achim lebte, dachte, fühlte.

„Du mußt zu ihm gehen.“

„Ich kann es nicht.“

So hieß es täglich zehnmal.

„Wie soll ich seine Wohnung finden?“

„Ich begleite dich so weit, daß ich dir das Haus zeigen kann. Im Sommer hab’ ich oft hineinsehen können, wenn die Hausthür aufstand. Da ist ein Flur mit roten Ziegelsteinen gepflastert. Links eine Thür: dort wohnt die Advokatenwitwe Leermann, seine Wirtin. Rechts eine Thür: die führt in sein Wohnzimmer. Du kannst gar nicht irren.“

Und endlich versprach Susanne, hinzugehen; sie gab das Versprechen zum Schein, wie man einem Kranken alles zugiebt und nicht mehr widerspricht.

Dann aber sah sie, daß Sabine von Stund’ an ruhiger, wohler, zuversichtlicher wurde. Und da glaubte sie, es sei ihre Pflicht, Selbstüberwindung zu üben und wirklich den Gang zu wagen, obschon ihr war, als würde sie die Aufregung, Achim wiederzusehen, nicht überleben.

Es wurde beschlossen, daß Susanne am nächsten Tag zwischen Fünf und Sechs gehen solle.

Aber den Tag kam die Doktorin Sebold. Und am folgenden Reinald. Und dann war Trioabend. Die Freundinnen verzehrten sich vor Ungeduld.

Und an diesem Tage kam der Oberamtmann mit einem Vorschlag. Am achtzehnten Dezember war Ressourceball. Er war seit seinen jungen Jahren Mitglied der Ressource, einer geselligen Vereinigung, welcher die Honoratioren von Mühlau, die Elite der Gutsbesitzer aus der Umgegend und die Offiziere des Regiments angehörten. Obschon Oberamtmanns seit Jahren nicht mehr zu den Festlichkeiten gingen, war die Zahlung des Mitgliederbeitrages doch eine von jenen Ausgaben, von denen der Oberamtmann sagte: man kann nicht gut umhin. Nun hatte er mit seiner Frau besprochen, daß man „Susannen doch einmal etwas bieten müsse.“

Sabine ihrerseits, als ihre Eltern bei Tisch damit herausrückten, lehnte gleich für sich rundweg ab.

[519] „Ich danke Ihnen sehr,“ sagte Susanne, „ich bin hier ganz fremd. Ich würde ja kaum Tänzer finden. Ich bleibe bei Sabine.“

„Der Ressourceball ist eine sehr noble Festlichkeit,“ sprach der Oberamtmann, „die feinsten Leute aus der Stadt und Landschaft lernen Sie da kennen. An Tänzern ist nie Mangel. Die Offiziere von den anderen beiden Bataillonen aus der Nachbargarnison kommen auch. Sie könnten mit Voigtstedts und Reinald gehen. Die Voigtstedt bemuttert Sie gern. Das ist auch eine nette Frau.“

„Gewiß,“ sagte Sabine bevormundend, „sie nimmt es an. Sie geht mit. Wir wollen nachher gleich sehen, ob wir eins von meinen Kleidern umändern können.“

Susanne wollte sich wehren. Sie verstand Sabine nicht. Aber ein beredter Blick derselben ließ sie schweigen. Kaum waren sie allein, so überhäufte sie Sabine mit Vorwürfen.

„Das geht zu weit! Was soll ich da? Mich tödlich mopsen? Beinah’ kann es ja komisch werden! Wozu dies nun wieder?“ fragte Susanne.

„Was du da sollst? Ganz einfach. Wenn wir morgen und weiter wie Gefangene hier sind und immer keine Möglichkeit kommt, daß du zu Achim gehen kannst, dann wirst du ihn auf dem Ball sehen. Wenn er aus der Liste weiß, daß ich nicht da sein werde, kommt er sicher. Es ist alter Höflichkeitsbrauch der Offiziere gegen die hiesige Gesellschaft, nicht zu fehlen. Der Major hält streng darauf.“

Susanne wurde rot.

„Aber ich kann ihm doch auf dem Ball nicht solche Sachen sagen!“

„Nein. Aber mit drei Worten ihm sagen: ich muß Sie morgen vormittag da und da sprechen – das kannst du!“

Susanne machte keine Einwendungen mehr.

Die folgenden Tage gingen mit allerlei Schneiderarbeit hin. Sie gab den beiden Vorwand, viel hinten in Sabinens Stube zu sein und zuweilen zusammen auszugehen, um Besorgungen zu machen. Dabei lernte Susanne das Haus kennen, wo Achim wohnte. Aber allnachmittäglich schien sich das Schicksal förmlich gegen sie verschworen zu haben; es ward ihnen immer unmöglich gemacht, ihren Plan auszuführen.

Endlich, am fünfzehnten, drei Tage vor dem Ball, schlug es fünf Uhr, ohne daß ein Nachmittagsbesuch gekommen wäre.

„Wir gehen noch eben zu Weiler,“ sagte Sabine, „in den Ausschnitt von Susannens Kleid müssen noch Spitzen.“

„Die laufen sich was zurecht wegen des Kleides,“ sprach der Oberamtmann hinter ihnen her, „ja, ja, was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben.“

„Laß sie nur,“ meinte die Oberamtmännin milde, „sie haben doch wenigstens nun was vor, was sie beschäftigt.“

Zitternd und hochatmend standen sie auf der Straße. Am dunkelblauen Nachthimmel flimmerten und fackelten die Sterne so sonderbar. Auf dem festgetretenen Schnee knirschte jeder Schritt. Unter Küps’ Fenster, im Schein der Ladenbeleuchtung, glitt auf klappernden Pantoffeln eine Schar von Kindern dahin, die hatten sich da eine Glitschbahn gemacht und schrieen vor Vergnügen.

Aus den Wohnungen kam durch herabgelassene Rouleaus sanftes Licht. Manchmal bewegten sich Menschenschatten dahinter.

Eine schwarze Katze lief über den Weg. Fern bimmelte eine Hausthürglocke hell und lang’.

Schweigend und frierend hasteten die beiden vorwärts.

Einmal begegnete ihnen ein Offizier, die Hände in den Paletottaschen, die Nase in dem hochgeschlagenen Kragen.

Mein Gott – wenn er es wäre! Wenn er nicht zu Hause wäre?!

Aber er war es nicht.

Und nun standen sie auf dem linken Bürgersteig der Straße. Rechts, drüben, ein Streckchen weiter hinauf, leuchtete aus seinen beiden Fenstern das Licht.

„Er ist da! Gottlob!“ sagte Sabine wie erlöst. Daß er da, aber etwa nicht allein sein könne, fiel weder ihr noch Susanne ein. Es schien, als ob in all der fortgesetzten, wochenlangen Aufregung ihre gesunden und klaren Gedanken aus der Bahn geworfen worden wären. Sie lebten so im Ungewöhnlichen, daß ihnen das Gewöhnliche ganz aus dem Blick gerückt war.

„Ich kann es doch nicht!“ sprach Susanne plötzlich, „ich kann ihn nicht wiedersehen!“

Sabine griff nach ihrem Arm.

„Wie,“ raunte sie leidenschaftlich, „du willst mir wortbrüchig werden? Auch du? Seit Wochen habe ich nur gelebt für diesen Augenblick! Und nun willst du feige …“

„Gut. Ja. Ich gehe,“ stieß Susanne hervor.

„Ich warte. Ich gehe auf und ab.“

Ihre Stimmen waren ganz heiser.

Susanne lief über den Fahrdamm, ging unter seinen Fenstern hin und öffnete die Hausthür. Die hatte eine neue Glocke, die zweimal tönend und durchdringend anschlug, einmal beim Oeffnen, einmal beim Zuschlagen der Thür. Die beiden Töne hatten für Susannens Ohr betäubende Gewalt. Der Schreck ließ sie besinnungslos vorwärts handeln. Sie klopfte an die Thür gleich rechts.

„Herein!“

Und sie stand drinnen, sich mit der Linken an den Thürpfosten klammernd, das Haupt nach links geneigt, als brauche sie eine Stütze.

Achim sprang auf. Er hatte am Tisch gesessen und geschrieben, im Lichtkreis der Lampe lagen allerlei Papiere.

Er glaubte nicht, was er sah ……

Atemlos, furchtsam, mit großen blauen Augen unter dem Pelzmützchen stand da Susanne?

War sie es wirklich?

Und eine Freude wallte in ihm auf, eine Freude, deren Kraft und Tiefe ihn selbst überraschte.

„Susanne – Fräulein Susanne!“

Aber die Freude flutete zurück, wie sie gekommen war: in jäher Wallung. Und ein namenloser Schreck machte ihm die Wange fahl.

Sie hier! In seiner Wohnung! Welch rührende Thorheit! Welcher Leichtsinn – der Leichtsinn eines reinen unbefangenen Herzens.

Wenn, jemand käme?!

War ein Unglück geschehen?

Er trat auf sie zu und nahm ihre rechte Hand.

„Mein liebes und teures Fräulein,“ sprach er mit bebender Stimme, „Sie kommen zu mir?! Wohl in außerordentlicher Veranlassung. Aber welcher Art diese auch sei – sagen Sie schnell, schnell, was Sie zu sagen haben!“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn immerfort an.

Alle Reden waren fertig gewesen, jedes Wort, das gesagt werden sollte, in langen Beratungen mit Sabine festgestellt. Und, nun war alles weg. Sie konnte nichts sagen. Kein Wort.

Das klaräugige Mädchen! dachte Achim und wußte nicht, wie ihm in diesem angstvollen Augenblick das Wort des alten Herrn einfallen konnte. Aber sie sah ihn auch so an: so groß, so bang, so staunend.

„Kommen Sie aus eigenem Antrieb?* fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Mit einem Auftrag von … von …“

Der Name schien ihm nicht recht von den Lippen zu wollen.

Aber Susanne nickte heftig.

Achims Züge verfinsterten sich. Er hatte ein Gefühl von Zorn gegen Sabine: wie konnte sie, die erfahrene Frau, das junge Mädchen dazu bestimmen, in die Wohnung eines Offiziers zu gehen.

„Was will sie von mir?“ fragte er.

Susanne kam näher an den Tisch.

„Etwas, was vielleicht schwer zu erfüllen ist, denn wir wissen ja recht gut, daß ein Offizier sich nicht immer nur so hin und her versetzen lassen kann,“ hob sie nun leise an. „Sie möchten fortgehen.“

Der Ernst auf Achims Gesicht ängstigte sie. Er würde sicher böse werden. Aber er sagte ganz ruhig:

„Daß Mühlau ein zu kleiner, Ort ist für zwei Menschen, die sich besser nicht mehr begegnen, habe ich mir längst gesagt. Wollen Sie, bitte, Sabine bestellen, daß ich durch persönliche Bemühungen und dank meiner Verbindungen es

[520]

Ein Abend auf dem Monte Pincio zu Rom.
Nach dem Leben gezeichnet von F. Müller-Münster.

[521] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [522] durchzusetzen wußte: ich trete am ersten Januar in mein altes Regiment zurück.“

„Wieder nach Berlin?“ rief Susanne in plötzlicher, freudiger Lebhaftigkeit aus.

„Ja. Nach Berlin. Freut es Sie ein wenig?“ fragte er glücklich lächelnd.

„Ja, o sehr, das heißt … ich meine, Onkel Fritz wird sich freuen. Er hat Sie so liebgewonnen. Sie werden ihn doch besuchen?“

Sie hatte Sabine und alle Ereignisse der letzten Zeit vergessen. Ihre Augen strahlten.

„Gewiß werde ich ihn besuchen, so oft er mir’s erlaubt.“

Herzlich nahm er Susannens Hand.

„Und nun schicke ich Sie fort. Gehen Sie gleich! Daß mich Ihre Gegenwart beglückt und ehrt, brauche ich nicht erst zu sagen. Aber Ihr Geschäft ist gethan. Mein Kamerad Bläser könnte kommen. Ich erwarte ihn.“

„O, ich kenne ja Bläser,“ sagte Susanne verwirrt.

Diese thörichte Antwort rührte ihn sehr. Er sah dem Mädchen innig in die blauen Augen.

„Er darf Sie aber doch nicht hier finden. Und ich, nicht wahr, ich darf nun sagen: Auf Wiedersehn in Berlin?“

„Ich habe aber noch gar nicht alles bestellt,“ brachte Susanne zögernd heraus.

Er ließ ihre Hand fahren.

„Was ist denn noch?“ fragte er unruhig.

„Sabine ängstigt sich … Sabine meint … sie wünscht … sie möchte … sie denkt oft an all die Briefe …“

Sie konnte es nicht herausbringen. Um keinen Preis. Sie fürchtete, er würde rasen und sich verschwören, die Briefe nie, um die Welt nicht, herauszugeben; er habe Sabine geliebt und wolle diese Beweise ihrer Liebe für immer als heiligen Besitz behalten.

Er sah sie erwartend an. Ein schon verstehendes, wehmütiges Lächeln spielte um seine Lippen.

„Sabine möchte ihre Briefe zurück?“ fragte er.

„Ja,“ sagte sie eifrig und erleichtert, daß er sie so schnell verstand, „das möchte sie. Sie denkt, wenn Sie einmal … einmal … heiraten, daß dann diese Briefe keinen Wert mehr …“

„Sie sollen diese Briefe mithaben,“ sprach er voll Haltung. „Wenn ein Weib von einem Mann, den es geliebt hat, ihre Briefe zurückfordert, verweigert der Mann nur in zwei Fällen die Hergabe. Er sagt Nein, wenn er ein Schuft ist, der einmal aus den Briefen Waffen zu schmieden denkt. Er sagt Nein, wenn er das Weib noch immer heiß liebt. Ich bin ein Ehrenmann. Und ich liebe Sabine nicht. Sie weiß es, daß nur eine vorübergehende Leidenschaft mich blendete. Darum gebe ich Ihnen die Briefe zurück. Aber ich bitte Sie, Sabinen zu sagen, daß sie mir immer wert, sehr wert geblieben wären, daß ich sie ihr mit schmerzlicher Bewegung zurückgäbe.“

Er ging an ein Cylinderbureau, das an der Wand neben dem Fenster stand.

Susanne hätte weinen mögen. Alles, was er gesagt, und besonders wie er es gesagt hatte, kam ihr so männlich und so herzvoll vor.

Während Achim aufschloß und drinnen abermals ein Schubfach mit einem Schlüssel öffnete, den er erst aus seiner Tasche holen mußte, erzählte Susanne ganz zutraulich:

„Seit zehn Tagen haben wir es jeden Tag vorgehabt, daß ich zu Ihnen gehen sollte. Die arme Sabine hatte keine Ruhe! Aber nun wird ihr wohl besser werden. Denken Sie sich, sogar auf den Ressourceball wäre ich gekommen, um Sie zu sprechen, wenn es vorher nicht geglückt wäre!“

Er sah auf.

„Und nun?“ fragte er.

„Thut’s nicht mehr nötig!“

„Kommen Sie doch! Ich würde mich freuen. Der Abend, der für mich sonst eine Strafe ist, hätte dann Inhalt,“ sagte er schnell.

Sie schwieg.

„Hier sind die Briefe … ich will sie Ihnen zusammen in einen großen Bogen einpacken … ich …“

Draußen schlug zweimal die Hausthürglocke an mit ihrem melodischen Bim–bam.

„Bläser!“ sagte Achim, und der Schreck fuhr ihm durch den ganzen Körper.

Nein? Er schien es nicht, denn niemand klopfte. Aber gleich danach hörte man Stimmen draußen – die Bläsers, der mit Achims Hauswirtin sprach. Die war also auch auf dem Flur?

Achim trat der Schweiß auf die Stirn. Mit unsicheren Händen packte er die Briefe in einen Bogen.

Gerade war er fertig.

Da klopfte es kurz, und ohne ein Herein abzuwarten, trat Bläser ein. – – –

Eine schwüle Pause entstand.

Bläser, mit einem verlegenen, beinah’ dummen Lächeln auf seinem hübschen Leutnantsgesicht, sah Achim an.

Der biß sich auf die Lippen und atmete kurz.

Susanne war etwas verlegen, ja sie war sogar in Sabinens Seele hinein schuldbewußt. Wenn Bläser nun erriete, daß sie hier war, um Sabinens Briefe zu holen!

Was werde ich ihm sagen? dachte Achim verzweifelt.

Die Wahrheit sagen, hieße Sabinen kompromittieren – sie verschweigen, Susannen bloßstellen.

Inzwischen wunderte Susanne sich doch, daß Bläser so an ihr vorbeisah.

„Kennen Sie mich nicht mehr?“ fragte sie; „wir haben uns doch Ende August im Manöver gesehen, als ich mit Onkel Fritz reiste.“

„Aber gnädiges Fräulein – aber selbstverständlich,“ sprach Bläser und schlug die Hacken zusammen und dienerte wohl sechsmal, „darf ich fragen, wie sich der charmante alte Herr befindet?“

„Danke. Sehr gut. Sind Sie fertig, Herr von Körlegg?“ fragte sie ruhig.

Achim konnte ihre Ruhe nicht fassen.

Aber in Susannens Gemüt war es in der That ganz klar geworden. Die kurze Angst war ganz überwunden. Zuversichtlich dachte sie: Er wird Bläser schon nachher irgend etwas Verständiges sagen und es zu verhüten wissen, daß der die Wahrheit errät.

„Hier, mein gnädiges Fräulein!“ sagte Achim sehr zeremoniös.

„Ich danke Ihnen.“

Sie neigte das Haupt gegen Bläser.

Achim riß die Thür auf. Er konnte nun nicht anders, und wenn zehnmal Frau Leermann etwa auf dem Flur an ihren Leinenschränken herumkramte – er mußte Susannen bis an die Hausthür begleiten wie einen feierlichen offiziellen Besuch. Bläsers wegen konnte er sie nicht eilig entwischen lassen, ihr nicht raten, das Gesicht zu verstecken.

Und Frau Leermann auf dem Flur, einen Tisch mit der Dielenlampe darauf vor den offenen Schrankthüren neben sich, machte Augen und dachte: Ist das nicht das Fräulein, welches bei Oberamtmanns zum Besuch ist?

Als Achim sein Zimmer wieder betrat, fand er Bläser rittlings auf einem Stuhl sitzend, die Hände an der Lehne und ihn mit einem spitzbübischen Lächeln erwartend.

„Sag’n Sie mal, Körlegg,“ begann er, seine Beine weit von sich streckend, „da wir doch in ein und derselben Stunde die Bekanntschaft des reizenden Fräuleins gemacht haben – stehen wir so, daß ich Sie fragen kann: darf man gratulieren?“

Achim stemmte die Faust auf den Tisch und sah auf den andern herab.

„Wenn ich nun sagte, lieber Bläser: Nein, so stehen wir nicht? Aber Sie wissen ganz gut, daß die Situation mich nötigt, Ihnen irgend etwas zu sagen. Einen Glückwunsch darf ich aber nicht annehmen.“

Bläser sprang auf. Er wurde mit einem Male ernst und herzlich.

„Hörn Sie mal – als Ihr Kamerad und als Ihr Freund gewissermaßen, muß ich’s sagen: es ist doch nicht denkbar, daß Ihnen die Familie Schwierigkeiten macht, weil Sie damals die Geschichte mit dem Zeuthern hatten?!“

„Schwierigkeiten,“ murmelte Achim, „wieso meinen Sie?“

„Na,“ sagte Bläser, „daß man sich daran stößt. Zeuthern war doch immer ein Vetter von Fräulein Osterroth. Und Sie [523] werden ja dann gewissermaßen mit der Witwe verwandt. Aber so nah’ ist die Verwandtschaft doch nicht, daß man sich nicht aus dem Weg gehen könnte. Aber wissen Sie – schließlich so’n bißchen Romantik und Heimlichkeit, ehe man zu seinem konzessionierten Glück kommt – das hat seinen Reiz.“

Achim sah es wohl: der andere glaubte steif und fest, daß er mit Susannen so gewissermaßen heimlich verlobt sei. Was sollte Bläser auch sonst denken? Achim mußte ihm noch dankbar sein für diesen Glauben, der doch wenigstens Susannen nicht beleidigte. Was hätte er machen sollen, wenn sein Kamerad auf frivole Gedanken gekommen wäre?

„Lieber Freund,“ sagte er mit allen Zeichen einer gewissen Aufregung, „ich stand und ich stehe allerdings in schweren Konflikten und diese sind in der That Folgen jenes unglücklichen Duellausganges. Mehr darf ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Aber ich bekomme Ihr Ehrenwort: Sie verschweigen, daß Sie Fräulein Susanne Osterroth bei mir gesehen haben. Was Frau Leermann betrifft, so hoffe ich, das Fräulein ist ihr unbekannt.“

Bläser schüttelte ihm herzlich die Hand. Diese allgemeinen Worte nahm er für Zustimmung und Eingeständnis.

„Das versteht sich. Mein Ehrenwort. Aber alle Wetter, Körlegg, wenn Sie’s durchsetzen: das Mädel neid’ ich Ihnen! Trotzdem: im voraus tausend gute Wünsche!“

Und Achim widersprach nicht.

Ich sollte sagen, dachte er, Susanne ist nicht meine Braut, wir lieben uns gar nicht. Ich darf ein solches Mißverständnis nicht dulden! Aber er schwieg.

Seine Zunge war ihm gebunden.

Allerlei Auswege für später sann er aus: ich werde nach einiger Zeit Bläser sagen, daß ich es doch nicht durchgesetzt habe; oder: ich werde der Form wegen um sie anhalten, einen Korb bekommen und dann Bläser sagen, daß es nichts wird; oder: ich werde gar nichts sagen, gar nichts thun, vielleicht vergißt er es.

Die beiden Frauen aber liefen wie Flüchtlinge heim. Sie spürten nicht die schneidende Kälte. Ihre Wangen brannten. Sabine bebte vor Verlangen, jedes Wort zu hören, sich das Zimmer beschreiben zu lassen, wie er selbst ausgesehen habe, wie seine Miene gewesen.

Aber erst als der Oberamtmann und seine Frau schlafen gegangen waren, konnten sie sich aussprechen.

Sabine hielt ihre Briefe auf dem Schoß. Nun hatte sie, was sie gewollt.

Und sie bereute, sie gefordert zu haben. Er hätte doch vielleicht eines Tages wieder darin gelesen – neu, zärtlich ihrer gedenkend.

„Ihr Besitz war ihm doch wert?!“ fragte sie zum zehnten Male, „sagte er so?“

„Ja, er drückte sich sehr edel und warm aus,“ bestätigte Susanne.

„Sah er aus wie jemand, der sehr gelitten hat?“

„Eigentlich nicht. Noch ernster freilich schien er als früher.“

Darüber, daß Bläser Susannen dort ertappt hatte, ging auch Sabine hin wie über eine bloße Unannehmlichkeit.

„Achim wird ihm schon etwas vorreden,“ meinte sie, „damit er auf keine dummen Gedanken kommt.“

Und zuletzt sagte sie dann:

„Nun brauchst du ja auch nicht auf den langweiligen alten Ressourceball zu gehen.“

„Weißt du,“ meinte Susanne eifrig, „es ist, glaube ich, doch besser; es fiele so auf, wenn ich zurückträte. Und um die Wahrheit zu sagen: er bat, ich solle doch hinkommen! Dann habe der sonst so öde Abend doch Inhalt.“

Sabine stutzte und sah die Freundin an. Dann sagte sie zerstreut:

„Ja, geh’ nur, geh’ nur!“

Ein seltsames, geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren Mund, das Susanne sich gar nicht erklären konnte.

Sie ist ihm ein Teil der Vergangenheit, dachte Sabine; wenn er mit ihr spricht, erinnert ihn alles an mich, an die Tage von Venedig. Vielleicht liebt er mich doch noch und will es sich nur nicht eingestehen.

„Es ist gut, daß du ihn noch einmal siehst und sprichst. Du kannst ihm sagen, daß ich ihm für die Briefe danke und daß ich sie ihm nicht abgefordert haben würde, wenn ich gewußt hätte, daß sie ihm noch wert seien,“ sagte sie.

Und diese fast weiche Stimmung hielt bei ihr bis zu dem Balltage vor.


12.

Wenn im „Hotel zum Kronprinzen“ in Mühlau der Ressourcenball abgehalten wurde, herrschte in Mühlau schon am Vormittag großes Leben. Die Gutsbesitzer kamen mit ihren Familien schon früh herein, die Frauen und Töchter machten Besorgungen, die Herren fanden sich mit Mühlauer Persönlichkeiten zu einem Frühschoppen zusammen, wo dann ungeheuer viel getrunken und geklatscht wurde. Jede Familie hatte doch irgend ein befreundetes Haus in Mühlau, wo man absteigen und sich zum Ball umkleiden konnte. Auf dem Markt, vor dem „Kronprinzen“, stand dann eine ganze Wagen- und Schlittenburg.

Auch Herr und Frau Voigtstedt kamen von Wendessen mit Martha schon um elf Uhr morgens herein, und es verstand sich von selbst, daß sie bei Marthas Schwiegereltern aßen und tranken und sich umzogen.

Die Oberamtmännin lief seit dem frühesten Morgen zwischen Küche und Eßzimmer hin und her. Susanne half Butterbröte belegen. Lisbeth mußte fortwährend etwas vom Krämer holen und auch den Voigtstedtschen Damen zur Hand sein. Sabine spielte mit den Kindern.

Alle waren beinahe schon erschöpft, als der Besuch kam. Herr Voigtstedt erfüllte die ganze Wohnung mit seiner geräuschvollen Lebensfreudigkeit. Nachdem sie sich bei Butterbrot und Glühwein von der kalten Schlittenfahrt erholt hatten, gingen sie wieder: die Damen, um für das bevorstehende Weihnachtsfest Haushaltungsgegenstände und Dienstbotengeschenke zu kaufen, Herr Voigtstedt in den „Kronprinzen“. Der Oberamtmann ging nicht mit. Er vertrug seit Jahren schon das Trinken nicht mehr, besonders nicht vormittags.

Dann ging das Rennen und Jagen wieder an. Die Oberamtmännin war früher eine großartige und umsichtige Hausfrau gewesen, aber nun lebte sie schon zu lange still und klein, daß es sie im hohen Grade erregte, wenn sie Gäste hatte. Sie verlor den Kopf. Um Drei sollte gegessen werden. Dazu kam dann auch Reinald von Heinsdorf herein.

Pünktlich dampfte die Suppe auf dem Tisch und die Gäste saßen müde, die Wirte abgespannt beim Mahl; Reinald und Martha wieder Schulter an Schulter, Hand in Hand, wenn sie nicht gerade aßen. Herr Voigtstedt sah manchmal mit einem besonderen, lächelnd forschenden Blick zu Susanne hinüber. Frau Voigtstedt hatte schon ihre Migräne. Nach Tisch wollten alle schlafen. Oberamtmanns hatten ihre Schlafstube Voigtstedts überlassen und nickten in den Sofaecken im Wohnzimmer. Viel Zeit war auch nicht dazu, denn nachher, wenn alle im Ballstaat waren, sollte es noch Thee und Kaffee und Kuchen geben.

Susanne und Sabine seufzten zahllose Male in sich hinein und wechselten einen Blick. So viel Lärm und Strapazen eines „Vergnügens“ halber! Sie begriffen es nicht.

Endlich, halb Sieben, saß die Oberamtmännin, alle Kräfte wie zu einer letzten Schlacht sammelnd, auf dem Sofa hinter Thee- und Kaffeekannen. Tassen und zwei Teller mit Bergen von Kuchen standen vor ihr. Als erster, der ballbereit war, erschien Herr Voigtstedt. Der Frack und die weiße Weste standen ihm gut. Er war noch etwas verschlafen, auf seiner feisten Wange hatte das Kopfkissen Falten abgedrückt; er trank den Kaffee schwarz, dann taute er auf.

„Hör’ mal, Deuben, was ich dir noch erzählen wollte – ich habe da heute morgen eine unglaubliche Geschichte gehört. Die kleine Osterroth soll mit Herrn von Körlegg ein Techtel-Mechtel haben.“

Die Oberamtmännin sah in sittlicher Entrüstung den Plafond an und faltete dazu die Hände.

Was in Mühlau geklatscht wird! Es ist unglaublich! Nein so was! Susanne kennt Herrn von Körlegg gar nicht!“ rief sie mit Pathos.

„Nee,“ sprach der Oberamtmann, „das muß ich nun selbst sagen: das geht doch ’n bißchen weit.“

„Je – das sagt ihr wohl!“ bemerkte Voigtstedt zweifelnd. [524] „Warum soll’n sie sich nicht kennen? Er stand doch in Berlin. Sie ist aus Berlin. Die Leute sagen, es sei eine alte Liebe. Na, und das wissen wir doch alle, daß in Berlin die jungen Mädels leichtfertige Geschichten machen. Denk’ doch bloß mal allein an all das, was unser früherer Major von der einen bewußten Hofdame erzählte. Also selbst in den Kreisen. Jedenfalls hat sie ihn hier in seiner Wohnung besucht, die alte Leermann soll es erzählt haben.“

„Ach, Unsinn,“ sagte die Oberamtmännin wegwerfend.

„Na, so ’n Unsinn ist es doch nicht. Warum soll so was nicht wahr sein? Das kommt doch vor! ’ne Sünde ist das doch gerade nicht, wenn zwei junge Menschen sich lieb haben,“ meinte Voigtstedt jovial.

„Aber heimlich von unserem Hause aus einen Mann in seiner Wohnung besuchen – noch dazu diesen Mann – das möchte man doch etwas schärfer beurteilen!“ sprach der Oberamtmann. „Wie ich dir aber sage: das ist Unsinn. Sie kennt ihn gar nicht. Und dann: guck dir mal das Mädel an: sieht die nach Heimlichkeiten aus?!“

Reinald kam dazu und fragte, ob denn Martha noch nicht fertig sei.

„Ja, die Damen! – Aber hör’ mal die Räubergeschichte, die sie Voigtstedt beim Frühschoppen aufgebunden haben!“ sagte sein Vater. Reinald hörte, und ein Ausdruck starker Verstimmung legte sich auf sein Gesicht. Obschon er sich einer großen Unruhe nicht erwehren konnte, sagte auch er, daß das Unsinn sei.

„Wir werden ja sehen heut’ abend. Wenn sie sich kennen, werden sie’s kaum verstecken können,“ meinte Voigtstedt.

„Du bist ein ungläubiger Thomas,“ schalt der Oberamtmann.

Nun erschienen alle Damen auf einmal. Frau Voigtstedt mit einem schweren lila Moirékleid, mit spitz angeschnittener Schleppe, die schon zwei Jahre keine Mode mehr war.

„Eine Frau von dem Aussehen und Alter der Ihrigen trägt in Berlin eine ausgeschnittene hellseidene Robe,“ sagte Sabine zu Voigtstedt, „Sie sollten es verbieten, daß Ihre Frau sich wie eine Sechzigjährige kleidet!“

„Wir sind aber nicht in Berlin!“ bemerkte der Oberamtmann.

Reinald war beglückt in den Anblick seiner Braut versunken. Sie hatte ein ausgeschnittenes, kurzärmliges Kleid aus rosa Tüll auf Seide an, dazu einen grünlichen Gürtel und künstliche weiße Rosen an der Brust und im Haar. Wegen des grünlichen Gürtels glaubte sie, mit ihrem Anzug auf der Höhe der Mode zu stehen. Die weißen Rosen verdarben aber alles und sahen zu ihrem blonden Kopf sehr fade aus. Dazu hatte sie vorn die von Sabine aus Rom mitgebrachte Brosche angebracht.

„Sehr schön! Sehr geschmackvoll!“ sagte Reinald bewundernd. Wohlgefällig bemerkte der Oberamtmann: „Was unsre Martha für’n weißen Speckbuckel hat.“ Und er klopfte ihr auf den Nacken. Sie kicherte. Auf ihren Oberarmen hinten hatte sie leider „Grütze“, und all die roten dicken Poren waren über dem Rand des langen Handschuhs sichtbar.

Die ganze Gesellschaft wurde in Tücher, Mantel und Galoschen gepackt. Man ging zu Fuß nach dem „Kronprinzen“. Es waren ja nur hundert Schritt.

Voigtstedts dankten noch tausendmal für den vergnügten Tag und baten, ja alle Sachen gut einzupacken, der Knecht hole sie nachher ab.

„Verwahrt euch nur gut für die Heimfahrt!“ rief der Oberamtmann noch besorgt oben von der Treppe hinter ihnen her, „und nicht wahr, Reinald, du bringst Susanne nach Haus und schließt auf! Die Lampe bleibt unten brennen!“

„Hu – das war ’n saurer Tag!“ stöhnte er nachher. „Gottlob, daß er überstanden ist! Alte, wir gehen bald in unsere Posen.“

Die Oberamtmännin und Sabine räumten die Tassen zusammen. Auch ihnen war, als sei ein Sturm verhallt. Plötzlich fiel dem Alten etwas ein.

„Keiner hat auf Susanne geachtet und ihr ein Wort über ihr Aussehen gesagt. Was hatte sie denn eigentlich an?“

Sabine lächelte ein wenig. Welch ein Kompliment für Susanne: über dem Staat der Voigtstedtschen Damen war ihr tadelloser Anzug nicht bemerkt worden.

„Sie ist nicht eitel. Beruhige dich nur, Papa, sie nimmt es nicht übel. Sie wird doch die Schönste sein.“

Die Alten gingen bald zu Bett. Sabine stand an ihrem Fenster und sah in die Winternacht hinein.

Drüben, der große Dachstuhl, der so mit langer gerader Linie und schräg abfallenden Seiten massig vor dem leuchtenden Nachthimmel stand, der gehörte zum „Kronprinzen“.

Davor noch ein dunkles Gehocke von niederen Stalldächern und Hinterflügeln. Auch ein kahler Lindenwipfel ragte dazwischen auf. Und irgendwo in diesen Höfen brannte ein stilles Licht, rot und trübe.

Das alles war, vor dem blausilbernen Himmel der Wintermondnacht, deutlich erkennbar.

Je länger Sabine hinausstarrte, um so schärfer sah sie.

Es war so ein dürftiges, reizloses, weltvergessenes Bild! Und so verschlafen und verschwiegen.

Die einsame Frau kam sich wie getrennt vor von Leben und Sonne. Für immer – –

Mit gierigem Ohr trachtete sie, etwas von der Musik zu hören. Vergebens, es war zu weit.

Dort freuten sich die Menschen. Es waren Freuden, die Sabine klein und lächerlich erschienen, die sie nicht hätte teilen mögen. Und dennoch neidete sie sie ihnen. Die standen doch alle im Genuß des Daseins. Die hatten Freuden und Kämpfe! Ja, selbst wenn sie Sorgen hatten – sie lebten doch darin, all ihre Kräfte übend – sie vegetierten nicht …

Und er war da! Er that, als nähme er teil an der Freude der anderen – –

Vielleicht that er es auch wirklich. Wer konnte das wissen? Vielleicht trat er, nachdem er von ihr geschieden, mit frohem Mannesmut in eine neue Epoche seines Daseins, darin er ein sonnenhelles, dauerndes Glück fand …

Sabine faltete in stummem Jammer die Hände.

Ihr Elend erdrückte sie. Und so seltsam klang ein Dichterwort in ihrem Gedächtnis nach, das sie einst gelesen. Es war gerade, als stehe jemand hinter ihr und raune es ihr ins Ohr:

„Doch mit dem Herzen,
Voll Liebe und Schmerzen,
Verglüh’ ich allein ….“

0000000000

Als Susanne am Arm des Herrn Voigtstedt den Ballsaal betrat, gleichsam im Gefolge der Frau Voigtstedt, die von einem der Vorstandsherren geführt wurde, fiel ihr erster Blick auf Achim von Körlegg, der mit Bläser zusammenstand und die Eingangsthür beobachtete.

Sie wurde rot. Achim und Bläser kamen gleich auf sie zu.

„Nanu – die Herrschaften kennen sich?“ fragte Voigtstedt und dachte: Na? schade, daß Deuben dies nicht sieht!

„Von einer Begegnung im letzten Manöver her – bei Schrimm,“ sagte Bläser. „Darf ich um den ersten Walzer bitten? Und darf ich einige Kameraden vorstellen?“

„Ach ja,“ bat Susanne aufrichtig, „wenn ich schon einmal hier bin, will ich auch gern tanzen. So vorurteilslos ist kein junges Mädchen, daß es sitzen bleiben mag.“

Bläser stürzte davon.

„Ich tanze nicht,“ sprach Achim, „darf ich um die Ehre bitten zu Tisch?“

Susanne strahlte.

„Wie, Sie tanzen nicht? Ein preußischer Leutnant und kein Tänzer?“ fragte Voigtstedt. „Gnädiges Fräulein, wollen Sie mit mir altem Knaben die Quadrille riskieren?“

Nun kam Bläser heran und stellte Kameraden vor. Er that, als sei er ein uralter Freund von Susanne und machte sich in einer so liebenswürdigen Weise wichtig und war so beflissen und verehrungsvoll, daß Achim ihm einmal im Vorbeigehen dankbar die Hand drückte.

Als Reinald die Tanzkarte seiner Braut, mit der er selbst natürlich alle großen Tänze tanzte, versorgt sah, dachte er daran, daß er sich um Susanne bekümmern müsse.

„Besetzt,“ sagte sie vergnügt.

Reinald, der nur noch eine Extratour einzeichnen konnte, sah lauter Offiziersnamen und darunter auch den Körleggs. Zu Tisch diesen. Er fragte mit finsterem Ausdruck:

[525]

Des Löwen Morgengruß.
Nach einer Originalzeichnung von F. Specht.

[526] „Wie geht denn das zu? Kennen Sie die Herren?“

„Nur Herrn Leutnant Bläser und Herrn von Körlegg,“ sagte Susanne unbefangen. Und sie erzählte, wo man sich im Manöver getroffen.

Sie kennen sich also doch! dachte er. Sollte die Geschichte wahr sein?

Was hat Reinald denn? dachte Susanne, wie bös und übellaunig sieht er aus.

Aber sie vergaß das schnell. Sie war zwanzig Jahr, und ihr hatte sich noch nicht allzuoft die Gelegenheit geboten, so recht nach Herzenslust zu tanzen. Sie fühlte sich auch gar nicht fremd hier. Bläser war ein zu reizender Mensch; ein Bruder hätte nicht aufmerksamer um sie bemüht sein können. Und wenn sie tanzte, sah sie immer irgendwo Achim stehen, der zusah und besonders ihr zuzusehen schien.

Sie fand auch den großen, etwas niedrigen Saal, der mit Tannenguirlanden und Fähnchen ziemlich schützenfestartig geputzt war, sehr gemütlich und alle älteren Herren und Damen sehr nett, wenn man den Damen auch meist sehr deutlich anmerkte, daß sie sich in den eleganten Kleidern nicht sehr glücklich fühlten und in fortwährender Angst davor schwebten, begossen zu werden.

Weder sie noch Achim hatten eine Ahnung davon, daß sie im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen. Sie tauschten keinen flüchtigen Blick, kein Wort, ohne daß es besprochen wurde.

Mehr als einmal sah Bläser sich auf die Geschichte angeredet. „Ist es wahr, daß sie heimlich verlobt sind?“

„Ich weiß von nichts,“ sagte er mit vielsagendem Lächeln.

„Ach thun Sie man nicht so. Das merkt man ja an Ihrem Verkehr mit Fräulein Osterroth, daß Sie eingeweiht sind. Warum veröffentlichen denn die Menschen nicht ihre Verlobung? Er hat doch Geld. Und sie den reichen Onkel,“ meinte die Doktorin Sebold; „so – kompromittiert er das Mädchen. Denn wissen Sie – daß sie heimlich zu ihm läuft … das ist doch selbst für ’ne Berliner junge Dame ’n bißchen stark!“

„Meine gnädigste Frau,“ sprach Bläser sehr ernst, „ich muß jedermann davon abraten, über Fräulein Susanne Osterroth schlecht zu sprechen. Ich glaube, weder ich noch mein Freund Körlegg würden das ungeahndet hingehen lassen!“

„Nun, ich sage ja nichts Schlechtes. Aber daß sie bei ihm gewesen ist, ist doch wahr. Die Leermann hat’s mir selbst erzählt.“

„Dann sollte Ihr Herr Gemahl die alte Leermann untersuchen – sie scheint nervös zu sein und an Hallucinationen zu leiden!“ sagte Bläser und ging davon.

„Aus dem kriegen Sie nichts ’raus, liebe Sebold,“ sprach Frau Rechtsanwalt Müller, „die Leutnants halten unter sich zusammen. Aber Ihr Mann, als Hausarzt und Freund, sollte es dem Oberamtmann stecken!“

Am glücklichsten war Susanne, als es endlich zu Tisch ging. Die ganze Gesellschaft zog paarweise die Treppe hinunter, denn die Tafeln waren unten, im großen Speisesaal, gedeckt, wo sonst an der Table d’hote ein paar Handlungsreisende, einige Beamte und Offiziere aßen, eine Menscheninsel, zwischen weiß bedeckten, öden, langen Tischplatten.

Bläser hatte natürlich die Plätze so belegt, daß sie ihn an ihrer anderen Seite fand.

„Wer mir noch vor vierzehn Tagen gesagt hätte, daß dies möglich sei,“ sprach sie zu Achim, „mir ist gerade, als sei ich aus einem düsteren Traum erwacht, in dem es nur Schreck, Trauer, gesteigerte Gedanken und ewige Sensationen gab. Nun sitze ich hier ganz friedlich, ganz menschlich neben Ihnen.“

Er drückte ihr die Hand. Er wußte wohl: das treue Mädchen hatte mitgelitten.

„Ich soll Ihnen noch etwas ausrichten!“ begann sie.

„Lassen wir das,“ bat er hastig, „lassen wir die ganze schwere, schwüle Vergangenheit. Gönnen Sie mir die harmlose Stunde!“

Mein Gott – ja, dachte sie, er ist gewiß froh, einmal aufatmen zu können.

Sie sprachen nicht mehr von Sabinen. Eine stille, innerliche Fröhlichkeit erfüllte sie beide ganz. Ihre Umgebung gab ihnen auch Stoff genug zu heiteren Beobachtungen, denn ihnen, den Großstädtern, war manches neu auf diesem Fest. Es wurden viele Reden gehalten: auf den Vorstand, den Kommandeur des in Mühlau garnisonierenden Bataillons, auf die Damen, auf die anwesenden Brautpaare. Endlich brachte der alte Getreidehändler Müller noch einen Toast aus, auf den „Herrn Knusemon“. Man erklärte das den Offizieren: „que nous aimons“, „was wir lieben“, sollte das heißen, es war der ständige Witz des alten Herrn; die jüngere Generation lächelte mitleidig und nachsichtig über den alten Herrn, und Frau Rechtsanwalt Müller, seine Schwiegertochter, genierte sich sehr.

Susanne fand alles „amüsant, reizend, urgemütlich, altväterisch, rührend.“

„Von diesem Balle werden wir noch oft in Berlin sprechen,“ sagte sie zu Achim.

„Werden wir uns oft dort sehen?“ fragte er mit besonderer Betonung.

„Hoffentlich fordert Onkel Fritz Sie zu seinem Donnerstag auf,“ meinte sie lebhaft; „ach, da ist es immer nett! Sie glauben nicht, wie! Onkel Fritz hat eine alte Haushälterin, eine prachtvolle Person. Die macht ihm alles sehr behaglich. Und jeden Donnerstag Abend sind Mama und ich da; außer uns werden noch drei Personen eingeladen, die wechseln. So ist es immer neu und doch immer intim.“

„Darf ich auch Ihrer Frau Mama einen Besuch machen?“ fragte er und sah sie an.

„O gewiß,“ sagte sie und wurde sehr befangen; „ich habe Mama schon viel von Ihnen geschrieben!“

„Haben Sie!“ rief er freudig.

Das hätte ich nicht sagen dürfen! dachte Susanna bestürzt, was wird er von mir denken.

Nach Tisch folgte noch der Cotillon mit endlosen Touren. Der Vorstand hatte die unglaublichsten Mützen, Attrappen, Scherze kommen lassen. Auch eine Blumentour gab es. Und vor aller Augen holte der nichttanzende Herr von Körlegg einen Strauß vom Blumenständer und brachte ihn Susanne Osterroth.

Das war deutlich!

Susanna brachte ihren Orden Bläser.

„Nie war eine Auszeichnung verdienter!“ sagte sie, den Papierstern an seinen Waffenrock heftend.

„Ich that nur, was eigne Verehrung und Freundschaft für einen gewissen Jemand mir gebot,“ sprach er übermütig.

Was will er damit sagen? dachte Susanne erschreckt.

In fröhlicher Müdigkeit ging sie endlich heim. Es war drei Uhr morgens. Reinald ging neben ihr, bis zur Hausthür.

Er war so still, daß es selbst Susannen in all ihrer guten Laune peinlich auffiel.

Dann saß sie noch auf Sabincns Bett und erzählte.

Ich will ihr das Herz nicht schwer machen, dachte sie und sprach fast gar nicht von Achim. Daß sie ihre Bestellung ausgerichtet habe, betonte sie und dachte ganz verwirrt: Mein Gott – das hab’ ich ja gar nicht – er wollte es nicht! Auch daß er gar nicht getanzt hatte und mit ihr zu Tisch saß, erzählte sie. Das schien Sabinen wohlzuthun.

Und endlich schlief Susanne ein, mit friedlichen, still glücklichen Gedanken.

0000000000

Am andern Morgen im Kasernenhof schimpfte Bläser etwas übellaunig mit den Soldaten herum, die Kniebeugen von einer Ungeschicklichkeit machten, daß einem die Haare zu Berge stehen konnten! Solche Kerls hatte es noch nie im Regiment gegeben! Und die Rotte, sonst für Bläser gewissermaßen schwärmend, weil er lustig und human war, nahm sich kolossal zusammen. Der Unteroffizier, seines Leutnants üble Laune bemerkend, schrie die Leute auch mehr an als sonst.

Achim von Körlegg kam und begrüßte seinen Kameraden. Sogleich zog Bläser ihn beiseite.

„Eh’ der Hauptmann kommt, zwei Worte. Der Deubel ist los, Körlegg. Ganz Mühlau ist voll von Ihrem ‚Verhältnis‘ mit Fräulein Susanne. Die alte Leermann hat sie doch erkannt und nicht dicht gehalten. Die Tugendbasen von Mühlau schreien Zeter, daß Fräulein Susanne bei Ihnen auf der Bude war. Ich hab’ gesagt, die alte Leermann litte an Hallucinationen. Ich hab’ geredet und gedroht und gewarnt! Aber Sie wissen ja, wie so etwas läuft! Und in acht genommen habt ihr euch gestern abend nun auch nicht ein bißchen – das nehmen Sie mir nicht übel, Körlegg. Mir scheint, handeln thut not! Was scheren [527] Sie sich am Ende um den Oberamtmann und die schöne Frau von Zeuthern, die übrigens gar nicht so sehr glücklich mit ihrem durch Sie Seligen gewesen sein soll! Lassen Sie die Familie zehnmal Nein sagen! Sie sind unabhängig! Nehmen Sie Ihre Braut und machen allem, was Zeuthern, Osterroth und Deuben heißt, Ihr ergebenes Kompliment. Ich will nicht noch derber werden. Also: am liebsten heut’ noch die Annonce ins Kreisblatt!“

Achim war unter dieser eiligen, langen Flüsterrede ganz fahl geworden. Der Schreck lähmte seine Gedanken.

„Na ja,“ fuhr Bläser fort, ihm teilnehmend in das entstellte Gesicht blickend, „ich habe mir’s gedacht, daß Sie wütend werden würden. Die paar Stunden, die ich heut’ überhaupt im Bett lag, bin ich nicht zur Ruhe gekommen wegen der Geschichte. Das kann ich wohl sagen. Ich stand vor der Frage: teil’ ich Ihnen den Klatsch mit oder nicht? Aber am Ende dachte ich dann: Ja! Meine herzliche Ergebenheit für Sie, meine Verehrung für das charmante Fräulein, und schließlich auch die Thatsache, daß ich gleichsam eingeweiht bin, machen es mir zur Pflicht, zu sprechen.“

Achim drückte ihm heftig die Hand. „Gewiß,“ sprach er heiser, „ganz gewiß. Ich danke Ihnen, lieber Freund!“

„Je schneller Sie handeln, um so besser wird es sein.“

„Selbstverständlich!“ sagte Achim.

„Da kommt der Hauptmann!“ raunte Bläser.

Herr von Hallendorf, lang und dünn mit seinem etwas stelzenden Gang, kam neben dem breitschultrigen Feldwebel über den Kasernenhof. Sofort trat Achim mit dienstlichem Gruß an ihn heran und bat in einer unaufschiebbaren Ehren- und Familiensache um Dispens vom Dienst für diesen Vormittag.

Im Dienstverkehr hatte Hallendorf immer eine etwas gnädige Note im Wesen. Leutselig gewährte er seinem Premier die Bitte. Achim ging zurück in seine Wohnung, die er eben in einer so innerlichst heiteren Stimmung verlassen hatte – ein geschlagener Mann.

Allmählich kam das Leben in ihn zurück – er hatte in der letzten halben Stunde wie ein Automat sich bewegt.

Zorn und Bitterkeit übermannten ihn.

Sie, die ihm die Verkörperung von Reinheit, von Seelenklarheit schien – sie war in eine solche peinliche, zweideutige Lage gekommen! Ihr Ruf wurde in diesem Augenblick in allen Häusern der Stadt und Umgegend zerfetzt oder doch wenigstens angezweifelt. Es war empörend!

Und neben dem Zorn empfand er einen tiefen, schneidenden Schmerz. Ihm war, als hätten da rohe Fäuste zarte, verborgen sproßende Keime ans Tageslicht gezerrt, das sie noch nicht vertrugen, und als sei nun ihre Lebensfähigkeit für immer vernichtet.

Eine Hoffnung, die so fern, so licht an seinem Horizont sich erhoben, daß er selbst sich noch kaum getraut, ihr recht in die glückverheißenden Augen zu sehen, war verscheucht.

Bitter dachte er: Ich habe kein Glück in der Liebe. Erst kommt sie mir mit rasenden Blitzen, wie ein Gewitter, und braust vorüber, daß mir um meine Ehre und das Leben einer anderen Angst werden konnte. Und nun seh’ ich von fern ein himmlisches Licht, wie Trost, wie Friede … und der schändlichste Mund, den es giebt – der Mund des „lieben Nächsten“ bläst es mir aus.

Darüber, was er zu thun hatte, war er keinen Augenblick im Zweifel.

Zunächst schrieb er an den alten Herrn in Berlin. Seine Feder flog nur so über das Papier. Er schrieb:

 „Hochgeehrter Herr Osterroth!
Das Herz von Kummer und Zorn schwer, trete ich vor Sie hin mit einer Beichte. Ich nehme ohne weiteres an, daß Ihnen die schmerzlichen Ereignisse bekannt sind, welche mein Dasein und das Frau Sabinens durchstürmten, und daß Sie wissen, wie ich aus tiefster Erkenntnis, einer wilden Leidenschaft nicht das Opfer meines Lebens bringen zu dürfen, mich befreite. Vielleicht haben Sie mich verdammt, vielleicht verstanden. Ich weiß es nicht.

Aber jene unselige Leidenschaft ist nicht verhallt und vergrollt, ohne ein anderes Ereignis sehr peinvoller Art nach sich gezogen zu haben.

Frau Sabine wünschte ihre Briefe zurück und wünschte mir sagen zu lassen, daß ich fort von Mühlau müsse. Mit der Unvorsichtigkeit, die nur holdeste Reinheit und verblendete Leidenschaft haben konnten, beschlossen die beiden Damen, daß Fräulein Susanne zu mir gehen solle.

Sie that es vor einigen Tagen in einer Nachmittagsstunde. Zehnmal bin ich gerade um jene Zeit mutterseelenallein. Aber Sie kennen das: wo keine Zeugen gewünscht werden, stellen sie sich unfehlbar ein. Mein Kamerad Bläser kam. Meine Wirtin war auf dem Flur gewesen.

Bläser faßte die Situation ritterlich auf. Er sah, ich merkte es, Susannen für meine heimliche Braut an.

Die Wirtin aber schwatzte.

In zwei Tagen war Mühlau voll davon. Da traf ich, noch ahnungslos über den Klatsch, Fräulein Susanne auf dem Ressourcenball und widmete mich ihr in der unverhohlenen Verehrung, welche ich für dieses holde anbetungswürdige Geschöpf empfinde.

Nun ist der Klatsch zum Skandal geworden; mein treuer Kamerad Bläser berichtet ihn mir eben.

Daß ich sehr eilig handeln muß, Fräulein Susannens Ruf zu schützen, versteht sich von selbst.

Diese Zeilen an Sie werden noch nicht auf der Post sein und man wird mich schon unterwegs sehen nach dem Hause des Oberamtmanns Deuben. Was ich dort will? Das einzige, was ein Ehrenmann kann, der nicht gesonnen ist, eine junge Dame, die denn doch thatsächlich und unleugbar in seiner Wohnung war, schutzlos zu lassen!

Ich werde um die Hand von Fräulein Susanne anhalten!

Ich werde einen Korb bekommen! Mit schmerzlicher Bitterkeit gestehe ich es mir. Aber lassen Sie mich Ihnen, teurer, hochverehrter Freund, in dieser Stunde gestehen, daß ich vielleicht später, wenn die Zeit mir gestattet hätte, mir Ihr Vertrauen und dasjenige Fräulein Susannens zu erwerben – daß ich dann vielleicht den Mut gehabt haben würde, um ihr Herz zu werben.

Es hat nicht sein sollen. Dieser brutale Zwischenfall vernichtet alles.

Ich habe mich gefragt: welche Genugthuung kann ich Fräulein Susanne geben? Wie ihre Ehre wiederherstellen? Die Wahrheit kann ich nicht sagen – Sie wissen es. Lieber sterben!

Es ist ja kein schuldvolles Geheimnis das, was zwischen mir und Sabine vorging. Aber die Geschichte dieser unglücklichen Leidenschaft ist nur von feinen und reifen Seelen zu verstehen und zu verzeihen. Es ist keine Geschichte für den Marktplatz.

Und mich muß noch die Furcht peinigen, daß Sabine, in Großmutsekstase, in Raserei unerloschener Liebe, aus ihrem ganzen kühnen Temperament heraus, selbst die Wahrheit sagt, ohne zu bedenken, daß in der Folge ihr Leben noch schwieriger werden würde, als es ohnehin schon ist. Sabine wird sich ja, ebenso wie ich es thue, sagen, daß wir allein die Ursache dieses Vorkommnisses sind. Sie wird, sich selber preisgebend, die Freundin verteidigen wollen.

Aber Sie werden mir beistimmen, daß es meine Pflicht ist, sowohl zu verhüten, daß Sabine sich anschuldige, als auch, daß auf Susannen ein häßlicher Verdacht ruhen bleibt. Der einzige Weg dazu scheint mir aber, Fräulein Susanne einen förmlichen Antrag zu machen, ihr freizustellen, mein Vermögen, meine Stellung zu teilen. Eindringlicher kann man der Welt doch nicht darthun, daß man eine Dame hochachtet. Und die Welt – diese enge kleine Mühlauer, wird das ja schleunigst erfahren, und wenn sie zugleich erfährt, ich sei abgewiesen, so wird sie immerhin vielleicht von ernsthaften Konflikten phantasieren, aber sie wird Susannen nicht mehr für leichtfertig halten.

Vielleicht mache ich da ganz falsche Schlüsse. Dann haben Sie Nachsicht mit einem Mann, der sich in sehr verwickelter Lage befindet und zugleich nach zwei Seiten hin den Schützer spielen möchte und muß.

Entrüstet Susanne sich vielleicht gar darüber, daß ich, ein Mann, den sie noch vor kaum drei Monaten für eine andere entbrannt sah, es wagte, ihr meine Hand anzutragen, so nur der Form halber, dann, ich flehe Sie an, sprechen Sie ein wenig für mich. Erklären Sie ihr meine guten Absichten, wie ich versucht habe, diese Ihnen zu erklären.

[528] Und wenn das Unwahrscheinliche, das Unfaßliche dennoch geschehen sollte, wenn Fräulein Susanne diese Hand nicht ausschlägt – dann, ich schwöre es Ihnen – soll mein ganzes Leben lang jeder meiner Gedanken mit ihrem Glück beschäftigt sein.

In schmerzlicher Bewegung
 Ihr tief ergebener
 Achim von Körlegg.“

Nach diesem Brief war ihm besser zu Mut.

Er rief nach seinem Burschen. „Hier – diesen Eilbrief zur Post – aber erst noch meinen besten Waffenrock – auch die neue Schärpe – schnell – hören Sie denn nicht? – schnell, sage ich!“

In zwei Minuten war er fertig. Und als er über die Straße schritt, lächelte er in bitterer Ironie in sich hinein und dachte: Heut’ nachmittag haben die guten Leute die Fortsetzung des Romans, das Neueste von den beiden Liebenden, ha ha, von den beiden Liebenden ….

Fast hätte er voll Hohn laut aufgelacht. Und ihm war so weh ums Herz – so schneidend weh.

(Schluß folgt.) 


Der Monte Pincio in Rom.

Von Dr. Albert Zacher.0 Mit den Bildern S. 517, 520, und 521, 529.

Rom ist nicht nur auf sieben Hügeln gebaut, Hügel umgeben es auch, und auf zwei derselben, dem Monte Pincio und dem Monte Gianicolo, finden sich herrliche Aussichtsterrassen, die eine weite Umschau über die Ewige Stadt und ihre Umgebung bieten. Während sich aber der Gianicolo jenseit des Tiber über der Vorstadt Trastevere erhebt, schließt sich der Pincio unmittelbar dem Hauptquartier des modernen Roms an, das zwischen ihm und dem Corso nach der Porta del Popolo, dem Nordende der Stadt zu, sich ausdehnt. Natur und Kunst haben schon von alters her miteinander gewetteifert, den Pincio zur Lieblingspromenade der Römer zu machen. Prachtvolle Anlagen entfalten oben die üppige Pracht der südlichen Flora. Schattige Spazierwege führen an Statuen und Brunnen vorbei zur Villa Borghese mit ihren kostbaren Kunstschätzen. Eine breite Fahrstraße zieht sich von der Piazza del Popolo zu diesen Anlagen hinauf, durchkreuzt dieselben und senkt sich wieder zur Piazza della Trinita de’ Monti mit ihrer stattlichen Kirche gleichen Namens und dem gewaltigen Obelisken davor. Und hier mündet die großartige Spanische Treppe, die den wundervollen Aufstieg zum Pincio von der Piazza di Spagna, diesem Hauptcentrum des Fremdenverkehrs mit seinen großen Gasthöfen und eleganten Kaufläden, her bildet.

Wer eine Romreise thut, pflegt denn auch, kaum daß er sich von Staub und Rauch gereinigt hat, zum Monte Pincio zu eilen, um hier in gedrängter Uebersicht die Genüsse, die ihm winken, aus der Vogelschau zu bewundern. Der Gang zum Pincio ist also die Ouvertüre zum Aufenthalt in Rom. Die Ewige Stadt ist aber nicht an einem Tage erbaut, kann drum auch nicht an einem Tage erschaut werden. Mag daher der nordische Fremdling, der zum ersten Male den „Hügel der Gärten“, wie er bei den Alten hieß, betritt, auch überrascht, überwältigt sein, die intime Schönheit des Gartenbollwerks geht uns erst bei wiederholtem Besuche auf, und namentlich dann, wenn wir uns ein wenig im Werden und Wandeln der ewigen Roma umgesehen haben. Dann ist uns der Pincio nicht bloß mehr ein Aussichtspunkt, dann ersetzt er uns Schule und Museum und wird zur Offenbarung, kurz zur Kultusstätte des Schönen.

Vielleicht in keiner anderen Stadt der Welt drängt sich dem empfänglichen Wanderer der Geist der Vergangenheit so gebieterisch auf wie in dem ewig jungen Rom, und das schafft ja eben den unvergänglichen Reiz, jenen Zauber, dem jeder Rompilger unterliegt, und schafft auch das Heimweh, das jeder, der einst Rom geschaut, im Norden nach ihm empfindet. Auf Schritt und Tritt löst sich dem schönheitsfreudigen Wanderer das Schweigen der Vorzeit, und nicht nur die Steine reden ihm von der Pracht des Gewesenen. Das erfährt besonders der Reisende, der, anstatt von der Piazza del Popolo aus zum Monte Pincio aufzusteigen, von der Via Sistina aus dem Höhenrücken folgt, welcher in langsamer Steigung zu dem Hügel leitet, der den nördlichen Eingang Roms beherrscht. Hat man die Sistinische Straße durchschritten, so steigt der Obelisk vor der Kirche Trinita de’ Monti vor uns auf und mahnt uns an das Hieroglyphenland und seine römischen Bezwinger. Wenige Schritte – und entzückt schweift unser Auge über das im Thalkessel gebettete nördliche Rom. Zu unsern Füßen aber geleiten, wie es die Abbildung auf S. 529 zeigt, die mächtigen Stufen der Spanischen Treppe, die Innocenz XIII gebaut, zum Spanischen Platze hinunter. Farbenfrohes Treiben auf den weißen Marmorfliesen, Modelle in bunter Hirtentracht, die des dingenden Malers harren, verscheuchen sich die Wartezeit, die lästige, mit Singen und Tanzen. Hoch zu unserer Rechten erklingt Orgelgebraus und süßer Frauensang dazwischen. Wir blicken auf zu der mächtigen Kirche, die uns von Karl VIII und der französischen Invasion erzählt, und lauschen: die frommen Nonnen von Sacre Coeur singen vielleicht gerade eine von den Motetten, die einst Felix Mendelssohn für sie komponierte.

Weiter geht der Weg. Zur Linken drängen sich flache Dächer an die Brüstung heran. Junge Seminaristen in schwarzem Talar wandeln auf ihnen, aber in andres Sinnen vertieft als einst Joseph Scheffel auf Don Paganos flachem Dachlabyrinth in Capri. Weiter! Die hohen Hallen aus immergrünen Steineichen nehmen uns auf. Wir stehen vor der berühmten Brunnenschale, über welcher ein Kreisausschnitt in der grünen Wand den herrlichsten Rahmen zur lichtgebadeten Peterskuppel schafft (vgl. das Bild auf Seite 529). Zur Rechten aber türmt sich die Villa Medici auf, seit Jahren das Heim der französischen Maler, die nach siegreichem Wettkampf daheim den Preis für einen Studienaufenthalt in Rom davontrugen, die Accademia di Francia, die Französische Akademie. Im Weitergehen macht sich die lebendige Gegenwart sinnfällig geltend; zur Linken begleiten den Wanderer auf sanftem Abhang Blumenbeete, Treibhäuser, in romantischem Dunkel plätschernde Brunnen, am Thalrand drängt sich Atelierhaus an Atelierhaus, und manchen bekannten deutschen Malersmann entdeckt man bei der Arbeit auf luftiger Terrasse. Zur Rechten aber wuchert an steiler Felswand üppigste Flora: Epheu, wilder Wein, Agaven, Riesenkakteen …

Endlich ist man oben auf der von weit ausladender Steinbrüstung umrahmten Aussichtsterrasse. Man steht geblendet. Abgebraucht ist es zwar, das Thema vom römischen Himmel, von der römischen Sonne, und doch ist’s dem Glücklichen, der es erlebt, ewig neu! Licht überall, von allen Seilen drängen, schmiegen und schmeicheln sich seine Strahlen und die von diesen geschaffenen blendenden Farben uns zu; ja man scheint sie einzuatmen, diese köstliche Helle, einzusaugen mit allen Poren, und mit ihr zugleich die sonnigste Heiterkeit. Den Armen müssen schon bittere Qualen foltern, der hier nicht jauchzend aufatmet. Welch Panorama vor der Terrasse! Die Peterskuppel in ihrer erhabenen Pracht blickt feierlich auf den gedemütigt staunenden Beschauer, und vergebens mühen sich daneben in dem Türme-, Häuser- und Palastgewimmel unter uns die Dutzende und aber Dutzende von Kuppeln, sich aufzurecken, um Beachtung zu erzwingen. Im Süden ragt das Kapitol auf und der baumgekrönte Palatin, im Südosten die Königsburg auf dem Quirinal, und auf dem grünen Rücken des Janiculus im Westen schimmern die bunten Villen, blitzt der dreifache Wassergruß der Acqua Paola und reitet der eherne Garibaldi auf hohem Sockel, Wache haltend gegenüber dem Vatikan, in dessen grüner Gartenpracht die weiße Kuppel der Sternwarte blinkt. In der Mitte des Häusermeeres jenseit des Tibers trotzt die Masse des Hadriansgrabes, die Engelsburg, auf deren Spitze Erzengel Michael das blitzende Schwert schwingt. Jahrtausende schauen zu uns herauf; denn zuletzt haftet unser trunkener Blick an dem Obelisken, der das weite Rondell zu unsern Füßen, die Piazza del Popolo (siehe Abbildung S. 517), schmückt, und an den beiden Schiffsschnäbelsäulen, [529] die auf der ersten Terrasse der dort beginnenden Pincioanlagen von dem ersten Seesiege der Römer erzählen. Jetzt bewundern wir auch, wie die Erbauer dieser Anlagen den Weg von unten zur Basteiplattform, auf der wir stehen, künstlerisch zu beleben verstanden haben: mit Terrassen, Arkaden, Statuen und Springbrunnen.

Die Spanische Treppe.

Die Fülle der Eindrücke ist zu groß. Man wendet sich zum Atemholen nach rückwärts und fällt in neues Staunen; denn man erblickt eine Gartenpracht, die selbst den Reisenden überrascht, der schon in Nervi, Pegli, Nizza lustwandelte. Unmittelbar vor uns, hinter den Ruhebänken der Terrasse, ein weiter Sandplatz, abgeschlossen durch ein Halbrund von Palmen, über das sich, ein wirksamer Hintergrund für die Musiktribüne, eine dunkelgrüne Wand von Steineichen erhebt (vgl. das untenstehende Bild). In der Mitte öffnet sich die Wand, und der nordische Gartenfreund, der in der Heimat nur die Treibhauspracht kennt, bewundert hier im Freien neben der Fächerpalme den Mahagonibaum, die Aloë, den Akanthus, den Granatbaum etc., dazwischen Magnolien, Oleander und Rhododendron in einer Schönheit und Ueppigkeit, die alle Erwartungen schlagen. Man wagt kaum noch, diese harmonische und duftende Symphonie der Farben in ihre einzelnen Teile zu zerlegen, und träumt sich allmählich in die Vergangenheit hinüber, in die Zeit, da der Schwelger Lucullus an diese Stätte asiatische Blumenpracht verpflanzte und so die nach seinem Namen benannten Gärten schuf, deren Pracht noch nach hundert Jahren so erstaunlich war, daß Messalina, um in ihren Besitz zu kommen, nicht den Mord an ihrem Eigentümer Valerius Asiaticus scheute.

Der Brunnen vor der Villa Medici.     
 Die Terrasse des Monte Pincio.

Nach Messalinas Ermordung blieben die Gärten kaiserlich, bis sie an die Familie der Pincii gelangten. Nach den Gotenkriegen, während deren Belisar hier oben wohnte, ward der Gartenhügel durch fromme Mönche zum Weinhügel gewandelt, bis Napoleon I und später Mazzini ihn dem alten Berufe zurückgaben. Napoleon schuf die jetzigen Anlagen, und Mazzini [530] verschönerte sie, namentlich auch dadurch, daß er die zahlreichen Büsten der berühmtesten Italiener in den Alleen aufstellte.

Die Klänge von Wagners „Walkürenritt“ wecken uns. Es ist vier Uhr geworden, und das römische Stadtorchester in seinen grünen Umformen und den grünbebuschten Bonapartehüten hat unter Meister Vessellas trefflicher Leitung das Konzert begannen.

Ein wackerer Mann, dieser Herr Vessella, auch in Deutschland nicht unbekannt, da er schon eine Tournee durch die größten deutschen Städte gemacht hat. Was schier unmöglich schien, erreichte er. Es giebt kein konservativeres Volk als das römische, und darum wehrte es sich verzweifelt gegen die „Invasion der Wagnerschen Disharmonien“. Vessella jedoch, taub gegen alle akustischen Zeichen des Mißvergnügens, blieb fest und spielte in jedem Konzerte so lange Wagner, bis „Lohengrin“, „Walküre“ und „Götterdämmerung“ dem Publikum vertraut wurden.

Das Publikum! Wir sehen es auf unserem Bilde S. 520 und S. 521. Kosmopolitisch ist’s; denn es ist Spätherbst, und die Reise- und Pilgersaison hat wieder begonnen. Hier die in roter und blauer Seide funkelnde Amme aus dem Sabinerlande, dort gleißen die purpurroten Talare der Priesterkadetten aus dem Collegium Germanicum. Vor dem deutschen Fremden im Lodenmantel drängt das Blumenmädchen, ein Hirtenkind aus dem Volskergebirge, dem römischen Stutzer ein Sträußchen auf. Im Vordergrunde aber disputieren vor dem befrackten Carabiniere aus den Schneebergen Piemonts zwei französische Geistliche … Dem Völkergemisch entspricht das Sprachengewirr. Im Hintergrunde erblicken wir auf der breiten Straße – die Wagenburg.

Der Pincio ist die Krone der täglichen Korsofahrt, und dieser tägliche Korso bildet ja den Lebenszweck aller römischen Damen, die zur Gesellschaft gehören. Den halben Tag bleibt die feine Römerin im Negligé daheim, bis es Zeit ist, Korsotoilette zu machen; dann besteigt sie mit dem Gatten die Carozza, und nachdem sie in mehrfacher Hin- und Herfahrt auf der Via del Corso den täglichen Appell über die übrigen Mitglieder der „Gesellschaft“ abgehalten hat, geht es nach einem kurzen Abstecher nach der Villa Borghese zur Rast auf den Pincio, der so zum Stelldichein alles dessen geworden ist, was sonst die Politik grausam trennt. Neben der „schwarzen“ ist auch die „weiße“ Aristokratie vertreten, ja auch die Königin kommt oft in ihrem mit den Lakaien in roter Livree besetzten Hofwagen, ebenso die Prinzen, falls sie in Rom sind, während der König, der lieber vors Thor fährt, seltener erscheint. Die glänzendsten Namen der römischen Geschichte des Mittelalters sieht man vertreten, in reichen Toiletten erscheinen die Damen der Häuser Aldobrandini, Colonna, Borghese, Odescalchi, Doria, Chigi etc. Zu ihnen gesellen sich die Damen des diplomatischen Korps. Kaum halten die Wagen, so eilen die Herren, um im Zickzackgang Besuche abzustatten, von Equipage zu Equipage. Recht formgewandt huldigt man in Rom den Damen, denn die Römerin, die sehr auf guten Anzug, auch bei den Herren, hält, sieht auch sehr auf feine Sprache. Plötzlich stockt die Unterhaltung. Ein Galawagen zieht auf, besetzt von Lakaien in Kniehosen und rotem Frack. Würdevoll, ernst thut Principe di Massimi seine tägliche Pflichtfahrt. Da er von Fabius Maximus Cunctator abstammt, rangiert er unter den souveränen Familien, folglich fährt er auch mit souveränem Pomp.

Wir retten uns aus dem Gedränge in die hinteren Alleen, welche schöne Ausblicke auf den borghesischen Park und die nördlichen Hügel bieten. Viele glückliche Menschen wandeln still zu Zweien, einsame Damen schmachten auf umschatteten Bänken à la Duse – „duseggiare“ nennt der Römer ihr kokettes Thun, nach der berühmten Schauspielerin – vom Kindertummelplatz mischt sich Jubelgeschrei in die Klänge des Orchesters.

Der Abend sinkt. Wir treten zur Terrasse zurück. Der westliche Himmel flammt auf. Die Peterskirche ist auf Goldgrund gemalt. Die Konturen der Stadt verschwinden, die Hunderte von Türmen und Kuppeln versinken im violetten Duftmeer und gespenstisch wächst Michelangelos Riesenschöpfung, die Kuppel des Petersdoms, in die Höhe. Der Pincio leert sich, nur manch ein empfindsamer deutscher Rompilger, der an die Abfahrt denken muß, weilt noch seufzend an der Balustrade, festgebannt von dem Goldmeer, in dem der Vatikan schwimmt. Wie gerne möchte er dem davoneilenden Sonnenwagen in die Speichen fallen. Doch die Nacht bricht ein – und nachts wird der Pincio geschlossen.




Der Dortmund-Ems-Kanal.

Von E. Meinhard.


Vor einigen Jahrzehnten, als die westfälische Eisen- und Kohlenindustrie sich immer mehr entwickelte, trat in den Kreisen der Großindustriellen der „roten Erde“ das Bedürfnis nach künstlichen Wasserstraßen lebhaft hervor. Lange Zeit trug man sich mit dem Gedanken, die Hauptorte des niederrheinisch-westfälischen Industriebezirks mit den bedeutenderen Hafenplätzen der Nordsee Papenburg, Leer, Emden zu verbinden. Damit bezweckte man, durch billigere Frachtsätze einen besseren Wettbewerb mit den Erzeugnissen des Auslandes aufnehmen zu können und zugleich der heimischen Industrie, namentlich der Westfälischen Kohle, neue Absatzgebiete zu erringen. Dieser Gedanke fand seine Verwirklichung durch den Bau des Dortmund-Ems-Kanals, der am 17. April d. J. dem vorläufigen Betriebe übergeben werden konnte und in diesen Tagen feierlichst eröffnet werden soll.

Die Ueberführung des Kanals über die Lippe bei Olfen.
Nach einer photographischcn Aufnahme von E. Overhoff in Dortmund.

Wie schon der Name – Dortmund-Ems-Kanal – besagt, beginnt der Kanal bei der alten „Freien Reichsstadt“ Dortmund. Das Hafengebiet dieser Stadt, welches eine Größe von 157 ha hat, liegt im Norden derselben. Von diesem großen Gelände ist für den Ausbau des Hafens kaum die Hälfte gebraucht worden, so daß für spätere Erweiterungen, wie sie der gesteigerte Verkehr und der etwaige Bau des geplanten Mittellandkanals mit sich bringen dürfte, noch ungefähr 80 ha zur Verfügung stehen. Etwa 11/2 km von der Stadt entfernt geht der Dortmund-Ems-Kanal allmählich in den Hafen über. Von diesem sogenannten Kanalhafen breiten sich, wie unser Uebersichtsplan S. 531 zeigt, verschiedene Stichhäfen nach Osten und Westen aus. Der erste derselben ist der Petroleumhafen (in der linken unteren Ecke des Plans), der ganz im äußersten Norden liegt, und an dem die feuergefährlichen Güter ein- und ausgeladen werden sollen. Die beiden westlichen Hafenbecken (rechter Hand auf dem Plane) führen die Namen „Kohlen-“ und „Südhafen“. An dem Kohlenhafen ist ein mächtiger hydraulischer Kohlenkipper, der von der Firma Friedr. Krupp (Gruson-Magdeburg) erbaut wurde. Der südliche, [531] nach der Stadt gelegene Teil des Südhafens ist an das Eisen- und Stahlwerk „Union“ verpachtet, welches hier eine Schiffswerft und ein großes Erzlager mit einem elektrischen Laufkrahn, der zum Löschen und Beladen der Schiffe dient, errichtet hat.

Uebersichtsplan des Dortmunder Hafens.
Nach einem im Verlage der Hafenverwaltung erschienenen Plane für die „Gartenlaube“ photographiert
von E. Overhoff in Dortmund.

Nach Nordosten (linker Hand) geht dieses Hafenbecken in den Stadthafen über, an dem sich hauptsächlich der Umschlag der wertvolleren Stückgüter und der Güter, die unter Zollverschluß gehalten werden, vollziehen soll. Ueber den Stadthafen spannt sich eine mächtige Eisenbrücke, welche die Verbindung zwischen der „Union-Vorstadt“, einer Kolonie für Arbeiter und Beamten des Eisenwerks „Union“, und der Stadt herstellt. An den beiden Ufern des Stadthafens sind große Lagerhäuser erbaut, die mit den neuesten technischen Hilfs-Maschinen, elektrischen Aufzügen etc., versehen sind. Die sämtlichen Stichhäfen haben, wie der Kanal, eine Wasserspiegelbreite von 60 m und eine Mindesttiefe von 21/2 m.

Das ganze Hafengelände ist von einer Eisenbahn, die Anschluß an die Köln-Mindener Eisenbahn hat, durchzogen und an das städtische Wasser- und Elektricitätswerk angeschlossen. Die Gesamtkosten für Grunderwerb und Anlagen des Hafens betragen 63/4 Millionen Mark; zu diesen hat der preußische Staat 1 325 000 Mark beigesteuert.

Der Wasserspiegel des Dortmunder Hafens liegt 70 m höher als der Meeresspiegel der Nordsee bei Emden. Alle Schiffe, die zur Nordsee fahren, müssen daher die 70 m herabsteigen und auf dieser Strecke, die 271 km lang ist, 19 Schleusen und das große Schiffshebewerk durchfahren. Dasselbe (vergl. unsere nebenstehende Abbildung) liegt 16 km vom Dortmunder Hafen entfernt bei dem Orte Henrichenburg. Der Höhenunterschied zwischen dem Wasserspiegel des Kanals Dortmund-Henrichenburg und demjenigen der Kanalstrecke Henrichenburg-Münster beträgt 14 m. Für gewöhnlich darf die zu überwindende Höhe 5 bis 6 m nicht übersteigen; da an dieser Stelle aber, wie gesagt, der Höhenunterschied über 14 m beträgt, so mußte hier das Schiffshebewerk erbaut werden. Bei demselben fährt das Schiff in einen großen Wasserkasten, der in einer mächtigen, eisernen Brücke hängt und durch ein starkes Schraubengetriebe stets wagerecht geführt wird; er kann wasserdicht verschlossen werden. Durch das Heben und Senken („Auftrieb“) von großen eisernen Hohlkörpern, „Schwimmer“ genannt, auf welchen der Wasserkasten ruht, wird das Schiff nach oben beziehungsweise unten gebracht. Zum Antriebe des Schraubengetriebes, welches im Notfalle den Wasserkasten mit Inhalt (21/2 Millionen Kilogramm) in der Schwebe halten kann, dient ein hundertpferdiger elektrischer Motor, der in dem Häuschen auf der Brücke aufgestellt ist und seine Kraft aus einem Elektricitätswerke, das neben dem Schiffshebewerke erbaut ist, erhält.

Das Schiffshebewerk zu Henrichenburg.
Nach einer photographischen Aufnahme von H. Weeck in Dortmund.

Dieses Riesenwerk, an dem 4 Jahre gearbeitet wurde, fordert unsere Bewunderung heraus und erfüllt uns mit Stolz, denn hier feiern deutscher Erfindungsgeist und deutsche Arbeit ihre wohlverdienten Triumphe über die ausländische Konkurrenz: das Werk übertrifft sowohl an Größe und Umfang, als auch an technischer Vollendung alle ähnlichen Bauwerke des In- und Auslandes. Es ist von der bekannten Weltfirma Haniel und Lueg zu Düsseldorf unter Leitung des Oberingenieurs Gerdau erbaut worden.

Die Durchschleusung eines Schiffes wird etwa 20 Minuten dauern, so daß das Hebewerk täglich 30 bis 35 größere Schiffe bewältigen kann.

Von hier aus geht der Kanal 7,8 km nach Südwesten und erreicht vorläufig bei der aufblühenden Industriestadt Herne sein Ende. Auf dieser Strecke Herne-Münster ist keine Schleuse angelegt, die nächste befindet [532] sich 58 km vom Hebewerke entfernt, nördlich von Münster. Die Kanalstrecke Herne- beziehungsweise Henrichenburg-Münster ist die interessanteste. Hier hat die teilweise gebirgige Bodengestaltung der Gegend an die schaffende Hand und das berechnende Auge des Ingenieurs starke Ansprüche gestellt. Zahlreiche Brücken und Viadukte überspannen den Kanal in weitem Bogen, und ein wahres Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst und Schaffenskraft der hier erbauten Uebergänge ist die Lippebrücke bei dem Städtchen Olfen (Rauschenburg). Diese Brücke, welche den Kanal über das Flüßchen Lippe führt (vergl. unsere Abbildung auf S. 530), ist 70 m lang und 15 m breit. Dicht an dieser Kanalbrücke, am Ufer der Lippe, liegt ein großes Pumpwerk, welches in jeder Minute 120 cbm Wasser aus der Lippe in den Kanal hebt. Eine ähnliche Brücke befindet sich ganz in der Nähe dieser ersteren, dicht bei der Stadt Olfen. Hier trägt das Bauwerk den Kanal über die Olfener Chaussee.

Unterhalb der Stadt Münster beginnt die sogenannte Mittelhaltung des Kanals, welche 37 km lang ist und bei Bevergern endet. Von hier aus soll sich später nach Osten der bereits erwähnte Mittellandkanal zur Elbe abzweigen. Nun folgt der Kanal auf einer kurzen Strecke dem Laufe der Ems und des alten Emskanals, um dann bei Oldersum – südlich von Emden – wieder in das Flutbett der Ems einzulenken. Bei der alten ostfriesischen Handelsstadt Emden erreicht er die Nordsee.

Bei Oldersum herrscht bereits Ebbe und Flut. Man hat deshalb, um die Kanalschiffe dem hier gefährlich werdenden Wellenschlage der breiten Ems zu entziehen, den Kanal nicht hier in das Meer geführt, sondern bis Emden einen 9 km langen Seitenkanal, der auch zugleich die Verbindung mit dem Ems-Jade-Kanal (Emden-Wilhelmshaven) herstellt, erbaut. Um es den Kanalschiffen des Dortmund-Ems-Kanals zu ermöglichen, sofort vom westfälischen Industriebezirk nach Wilhelmshaven zu fahren, was namentlich für unsere Marine von großer Wichtigkeit wäre, hat die preußische Regierung den Plan, den Ems-Jade-Kanal, der 1884/87 erbaut wurde, weiter auszubauen.

Auf dem Dortmund-Ems-Kanal sind alle baulichen Einrichtungen so getroffen, daß Schiffe von 62 m Länge, 8,2 m Breite, 1,75 m Tiefgang und 600 Tonnen Tragfähigkeit mit einer Geschwindigkeit von 5 km in der Stunde bequem verkehren können. Die Fahrzeit von Emden nach Dortmund dauert 4 Tage. Den Hauptverkehr auf dem Kanal vermittelt die „Westfälische-Transport-Aktiengesellschaft“, deren Sitz in Dortmund ist, und die auch die sämtlichen Anlagen des Emdener Hafens vom preußischen Staate auf 10 Jahre gepachtet hat.

Zu den Einfuhrartikeln, die über den Dortmund-Ems-Kanal in den niederrheinisch-westfälischen Industriebezirk gebracht werden, gehören vor allem Eisenerze, Gruben- und Nutzhölzer aus Schweden, Getreide und Mühlenfabrikate aus unsern östlichen Provinzen und Kolonialwaren. Von den westfälischen Industrieorten werden hauptsächlich Kohlen und Erzeugnisse der gesamten Eisenindustrie zur Nordsee befördert werden.

So hat die unter dem Zeichen des Verkehrs stehende Gegenwart wieder eines jener wichtigen Bindeglieder geschaffen, die bestimmt sind, die Hindernisse des Raumes zu beseitigen und die Nationen in Handel und Wandel einander zu nähern.




Das lebende Bild.

Erzählung von Adolf Wilbrandt.


1.

Herr von Hochfeld und sein Inspektor waren den halben Nachmittag über Feld gegangen, die fast beendete Ernte und alte und neue Pläne besprechend. Sie trennten sich bei der großen Eiche, die nicht weit vom Hof am Weg stand; der Inspektor ging seiner Wohnung zu, Hochfeld sah ihm nach. Er lächelte ein wenig über den ehrenfesten, harten, plebejischen Gang seines Gutsverwalters; in dem Lächeln lag aber Achtung und Anerkennung, und sogar eine Spur von Neid. Wie vergnügt der Mann nun nach Hause geht, dachte er. Nachdem er als guter deutscher Biedermann hier draußen seine Schuldigkeit gethan hat, thut er sie nun auch in seinen vier Wänden und liebt seine Familie. Er weiß vielleicht selber nicht, ob er das mehr aus Vergnügen thut oder aus Pflicht! – – Ach, das ist ja alles eins …

Hochfeld seufzte leise. Er hat eine Familie, dachte er weiter; das ist doch die Hauptsache. Nun findet er seine nette Frau, die noch immer ein bißchen hübsch und auch noch immer ein bißchen kokett, aber doch eigentlich ein sehr guter Kerl ist; und findet seinen großen Jungen, der wohl auch einmal Inspektor wird, und sein fideles Lieschen – das so gern nach Loschwitz und Blasewitz geht und für Schiller schwärmt. Das sogenannte häusliche Glück. Na ja. Es ist nicht sehr feurig bei ihnen; aber es ist doch. Es ist doch …

Er zog die Brauen nieder – eine Bewegung, die sein allzu ernst gewordenes Gesicht jetzt so oft entstellte – und ging langsam über den Gutshof seinem Herrenhaus zu. Das Haus mit dem stattlichen gotischen Mittelgiebel, unter dem eine Welt von Grün emporrankte, und den zierlichen Seitengiebeln war wohl hübsch genug; aber zu einsam war’s. Er trat ein und durchschritt die Zimmer; durch irgend einen unbewußten Trieb geführt, kam er auch in die Wohn- und Schlafzimmer seiner Frau und seiner Tochter, die nebeneinander lagen; alle einst mit Liebe und mit wählerischem Geschmack von ihm eingerichtet; nun war niemand drin. Das stimmungsvolle Boudoir Clotildens, der Frau, die allerliebste kleine Kajüte Luisens – damals für einen werdenden Backfisch gedacht; jetzt war der Backfisch zur sechzehnjährigen Jungfrau geworden, der Schule und Pension entschlüpft. Aber wo war sie denn? Im Vaterhaus, wie sich’s gehörte? Nein, da drüben in Dresden, in der Villa Viola, bei diesen Saus- und Brausmenschen; mit der Mutter, die nun auch zu dem Volk gehörte … Ein förmlich bitterer, galliger Geschmack trat ihm auf die Zunge; es war das nichts Seltenes mehr. Ein feindselig verächtliches Gefühl verzog sein Gesicht. Ihm war sogar, als verblasse die Liebe zu seinem Kind, das er einst übertrieben vergöttert, in das er wie in einen goldenen Kelch hineingesehen hatte. Weil sie in dieser Villa Viola war, statt bei ihm, schien sie auch fremder, unholder, unerfreulicher zu werden. Er mochte ihre „Kajüte“ nicht mehr anschauen; so wenig wie das Boudoir Clotildens, die ihm so allmählich davongeflattert, ihm fast wie ein Traum war. Ja, ja, ich träume nur noch, dachte er mit einem finsteren Lächeln. Ich träume mein Leben nur noch … Er ging über den Korridor in sein Arbeitszimmer.

„Du hier?“ fragte er, da er seinen Neffen Hans am Schreibtisch stehn sah. Hans von Hochfeld, ebenso lang aufgeschossen und mager wie der Oheim, aber auch ebenso kräftig gebaut, mit dem noch etwas kindlich runden Gesicht eines guten Jungen, stand wie wartend da, Hut und Reitpeitsche in der Hand, in seinem feinsten Sommeranzug. Er machte eine militärische Verbeugung; er hatte sein Dienstjahr hinter sich.

„Hab’ eben ein Telegramm gebracht,“ antwortete er und deutete auf den Tisch. „Der Bote kam damit vor fünf Minuten. Ich dachte wohl, du kämst jetzt bald; denn ich sah den Inspektor, mit dem du fortgegangen warst, in seine Wohnung gehn.“

Merkwürdig gescheit! dachte Hochfeld; er hatte sonst von den Geistesgaben seines Neffen und „Volontärs“ eine geringe Meinung. Mit der trägen, erwartungslosen Gebärde eines vereinsamten Menschen, dem das äußere Leben wenig bringt, nahm er das Telegramm vom Tisch und öffnete es. Aus Dresden! sah er; und von seiner Frau. „Bestimme, ob Luise hinauskommen soll, und wann, und wie lange. Sie grüßt ihren Vater zärtlich. Clotilde.“

Seine Brauen zogen sich wieder zusammen; ja, das ist ganz ihr Stil! fuhr ihm durch den Kopf. Ich soll immer bestimmen, entscheiden, erzwingen; wo sich eigentlich alles von selbst versteht, oder durch guten Willen sich von selbst ergäbe, da soll ich den Herrn spielen. Warum denn? Damit sie sich dann als Märtyrerin fühlen kann? Oder weil sie weiß, wie sehr ich dies Erzwingen hasse, und sich darauf verläßt: es wird nichts geschehn, alles bleibt wie es ist, ich kann weiter thun und lassen, was ich will?

[533]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. Els.
Neckerei.
Nach dem Gemälde von Ch. Landelle.


Ist denn das noch eine Ehe? dachte er und schloß die Augen. Jetzt fiel ihm aber ein, daß er nicht allein war; er hatte wohl auch eine Bewegung, ein Geräusch gehört. Indem er die Depesche auf den Schreibtisch legte, sah er über den Neffen hin. „Du hast dich ja so fein gemacht. Willst du noch nach Dresden?“

Hans nickte vergnügt. „Ich hab’ ein paar Besorgungen in der Stadt; bei der Gelegenheit möcht’ ich bei den Tanten vorsprechen, – natürlich wenn du’s erlaubst. Nun ist ja auch Cousine Luise da. Muß sie doch begrüßen.“

„Natürlich.“

„Und dann überhaupt – in der Villa Viola soll es jetzt sehr lustig sein. Interessanter Besuch aus Berlin; dazu die fidelste Dresdener Gesellschaft. Immer was los!“

Hochfeld blickte den jungen Nachwuchs mit etwas spöttischem Lächeln an. „Dir blitzt ja die Lebenslust förmlich aus den Augen,“ sagte er dann, durchs Zimmer gehend. „O ja, da ist ‚immer was los‘. Das richtige moderne Deutschland; seit wir ein reiches Volk werden, mehrt sich auch der Uebermut. Immer Geld ausgeben, immer uns amüsieren, uns amüsieren – und Sozialdemokraten züchten! Das verstehn sie in der Villa Viola. Die Villa Viola immer mit voran!“

Hans verzog aus Respekt keine Miene; auf seinem offenherzigen Gesicht stand aber doch leserlich genug geschrieben: du kannst lange reden, eh mir was gefällt! – Nein, dachte er und wunderte sich: wie dieser Onkel Julius sich verändert hat. Vor zwei, drei Jahren, wie famos konnt’ er lachen; ein ganz entschieden fideles Haus. Und jetzt – entweder sinnt er vor sich hin und spricht lang’ kein Wort – oder es kommt alles so gallig heraus. Der lebt eben viel zu einsam. Der sollt’ in die Welt!

Onkel Julius war an die große Glasthür getreten, die in den Garten führte; er kam wieder zurück. „Früher,“ murmelte er, „da war’s anders! – In Dresden, mein’ ich. Aus meiner Knabenzeit erinner’ ich mich: neben der Villa Viola stand eine andre, auch sehr schöne, da wurden auch wir Jungens manchmal eingeladen, spielten im Garten, an der Elbe, oder in den Zimmern. Manchmal wohl an hundert Menschen beisammen; vortreffliche, reichliche Bewirtung, große Fröhlichkeit; aber gar kein Prunk. Vornehm und urgemütlich! Am frühen Nachmittag fing’s an; Punkt zehn Uhr war’s aus. Dann erschien der Hausherr, der alte Großvater, den man bis dahin gar nicht gesehen hatte; der kleine Mann mit dem großen, klugen, sonderbaren Kopf ging durch alle Zimmer, grüßte alle Leute – so mit der Hand, ich seh’ es noch – und verschwand dann wieder, Gott weiß wo. Das war das Zeichen zum Aufbruch: alle Mann hinaus!“

Hans stieß ein kleines Lachen hervor. „Das ist komisch, Onkel!“

„Meinetwegen war’s komisch. Aber wenn man nun an die Hausthür kam, so hielten da so viele Wagen, alle vom alten Großvater gestellt, daß jeder nach Hause fahren konnte; kein Mensch brauchte zu Fuß zu gehn. Das war gar nicht übel, Hans! Hat mir sehr gefallen. Eine gute, drollige Gastfreiheit; – sonst aber keine Spur von Prunk. Dagegen jetzt bei unsern Morlands, in der Villa Viola – na, und überhaupt. Ein [534] Taumel von Genießen! Die Jagd nach dem Geld, und dann die Parforcejagd nach dem Vergnügen. – Ich bin froh, daß ich draußen bin. Zwei Meilen weit davon – ich kann auch zweitausend sagen. Mit meiner Landwirtschaft, meinen Blumen, meinen Büchern … Ich bin froh! Ich bin froh!“

Er ging mit aufgeregten, unruhigen Schritten durch das große Zimmer hin.

Hans sah ihm mit den rundlichen Augen nach. Ach, du bist ja gar nicht so froh, sagte er inwendig, ohne sich zu rühren. Du thust ja doch nur so, Onkel Julius. – Villa Viola hoch! Das ist meine Meinung. – Er wird alt, der Onkel. – Und sonst so ein Prachtmensch. – Will machen, daß ich fortkomm’!

„Hast du was in der Stadt zu bestellen?“ fragte er, als Hochfeld mit gesenktem Kopf wieder näher trat.

„Zu bestellen? Nein. – Allerdings, wegen dieses Telegramms da kannst du der Tante Clotilde sagen – – ja, was denn? – Es wird sich finden, sag ihr nur; ich weiß es noch nicht. Vielleicht – vielleicht fahr’ ich heut noch selber hinein, auf ’ne halbe Stunde, um das Kind zu sehn. Das Weitere wird sich finden, wird sich finden …“

„Sehr wohl, Onkel Julius.“

„Du willst natürlich reiten?“

„Ja.“

„Nimm nur ’nen Mantel mit. Es wird vielleicht am Abend plötzlich kalt.“

Hans lächelte. „Ein so abgehärtetes Menschenkind wie ich! – Wir haben ja noch August.“

„Kaum noch; beinah schon September. Und du kennst doch unser Klima, Junge: heiße Tage, kühle Abende. – Dein dünnes Röckchen.“

„Aber darunter ein warmes Herz!“ erwiderte Hans mit einem seiner „schuldlosen Scherze“, wie sie der kritische Onkel nannte. „Und zwar ein Soldatenherz. – Also auf Wiedersehn!“

Nein, was der sorgenvoll wird! dachte er und ging aus der Thür.

Julius zuckte die Achseln. Er sah durch die Glasthür auf den Himmel hinaus; wolkenlose Bläue lag über den hohen, besonnten Wipfeln und Kronen des Gartens. Es war noch ein richtiger Sommertag … Plötzlich überlief ihn doch ein Frösteln; warum? woher? Es mußte wohl aus der Seele kommen. Ihm war auf einmal alles leer und tot; die besonnte Welt, dieses schattige Zimmer, die Jagdtrophäen an der Wand, die Bilder, die Bücher, die hohen Yucca’s, die mächtigen Philodendren, die Statuen dazwischen. Ein Ekel an allem legte sich wie ein glattes, häßliches Ungeheuer um ihn her, umgeiferte, umschnürte ihn, schüttelte ihn dann. Es war, wie wenn nichts mehr lebte, als das dumme Blatt da auf dem Tisch, das kalte, nichtssagende Telegramm. „Bestimme, ob Luise hinauskommen soll. – Sie grüßt ihren Vater zärtlich. Clotilde.“ Warum grüßt sie ihren Vater von der Villa Viola aus? Weiß sie auch schon nicht mehr, wohin sie gehört? Hat sich dieses junge Ding schon hineingefunden, daß Vater und Mutter ihre gesonderten Wege gehn? Und hält sie zu ihrem Geschlecht? Thut sie, was die Mutter will? Ist sie doch mehr der Mutter Kind?

Und er hatte doch oft im Stillen, mit heimlicher Freude gedacht: sie ist mehr mein Blut …

Ein wilder Entschluß, den er in sich kommen und wachsen sah, stand ihm auf einmal fest in der Brust. „Nein!“ sagte er laut gegen den Tisch, gegen das Telegramm hinunter, „so halt’ ich’s nicht aus! Diese Halbheit – das ist der Tod. Dabei vergeht einem ja die Menschenwürde. Ein Ende machen! so oder so!“

Er sah den alten Mahnke, seinen zweiten Diener, durch den Garten gehn; Friedrich, den besseren, hatte er in seiner ritterlichen Art bei Clotilden gelassen. Er trat in die Gartenthür. „Mahnke!“ rief er. Der Alte kam heran.

„Lassen Sie anspannen; den Zweisitzer. Legen Sie meinen Mantel hinein. Ich fahr’ in die Stadt!“


2.

Hochfelds Gut lag nicht an der Elbe, sondern hinter Hosterwitz und Pillnitz nach Nordosten ins Land hinein; die beiden Straßen, die nach Dresden führten, waren ungefähr gleich weit, gegen vierzehn Kilometer lang. Hans, auf seinem Braunen, wählte den hübscheren Weg, nach Hosterwitz hinunter und dann an der Elbe fort. Bei so schönem Wetter wie heut war es ihm ein immer neues Vergnügen, zwischen Fluß und Höhen hinzureiten; rechts die Hügel mit Villen bedeckt, links nahe und fernere Dörfer über die Ebene hingestreut, dazwischen der spiegelnde Strom, auf dem die Personendampfer, die Schlepper so heiter auf und nieder fuhren, als wäre das ganze Leben nur ein lustiges Hin und Her. Dann wuchs ihm die große Stadt entgegen; zuerst ihre Vorboten: Loschwitz, Blasewitz, die Schillerdörfer (auch Hans von Hochfeld kannte seinen Schiller, wenn er ihn auch ein wenig als unmodern verachtete); darauf die Vorstädte hüben und drüben, die hochragenden Kirchen, die unzähligen Bäder im Strom, die große Terrasse, die Villen und die Gärten. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen! hatte er sich unterwegs als Ehrenmann mehrmals vorgesagt, sogar vorgesungen; denn an Pflichtgefühl fehlte es ihm nicht. Zuerst die Besorgungen drüben in der Altstadt, dann wieder herüber und in die Villa Viola! – Nur als ihn seine Straße geradezu an dieser Villa vorbeiführte – das schöne weiße Gebäude mit dem vergoldeten Balkon lag so aufdringlich am Weg – da schüttelte er den jungen Kopf. So vorbeizureiten, dachte er, das ist doch zu dumm! Man kann doch erst mal sehn, was die Leute hier machen …

In der Thür, unter dem Balkon, stand Heinrich, der Diener; Hans stieg ab und übergab ihm sein Pferd. In seiner neugierigen Ungeduld sprang er dann sogleich ins Haus. Sonderbar! Das hatte er sich anders gedacht: alles war still, die Zimmer leer; kein Mensch und keine Katze zu sehn. Er ging immer geradeaus, durch den runden Saal, der ihm so besonders gefiel, den oben eine ebenso runde Altane umlief, auf die eine Menge Thüren mündete; auch hier tiefe Stille. Im Gartensalon war’s ebenso. Durch die große Glasthür und die hohen Fenster sah er die belebte Elbe und die Altstadt drüben, ein „famoses Bild“; um ihn her regte sich aber nichts. Erst als er dann in den Garten trat, sah er einen Menschen; dessen Anblick war aber auch unerwartet. Friedrich, der Hochfeldsche Diener, in der Hochfeldschen Livree, der „Musterdiener“, saß am Eingang einer Laube im Schatten, an einem Tischchen, auf das er die Hand und den Kopf gelegt hatte, und schlief. Man konnte ihn sogar leise schnarchen hören.

Hans ging kopfschüttelnd auf ihn zu. „Friedrich!“ rief er ihn nach einer Weile an.

Der Diener erwachte sofort, sah, wie und wo er war, und machte ein so verlegen beschämtes Gesicht, daß der Jüngling auflachte. „Was Tausend!“ sagte er. „Friedrich! Musterknabe! Sie schnarchen hier am hellen Tag?“

Friedrich stand auf; er versuchte zu lächeln, es gelang ihm aber nicht. „Das sagen Sie wohl, Herr von Hochfeld,“ erwiderte er verdrießlich. „Die Natur fordert ja bekanntlich ihre Rechte; wen man bei Nacht nicht ausschlafen läßt, der muß dann bei Tage schlafen. Das ist ’ne alte Geschichte –“

„Ihr lebt hier so lustig?“ fiel ihm Hans ins Wort.

„Es giebt immer was,“ sagte Friedrich langsam. „Den Herrschaften fällt so vieles ein, was notwendig geschehen muß: bald ’ne große Reitpartie, bald ein Kegelabend hier im Garten, mit ausgesetzten Preisen; dann ein Feuerwerk. Und getanzt wird – wer weiß, wie oft. Und wer weiß, wie lange. Wir machen ja auch viel Musik, Herr von Hochfeld. Heut abend werden wir im Konzertsaal ,lebende Bilder‘ haben; zum Schluß italienische Mondscheinnacht im Garten, am Wasser –“

„Teufel!“ rief Hans, wie elektrisiert; es durchzuckte ihn. „Und ich fast jeden Abend mit den Hühnern zu Bett!“

„Sagen Sie nichts gegen die Hühner,“ bemerkte Friedrich; legte sich die Hand vor den Mund und gähnte. „Ich beneide Sie und die Hühner – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“

„Aber Sie sind doch nur für meine Tante hier!“

Friedrich schüttelte lächelnd den Kopf: „Ach ne, sagen Sie das nicht. Frau von Hochfeld leiht mich her; ich mach’ alles mit. Das ist ja auch ganz in der Ordnung; dagegen sag’ ich ja nichts. Heinrich und der kleine dumme Junge, wie wollten die mit dieser Wirtschaft fertig werden; die lägen ja schon unter dem Rasen, Herr von Hochfeld. Ach ne, es ist sehr gut, daß ich hier bin. Wir drei –“

[535] Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil er wieder gähnte.

„Armer Friedrich!“ sagte Hans mit seinem gutmütigsten Lächeln und legte dem Märtyrer eine seiner großen Hände auf die Schulter. – „Wo ist denn aber jetzt die ganze Gesellschaft?“

„In der Villa Eberhard; da war heut nachmittag große Quadrille. Nämlich auf dem Wasser; die Villa Eberhard hat einen kleinen See, den haben wir nicht. Nun werden sie aber wohl nach Hause kommen …“

Friedrich sah auf seine Uhr und nickte.

Hans warf sich auf einen Stuhl, vor Aufregung. „Quadrille auf dem Seel – Lebende Bilder! – Himmeldonnerwetter, und ich wieder aufs Land!“

Der Diener sah ihn schweigend an; sein kluges Gesicht war nun wieder musterhaft verschlossen. Ja, hätt’ ich nur dein Pferd! dachte er. Und könnt’ ich aus dieser Fidelität hinausreiten, zu meinem gnädigen Herrn!

„Hans!“ rief jetzt eine helle, angenehme Stimme. In der offengebliebenen Thür des Gartensaals erschien die Tante Clotilde; die noch jugendlich schlanke, schöne Gestalt, in einem reizenden Ruderkostüm, ein Matrosenhütchen auf dem Kopf, einen glitzernden Orden an der Brust, winkte mit der Hand. Hans sprang auf, ihr entgegen; sie kam aber schon heraus, mit den raschen, herzhaften Bewegungen, die er an ihr liebte. „Na, Landjunkerchen?“ sagte sie gemütlich lächelnd, als sie vor ihm stand, und gab ihm die Hand. „Sieht man dich einmal? – Ich entdeckte dich eben, als ich in den Saal trat; da schlug mir das Tantenherz, und ich bin den andern weggelaufen.“

„Beste aller lebenden Tanten!“ entgegnete Hans; es war seine ehrliche Meinung. Er staunte sie eine Weile an: wie jung und wie hübsch sie noch war mit ihren fünfunddreißig Jahren. Dann küßte er ihr die Hand.

„Ach du lieber Gott!“ rief sie nun aus, da sie dem herangetretenen Friedrich in das farblose, müde, schlaffe Gesicht gesehen hatte; auch sein verstohlenes Gähnen unterwegs hatte sie bemerkt. „Armer Friedrich! Was für ein Bild des Jammers. Mund auf, Augen zu!“

Friedrich wehrte ihr Mitleid ab. „Ach ne, gnädige Frau, es ist nicht so schlimm –“

„Sie sind ja hoffnungslos müde, Friedrich!“

Er schüttelte den Kopf.

„Mein gutes Herz, leugnen Sie doch nicht. – Sie halten dieses Leben nicht aus. Ich hab’s schon gefürchtet. Na, und jetzt verwünschen Sie mich!“

Friedrich widersprach mit Händen und Füßen. Er hing an seiner gnädigen Frau, er war auf seine Weise verliebt in sie. Seine verneinenden Bewegungen wurden so leidenschaftlich, daß Hans plötzlich auflachte; Clotilde lächelte.

„Es geht ja auch ziemlich toll bei uns zu!“ sagte sie in ihrer drolligen Aufrichtigkeit. „Wird ja aber anders werden, Sie Armer, früher oder später. Jetzt sollen Sie schlafen; machen Sie, daß Sie fortkommen. Gehn Sie in Ihr Zimmer, legen Sie sich hin!“

„Um Gottes willen,“ erwiderte Friedrich und wand sich, „liebe gnädige Frau! Machen Sie mich nicht zum Kinderspott!“

„Ich brauch’ Sie jetzt nicht.“

„Aber vielleicht Frau Morland, oder –“

„Niemand, niemand. Wenn ich’s Ihnen sage. Gehn Sie! Ich will es!“

Ihre braunen Augen blitzten ihn so liebenswürdig herrisch an, daß er sich wohl fügen mußte. Er zuckte aber die Achseln: „Schlafen werd’ ich doch nicht –“

„Na, dann ruhen Sie!“ fiel sie ihm ins Wort. Sie nahm ihn mit beiden Händen und schob ihn sanft dem Hause zu. „Fort, fort, fort!“

Friedrich ging, mit unterwürfig gesenktem Rücken; in den Schultern rührte sich aber noch der letzte Trotz. Ach ja, wenn sie nicht so gut wäre, dachte er, indem er ins Haus trat. Aber was will man machen; ihr Herz ist zu gut!


3.

Clotilde blickte ihm mitleidig nach; dann stieß sie einen leisen Seufzer aus und ging auf die Laube zu. Sie ließ sich auf denselben Sessel fallen, auf dem vorhin Friedrich geschnarcht hatte. „Ah!“ seufzte sie noch einmal. „Müde bin ich auch. An allen Gliedern.“ Sie sah das „Landjunkerchen“ komisch wehleidig an. „Hans! Hans! Ich werd’ alt!“

Hans lächelte nur. – „Ihr kommt eben von der Ruderpartie?“

Sie nickte.

„Siehst du diesen verrückten Orden hier? Den hat mir der Schwager Morland angeheftet; ’s ist der Ruderpreis. Ja, du glücklicher junger Mensch, deine Tante hat sich ausgezeichnet! Als Führerin ihres Seelentränkers, bei der großen Quadrille –“

„Seelentränker!“ unterbrach er sie. „Was ist das?“

„Das weiß nun wieder Hänschen nicht. Ach, du unschuldiger Krautjunker! – Was ein Seelentränker ist? Hast du noch nie so ’ne Nußschale gesehn? Eine Nußschale für einen Menschen, mit einem Ruder, das man so hin und her schlägt, nach rechts und nach links – das ist ein Seelentränker; und frag mich nicht, was das Wort bedeutet, denn ich weiß es nicht. Sitzend liegt man drin – verstehst du – wie ein Kind auf einem Riesenblatt der Victoria Regia; und wie in einem Traum schwimmt man dann dahin …“

Clotilde, die Todmüde, sprang auf; alle ihre Glieder fingen an zu sprechen. „Nun kommen sie aber von allen Seiten heran, verstehst du, diese schwimmenden, bunten Blätter; auf jedem rudert ein Herr oder eine Dame. Und alle rudern aufeinander zu, wie um sich in den Grund zu bohren; dann – auf ein Kommando – wieder alle zurück, pfeilschnell auseinander. Dann alle im Kreise herum, langsam, wie Schwäne hintereinander her. Nun in zwei Reihen senkrecht aufeinander, ein großes schwimmendes Kreuz; und nun Paar an Paar – wachsen zusammen, verstehst du – wachsen auseinander – fliehen sich, finden sich – wie Libellen, die über dem Wasser tanzen. Endlich, wenn es keine Figur mehr giebt, die man nicht gemacht hat, dann salutiert man mit dem Ruder – feierliche Verneigung – aus ist’s.“

Sie sank wieder auf ihren Stuhl und fächelte sich mit ihrem Taschentuch. „Siehst du, mein Sohn, das ist die Quadrille!“

Hans schüttelte bewundernd den Kopf. Dann seufzte er vor Aufregung. „Und ich draußen, als Stoppelhopser!“

„Natürlich,“ sagte Clotilde mit mütterlichem Ernst; „das ist ja dein Beruf! – Na, wie schlägt dir’s an?“

„Danke,“ erwiderte er und setzte sich auch. „So, so. Das landwirtschaftliche Studium, weißt du, das war lustiger; aber ich mußte ja endlich gründlich ins Praktische hinein, und dafür bin ich auch mehr gemacht, als für die Studia. Der Inspektor, unter dem ich als Volontär diene, ist ja leidlich zufrieden.“ Er lächelte treuherzig: „Für ein großes Licht scheint er mich zwar nicht zu halten –“

Clotilde zuckte heiter die Achseln.

„Er behandelt mich aber mit Achtung; sehr nett. Uebrigens soll ich dir vorläufig von ihm sagen, daß er sehr gerührt ist: du hast ja seiner Frau eine ganze Apotheke geschickt.“

„Wird sie besser?“

„Ja; sehr. – Er ist doppelt gerührt, sagt er, daß du bei deinem großstädtischen, ruhelosen Leben –“

Clotilde, die sich plötzlich verfinsterte, machte eine ungeduldige Bewegung, so daß er verstummte. Das hätt’ ich wohl nicht sagen sollen, fuhr ihm durch den Kopf. Das war wohl recht dumm!

Sie ward indessen schnell wieder heiter; in ihrer reizend leichtlebigen, raschen Art, die ihm so gefiel. „Na, und du?“ fragte sie, als hätte er das andre zu Ende gesprochen. „Hast dich von deiner letzten Verliebung erholt?“

„Ja,“ erwiderte er vergnügt. „Das ist vorbei. Da hatt’st du wieder mal recht, Tante; wie immer. Die hätt’ nicht für mich gepaßt.“

Clotilde nickte zustimmend.

„Nein,“ bekräftigte er lächelnd, „das war eine Dummheit. – Das ist ganz vorbei!“

„Junge,“ sagte Clotilde, die ihn mit den klugen Frauenaugen forschend betrachtete, „du ängstigst mich. ,Das ist vorbei’ … Du sprichst ja, wie wenn schon wieder etwas andres – –“

[536] Hans lachte zutraulich auf. „Dein bekannter Generalstabsblick! – Es ist aber nicht von Bedeutung, beruhige dich. Will dir nur pflichtschuldig beichten, daß mir neulich, als ich zum Theater in die Stadt kam, eine reizende junge Dame mit wunderbar frischen Farben sehr – sehr imponiert hat –“

„Schon wieder! – Kennst du sie?“

„Ja. Ich wurd’ ihr im Zwischenakt vorgestellt. Fräulein von Sabirow. – Kennst du sie auch?“

Clotilde nickte ernsthaft. „Ja. Sie malt sich sehr ähnlich.“

Malt sich? – Wieso ähnlich?“

„Vor zehn Jahren sah sie grade so aus wie jetzt!“

Er starrte die Tante verblüfft und daher nicht sehr geistreich an. „Vor zehn Jahren?“

„Ja.“

„Sie malt sich?“

„Ja. – Ja, mein Herzchen, deine unschuldigen Landjunkeraugen wählen bis jetzt nicht besonders glücklich. – – Einen mütterlichen Rat möcht’ ich dir bei der Gelegenheit noch geben; darf ich?“

„Bitte!“

„Du suchst durchaus schon deine Zukünftige; – na ja, meinetwegen. Der zukünftige Gutsbesitzer … Aber du Unglücklicher hast offenbar die fixe Idee, dich so recht durch einen Gegensatz zu ergänzen;“ Clotilde seufzte leise und blickte auf die Erde; „gieb das auf, mein Junge. Glaub mir, Mann und Weib sind von Natur schon verschieden genug! Wenn nun gar Schwarz und Weiß sich zusammenthun, so nebeneinander auf die Scheibe gemalt – hast wohl einmal so ’ne Scheibe gesehn, in ’ner physikalischen Vorstellung –“

Er nickte.

„Und wenn dann in der Ehe die Scheibe sich zu drehen anfängt – so wird, grade wie in der Physik, ein trauriges Grau daraus! – Nein, nimm dir lieber eine, die von deiner Art ist. Wirst dich immer noch wundern, Hänschen, wie die Bäume auseinander wachsen, du nach rechts, sie nach links; dafür ist gesorgt!“

Es war ihm, wie wenn er sie wieder leise seufzen hörte; er wußte auch, warum. Es ging ihm zu Herzen. Etwas befangen antwortete er nach einer Pause: „Ja, ja. – Ja, ja.“ Er schwang sich zu einem befreienden Scherz auf: „Ich hab’ ja vor der Weisheit meiner Tante Clotilde allen denkbaren Respekt. Bist ja mein Professor der Lebenskunst! – Ueberhaupt – meine Verehrung – – weißt du, daß ich deine Photographie immer bei mir führe? hier?“

Er griff in seine Brusttasche und zog eine Photographie in Kabinettsform hervor. Sie erkannte sie.

„Welche Ehre!“ sagte sie und lachte. „Rührender junger Mensch!“

Er steckte sie wieder ein. Plötzlich kam ihm der Gedanke, der ihm wohl schon eine Weile unklar die Brust beschwert hatte: Sie fragt gar nicht nach ihrem Mann!

In demselben Augenblick dachte ClotUde: Er spricht nicht von Julius!

Hans faßte Mut.

Mit einem diplomatischen Umweg begann er: „Ich reit’ also noch heute abend wieder hinaus. Der – – Mein Cousinchen ist also hier?“

„Ja, seit drei Tagen. Ich hab’ nun eine große, sechzehnjährige Tochter …“

Sie sah ihn erwartend an; er sie auch.

Er nahm wieder das Wort, vor Verlegenheit und Anstrengung rot geworden: „Und Luise – und ihr – und du denkst hier noch lange zu bleiben?“

„In der Villa Viola?“

„Ja.“

„Warum sollt’ ich fort?“ – Sie stand auf. – „Hat dir Onkel Julius – ?“

Hans erhob sich auch. „Was, Tante?“

„Das frag’ ich dich. – Ich hab’ ihm eine Depesche geschickt. Hast du die noch gesehn?“

„O ja. Freilich, Tante. Eh ich fortritt, hab’ ich sie ihm noch auf den Tisch gelegt; und er kam dann und –“

„Und hat sie gelesen?“

„Natürlich. Ja.“

„Und – und – – und er hat dir keine Antwort darauf mitgegeben?“

Hans ward wieder rot. Es kam ihm auf einmal abscheulich märchenhaft vor, daß zwischen diesen beiden Menschen, die er so verehrte, er, Hans von Hochfeld, auf eine so verrückte Art den Vermittler spielte.

„Mitgegeben?“ fragte er zurück, da ihm gar nichts anderes einfallen wollte.

„Nu ja!“ sagte Clotilde, die auch ein Erröten anflog. „Einen Zettel? ein Blatt Papier? ein Billet?“

Er schüttelte eine Weile den Kopf.

„Also keine Antwort?“

„Doch, doch. Es wird sich finden, soll ich dir sagen. Er weiß es noch nicht.“

„Ah! Er weiß es noch nicht!“

„So hat er gesagt. Das Weitere wird sich finden: das waren seine letzten Worte. Vielleicht, sagte er, kommt er noch selber auf ’ne halbe Stunde, um Luise zu sehn.“

„Hm!“ murmelte sie. „Auf ’ne halbe Stunde …“

Sie machte ein paar kurze Schritte; in vollkommener äußerer Fassung kam sie dann zurück. „Luise wird sich freuen,“ warf sie hin. „Sie erwartet ihn schon. – Dann ist ja alles gut und in Ordnung … Warum hast du das nicht gleich gesagt? Hast wohl unterwegs zu viel an die Selbstmalerin, die Sabirow, gedacht! – – Na, und wie lebt ihr denn?“

„Onkel Julius und ich?“

Sie nickte ungeduldig.

„Danke; so, so. – Ich bin ja keine große Unterhaltung für ihn, er ist aber sehr gut zu mir. Wenn er allein in seinem Zimmer speist, dann ess’ ich in meinem; oft essen wir aber auch zusammen im Speisesaal; manchmal der Inspektor mit. Dann wird viel von Politik und Landwirtschaft gesprochen –“

„Und wenn ihr beide zusammen eßt?“

Hans zuckte die Achseln. „Ja, dann spricht der Onkel nicht gar so viel. Er brütet oft vor sich hin; er –“

Clotilde machte eine Bewegung, daß er wieder verstummte. Sie faßte sich aber geschwind. Durch eine zweite Gebärde schien sie ihm zu sagen: sprich nur ruhig weiter!

„Onkel Julius ist übrigens sehr thätig,“ fing er denn auch geschwind wieder an. „Er wandert viel mit dem Inspektor herum; er sitzt halbe Tage über seinen Büchern; besonders glücklich ist er mit seiner alten Liebe, seinen Blumen und Pflanzen. Neulich haben wir zur Abwechselung ein Unglück gehabt –“

„Ein Unglück?“

„Nur ein kleines. Das heißt, doch ein Meter sechzig hoch. Von den beiden großen Gipsstatuen, die in Onkel Julius’ Arbeitszimmer stehn – Flora und Fortuna – ist die eine zerschlagen worden –“

„Durch wen?“ fragte Clotilde.

„Durch den alten Mahnke. Er fiel.“

„Welche denn?“

„Die Fortuna.“

„Oh!“

Ueber ihr bisher gleichgültiges Gesicht flog ein Zucken hin. Sie wendete sich langsam ab. Endlich wiederholte sie leise, in einem schmerzlich abergläubischen Gefühl: „Die Fortuna …“

„Ja,“ murmelte Hans.

Clotilde ging am Rasenplatz hin, gegen die Elbe zu. Ihr war schlecht zu Mut; das kam jetzt so leicht bei ihr, bei geringem Anlaß. Und auf meine Depesche, dachte sie, nur eine mündliche Antwort; durch den Jungen da. ,Das wird sich finden.‘ ‚Vielleicht kommt er auf ’ne halbe Stunde her.‘ Aber nur um das Kind zu sehn …

O Julius! Julius! Was ist aus uns geworden?

Es erwachte nun aber ihr alter Trotz. Sie drückte die Fäuste gegeneinander, daß die Ringe an ihren Fingern ihr weh thaten. Soll ich mich mit ihm aus der Welt verbannen, weil er die Laune hat, weltmüde zu sein? Sind wir denn alt und grau? – Fünfundvierzig ist er alt, und ich fünfunddreißig. – Ich will leben! leben!

(Fortsetzung folgt)     


[537]

Am Neuen See im Berliner Tiergarten.
Nach dem Leben gezeichnet von M. Plinzner.

[538]

Fürst Bismarck und F. L. Jahn.

Von Carl Euler.


In seinen „Gedanken und Erinnerungen“ erwähnt Fürst Bismarck „die turnerische Vorschule mit Jahnschen Traditionen“ bei Plamann und bemerkt ausdrücklich, daß er von dort „deutschnationale Eindrücke“ mitgebracht habe. Von diesen Eindrücken sagt er dann weiter, daß sie im Stadium theoretischer Betrachtungen geblieben und nicht stark genug gewesen seien, um angeborene preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen.

Als sechsjähriger Knabe, Ostern 1821, wurde Otto von Bismarck Zögling der Erziehungsanstalt des Dr. Plamann in Berlin. An ihr hatten einst Friedrich Ludwig Jahn, Friesen und Harnisch gewirkt, jene Männer, welche, von glühendem Patriotismus erfüllt, damals, in den Jahren der Erniedrigung und Schmach, die über Preußen und Deutschland hereingebrochen war, alles, was sie wollten und trieben, nur von dem Standpunkte des zu rettenden Vaterlandes ansahen. 1820 wurde über das Turnen der Bann ausgesprochen; Jahn war in Haft, Friesen 1814 in Frankreich gefallen, Harnisch bereits seit 1812 in Breslau an der Spitze des dortigen Lehrerseminars. In Berlin blieb allein Jahns treuester Schüler, Ernst Eiselen. Er ging als Lehrer ganz zur Plamannschen Anstalt über und durfte hier auch das Turnen unter dem Namen „Gymnastik“ weiterpflegen. Er war der Vermittler der „Jahnschen Traditionen“.

Anfangs soll der kleine Bismarck sich in der Plamannschen Anstalt nicht wohlgefühlt haben; er hat sich schwer in das ihn beengende Anstaltsleben hineinfinden können. Allmählich wurde aber seine Stimmung besser. Schon damals zeigte er ein ausgezeichnetes Talent zur Organisation. Bei den kriegerischen Spielen in den Freistunden im Garten der Anstalt war er stets der Anführer und Leiter. Die Kämpfe wurden oft so ungestüm und heftig, daß die Lehrer dazwischentreten mußten. Besonders der Trojanische Krieg wurde mit Vorliebe durchgekämpft; die Zöglinge legten sich die Namen griechischer Helden bei, Bismarck hieß Ajax. Er führte über jedes Treffen ein genaues Buch. Auch las Bismarck von einer Linde herab den unten gelagerten Mitschülern aus Beckers Erzählungen aus der alten Welt die Kämpfe der Griechen und Trojaner, die Thaten des Herkules und Theseus vor. Die Linde stand noch vor fünfzehn Jahren. Dann mußte sie einem Neubau weichen. Eine Inschrift über der Thür dieses Hauses (Königgrätzerstraße Nr. 88) sagt, daß hier die „Bismarcklinde“ im Garten der ehemaligen Plamannschen Erziehungsanstalt gestanden habe.

Seine „preußisch-monarchischen Gefühle“ hielten aber Bismarck nicht ab, für Deutschlands Ehre mit der Waffe in der Faust schon als Student einzutreten, so gegen jenen Engländer, der über den deutschen Michel „mit der Schlafmütze über den Ohren und dem bunten Schlafrock aus sechsunddreißig Lappen“ gewitzelt hatte. Daneben äußerte er aber auch schon damals: „Deutschland wird einig werden, aber nicht durch die Schläger der Korpsburschen, noch durch die Tinte der Schreiber.“ – –

Auch Jahn ging vom preußischen Patriotismus aus. Auch er hatte sich seine gut preußisch-monarchische Gesinnung bewahrt und sie mit der Begeisterung für die deutsche Einheit vortrefflich zu vereinen gewußt. Von einer deutschen Republik wollte auch er nichts wissen. Arnold Ruge behauptete sogar, Jahn sei in Hinsicht auf staatliche Freiheit all sein Lebtag nichts anderes gewesen als ein durch und durch königlich, ja hohenzollerisch gesinnter Mann.

1817 schloß Jahn seine Vorträge über deutsches Volkstum mit den Worten: „Gott segne den König, erhalte Hohenzollerns Haus, schirme das Vaterland, mehre die Deutschheit, läutere unser Volkstum von Welschsucht und Ausländerei, mache Preußen zum leuchtenden Vorbild des deutschen Bundes, binde den Bund zum neuen Reich und verleihe gnädig und bald – das Eine, das Not thut – eine weise Verfassung.“ Und 1840 sagte Jahn in einem Trinkspruch auf König Friedrich Wilhelm IV: „Der König ist unseres Volkes lebende und webende Fahne, zu der wir in Frieden und Freude halten, in Not und Gefahr, in Kampf und Sieg. Aber am Vaterland hat er auch sein Teil und nicht den geringsten.“

Jahns erste Schrift über „die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche“, die im Jahre 1800 erschien, hatte einen durchaus preußischen Charakter. Sie beginnt mit den Worten: „Der Bewohner der preußischen Staaten liebt sein Vaterland, verehrt seine Fürsten und ist stolz darauf, zum preußischen Volke zu gehören. Diese Empfindungen würden seinen Busen nicht schwellen, schwebten nicht die Thaten seiner Vorfahren, die Wohlthaten und Verdienste seiner Regenten, freilich oft nur dunkel, vor seinen Augen.“ Jahn klagt aber, daß das preußische Volk in so tiefer Unwissenheit seiner Geschichte lebe. Das sei Schuld der preußischen Schulen, welche die Geschichte des Vaterlandes vernachlässigten. Auf den Universitäten ständen die Hörsäle der Geschichte des Vaterlandes leer. Vom Volkslehrer werde zwar verlangt, er solle seinen Zuhörern die Pflichten gegen das Vaterland predigen, er solle der Jugend im Unterricht Patriotismus einflößen. Aber er besitze keinen Patriotismus, kenne nicht diese Tugend, weil er sein Vaterland nicht kenne.

Jahns preußischer Patriotismus erweiterte sich infolge der Vergewaltigung der deutschen Staaten, im besondern der Zertrümmerung Preußens durch Napoleon, zu dem Hochgedanken der deutschen Einheit, deren Ahnung schon in dem Knaben aufgegangen war und die dann ihren begeisterten Herold in Jahns „Deutschem Volkstum“ gefunden hat, das Blücher als das „deutscheste Wehrbüchlein“ pries.

Aber nur ein deutscher Staat konnte diese Einheit schaffen, nur auf einem das künftige Heil Deutschlands beruhen: dies war Preußen. Mit Sorge dachte Jahn an eine Zweiteilung der Macht in Deutschland durch Preußen und Oesterreich. Letzteres war ihm ein zu großer „Völkermang“. Allezeit werde es den Oesterreichern mißlingen, ihre Staatsbrüder zu verdeutschen, ein so herrlicher Kraftstamm auch das Deutsch-Oesterreich sei, ein so ausgezeichnetes, im Glück und Unglück bewährtes Fürstenhaus auch die Länder und Staaten zusammenhalte. An Preußen lobt Jahn, daß deutsch sein Stamm sei und die überwiegende Mehrzahl des Volkes. Selbst sein namengebendes Volk sei eine alte deutsche Pflanzung. So prophezeit Jahn uns eine zeitgemäße Verjüngung des alten, ehrwürdigen Deutschen Reiches durch Preußen, und in dem Reiche ein Großvolk, das zur Unsterblichkeit in der Weltgeschichte menschlich die hehre Bahn wandeln werde.

Seine „Runenblätter“ (1814) schließt Jahn mit den Worten: „Wider die Waltlosigkeit billigt das Volk Hippokrates’ Mittel wider den Krebs: ,Was Arznei nicht heilet, heilet das Eisen, was das Eisen nicht heilet, heilet das Feuer‘.“ „Waltlosigkeit“ bedeutet in Jahns Ausdrucksweise soviel wie Anarchie. In dem Prozeß gegen Jahn bildete dieser Ausspruch einen schweren Anklagepunkt. Bismarck aber, als preußischer Minister, äußerte am 30. September 1862 in der Sitzung der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses: „Die deutschen Zustände und Verfassungsverhältnisse zu verbessern, ist wünschenswert und notwendig, was jedoch nicht durch Majoritätsbeschlüsse, Reden etc., sondern nur durch Eisen und Blut bewirkt werden kann.“

Den Höhepunkt in Jahns Leben bildete seine am 15. Januar 1849 in der Frankfurter Nationalversammlung gehaltene Kaiserrede, in der er es als die größte Genugthuung seines langen Lebens und Strebens erklärte, daß er endlich einmal in öffentlicher Versammlung als Vertreter des deutschen Volkes reden könne für die Einheit und Freiheit Deutschlands. Die so heißersehnte Neuerstehung des Deutschen Reiches mit einem Hohenzoller als deutschem Kaiser an der Spitze hat Jahn nicht mehr erlebt. Bismarcks Stern war noch nicht aufgegangen.

Im preußischen Landtag 1848 und 1849 hatte Bismarck die schärfsten Reden gegen die herrschende preußische Politik geführt. Die dem Erfurter Parlament vorgelegte Verfassung war ihm nicht preußisch genug. In einem Bündnis Preußens mit Oesterreich sah er die einzige Schutzwehr gegen die Revolution. Erst 1862, als Ministerpräsident, schlug er die nationale Politik ein, die zu so gewaltigen Erfolgen führte. Zunächst wurde 1864 Schleswig-Holstein wieder den Dänen entrissen. Diese Befreiung [539] war auch ein Herzenswunsch Jahns gewesen. Das Lied „Schleswig-Holstein, meerumschlungen“, das er begeistert mitsang, war ihm nicht ein „Wiegenlied“, sondern ein „Weckerlied“. „Wo wäre ein Sängermund, der es nicht gesungen, ein Ohr, das es nicht gehört, und ein deutsches Herz, so es nicht empfunden,“ schrieb er 1850. Damals aber standen die „Wecker“, im Stich gelassen, „allein, nur mit Vertrauen auf Gott und ihr Recht, was die letzten vier Jahrhunderte hindurch gegolten.“

Und dann kam das Jahr 1866 und der Austrag zwischen Oesterreich und Preußen. Welche Schwierigkeiten Bismarck zu besiegen hatte, um Oesterreich einen ehrenvollen Frieden zu sichern und damit den Grund zur Versöhnung zu legen, darüber möge man in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ nachlesen. Auch hier verdient eine Aeußerung Jahns in seinem „Deutschen Volkstum“ eine Erwähnung. Er gedenkt des siebenjährigen Kampfes zwischen Oesterreich und Preußen und des darauffolgenden Friedens und schließt mit den Worten: „So balgen und raufen sich Jugendgespiele und felsenfest steht dann die Männerfreundschaft auf der frühgefühlten gegenseitigen Kraft.“

Darauf das Jahr 1870!

Jahn hatte in den „Werken zum Deutschen Volkstum“ 1833 geschrieben: „Wir haben mit Frankreich noch eine alte Rechnung abzuthun, es hat nichts von uns, wir haben noch viel von ihm zu fordern. Sollte aber der Geist der Eroberungen und die Sucht zur Ueberziehung wieder aufleben, und die Franzosen das linke Rheinufer begehren, so sei unser Feldgeschrei: Deutschland und Elsaß!“

Wie Jahn vorausgesagt, war Preußen der Vorkämpfer Deutschlands geworden, und die Saat, die 1848 und 1849 gesät worden, war aufgegangen und hatte herrliche Früchte getragen.

An Jahn wurde Fürst Bismarck erinnert durch dessen 1813 mit ins Feld gezogenen treuen Begleiter, den Oberjäger Dürre. Jahn, der im Lützowschen Korps ein Bataillon führte, war während des Waffenstillstandes 1813 in Schönhausen einquartiert, und zwar in einem Bismarckschen Schlosse. Lange hielt man dies Schloß für des Reichskanzlers Stammhaus. Da aber noch ein anderes den Bismarck gehöriges Schloß in Schönhausen sich befand, wurde man unsicher, welches das Stammhaus sei. Dürre hatte die Herrin des Schlosses, in dem Jahn nicht einquartiert war, kennengelernt und war entzückt von der schlanken, reizenden und bei aller Freundlichkeit doch eine große Bestimmtheit in ihren Zügen tragenden Frau. Um nun sicher zu gehen, schrieb Dürre am 18. Februar 1873 an den Fürsten, erzählte ihm von seinem damaligen Aufenthalt in Schönhausen und erlaubte sich die Anfrage, ob jene Dame seine Mutter gewesen sei oder nicht. Bismarck schaltete in die Briefstelle die Worte ein: „Es war meine Mutter und ich freue mich, daß sie in gutem Gedächtnis lebt.“

Er sandte Dürre seinen Brief mit einigen Korrekturen und folgendem Begleitschreiben zurück:

„Ew. Wohlgeboren haben die Güte gehabt, mir in Ihren Erinnerungen aus Schönhausen ein von Ihrem Gedächtnis so wohl bewahrtes Bild meiner Heimat und meiner Verwandten zu übersenden, daß ich mit lebhaftem Interesse diese Reminiscenzen aus dem Jahre 1813 gelesen habe. Einige eigenhändige Notizen und Berichtigungen, sowie die Antwort auf die Fragen Ihres Briefes habe ich mir erlaubt, Ihren anliegend zurückerfolgenden Notizen hinzuzufügen. Ich sage Ihnen meinen verbindlichsten Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit und wünsche, daß Sie noch lange ein lebender Zeuge der großen Zeit unserer Väter bleiben mögen. v. Bismarck.“     

Das bedeutsamste und erfreulichste Zeugnis von Bismarcks Verhältnis zu dem von Jahn begründeten Turnen bietet aber ein Bericht der Lübecker Turnerschaft von einer Turnfahrt nach Friedrichsruh am Himmelfahrtstage 1893.

Auf geschehene Anfrage hatte der Fürst sich bereit erklärt, die Turner zu empfangen. Sie kamen zur bestimmten Stunde: Männer und Knaben in großer Zahl. Auf die Ansprache des Vorsitzenden des Vereins, Kaufmann J. H. P. Evers, erwiderte der Fürst folgendes:

„Ich danke Ihnen herzlichst für die freundliche Begrüßung und sehe in Ihnen und allen Turnern Mitarbeiter auf dem Felde nationaler Arbeit. Ich bin auch in einer Turnerschaft in Berlin gewesen bei Jahn[1] und Eiselen. Arndt stand auch in Verbindung damit. Da ging’s hart her mit dem Stoßfechten. Das hat bei den leinenen Hemden zuweilen nicht wohlgethan, aber es hat gekräftigt, wie überhaupt die Turnerei die Nationen auch in ihrem geistigen und politischen Leben hebt. Die Völker, die körperlich zurückgehen, bringen das Verlorene auch geistig nicht wieder ein. Im klassischen Altertum pflegten die Hellenen die körperlichen Uebungen in hohem Maße. Mens sana in corpore sano.[2] Unsere germanischen Vorfahren, die Wandalen, sind nach ihrem Zuge nach Nordafrika auch nicht so kräftig geblieben.

Wenn wir auch manchmal hier über den Nordwind klagen; würden wir das Klima von Neapel haben, so wären wir körperlich nicht so kräftig geblieben. Ich erinnere Sie an die Normannen, auch sie sind im Süden nicht so kräftig geblieben, trotzdem sie ein durchaus kräftiger nordischer Stamm waren. Wir dürfen unserm Gott dafür danken, daß dieses Klima unsere körperliche und geistige Energie in fortwährendem Kampfe erhält. Ich wollte nur motivieren, inwiefern die Turnerei mitgewirkt hat als Trägerin des deutschen nationalen Gedankens. Wenn auch die Burschenschaftler sich mehr den Büchern zuwenden, so ist doch die Turnerei geblieben und immer kräftig geübt worden. Die deutsche Turnerschaft ist es mit gewesen, welche das nationale Gefühl gepflegt hat, und ich glaube, wir leben in einer Zeit und gehen einer Zeit entgegen, wo jeder solcher Beitrag aus der Nation nur dankbar anerkannt werden kann. Ich freue mich infolgedessen, daß ich Sie begrüßen kann, und bitte Sie, einzustimmen in ein Hoch auf die deutsche Turnerschaft als Trägerin des deutschen Einheitsgedankens.“

Freudig stimmten die Turner ein. Fürst Bismarck ging nun die Reihen entlang und richtete an manche, auch die Knaben, freundliche Worte. Als er Abschied nahm, wurde ihm ein Hoch ausgebracht. Er grüßte dankend und wollte sich entfernen. Da wurde das Lied: „Deutschland, Deutschland über alles“ angestimmt. Der Fürst blieb stehen, wandte sich wieder um und hörte entblößten Hauptes das Lied bis zu Ende an. –

Zu den Ehrengaben, die Fürst Bismarck 1895 zu seinem achtzigsten Geburtstage dargebracht wurden, gehört auch eine Spende der deutschen Turnerschaft. Sie besteht aus einer in Eichenholz geschnitzten Votivtafel von ungefähr 3/4 m Höhe und Breite, gekrönt durch ein goldenes Turnerkreuz auf rot und weißem Grunde. Auf der runden Silberplatte darunter steht der Schluß von Jahns Schwanenrede: „Deutschlands Einheit war der Traum meines erwachenden Lebens, das Morgenrot meiner Jugend, der Sonnenschein der Manneskraft, und ist jetzt der Abendstern, der mir zur ewigen Ruhe winkt.“ Darunter befindet sich ein großer vergoldeter Silberkranz, der die Worte umrahmt: „Dem Schöpfer der deutschen Einheit und unseres deutschen Vaterlandes in treuer Dankbarkeit die Deutsche Turnerschaft.“ An beiden Seiten befinden sich von Silberbändern umschlungene geschnitzte Säulen mit den Namen der Kreise und der Kreisvertreter und denen der Ausschußmitglieder.[3]

Da die Votivtafel nicht persönlich überreicht werden konnte, sandte Anfang Juli 1895 Dr. Goetz sie an Dr. Chrysander mit einem Begleitschreiben, um beides dem Fürsten zu übermitteln.

Die Antwort des Fürsten erfolgte am 15. Juli. In ihr bezeichnete er das Ehrengeschenk als eine der wertvollsten Geburtstagsgaben. Sie werde mit ihrer kunstreichen Einfassung eine dauernde Zierde der Sammlung von Andenken sein, welche er in Schönhausen eingerichtet habe, wo der Name des Turnvaters Jahn und der Lützower noch heute in guter Erinnerung stehe vom Jahre 1813 her. Er bedauerte, daß sein Gesundheitszustand ihm nicht gestatte, die Herren persönlich zu begrüßen, hoffte aber auf spätere Zeiten, um seinen aufrichtigen Dank persönlich wiederholen zu können. –

Als in Hamburg im vorigen Jahre das Deutsche Turnfest gefeiert wurde, hofften viele Turner, den Fürsten sehen zu können. An demselben Abend aber, an dem das Fest mit der Preisverteilung geschlossen wurde, ist er gestorben. –

[540] Der gewaltige Nationalheros des neugeeinten deutschen Volkes wird für alle Zeit Fürst Bismarck sein und bleiben. Ein bescheidener Platz gebührt aber auch dem treuen Eckart des Deutschtums, Friedrich Ludwig Jahn, dem Begründer des deutschen Turnwesens, dessen Standbild auf der Hasenheide bei Berlin sich erhebt. In diesen Tagen wird zu Freyburg an der Unstrut, wo er 1852 starb und seine Gebeine ruhen, im Anschluß an den Deutschen Turntag der Grundstein für ein Jahn-Museum gelegt. Alles was an Jahn erinnert und was Zeugnis ablegt von der in seinem Geiste gepflegten Turnarbeit, soll in dem Museum seine Stätte finden.


Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl.

Von Alex. Braun.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Kinderzeche?“ – „Dinkelsbühl?“ fragen mit neugierigem, vielleicht sogar ein bißchen geringschätzigem Erstaunen gewiß die meisten, denen eine gelegentliche Zeitungsnotiz oder ein vereinzeltes Plakat die beiden Namen zum erstenmal vor Augen bringt. Wieviele im neuen Deutschen Reich wissen wohl etwas von der alten Reichsstadt, die eine der ältesten im fruchtbaren Virngrunde, an der Grenzmark zwischen Franken und Schwaben auf ihrem von goldenen Dinkel- und Weizenfeldern umwogten Bühel (Hügel) liegt, mit ihren grauen bemoosten Türmen und braunroten Dächern wie ein Dornröschen eingesponnen in Schlingrosen, Eppich und Blütengerank? Verschollen, dem großen modernen Verkehr entrückt, spiegelt sie die festgefügten Quadermauern, die schon am 9. April 1285 Kaiser Rudolf von Habsburg beherbergten, in den schillernden, von Seelilien überwucherten Wassergräben, auf denen Schwäne, als wären sie die Wächter dieses poetischen Zaubers, langsam und gravitätisch hin und her gleiten.

Es dauerte lange, bis Dinkelsbühl sich selbst entdeckt und, seiner malerischen Reize endlich bewußt, im begreiflichen und begründeten Wetteifer mit dem benachbarten Rothenburg o. T. es wagte, die Aufmerksamkeit der Welt auf seinen stillen Traumwinkel zu lenken.

Die „Kinderlore“ mit den Kindern vor dem Rat.

Willkommenen Anlaß bot die Kinderzeche, ein so ehrwürdiger Stadtbrauch, daß bereits das Ratskollegium von 1660 ihn „als eine alte Gerechtigkeit, die nicht abgethan werden könnte“, anerkannte. Selbst in Zeiten bitterster Not hatten die Dinkelsbühler die Sitte heilig gehalten, die eine sinnig gemütvolle Sage in Zusammenhang brachte mit der Errettung der Stadt vor dem Zorn der Schweden. Bei der ersten am 11. Mai 1632 erfolgten, für den Umschwung im Stadtregiment so bedeutsamen Uebergabe des kaisertreuen Dinkelsbühl an die Truppen Gustav Adolfs soll die Fürbitte der Kinder nämlich das Herz des schwedischen Obristen Klaus Sperreut zur Gnade gerührt haben. Zum Lohn und Gedächtnis daran läßt die Stadt nun alljährlich im Juli auf dem Bestwasen (Schießwiese) auf ihre Kosten die „Kinder zechen“. Zwar wird die sprichwörtliche ortsübliche Freigiebigkeit, die bei mittelalterlichen Ratsgelagen den Gast erst mahnte, die dritte Maß Wein ex propriis (aus eigener Tasche) zu bezahlen, weislich eingedämmt und der Schwerpunkt der Bewirtung auf die mit Pfeffernüßlein und allerhand Zuckerwerk gefüllte „Gucke“ verlegt.

Die geschichtliche Forschung hat einerseits die glimpfliche Behandlung, die Sperreut der Stadt, hauptsächlich zu Gunsten der Evangelischen, angedeihen ließ, auf eine später von Rats wegen viel umstrittene „Recompense“ (Erkenntlichkeit in Barem) zurückgeführt, und legt andererseits die Vermutung nahe, daß die Kinderzeche ursprünglich ein germanisches, von der Jugend dem Sonnengott geweihtes Mitsommerfest war aus der Zeit, da Dinkelsbühl noch nicht als die Klosterstiftung des auf dem Bühel ansässigen frommen „Dinkelbäuerle“ betrachtet wurde, sondern eine auf der Höhe gelegene Dingspill, eine urdeutsche Gerichtsmahlstatt, war.

Aber aller wissenschaftlichen Erörterung und Erklärung ungeachtet behält im Herzen des Volkes die Ueberlieferung mit Fug und Recht doch das letzte Wort. Dinkelsbühl hat seine Privilegien, mit denen 1305 ihm gleiches Recht mit Ulm, 1309 die eigene Gerichtsbarkeit verliehen worden war, eingebüßt, es hat seine Selbständigkeit 1804 an Preußen und 1806 endgültig an Bayern verloren – Eines nur, die „Kinderzeche“, von einem Geschlecht zum andern treulich gehegt als liebste Freude und Erinnerung der Jugend, ist unversehrt geblieben im Sturm und Wandel der Jahrhunderte.

Im guten Glauben, daß

„Die Stadt befreit ward aus Gefahr
Durch ihrer Kinder Flehen“

hielten alljährlich die Kinder, die Knaben mit einem berittenen Obristen an der Spitze, mit Schnurrock, Degen und Partisane, die Mädchen im buntbebänderten weißen Festkleid, ihren feierlichen Umzug, sprachen vor dem Rathaus ihren Spruch und ergötzten, die lecker gefüllten „Gucken“ im Arm, sich auf dem „Wasen“. Vielfach ist in „Jubelliedern“ und sonst in Vers und Prosa die Kinderzeche von einheimischen Dichtern verherrlicht worden, ehe man 1897 auf den glücklichen Gedanken kam, sie zu einem eigentlichen Volksschauspiel zu erweitern.

Dem Dramaturgen Ludwig Stark, der auch den Rothenburger „Meistertrunk“ zu bühnengerechter Wirksamkeit gebracht hat, ward die Aufgabe, die Sage von der gnadeerweckenden Fürbitte der Kinder dramatisch auszugestalten. Ein voller Erfolg krönte 1897 die Erstaufführung des genau den Ortsverhältnissen angepaßten, von vaterländischem Geiste getragenen Stückes, und jede Wiederholung, so namentlich die vom 17. Juli dieses Jahres, bekundet aufs neue die Tüchtigkeit der Gesamt- wie der Einzelleistungen.

Am frühen Morgen des ein für allemal zum Festtag angesetzten dritten Montags im Juli ruft Geschützdonner aus den „Stücken“ auf der Mauer die in Scharen von weit und breit herbeigeströmten Festgäste nach der alten Schranne, dem [541] Schauplatz des Kinderzechspiels. Von St. Georg tönen feierlich die Glocken; die graubärtigen Stadtsoldaten im rotweißen Schlitzwams salutieren, und schon im Banne der echt historischen Stimmung, die bald Aug’ und Ohr völlig gefangen nimmt, steigt man die Treppen zu dem mit Geschlechterwappen schön verzierten, braungetäfelten Saale hinan. Am Ende des in seiner ganzen Länge dichtbesetzten Raumes thut sich die Ratsstube auf. Pergamente mit mächtigen kaiserlichen Insiegeln bedecken den Tisch, massige, mit kunstreichen Eisenschmiedearbeiten beschlagene Truhen bergen wohl die Schlüssel und Schätze der Stadt, die breiten geschnitzten Lederarmstühle sind für den „fürsichtigen, wohlweisen Rat“ bestimmt. Ehe wir noch sattsam den stattlichen Urväterhausrat betrachtet, öffnet sich die Thüre im Hintergrunde und, aufeinander gestützt, treten die beiden ersten Bürgermeister Wigerlein (Lehrer Braun) und Abelin (Kantor Strehl) ein. Sie beklagen die Not der Stadt, die, im Innern durch Religionszwist gespalten, aus eigener Kraft dem übergewaltig heranziehenden Schweden nicht zu trotzen vermag, wenn der um kaiserlichen Entsatz nach Regensburg geeilte Stadtsyndikus Memminger keine Hilfe bringt. Wigerlein wäre der friedlichen Uebergabe geneigt, doch der mittlerweile erschienene Kleine Rat zaudert, selbst als Memminger (Kaufmann Kühl) völlig erschöpft in Bauernverkleidung hereinwankt und bekümmerten Herzens die Erfolglosigkeit seiner Sendung meldet.

Der Aufmarsch der Kinder vor der Schranne und der Spruch des kleinen Obristen.

Der Stadthauptmann (Lehrer Jungmeier) erklärt, Widerstand wäre Selbstvernichtung. Ein schwedischer Hauptmann (Gerichtsvollzieher Faber) heischt und erhält im Namen des Obristen Sperreut Gehör und fordert unbedingte Uebergabe auf Gnade und Ungnade. Die Lage ist verzweifelt. „Engel müßten niedersteigen, soll Dinkelsbühl errettet werden,“ spricht drohend der Schwede. Dies Wort erlauscht, im Begriff Botschaft zu bringen, des Rothenburger Thorwärters Töchterlein, die „Kinderlore“ genannt, weil, von ihrer Herzensfreundlichkeit angezogen, auf Schritt und Tritt alle Kinder der Stadt, arm und reich, sich ihr gesellen. „Engel?“ überlegt sie und gedenkt ihrer kleinen Lieblinge. „Hat nicht der feindliche Offizier berichtet, daß der Schwedenobrist in tiefer Betrübnis ob seines einzigen Söhnleins jähen Todes sei – und er sollte sich der Milde verschließen beim Anblick hilfloser, flehender Kinder?“ Wie von Gott erleuchtet, sammelt sie rasch die Kinder von der Straße und tritt mit ihnen vor den Rat und die Bürgermeister, um voll Demut und Mut zugleich ihren Entschluß kund zu geben. Laßt mich

„Mit ihnen flehend vor den Sieger treten ….
Ob jedem dieser Häuptlein schwebt ein Engel,
Der es bewahrt vor Unglimpf und Gefahr.
Sind sie beschirmt, so sind’s auch wir ….“

Bittend falten die Kleinen, wie unser Bild auf S. 540 in anmutiger Gruppe es veranschaulicht, die Hände, und als die Kinderstimmlein melodisch in dem Choral zusammenklingen: „Ach, bleib mit Deiner Gnade,“ vertraut, innig bewegt, der erste Bürgermeister das Geschick der Stadt den Kindern und ihrer heldenhaften Führerin an. Lore und ihr kleines Gefolge wenden sich zum Gehen, wozu auch der Rat sich anschickt.

Da erst kommt den Zuschauern, die in atemloser Ergriffenheit fortgerissen lauschten, zum Bewußtsein, daß das alles nur Spiel gewesen und sie nicht Zeuge eines wahrhaften, thatsächlichen Vorgangs waren. So ganz und gar bei der Sache waren die Mitwirkenden samt und sonders, vom ersten Bürgermeister bis zum winzigen Büblein an Lorens (Frl. Lina Pickel) Hand, so vorzüglich, typisch geradezu, paßte jede einzelne Erscheinung in die ihr zugeteilte Tracht und Rolle, daß bei absoluter Vermeidung alles Theatralischen und Unechten der Eindruck vollkommener Wahrheit erreicht wurde.

Während der Pause eilt alles durch die mit Flaggen und Gewinden geschmückten malerischen Gassen zum Wörnitzthor, wo unter freiem Himmel das Nachspiel sich entwickelt.

Auf gebieterische Trompetenstöße von außen öffnet sich das Thor und läßt die Schweden ein. Den wallenden Federhut auf dem energisch geschnittenen, bärtigen Blondkopf, den flatternden weißen Mantel auf den breiten stattlichen Schultern, reitet finsteren Blickes Klaus Sperreut (Lehrer Gebhardt), der [542] schwedische Heerführer, ein. Gesenkten Hauptes, Schutz- und Freibriefe in den Händen, nahen zur Rechten Bürgermeister und Rat vom Marktplatz, während zur Linken von der Kirche St. Georg die Lore mit ihren Kindern singend und betend heranzieht. „Ach, bleib mit Deiner Gnade, bei uns, Herr Jesu Christ,“ flehen die Kinder und halten die Händlein empor zu dem erstaunten Obristen. Seine Rührung bemeistert den Unwillen. Das goldlockige Bürschlein dort neben der jugendlichen Fürsprecherin mahnt ihn an das eigene, eben verlorene Kind, und als dann der Kleine, Gnade stammelnd, die Händlein ihm entgegenstreckt, kann er nicht länger an sich halten. Er läßt sich das Kind aufs Pferd reichen, nimmt es in den Arm, und als er fühlt, daß der Knabe sich an ihn schmiegt, erhört er das Flehen der Kinder, zu denen nun gleichfalls bittend der erste Bürgermeister getreten ist, während der Page die Stadtschlüssel dem Eroberer darbietet. Oberst Sperreut, der das Kind liebreich an sich drückt, verheißt der Stadt „Pardon“. Die Trompeten mit den blaugelben Fähnlein schmettern, und mit diesem Augenblick, den der Maler im Bilde auf S. 545 festgehalten hat, ist das Kinderzechspiel in seiner neuen erweiterten Gestalt zu Ende.

Stadtansichten aus Dinkelsbühl.

Die Pietät der Dinkelsbühler reiht aber in unveränderter Weise den altherkömmlichen Umzug des kleinen Obristen mit seinem niedlichen rotweiß in die Stadtfarben gekleideten Rokokoregiment an. Als heitere Nachhut erscheinen dann mit Blumenkörben und Gewinden die Mädchen, in duftiges, bändergeschmücktes Weiß gekleidet, meist blühende Kränzlein im Haar. Voran die aus Knaben gebildete Negimentskapelle, gleichfalls in rotweißer Uniform, den Dreispitz auf der Puderperücke, marschieren die Kinder zum Marktplatz, wo sie vor der Schranne in weitem Halbkreis Posto fassen. Hoch zu Roß „schenkt“ der kleine Obrist nun „gute Märe ein aus der Stadtgeschichte“. Mit einem Segenswunsch auf Dinkelsbühl, Bayern und den Regenten, Kaiser und Reich schließt der Redner. Die Knaben schwingen, wie unser Bild Seite 541 zeigt, ihrem den städtischen, bayrischen und deutschen Farben prangenden Fahnen und die Mädchen streuen ihre Blumen aus.

Hiermit erst hat der offizielle Teil der Kinderzeche sich völlig abgespielt und der private kommt auf dem Bestwasen in fröhlichem Jahrmarktgetümmel zu seinem Recht.

Wir aber treten noch einen Rundgang um die mit ihren 18 Thoren und Türmen wohlerhaltene Stadtmauer an. Wie lautere Poesie mutet uns dieser unvergleichliche Spazierweg an, der an epheuumrankten Zwingergärtlein, an wettergebräunten Kuppen, grasüberwachsenen Erkern vorbeiführt zum lauschigen Sitz unter einem breitästigen, von Vogelgezwitscher wiederhallenden blühenden Lindenwipfel. Streift der Blick von dort hinab zur Stadtmühle, die gleichzeitig mit der St. Georgkirche erbaut, seit mehr als vier Jahrhunderten im Betrieb steht, oder hinüber zu dem breitspurig und doch zierlich am schilfigen Weiher sich erhebenden Wörnitzthor, so empfindet man den Heimatzauber der echt deutschen Landschaft. In ihrem ganzen Liebreiz thut sie sich auf vor dem Rothenburger Thore, an dem man, wieder in die Stadt einbiegend, Abschied nimmt von der „wonnereichen Wanderung“.




Der Lebensquell.

Erzählung von E. Werner.
(Schluß.)

Der Reichenauer Forst zog sich dicht an der Grenze von Brankenberg hin. Es war ein prächtiger Laubwald, dessen mächtige Baumkronen im Sommer tiefen, kühlen Schatten spendeten; jetzt flutete der Sonnenschein noch hell durch die Zweige, die das erste zarte Laub trugen, er glitzerte zwischen den Stämmen und spielte in goldenen Lichtern auf dem Boden, wo der Waldmeister duftete und allerlei lustiges Frühlingsleben summte und sich regte.

Etwas abseits von dem schmalen Fußwege, der sich durch den ganzen Forst schlängelte, lag ein schattiges Plätzchen. Das grüne Unterholz, das schon reicheres Laub trug, war hier hoch aufgeschossen und in seinem Schutze plätscherte ein kleiner Waldbrunnen, kunstlos in einer Röhre von Baumrinde aufgefangen. Der helle Wasserstrahl sprudelte aus mosigem Gestein hervor, das von blühenden Ranken dicht umsponnen war, und ein Wildrosenstrauch, ganz übersät mit zarten, rosig angehauchten Blüten, neigte sich tief herab auf den einsamen Quell.

Neben den Steinen, auf dem moosbedeckten Boden ausgestreckt, lag Robert Adlau; aber er schien sich wenig um den Forstbestand zu kümmern, den er doch besichtigen wollte. In finsteres Sinnen verloren, blickte er unverwandt in das niederrieselnde Wasser.

Jetzt, wo er allein war und keinem fremden Auge mehr standzuhalten brauchte, trat der Zug verbissenen Schmerzes in seinem Gesichte deutlicher hervor. Sein alter Freund hatte ganz recht gesehen, der Mann konnte noch immer nicht verwinden, was der Jüngling einst verloren hatte; es ließ ihn nicht los. Wohl hatte er geglaubt, es sei vergessen und begraben, als er aus der Ferne zurückkehrte: da kam jene Begegnung und da flammte die alte Jugendliebe hell wieder auf. Jetzt wußte er es freilich, daß sie nicht gestorben war, aber das füllte die Kluft nicht aus, die sich von neuem aufthat zwischen zwei Menschen, die sich einst so nahe standen. Sie hatten es eben verlernt, einander zu verstehen.

Ein Mann wie Adlau war freilich nicht geschaffen, sich in schmerzlicher Sehnsucht zu verzehren; im Gegenteil, er grollte bitter mit der Frau, die ihren Starrsinn so wenig beugen wollte, wie er den seinen, aber vergessen konnte er sie nicht. Was half es, daß er sich in die Arbeit stürzte und sein Brankenberg zu einem ganz neuen Reiche umschuf: er hatte keine Freude daran! In jeder einsamen Stunde regte sich wieder das alte Weh und regte sich um so schärfer, je trotziger er versuchte, es niederzuhalten, es war stärker als er.

Er hatte lange so dagelegen und erinnerte sich nun endlich, daß es Zeit sei, zu gehen. Mit einer unwilligen Bewegung [543] schüttelte er die Träumerei ab und richtete sich halb empor, aber er verharrte wie gebannt in dieser Stellung. Durch den frühlingslichten Wald, der noch einen vollen Einblick gestattete, kam eine Dame, ganz allein. Sie war noch in ziemlicher Entfernung, aber dem einsamen Manne stockte doch der Atem beim Anblick der schlanken Gestalt in dem grauen Reisekleide. Sein starres, ungläubiges Staunen hielt eine Weile an, dann blieb ihm kein Zweifel: es war Elfriede von Wilkow.

Sie kam rasch näher, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Die Augen zu Boden gesenkt, eilte sie vorwärts, wie gejagt von einer inneren Angst. Jetzt betrat sie den kleinen Seitenpfad, der, eine Windung des größeren Weges abschneidend, zum Waldbrunnen führte, jetzt erreichte sie diesen, da sprang Robert auf und trat ihr entgegen.

Ein Aufschrei rang sich von den Lippen der jungen Frau, totenbleich, bebend an allen Gliedern, blickte sie auf den Mann, den sie tödlich verwundet, sterbend glaubte und der nun hier mitten im Walde ihr gegenüber stand. Das war zu viel für ihre schon durch die Angst erschöpfte Kraft, sie schwankte und griff nach den Holunderzweigen, als suchte sie einen Halt. In demselben Augenblick war Robert aber auch schon an ihrer Seite und stützte sie.

„Um Gottes willen, was ist Ihnen? – Habe ich Sie erschreckt? – Elfriede!“

Erst seine Stimme, seine unmittelbare Nähe schienen die junge Frau zu überzeugen, daß diese Erscheinung Wirklichkeit sei. Ihr Blick glitt scheu und fragend über ihn hin, er war wohl bleicher als sonst, aber doch unverändert; jetzt sah sie auch die Binde um seine Stirn, ein wirkliches Zeichen des Unfalls, und mit der Erkenntnis seiner Rettung kam ihr auch die Besinnung zurück. Mit einer raschen, beinahe heftigen Bewegung machte sie sich los von dem stützenden Arme.

„Mir ist nichts, gar nichts!“ sagte sie, mit einem vergeblichen Versuche, sich zu fassen. „Sie traten nur so plötzlich hervor – ich war in der That erschrocken.“

Sie ließ sich auf einem der moosbewachsenen Steine nieder, notgedrungen, denn ihre Füße trugen sie nicht mehr. Adlau war zurückgetreten, die alte Gereiztheit erwachte wieder in ihm bei der fluchtähnlichen Bewegung, mit der Elfriede sich ihm entzog. Er ahnte ja nicht, daß sie von seinem Unfall etwas wußte, konnte nicht erraten, was sie hergeführt hatte. Aber sie war so bleich, sie zitterte noch immer, und dann ihr Aufschrei, als sie ihn erblickte; schwankend zwischen Unwillen und aufflammender Hoffnung, stand er vor ihr, aber seine Lippen waren fest zusammengepreßt. Die junge Frau brach endlich das beklemmende Schweigen.

„Ich bin auf dem Wege nach Lindenhof,“ erklärte sie leise. „Ich will zu meinem Vater.“

„Und ich komme eben von ihm,“ fiel Robert ein. „Er ahnt noch nichts von Ihrer Ankunft, Sie wollen ihn vermutlich überraschen.“

In das bleiche Gesicht Elfriedens stieg eine helle Glut bei dem Gedanken an die Veranlassung ihrer Reise. Sie hatte in besinnungsloser Angst zu dem Vater gewollt, um mit ihm nach Brankenberg zu eilen – der Todesgefahr gegenüber fielen ja alle Schranken, alle Rücksichten. Aber jetzt stand Robert lebend vor ihr, jetzt durfte er nicht ahnen, was sie hergetrieben hatte, um keinen Preis!

„Es gilt allerdings eine Ueberraschung,“ bestätigte sie, und es gelang ihr wenigstens einigermaßen, das Beben ihrer Stimme zu beherrschen. „Ich weiß ja, wie schwer es meinem Vater wird, sein geliebtes Lindenhof zu verlassen, ich wollte ihm das ersparen, und dann – dann hatte ich auch Sehnsucht nach unserem Rhein.“

„Nach unserem Rhein! Gilt er Ihnen wirklich noch dafür?“

„Wie vorwurfsvoll das klingt! Trauen Sie mir denn gar kein Heimatsgefühl zu?“

„Für den kalten grauen Norden? Für die Enge der deutschen Verhältnisse? Damals in Korfu hatten Sie nur Spott dafür.“

„Nun, dann bin ich wohl dafür bestraft,“ versuchte Elfriede zu scherzen. „Ich habe diesmal im Orient thatsächlich Heimweh gehabt, Sehnsucht nach einem deutschen Frühling.“

„Wirklich? Und findet er noch Gnade vor Ihren Augen?“

Die junge Frau schwieg. Sie hatte ja nichts gesehen von all der Frühlingspracht ringsum, nicht auf ihrer Fahrt durch Deutschland, nicht auf dem Wege hierher. Vor ihrer Seele stand nur das Eine, Furchtbare: die Todesgefahr des Mannes, den sie liebte – wie sehr, das hatte ihr die Stunde gezeigt, in der sie jene Nachricht empfing. Jetzt hob sie das Auge zu ihm empor, mit einem tiefen Atemzuge der Erlösung, und dann floh es doch wieder scheu das seinige und schweifte hinaus in den sonnigen Forst, jetzt erst sah sie, daß es Lenz geworden war in der Welt.

Hier freilich zeigte sich kein südliches Landschaftsbild mit Lorbeeren und Cypressen, keine mächtigen Berggipfel ragten auf, kein tiefblaues Meer wogte fern am Horizonte, aber hier rauschte ein deutscher Wald in seinem lichten Maiengewande. Durch die zartgrünen Schleier des jungen Laubes blickte der klare Frühlingshimmel mit den weißen Wolken, die hoch oben dahinschifften, und der Sonnenschein flutete herein und durchleuchtete den ganzen Wald mit goldigem Schimmer. Von allen Zweigen sang und klang es mit süßem Gezwitscher, mit hellem Lockruf, mit jubelndem Finkenschlag, und in den Gebüschen ringsum regte sich ein Wehen, ein Summen und Schwirren ohne Ende.

Und inmitten dieses Waldwebens rauschte und rieselte der einsame Quell, der da aus dem Gestein hervorbrach mit seinem hellen Wasserstrahl, überschattet von den blühenden Wildrosen. Es klang und flüsterte in diesem Rauschen geheimnisvoll aber deutlich vernehmbar für die beiden, die sich hier so nahe und doch so fern gegenüberstanden: Habt acht! Laßt die Schicksalsstunde nicht wieder entfliehen! Sonst ist’s vorbei – vorbei!

Robert harrte vergebens einer Antwort auf seine Frage, sein Blick ruhte mit schmerzlichem Ausdruck auf dem Antlitz der jungen Frau, als er fortfuhr: „Wie lange ist es denn her, daß wir zusammen einen deutschen Frühling erlebten? Wissen Sie es noch, Elfriede? Ich zog damals hinaus, um drüben jenseit des Oceans das Glück zu suchen, aber ich hatte mir die Sache doch allzuleicht gedacht. Der Kampf um das Glück wurde zunächst nur ein verzweifelter Kampf um das Dasein überhaupt. Oft genug war ich am Unterliegen, aber da war eines, was mich immer wieder emporriß, was mir Mut und Kraft gab zu neuem Ringen, eine Hoffnung, die Erinnerung an jene Abschiedsstunde, wo meine Braut an meiner Brust lag und mir unter Thränen gelobte: ,Was auch kommen mag, Robert, ich lasse nicht von dir!’“

„Robert, ich bitte Sie – nicht diese Erinnerungen!“ Die Stimme der jungen Frau klang halb erstickt, aber er beachtete die Bitte nicht, sondern fuhr mit steigender Bitterkeit fort:

„Zwei Jahre später freilich, da erhielt ich einen Brief, der ganz anders klang. Da wurde mir mitgeteilt, daß sich ein reicher vornehmer Freier gefunden habe, der alles das bieten konnte, was mir fehlte, daß die Eltern drängten, daß – kurz und gut, ich las es deutlich zwischen den Zeilen, daß man der ‚aussichtslosen Geschichte‘ müde war. Der Frau Mutter war sie ja stets ein Dorn im Auge gewesen; als sich nun vollends eine glänzende Partie fand, da war mein Urteil gesprochen. Und du, Elfriede – du gabst mich auf!“

„Nein, du warst es, der mich aufgab!“ fuhr Elfriede mit vollster Heftigkeit auf. „Ich stand allein, schutzlos, dem unermüdlichen Werben Wilkows, dem Drängen meiner Mutter gegenüber. Sie hielt es mir täglich vor, daß ich schon halb vergessen sei, deine Briefe würden ja immer kürzer, immer spärlicher – o, ich wußte das am besten! In meiner Angst, in meinem erwachenden Mißtrauen suchte ich bei dir Schutz. Ich schrieb dir alles, und was war die Antwort? Du sagtest dich los von mir mit den wildesten Anklagen gegen mich und meinen ‚Verrat‘, mit dem Ausbruch eines maßlosen Hasses gegen den Mann, der um mich warb, und den du nicht einmal kanntest. Du gabst mir nicht mein Wort zurück – vor die Füße hast du es mir geworfen!“

Der Vorwurf mochte wohl nicht ungerecht sein, denn Robert wies ihn nicht zurück und seine Stimme klang milder, als er erwiderte:

„Meine Briefe – nun ja, die mögen kurz und karg gewesen sein, weil ich nichts Gutes zu melden hatte. Ich war ausgezogen mit dem stolzen Versprechen, uns ein Vermögen zu erringen, und sollte nun eingestehen, daß ich tagtäglich mit der bittersten Not rang! Es wollte mir ja nichts, nichts glücken! Was ich begann, schlug fehl, was ich wirklich einmal gewann, das ging wieder verloren. Und mitten in diesem verzweifelten [544] Ringen kam der Brief, den ich für eine verhüllte Absage nahm – meine Antwort ist damals nur eine Verzweiflungsthat gewesen!“

„Und mein Jawort an Wilkow war es auch!“ sagte Elfriede leise.

„Aber du wurdest doch sein Weib,“ warf Robert mit bitterem Vorwurfe ein, „und wie zum Hohne kam bei mir schon im nächsten Jahre der Wendepunkt meines Lebens. Es gelang mir, Fuß zu fassen, und als ich erst fest stand, trotzte ich auch dem Schicksale ab, was es mir bis dahin versagte. Da ging es auf einmal aufwärts mit schwindelnder Schnelligkeit, da suchte mich das Glück förmlich, nachdem es mich so lange geflohen hatte, aber da war es zu spät – ich hatte dich verloren!“

„Verloren?“ Die junge Frau sah nicht auf, sie beugte sich tief über den sprudelnden Quell, als sie kaum vernehmbar hinzusetzte: „Du bist ja frei geblieben, Robert, und ich – bin es wieder geworden!“

„Aber du bist eine andere geworden, Friedel, eine ganz andere,“ sagte er herb. „Wie du es verlernt hast, die Heimat zu lieben, so hast du auch kein Herz mehr für mich. Damals, bei unserer letzten Begegnung in Korfu, hätte ein Wort von dir unser beider Schicksal entschieden. Ich harrte darauf. Du sahst es, aber du gingst und ließest mich zum zweitenmal allein.“

„Nun, so bin ich jetzt gekommen!“ Sie hatte sich emporgerichtet und in den dunklen Augen standen heiße Thränen. „Ich kam freilich in Todesangst, aber ich kam ja doch zu dir!“

„Zu mir?“ Adlau stutzte und sah sie einen Augenblick lang verständnislos an, dann aber erriet er die Wahrheit. „Du wußtest also – du hattest erfahren –?“

„Von deinem Sturze, ja. Der Vater schrieb mir, du seiest schwer verwundet, es sei alles zu fürchten; da faßte mich die Angst, die Verzweiflung. Ich ließ mich nicht halten, sondern flog hierher. O, es waren furchtbare Stunden und Tage, aber gleichviel – ich wollte zu dir!“

Sie lehnte in ausbrechendem Weinen ihr Haupt an seine Schulter, er hatte ja längst schon die Arme ausgestreckt und sie stürmisch an seine Brust gezogen. Da versiegten denn die Thränen bald.

„Friedel!“ Die Stimme Roberts bebte, aber sie klang in vollster Innigkeit. „Friedel, wir können ja doch nicht voneinander lassen, wir haben es oft genug erprobt! Du und ich, wir gehören nun einmal zusammen, nun, so wollen wir es auch zusammen suchen, was doch keiner von uns allein gefunden hat – das Glück!“

Friedel antwortete nicht, sie schmiegte sich nur fester in seine Arme. Zu ihren Füßen rauschte und rieselte der Quell und wieder klang es empor, wie leises Flüstern, wie ein verhallendes Echo – das Glück! Das Glück!


Geheimrat Rottenstein saß noch auf der Veranda mit seinem Gaste und sah nach der Uhr: nun, meinte er, könne die Sache im Reichenauer Forst endlich erledigt sein. Wellborn, der sich die unbegreifliche Sorglosigkeit des Vaters nicht erklären konnte, war längst unruhig geworden über das lange Ausbleiben der jungen Frau. Er behauptete, es müsse ihr im Walde etwas passiert sein, und machte eben zum zweitenmal den Vorschlag, Nachforschungen anzustellen.

„Ist gar nicht nötig, da kommen sie schon!“ rief der alte Herr und wies auf das Gitterthor, wo soeben die Vermißte erschien, aber nicht allein.

„Gott sei Dank!“ sagte Wellborn. „Aber Herr Adlau ist auch dabei – natürlich, er ist ja Ihr nächster Gutsnachbar.“

„Ja, ich finde das auch ganz natürlich, aber jetzt entschuldigen Sie mich!“ rief der Geheimrat, indem er mit jugendlicher Rüstigkeit aufsprang und die Stufen hinabeilte, den Ankommenden entgegen. Wellborn erhob sich gleichfalls und schickte sich an, zu folgen. Er fand es auch „ganz natürlich“, daß Elfriede in die weit ausgebreiteten Arme des Vaters flog und sich an seine Brust warf, aber dann kam etwas, das er „merkwürdig“ fand. Der alte Herr wandte sich zu Adlau und streckte ihm die Hand hin, aber dieser umarmte ihn ohne weiteres und küßte ihn herzhaft auf beide Wangen. Das schien ja eine sehr intime Freundschaft und Nachbarschaft geworden zu sein, ob die gnädige Frau wohl damit einverstanden war? Ferdinand setzte eben den Fuß auf die Treppe, da – da legte dieser Freund und Nachbar urplötzlich den Arm um die gnädige Frau und küßte sie, hier im offenen Garten, am hellen Mittage, und sie schien ganz einverstanden damit!

Der junge Mann stand da wie eine Salzsäule. Er begriff überhaupt etwas schwer, bei diesem Anblick aber hörte sein Begriffsvermögen vollständig auf. Doch schon in der nächsten Minute ward ihm die Erklärung dafür, denn die laute, fröhliche Stimme des alten Herrn tönte bis zu ihm herüber:

„Also verlobt habt ihr euch, Kinder? Das dachte ich mir, weil die Geschichte so lange dauerte, und eine Ueberraschung war das gar nicht für mich! Ich saß bereits seit einer halben Stunde auf der Veranda und wartete auf das Brautpaar. Aber eine Freude habt ihr mir gemacht, eine wahre Herzensfreude!“

Er breitete die Arme aus, und nun fing das Umarmen wieder an. Dem unglücklichen Ferdinand wurde es ganz schwarz vor Augen. Er hatte gerade noch so viel Besinnung, sein Wetterglas vom Tisch zu raffen und damit in den Hausflur zu flüchten, der glücklicherweise auf der anderen Seite wieder hinaus und in den Hintergarten führte. Wie er eigentlich durch diesen Garten und hinausgekommen war, das wußte Wellborn dann selbst nicht. Er stand auf einmal am Ufer eines kleinen Baches, der lustig plätschernd zwischen Weinbergen dahineilte, und starrte wie geistesabwesend auf sein Wetterglas, das er krampfhaft festhielt. Dieses schändliche Glas wollte noch immer die günstige Vorbedeutung aufrecht erhalten, es stand unverrückt auf „Schön Wetter“. Da packte den jungen Mann die Wut.

„Du bist falsch, wie der, der dich erfunden hat, grundfalsch!“ brach er ingrimmig aus. „Und sie ist auch falsch, die ganze Welt ist es! Fort mit dir!“

Im weiten Bogen flog das Wetterglas hinein in die Weinreben, wo es klirrend aufstieß; aber diese außergewöhnliche Benutzung schien ihm Spaß zu machen. Es blieb nicht liegen, sondern hüpfte in lustigen Sprüngen den ganzen Berg hinunter und schließlich in den Bach. Da tauchte es noch einmal auf und verschwand dann in den Wellen. Merkwürdig, wie das ganze Dasein dieser Erfindung war auch ihr Ende!

Dem Geheimrat Rottenstein war es eine große Erleichterung, als er bei der Rückkehr in die Veranda seinen Gast nicht mehr vorfand. Man wäre doch einigermaßen in Verlegenheit gewesen, was mit Ferdinand anzufangen sei, und erriet ungefähr, weshalb er so spurlos verschwand. Der alte Herr aber fand es jetzt für gut, in die Tiefe seines Kellers niederzutauchen, um dort etwas ganz Besonderes heraufzuholen. Er nahm eben den Schlüssel, da ertönte draußen ein Lachen, so hell, so übermütig und jugendfrisch, wie er es lange Jahre nicht gehört hatte.

„Gott sei Dank, sie kann wieder lachen, meine Friedel!“ sagte er seelenvergnügt. „Das war ganz der alte Ton! Und jetzt brauche ich auch nicht mehr nach Aegypten oder gar nach Indien, jetzt ,versumpfe‘ ich fröhlich weiter hier in meinem Lindenhof!“

Zufällig hatte Robert draußen auf der Veranda dasselbe Wort ausgesprochen; er hatte seine Braut gefragt, ob sie denn wirklich entschlossen sei, in Brankenberg zu versumpfen, und damit jenes helle Lachen hervorgerufen; jetzt aber fügte er tröstend hinzu: „Aber gar zu eng wollen wir uns doch nicht einspinnen in unserem Nest. Ich bin ja auch lange genug ,da draußen‘ gewesen; da bleibt immer etwas hängen von der alten Wanderlust. Wir fliegen noch manchmal in die Welt hinaus, aber wir wissen dann doch, wo unsere Heimat ist. Wird dir das genug sein, Friedel?“

Die junge Frau war plötzlich ernst geworden und ihre Augen schimmerten feucht, als sie leise erwiderte: „Wenn du wüßtest, Robert, wie unglücklich ich gewesen bin in all den Jahren, wo sich die halbe Welt vor mir aufthat, wie öde und einsam es in mir war, während eine ganze Flut von Menschen mich umwogte! Eingestanden habe ich das freilich niemals, nicht einmal mir selber, aber sie ist mir wie ein verlorenes Paradies erschienen, jene Zeit, wo wir beide noch arm waren – und so jung, so hoffnungsreich!“

Robert lächelte nur und sah ihr tief in das Auge. „Nun, so uralt sind wir doch auch jetzt noch nicht, sollte ich meinen! Wir müssen es eben lernen, wieder jung zu sein. Den Reichenauer Forst aber kaufe ich jetzt unter allen Umständen. Da haben wir beide heute den Quell entdeckt, aus dem man sich neue Jugend trinkt und neues Leben, und den lassen wir keinem anderen, gelt Friedel? Den wollen wir hüten unser Leben lang!“


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Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl: Obrist Klaus Sperrent verkündet der Stadt den „Pardon“.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

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Blätter und Blüten.


Die „König Wilhelm-Rast“ bei Rezonville. (Mit Abbildungen.) Als König Wilhelm am Abend des 18. August 1870 den Sieg von Gravelotte-St. Privat der Königin Augusta meldete, da lag ein Tag angestrengtester Arbeit und treuester Pflichterfüllung hinter ihm. 15 Stunden ununterbrochen im Sattel, hatte der König die Schlacht geleitet und den Erfolg des Tages wohl vorbereitet. Der Sturm der Garden und Sachsen auf St. Privat und ein letzter Vorstoß der Pommern auf die starke französische Stellung bei Gravelotte sollten die Kraft des Feindes brechen und die Entscheidung bringen, welcher König Wilhelm endlich am späten Abend auf einer bei Rezonville gewählten Rast mit Gottvertrauen entgegensehen durfte.

Die „König Wilhelm-Rast“ bei Rezonville.
Nach dem Entwurf des Kunstbildhauers G. A. Knittel in Metz.

Dieses historische Fleckchen Erde, am Ausgange des Dorfes Rezonville gegen Vionville gelegen, hat die „Vereinigung zur Schmückung und fortdauernden Erhaltung der Kriegergräber und Denkmäler bei Metz“ angekauft, um hier unter dem Namen „König Wilhelm-Rast“ (18. August 1870, abends 9 Uhr) ein mit Pflanzenschmuck umgebenes Gedenkzeichen zu errichten. Eine kunstvoll aus Vogesensandstein gearbeitete Bank trägt in der Rücklehne ein Bronzereliefbild, das in lebensgetreuer Wiedergabe die Scene verewigt, wie Moltke dem König in Gegenwart von Bismarck, Roon, Podbielski u. a. die letzten Nachrichten von der gewonnenen Schlacht übermittelt. Entwurf und Ausführung dieser Bankanlage sind das Werk des Kunstbildhauers Knittel in Metz. Unter dem Bilde stehen die Worte, die sich einst der 18jährige Prinz zum Lebensgrundsatz erkor: „Meine Kräfte gehören der Welt, dem Vaterlande,“

goldene Worte, die der Heldengreis am Tage von Gravelotte in bewunderungswürdigem Maße bethätigte.
G. F.

Das Reliefbild der „König Wilhelm-Rast“ bei Rezonville.
Nach Photographien von Notton in Metz.

Ueber Reise- und Marschgeschwindigkeit im Mitttelalter. Wenn wir in den alten Chroniken lesen, daß jemand, der im 12. oder 13. Jahrhundert und später eine Reise von Nürnberg oder Augsburg nach Venedig oder gar nach Rom machen wollte, vorher seine Güter ordnete, sein Testament machte und Leib und Seele Gott empfahl, so lächeln wir und sehen von der Höhe unserer technischen Errungenschaften geringschätzend auf die weit hinter uns liegende Zeit herab. Und doch reisten auch unsere Altvordern für ihre Zeit und die Hilfsmittel, die ihnen zu Gebote standen, entweder auf dem Rücken der Pferde oder zu Wagen, recht schnell, und wie sehr würde uns das Lachen vergehen, wie bald würden wir den Strapazen unterliegen, sollten wir in gleicher Weise reisen wie sie!

Ein deutscher Gelehrter hat nämlich vor einiger Zeit auf Grund der alten Urkunden über die Romfahrten deutscher Kaiser und Könige und der Reisebücher einiger französischer Könige und einiger Päpste, der Bischöfe und anderer hoher geistlicher und weltlicher Herren, sowie aus eingehenden Berichten aus den Kreuzzügen und anderen großen Kriegszügen und Pilgerfahrten damaliger Zeit die Marschgeschwindigkeiten der Massen zu berechnen versucht. Dabei stellte sich nun heraus, daß die Reisegeschwindigkeit eine recht bedeutende war. Tagesleistungen von etwa 50 km waren ziemlich allgemein, und eine Steigerung bis zu 70 km ist häufig festzustellen. Wenn man nun bedenkt, daß, um 50 km zu Pferde zurückzulegen, ein Ritt von etwa 10 Stunden notwendig ist, bei 70 km also 14 Stunden, und daß dies Tempo viele Tage nacheinander innegehalten wurde, so muß man über die Ausdauer der damaligen Reisenden staunen. Die Strecke von Verona bis Brixen z. B. über Ala, Trient und Bozen war eine Viertagetour. Und auf was für Wegen mußten diese Strecken nicht zurückgelegt werden, vielfach eher Saumpfaden ähnlich als Heerstraßen!

Was aber den Kundigen noch mehr überraschen dürfte, ist, daß auch die Marschleistungen ganzer Heere und großer Abteilungen bei weitem nicht kleiner als die unserer heutigen Truppenkörper waren, sondern in vielen Fällen sogar größer, und daß diese hohen Marschgeschwindigkeiten auffallend lange eingehalten wurden, was nicht nur für die Berittenen, sondern auch für die Fußtruppen gilt.

Wir sehen also, daß wir allen Grund haben, auf unsere Altvordern auch in dieser Beziehung nicht geringschätzig herabzublicken, denn sie vermochten in der Ueberwindung von Schwierigkeiten und dem Ertragen von Strapazen viel, viel mehr zu leisten, als wir selbst unter Aufwendung unserer höchsten Energie imstande wären. – t.     

Am Neuen See im Berliner Tiergarten. (Zu dem Bilde S. 537.) Der Tiergarten! In ihm verkörpert sich ein merkwürdiges Stück Berlin. Als ein Riesenpark einst gedacht, in dem der Berliner außerhalb seiner Stadt in der freien Natur Luft und Erholung finden sollte, liegt er jetzt inmitten jenes Berlin, das da neuerstanden ist mit all seinen mächtigen Prunkbauten und eleganten Villen und Zeugnis ablegt von der riesenhaften Entwicklung der Hauptstadt des Deutschen Reiches. Einst eine Stätte außerhalb Berlins, könnte er jetzt als ein Zwischenglied von Alt- und Neu-Berlin bezeichnet werden. Uud die Wahrzeichen des letzteren ragen in dem alten Tiergarten hervor; seinem Eingang ist Wallots Reichstagsgebäude errichtet, und an seiner Nordseite steigt in militärischer Strammheit die Siegessäule von 1870/71 auf. Mit der Ruhe fern vom Stadtgetriebe ist es aus, die Pferdebahnen, die elektrischen Wagen, sie sausen vorüber an den ehrwürdigen Bäumen, welche ihre Häupter gen Himmel recken, auch sie sind in dem alten Park die Wahrzeichen einer neuen Zeit.

Der große Tiergarten mit seinen zahlreichen Alleen, mit seinen Tausenden von Bäumen, er hat nur noch wenige Stellen, in denen der Weltstadtlärm nicht so geräuschvoll aufdringlich zum Ausdruck gelangt; der Neue See am westlichen [547] Ende hat sich verhältnismäßig noch am meisten eine gewisse Abgeschlossenheit bewahrt, freilich, ganz ist auch er nicht dem Getriebe der Gegenwart entrückt: in seiner Nähe lassen die Züge der Stadtbahn ihr Rollen und Dampfen ertönen, aber ein gewisses idyllisches Wesen ist ihm doch zu eigen geblieben. Sein breites Wasser umrahmt wirres Geäst, herniederhängendes Gezweig, das in die Tiefe des Sees hineinzuwachsen scheint. Schwäne und zahllose Enten plätschern herum, und die Kinder stehen am Ufer und lauschen neckend dem Geschnatter, einem Geräusch, dem man gerade hier das Idyllische nicht absprechen kann. Wenn die leuchtende Sonne ihre silberglänzenden Strahlen über und unter den Wassern ihr glitzerndes Spiel treiben läßt, dann geht es auf dem See lustig und lebendig zu. Kleine Nachen und Ruderboote, die auch mietsweise zu haben sind, bewegen sich auf dem ruhigen Wasser, und wenn fröhliche Menschenkinder in ihren hellen Sommertoiletten hierbei ihr harmloses Spiel treiben und ihre Freude in Liedern austönen lassen, dann erscheint dieser See, der sich bald in engen Windungen hinschlängelt, bald den Charakter des Freien und Weiten zeigt, wie eine fern von der lärmenden Welt in die einsame Natur verpflanzte Idylle.

So ist’s im Sommer!

Wenn die Bäume kahl sind und auf ihren Kronen zu Eis erstarrte Schneeflocken glänzen, dann geht es wieder lebendig zu auf dem Neuen See. Wo einst die Boote ruhig dahinglitten, tummelt sich jetzt die elegante Welt Berlins anf dem festen Eisboden. Aber auch als Eisbahn scheint der Neue See eine gewisse Abgeschlossenheit sich bewahrt zu haben.

Hier ist die Eisbahn derer, die ein Heim im Tiergarten bewohnen können, hier huldigen auf einer eigens reservierten Fläche die Mitglieder unseres Kaiserhauses dem Eissport, hier hat auch mit besonderer Vorliebe Kaiser Friedrich als Kronprinz in Gemeinschaft mit seinen Kindern das Vergnügen des Schlittschuhlaufens gepflegt. Alfred Holzbock.     

Die Begrüßung der deutschen Kaiserin in Berchtesgaden durch die Schuljugend.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

Die deutsche Kaiserin in Berchtesgaden. (Mit Abbildungen.) Seit dem 12. Juli genießt unsere Kaiserin mit ihren Kindern die Sommerfrische in Berchtesgaden. Die drei jüngeren Prinzen und die kleine Prinzessin Viktoria Luise waren schon vor ihr eingetroffen und erwarteten, als der Sonderzug mit der Mutter und den älteren Prinzen einlief, dieselben auf dem Bahnhof. Schon bevor der Zug hielt, beugte sich die Kaiserin weit aus dem Fenster, ihren Kindern zuwinkend, welche sie dann beim Aussteigen fröhlich umdrängten. Auch die älteren Prinzen feierten mit den Geschwistern gar herzlich das Wiedersehen. Nach der offiziellen Begrüßung durch die Behörden bestieg die Kaiserin mit ihrem Töchterchen und den drei jüngeren Prinzen den bereitstehenden Wagen unter dem Jubel der ihrer harrenden Bevölkerung. In einem zweiten Wagen folgten der Kronprinz und die Prinzen Eitel Friedrich und Adalbert. Auch während der Einfahrt in die festlich geschmückte Stadt wurde die kaiserliche Familie von der Bevölkerung durch lebhaften Zuruf bewillkommt. Die Fahrt ging zum „Grand Hotel“, welches etwa zwanzig Minuten von der übrigen Ortschaft entfernt an der Straße nach Reichenhall, dicht am Walde, gelegen ist. Vor dem Hotel, in dessen Räumen die kaiserliche Familie Wohnung nahm, hatte die Berchtesgadener Schuljugend Spalier gebildet. Das Töchterchen des Bezirksarztes Dr. Roth und andere Kinder, denen die schmucke Landestracht gar wohl stand, überreichten der Kaiserin bei der Anfahrt Sträuße von Alpenrosen und Edelweiß. Eine Krone von Alpenrosen prangte über dem mit Blumengewinden geschmückten Eingang. Nachdem die Kaiserin die für sie bereitstehenden Zimmer durchschritten hatte, erschien sie mit den Ihrigen auf dem Balkon und gab ihren Dank zu erkennen, während die stürmischen Hochrufe kein Ende nehmen wollten. Die kleine Prinzessin Viktoria Luise warf der jubelnden Jugend unten Kußhändchen zu.

Leider hat der Aufenthalt der Kaiserin in der schönen bayrischen Bergstadt, auf welche die Firnhäupter des Watzmanns über die grüne Flut des Königsees niedergrüßen, durch den kleinen Unfall eine Trübung erfahren, welcher der hohen Frau auf einem Ausflug von St. Bartholomä zur „Eiskapelle“ zustieß. Die Heilung des verletzten Fußes ist so glücklich verlaufen, daß die Kaiserin nach Anlegung eines Verbandes durch den bekannten Orthopäden Hessing sehr bald wieder gehen und Ausfahrten in die herrliche Umgebung machen konnte.

Das „Grand Hotel“ in Berchtesgaden, Quartier der deutschen Kaiserin.
Nach der Natur gezeichnet von Fritz Bergen.

Wasserdampf als Sprengstoff in Schlagwettergruben. Eine große Anzahl Explosionen Schlagender Wetter wird nach den statistischen Ausweisen von den Sprengschüssen hervorgerufen, durch welche die feste Kohle unten im Bergwerk losgebrochen werden muß. Man sollte meinen, daß diese Sprengschüsse so schnell verpufften und bei der Wirkung des Schusses nach allen Seiten alle Kraft desselben so sehr aufgebraucht würde, daß es zu so bedeutender Flammenentwicklung bis an die Firste des Schachtes, wo die Schlagwetter sich ansammeln, gar nicht kommen könne. Aber in sehr vielen Fällen entwickelt sich doch eine Stichflamme (der sogenannte Lochpfeifer). Dazu kommt noch, daß der feine Kohlenstaub, der infolge der Sprengung immer, wenn auch nicht stets in gleich großer Menge, entsteht, obgleich man durch Nässen der Kohle seine Bildung zu verhindern sucht, sich leicht entzündet, und dann von ihm aus die Explosion sich fortpflanzt. Aus diesen Gründen trachtete man schon lange danach, Sprengstoffe zu erfinden, die so schnell explodieren, daß Flammenentwicklung so gut wie ausgeschlossen ist – ohne aber das Ziel zu erreichen. Selbst die gepriesensten sogenannten Sicherheitssprengstoffe haben nachgewiesenermaßen Explosionen Schlagender Wetter herbeigeführt.

Da hat nun neuerdings der bekannte amerikanische Bergtechniker Shaw ein neues gefahrloses Sprengverfahren für Kohlen erfunden und in Vorschlag gebracht, und zwar verwendet er den mit Hilfe der Elektricität erzeugten Wasserdampf. Eine mit Wasser gefüllte, an beiden Enden verschlossene Röhre, in der ein Platindraht sich befindet, wird in das Bohrloch gebracht und dann durch den Draht ein schwach gespannter [548] elektrischer Strom geleitet. Infolgedessen erhitzt sich der Draht, das Wasser verwandelt sich in Dampf, zersprengt, wenn es einen Druck von 10 Atmosphären erreicht hat, die Röhre und bricht dadurch die Kohle ab.

Shaw berechnet für eine Röhre von 9 cm Länge und 4 cm Weite die bei diesem Vorgang erzeugte Kraft auf 1 1/3 Tons. Das ist nun freilich viel geringer als die jedes anderen heute gebrauchten Sprengstoffs, und es ist deshalb fraglich, ob die auf dem vorher geschilderten Wege erreichte explosive Kraft auch zur Abbringnng einer sehr festen Kohle ausreicht. Immerhin würde durch den gleichzeitigen Gebrauch mehrerer solcher Explosionsröhren diesem Mangel zum Teil abgeholfen werden, vielleicht auch durch Verwendung größerer und stärkerer Röhren eine etwas größere Kraft erzielt werden können. Jedenfalls ist bei dieser Art der Sprengung jede Entzündungsgefahr für die Schlagwetter ausgeschlossen. Dr. –t.     

Das Gauß-Weber-Denkmal in Göttingen. (Mit Abbildung.) Zu den wichtigsten folgereichen Erfindungen, welche unser Jahrhundert der deutschen Wissenschaft zu danken gehabt hat, gehört die des elektromagnetischen Telegraphen durch die Professoren Gauß und Weber in Göttingen. Der große Mathematiker Karl Friedrich Gauß aus Braunschweig, wo er am 30. April 1777 zur Welt kam, war bereits Professor und Direktor der Sternwarte in Göttingen, als der Verkehr mit dem 1831 nach Göttingen berufenen genialen Physiker Wilhelm Eduard Weber ihn auf das Studium des Erdmagnetismus führte. Weber, geboren am 24. Oktober 1804 zu Wittenberg, hatte sich schon vorher in Halle als ausgezeichneter Experimentator erwiesen. Als Frucht der gemeinsamen Studien und Experimente entstand 1833 der erste elektromagnetische Telegraph. Ueber die Dächer der Stadt Göttingen wurden von ihnen zwei Kupferdrähte geleitet, welche das Physikalische Institut und die Sternwarte miteinander verbanden, und an denen sie die Richtigkeit ihrer Gedankenschlüsse erprobten. Die Wichtigkeit der Erfindung hatte Gauß mit klarem Blicke vorausgesehen. Die Bedeutung dieses gemeinsamen Wirkens der beiden Forscher bringt das Denkmal, welches jetzt ihnen in Göttingen errichtet wurde, ebenso ansprechend wie lebensvoll zum Ausdruck. Auf einem breitlehnigen Stuhle sitzt Gauß, mit seiner berühmten Hauskappe, im Professorentalar. Er sinnt den Worten nach, die der neben ihm stehende Weber an ihn richtet. In seiner Rechten hält er einen Telegraphendraht, den Weber mit der Linken berührt. Das Modell zu dem Denkmal stammt von Professor F. Hartzer. Der Bronzeguß ist von Gladenbeck ausgeführt. Der granitne Sockel trägt in goldenen Lettern die Inschrift „Karl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber“.

Das Gauß-Weber-Denkmal in Göttingen.
Nach einer Aufnahme von Dr. J. P. Panaotovic in Göttingen.

Die feierliche Enthüllung des Denkmals, das auf den Wallanlagen vor dem Chemischen Laboratorium seinen Platz erhielt, fand am 17. Juni unter lebhafter Teilnahme der Universität und der Bürgerschaft Göttingens statt. Geheimrat Professor Voigt hielt als Vorsitzender des Denkmalausschusses die Weiherede. In der Aula der Universität war gleichzeitig eine Ausstellung von Handschriften, Abhandlungen, Modellen u. a. veranstaltet worden, welche von Gauß und Weber herrühren. Da war auch jener erste elektromagnetische Telegraph zu sehen, welcher 1833 den Verkehr zwischen dem Physikalischen Institut und dem Observatorium der Sternwarte zu Göttingen vermittelte.

Für die Gründung eines Bismarck-Archivs wird ein Aufruf an das deutsche Volk erlassen. Bald nach dem Tode des großen Kanzlers wurde der Wunsch rege, alles zusammenzubringen, was an Briefen und Urkunden von seiner Hand vorhanden ist. Dieser Gedanke hat nunmehr festere Gestalt gewonnen. Mit dem Bismarck-Archiv will man ferner eine Bismarck-Bibliothek verbinden, in der alle auf Bismarck und sein Wirken sich beziehenden Werke des In- und Auslandes Aufstellung finden würden. Schließlich plant man, den obenerwähnten Sammlungen noch ein Bismarck-Museum anzureihen, in dem die im Privatbesitz befindlichen Erinnerungen an Bismarck, Denkmünzen mit seinem Bilde, Darstellungen Bismarcks in Gemälden, Stichen, Radierungen und Photographien, Modelle zu Bismarck-Denkmälern, Erzeugnisse der Industrie zu Bismarcks Ehren etc. nach und nach zusammengebracht werden sollen. Als Ort für die Errichtung des Bismarck-Archivs ist Stendal in der Altmark in Aussicht genommen. Für die Wahl des Ortes gab den Ausschlag die historische Bedeutung Stendals als der Hauptstadt der Altmark, die in der geschichtlichen Entwicklung den Kern des preußischen Staates gebildet hat, ferner die nahen Beziehungen der Familie Bismarck zu Stendal, die noch jetzt vor dem Ueglinger Thor das Hospital St. Gertrud besitzt und deren älteste Vorfahren lange Zeit im Rate der Stadt gesessen haben zu der Zeit, als Stendal in seiner höchsten Blüte stand, und schließlich die Nähe des Stammgutes Schönhausen, dessen Bismarck-Museum das Wallfahrtsziel von Tausenden deutscher Patrioten ist. An alle Deutschen des In- und Auslandes ergeht nun die herzliche Bitte, die nationale Sache durch reichliche Beiträge zu unterstützen, damit außer den für den Bau eines würdigen Bismarck-Hauses nötigen Geldern ein werbendes Kapital vorhanden sei, aus dessen Zinsen die im Privatbesitz befindlichen Schriftstücke von Bismarcks Hand im Original oder in beglaubigten wortgetreuen Abschriften erworben und die für die Instandhaltung und Verwaltung des Instituts nötigen Kosten bestritten werden können. Beiträge sind an die „Deutsche Bank“ in Berlin und deren Filialen für die Rechnung des „Ausschusses zur Errichtung eines Bismarck-Archivs in Stendal“ zu senden.

Das Grab des Daphnis. (Zu unserer Kunstbeilage) Dem Maler Max Rieder hat von den Hirtengedichten des Virgil das fünfte die Anregung zu seinem Bilde gegeben. Es ist dem Daphnis gewidmet, dem Urbild der sicilischen Hirten, dem schönsten und sangeskundigsten von allen, dem Sohn des Merkur und einer Nymphe, welchen Pan selbst in der Musik unterrichtet haben soll. Schon Theokrit hatte in seiner ersten Idylle den Tod des Daphnis besungen. Er war ein Priester des Bacchus und suchte die Hirtenflur durch Anbau zu veredeln; er führte den Kultus des Gottes ein, den von gezähmten Panthern gezogenen Wagen, die Reihentänze der Bacchanten und Bacchantinnen und die mit Epheu und Weinlaub umwundenen Thyrsusstäbe. Um den dahingeschiedenen Schäfer klagten die Nymphen, die seine Schönheit priesen und sich auch am berauschenden Dienst des Bacchus beteiligten. „Solange der Eber den Bergrücken liebt und der Fisch das Wasser, solange die Bienen am Thymian sich erfreuen und am Tau die Cikaden, solange wird dein Name geehrt bleiben“ – läßt Virgil einen seiner Hirten zum Preise des Daphnis singen. Und das Lied war allen reizenden Nymphen und Dryaden aus dem Herzen gesungen. Das Grab des verstorbenen Hirten zu schmücken, vereinigten sie sich, wie uns das Bild des Malers zeigt, in pietätvoller Thätigkeit neben seiner Ruhestatt im Schatten der Sykomoren. Die eine ist bedacht, das Grab mit einer Guirlande zu umkränzen; die zweite, in edler Schönheit dastehend, trägt Blumen herbei, aus welchen die kundige Genossin eine geschmackvolle Auswahl trifft; auch die anderen, alles schöne und schlanke Gestalten, bringen Blumen oder sie pflücken Blätter von den Zweigen. Das Bild durchweht kein trüber elegischer Hauch; es zeigt uns nicht die Schwermut einer tief traurigen Totenklage, sondern es bringt die ernste Heiterkeit, die Erinnerung an die schönen Feste, welche die Nymphen gemeinsam mit dem Jünger des Bacchus gefeiert haben, zum Ausdruck – und die schöne blumenspendende Natur des Südens bildet den Hintergrund der idyllischen Totenfeier. †      



Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.

Soeben erschienen!

Gedichte von Ernst Scherenberg.

Sechste, vermehrte Auslage.

Mit dem Bildnis des Oichters in Lichtdruck.

– Preis elegant gebunden 6 Mark. –

Scherenberg, der nunmehr bereits seit vier Jahrzehnten in den ersten Reihen der geistigen Kämpfer für die nationale Wiedergeburt des Deutschen Reiches stand, bietet in der vorliegenden sechsten Auflage seiner „Gedichte“ in den durch Neuschöpfungen wiederum bereicherten „Zeitgedichten“ von 1858 bis 1898 eine vollständige poetische Geschichte dieser gewaltigen, mit dem Tode Bismarcks ergreifend abschließenden Epoche. Auch der umfangreiche rein lyrische Teil der Sammlung ist durch die neuen Abschnitte „Herbstblätter“ und „Krank im Süden“ zu einem fesselnden Lebensbilde des Dichters abgerundet worden.

Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Badetasche.

Badetasche. Aus einem gewöhnlichen Panamakorb ist durch ein Futter von ganz leichtem Gummistoff, wie man ihn zu Schwammbeuteln etc. verwendet, eine nette Tasche zum Transport des Schwimmkleides anzufertigen. Der Futterstoff wird rings um den Rand ziemlich glatt angenäht, nach unten etwas eingezogen und am Boden des Korbes befestigt. Den Ansatz desselben und den ganzen Boden deckt man durch ein entsprechend zugeschnittenes Stück Karton, das man ebenfalls mit Gummistoff überzieht. Ebenfalls aus diesem gefertigt, ist der Länge nach am oberen Rande eine Tasche angebracht, in der man das manchmal recht notwendige Frisierzeug, Schuhknöpfer, Seife etc. sicher und trocken verwahren kann. Soll der Gegenstand seine Bestimmung nicht offen zur Schau tragen, so bringt man am oberen Rande einen „Sack“ zum Zusammenziehen an, auch einige Verzierung durch Woll- oder Seidenband ist nicht ausgeschlossen.

Photographien auf Glas.

Photographien auf Glas, als Lichtbilder am Fenster gebraucht, läßt man gern in einen Rahmen aus farbigem Glas fassen, das zu den grauen Tönen des Bildes gut steht. Zum weiteren Schmuck eines solchen Rahmens sind auch gepreßte Blumen gut verwendbar, nur muß man beizeiten einen genügenden Vorrat an feinen Blätterranken, Farnkräutern etc. sammeln und pressen, um Auswahl zu haben. Die Glasstreifen für den Rahmen werden doppelt genommen, so daß die Blätter zwischen beide Gläser zu liegen kommen. – Ohne Zusammenhang, in einer Art verschiedenfarbiger Mosaik, werden größere und kleine Blätter neben- und gegeneinander gelegt, wie es die Abbildung andeutet; die Zwischenräume dürfen nicht zu groß und ungleich sein, auch die Farben der Blätter nicht zu verschieden. Mit einem feinen Pinsel umzieht man sodann die Blattränder in einem schmalen Abstand und füllt den Grund mit dunkler Oelfarbe dicht aus, so daß, gegen das Licht gebalten, jedes Blatt auf dem undurchsichtigen Grunde von einer schmalen hellen Kontur umgeben erscheint. Zum Aufkleben der Blätter dient klarer arabischer Gummi, sehr vorsichtig aufgestrichen. Das zweite Glas, vielleicht von grünlichem Ton, deckt man darüber. Das Zusammenfassen beider Gläser und das Einrahmen des Bildes besorgt der Glaser. Man muß sich mit solcher Umrahmung natürlich danach richten, ob das Bild starke Unterschiede von Hell und Dunkel aufweist, und einen kräftigeren oder zarteren Rand braucht. Ist die Arbeit hübsch geglückt, so macht diese Malerei mit den Farben der Natur selber einen sehr reizvollen Eindruck. Auch Lichtschirme zum Schutz für die Augen sind damit schön zu dekorieren. J.     

Gehäkelte Anhänger. Als Ersatz der Anhänger aus Leder oder Metallkettchen, wie sie für Paletots und Mäntel wohl sehr praktisch, aber nicht jedermanns Geschmack sind, kann man welche aus Seide häkeln, die Haltbarkeit mit hübschem Aussehen vereinigen. Außer Cordonnetseide in Farbe des Kleidungsstückes sind zwei kleine Metallringe erforderlich. Man schlägt eine 5 bis 6 cm lange Luftmaschenkette an und behäkelt diese an beiden Seiten mit Kettenmaschen, hierbei in die Endmaschen je drei Kettenmaschen ausführend. Bei der nun folgenden zweiten Reihe Kettenmaschen wird je nach der ersten Masche in die zweite der drei Endmaschen ein kleiner Ring dicht mit festen Maschen behäkelt und hierauf nur noch eine Kettenmasche in die schon erfaßte Masche gearbeitet. Anfangs- und Endfaden sind sorgsam zu befestigen.

Moderne Taschentücher. Wer es liebt, der Mode auch in ihren Einzelheiten zu folgen, wird für allerlei besondere Taschentücher sorgen müssen, und wer über Zeit und Geschicklichkeit verfügt, wird auch hier den eigenen Fleiß bethätigen.

Stickerei für Taschentücher.

Stickerei für Taschentücher.

Keine große Mühe ist es zum Beispiel, in eine Ecke des weißen Batisttuches möglichst getreu in Form, Farbe und Größe einige wie leicht hingestreut wirkende Blüten und Knospen oder nur eine einzelne Blume zu sticken, doch muß die verwendete Seide natürlich vollständig waschecht sein. Etwas mehr Arbeit verlangt schon die Verzierung des aus blauem, rosa, lila, grünem oder hochrotem Batist gefertigten Tuches, das dicht über dem breiten Hohlsaum eine in Weiß gestickte Bordüre schmückt. Für diese bringt die Abbildung ein hübsches Muster, das mit seinen Ausläufern auf den Saum übergreift und gleich der zweiten Vorlage mit zierlichem Languettenabschluß auch mattfarbig auf weißem Batist gestickt werden kann. Sehr hübsch sehen die farbigen Batisttücher auch mit Abschluß aus weißer schmaler Valenciennesspitze aus, doch erhalten sie dann nur einen schmalen Hohlsaum, der auch die mit Blumen gezierten Tücher abschließt. Als weitere Neuheiten giebt es in lebhaften Farben karrierte, gestreifte und gemusterte Batisttücher, deren einfarbiger oder weißer Saum – er wird mittels Hohlnaht angesetzt – auch ganz abstechend in Farbe genommen werden darf.


–– Hauswirtschaftliches. ––


Zur Zelt, wo die verschiedenen Suppenwürzkräuter in Fülle auf den Markt gebracht werden und billig zu kaufen sind, muß die sparsame, praktische Hausfrau für die kommende ungünstige Zeit Sorge tragen und diese Kräuter konservieren. – Petersilie kauft man am besten mit den Wurzeln, weil sie auf diese Weise am frischesten ist. Man schneidet sie ab, wäscht sie, trocknet sie gut auf reinen Leinentüchern und wiegt sie nun fein, um sie darauf mit trockenem feinen Tafelsalz zu vermischen. Man drückt die Petersilie fest in kleine Gläser, streut oben noch eine Schicht Salz darauf und schließt sie luftdicht. Beim Gebrauch darf man nicht vergessen, den Speisen, die man mit dieser Petersilie würzen will, kein oder nur wenig Salz zuzusetzen. Petersilienbutter, die aber nicht so lange haltbar ist wie die Salzpetersilie, ist dennoch als Vorrat zu empfehlen, sie muß nur zuerst verbraucht werden. Man bringt zu ihr tadellose frische Butter zum Steigen und schüttet die gewiegte Petersilie hinein. Kleine leere Büchsen von Liebigs Fleischextrakt, die in jedem Haushalt zur Hand sein werden, eignen sich besonders zum Aufheben dieser Butter, die man in flüssigem Zustande hineinfüllt, erstarren läßt und mit einer Schicht fein gestoßenem Salz überstreut, bevor man sie luftdicht schließt. Man schwitzt mit dieser Butter die Suppen, Saucen oder Gemüse an, zu deren Würzung man sie gebrauchen will. – Alle übrigen feinen Kräuter soll man im Hochsommer trocknen, fein stoßen und durch ein Sieb reiben, worauf man sie in kleine Büchsen füllt und diese mit neuen passenden Körken schließt. Zum Einreiben und Einlegen von Fleisch, zu Kräutersaucen und -Suppen etc. sind diese Kräuter trefflich zu brauchen He.     

Eiersalat. Hartgekochte, kleingeschnittene Eier werden mit einer Mayonnaise übergossen und die Schüssel mit Sardellen, Kapern und grünen Salatblättchen garniert.

Tomaten in Steintöpfen einzumachen ist die bequemste und sicherste Art und Weise. Man kauft sie, solange sie noch nicht ganz reif, reibt sie mit einem trockenen Tuche sauber ab und legt sie in den dazu bestimmten Steintopf. Dann kocht man Salzwasser ab und gießt es, nachdem es kalt geworden, darüber, so daß die Brühe reichlich übersteht. Ein kleines Säckchen mit Senfkörnern oder ein Stück Schiefer wird auf die Tomaten gelegt, damit sie unten bleiben. Zuletzt bindet man den Topf mit Pergamentpapier oder einem reinen Tuche zu und bewahrt ihn an einem kühlen Orte (Keller) auf.

Reinigen der Hände nach Früchteschälen und -Kernen. Wie oft schon war die Einmachzeit die stille Verzweiflung junger Frauen und Mädchen, weil Tage vergehen, bis Finger und Nägel ihr natürliches Aussehen wieder haben! Und doch ist dies so einfach zu erreichen: Man besorge sich vorher flüssiges Glycerin, reibe nach der Arbeit den Hauptschmutz mit weichem Papier von Fingern und Händen ab, schmiere diese alsdann fest und gründlich mit Glycerin ein und wasche sie dann in warmem Wasser.

Harten Käse zu verwenden. Wer Edamer-, Holländer- oder Schweizerkäse in größerer Menge kauft, wird die letzten Reste dieser Käse, zumal in heißer Jahreszeit, kaum mehr wie gewöhnlich gebrauchen können, da sie hart und unschmackhaft wurden. Aus diesem Käse kann man auf folgende Weise eine sehr wohlschmeckende pikante Käsebutter herstellen, die sich längere Zeit hält und zum Bestreichen gerösteten Weißbrots vortrefflich ist. Man schneidet den in etwas Milch geweichten Käse in kleine Stücke, fügt auf 500 g Käse 100 g Butter und einen Theelöffel Düsseldorfer Mostrich hinzu und stößt nun alles miteinander in einem Mörser zu einem glatten und geschmeidigen Teig. Man reibt ihn durch ein Sieb, füllt ihn in ein sauberes Steingutgefäß und stellt dieses an einen recht kühlen Ort. He.     

Die Entfernung von Obstflecken aus Waschstoffen ist so außerordentlich rasch und einfach zu bewerkstelligen, daß keine Mutter mehr erschrecken oder unmutig werden sollte, wenn eines ihrer Kleinen mit Kleid oder Schürze voll Kirschen-, Heidelbeer- oder anderen Obstflecken erscheint. In ein paar Minuten ist der ganze Schaden wieder gut. Auch Tischtücher und Servietten, sowie alle waschbaren Stoffe können auf die folgende Art gereinigt werden, ohne den ganzen Gegenstand einer gründlichen Wäsche zu unterziehen, die ohne Bleiche doch nur unvollständig hilft und den bunten Sachen die Farbe nimmt. Man spannt den fleckigen Stoff recht straff über eine Schüssel und giebt ganz strudelndes Wasser direkt auf jeden einzelnen Fleck so lange, bis er ganz verschwunden ist, was kaum eine halbe Minute in Anspruch nehmen dürfte, besonders wenn die Flecken noch frisch sind und vorher weder mit kaltem Wasser noch Seife berührt waren.

Rindsschnitten auf Wiener Art. Von einem kurzen, gut abgelagerten Rippenstück schneidet man fingerdicke Stücke, löst alle Knochen ab und klopft die Fleischscheiben breit. Nun bestreut man jedes Stück mit Salz und Pfeffer, formt sie schön rund, wendet sie in Mehl um und brät alle Schnitten auf Butter bei lebhaftem Feuer braun. Die gebratenen Schnitten werden nun aus ihrem Fett in eine andere flache Kasserolle gelegt, mit feingeschnittenen Suppenwurzeln und Zwiebelblättchen bestreut, etwas gute kräftige Bratensauce und ein Spritzer weißer Wein darunter gegossen; zugedeckt mürbe gedämpft. Man giebt hierzu beim Auftragen Bratkartoffeln und eine gute Kapernsauce.

Schinken in Wein gedämpft oder Burgunderschinken. Ein etwa 2 bis 3 kg schwerer oder auch kleinerer Schinken wird gut in lauem Wasser abgebürstet, sodann 6 bis 8 Stunden in frischem Wasser gewässert. Mit heißem Wasser zugesetzt, läßt man den Schinken langsam, je nach seiner Größe, 11/2 bis 2 Stunden kochen, hebt ihn in eine Bratpfanne oder passenden Tiegel, gießt darüber 1 Teil Schinkenbrühe, 2 Teile guten echten Rotwein, einige Eßlöffel gestoßenen Zucker, 2 bis 3 Gewürznelken, ein Stückchen Zimmetrinde und etwas Citronengelb, worauf der Schinken darin vollkommen weichgedämpft wird. Der fertige Schinken wird schön tranchiert, mit etwas Weinsauce unterschwemmt, dann heiß aufgetragen. Den Rest der Sauce stellt man in einem besonderen Geschirr zu Tisch. E. K.     

[548 b]

Allerlei Kurzweil.

Bilderrätsel „Der Geldsack“.
Von Al. Weixelbaum.


Dominoaufgabe.

A, B und C nehmen je acht Steine auf. Vier Steine mit 38 Augen bleiben verdeckt im Talon. B hat auf seinen Steinen 22 Augen weniger als C. Es wird nicht gekauft.
A hat:

A setzt Doppel-Sechs aus und gewinnt dadurch, daß er seine Steine zuerst los wird. Als letzten Stein setzt er Blank-Zwei. B kann nur bei der zweiten, vierten und fünften Runde ansetzen; C muß bei der dritten, sechsten und siebenten Runde passen. Dadurch behält B fünf Steine mit 21 und C vier Steine mit 31 Augen übrig.

Welche Steine liegen im Talon? Welche Steine behält C übrig? Wie ist der Gang der Partie? A. St.     



Charade.

  Erste Silbe.
Du findest mich am Meeresstrand,
Doch ebenso im Binnenland,
Bald hell, bald dunkel, grob und fein,
Kann nützlich, auch gefährlich sein.

  Zweite Silbe.
Ob feingefügt mein Inn’res ist,
Danach man meinen Wert bemißt.
Zwar kann ich auch nach Außen strahlen,
Wenn man mit meinem Glanz will prahlen.

  Das Ganze.
Ich bin ein unscheinbares Ding,
Auch ist mein Nutzen nur gering;
Wer meine zweite Silbe hat zu eigen,
Der wird nach mir wohl kaum Verlangen zeigen.
  Th. Biedermann.


Auflösung des Bilderrätsels „Vogelscheuche“ auf dem Umschlag von Halbheft 16.
Die Silben, auf welche die Aehrenspitzen hinweisen, sind von links nach rechts in der Reihenfolge, in welcher die Aehren dem Boden entwachsen sind, abzulesen. Sie ergeben den Spruch:

Das Recht darf nicht zur Vogelscheuche werden.“


Tauschrätsel.
Röhre, Elbe, Mähne, Linde, Samos, Varzin, Teschen, Meile, Bohrloch.

Aus jedem dieser Wörter ist dadurch ein neues Wort zu bilden, daß man irgend eine Silbe durch eine andere ersetzt. Die neuen Silben ergeben zusammen ein Sprichwort.


Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 16.

     1. D c2 – f5       K d6 – c5:
     2. D f5 – c8+      beliebig
     3. D c8 – c3, c6, L b4 ≠

A. 1. . . .   K d6 – c7
     2. L e1 – a5+       beliebig
     3. D f5 – f8 ≠

B. 1. . . .   K d6 - e7
     2. D f5 - e6+       beliebig
     3. D e6 - d7, (L a5), S d7 ≠

C. 1. . . . .   beliebig
     2. D f5 – f8+       beliebig
     3. L e1 – a5, c3 ≠


Auflösung des Silbenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 16.

1. Emma, Maki;
2. Hansa, Samum;
3. Rose, Sesam;
4. Elsa, Sago;
5. Nebo, Bober;
6. Parma, Makart;
7. Rubin, Binse;
8. Elba, Basel;
9. Imker, Kerbel;
10. Sudan, Dante.

 Ehrenpreis und Immortelle.


Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 16. 0 Fliege.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 16.

Hummel, Hummer.


Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 15.
Die Karten sind so verteilt: Skat: e7, s7.
Vorhand: eO., gZ., g9, g8, g7, r9, r8, r7, s9, s8. Hinterhand: sW., gD., gK., gO., rK., rO., sD., sZ., sK., sO.

Bei Grand ouvert hätte Vorhand eO. angespielt und Hinterhand hätte mit sW. gestochen, der Spieler also das große Spiel gleich im ersten Stich verloren. Bei Null ouvert dagegen kann Vorhand ausspielen was sie will, Hinterhand kommt ans Spiel und muß alle Stiche nehmen, der Spieler gewinnt also sein Null ouvert.




[ Verlagswerbung Ernst Keil's Nachfolger
für Bücher von M. Bernhard u. R. Artaria,
Werbung für „Technikum Mittweida“ und „Technikum Altenburg S.-A.“
und Produktwerbung für „Sapolio“
Zur Zeit hier nicht dargestellt. ]




Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Das ist ein Irrtum des Fürsten Bismarck. Als er turnte, war Jahn nicht mehr in Berlin.
  2. Gesunder Geist in gesundem Körper.
  3. Eine Abbildung der Votivtafel enthält die „Deutsche Turnzeitung“, Jahrgang 1895, und das Encyklopädische Handbuch des gesamten Turnwesens, herausgegeben von C. Euler, III. Bd., S. 339.