Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1899)/Heft 18

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[548 c]

18. Heft. Preis 10 cents. 29. August 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[548 d]

Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (Schluß) 550
Der neue Dom zu Berlin. Von Gundakkar Klaussen.
 Mit Abbildung 559
Zum Goethe-Gedenktag. Von Johannes Proelß.
 Mit Abbildungen 560
Die Kunst des Fliegens an der Jahrhundertwende. Von Wilhelm Berdrow. Mit Abbildungen 564
Das lebende Bild. Erzählung von Adolf Wilbrandt (1. Fortsetzung) 568
Der Internationale Frauenkongreß in London. Von Dr. F. Müller. Mit Bildnissen 576
Blätter und Blüten: Am Gardasee. (Mit Abbildung.) S. 578. – Orientalischer Hahnenkampf. (Zu dem Bilde S. 552 und 553.) S. 578. – Das Teutsch-Denkmal zu Hermannstadt in Siebenbürgen. (Zu dem Bilde S. 579.) S. 578. – Peter Rosegger und sein Lehrmeister. (Mit Abbildung.) S. 579. – Die „Mühle“. (Zu dem Bilde S. 569.) S. 579. – Holztriften durch die Partnachklamm. (Zu dem Bilde S. 573.) S. 579. – Das Matterhorn. Von J. C. Heer. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 580. – Unsere Goethe-Bildnisse. (Zu den Bildern S. 549 und 560.) S. 580.
Kleiner Briefkasten: S. 580.
Illustrationen: Orientalischer Hahnenkampf. Von J. Gimenez-Martin. S. 552 und 553. – Der Neue Dom zu Berlin. S. 557. – Abbildungen zu dem Artikel „Zum Goethe-Gedenktag“. Goethe. Von J. K. Stieler. 1828. S. 549. Goethe. Von Georg Oswald May. 1779. S. 560. Goethe und Friederike in Sesenheim. Von H. Seeger. S. 561. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Kunst des Fliegens an der Jahrhundertwende“. Fig. 1. Lanas Entwurf eines Luftschiffes. 1670. Fig. 2. Erster Versuch mit der Montgolfiere zu Annonay am 5. Juni 1783. Fig. 3. Das lenkbare Luftschiff von Ch. Renard und A. Krebs. S. 564. Fig. 4. Andrées „Adler“ im Aufstieg. Fig. 5. Die Hensonsche Flugmaschine. Fig. 6. Lilienthals Flugapparat. S. 565. Fig. 7. Schematische Darstellung des Zeppelinschen Luftschiffes. S. 567. – Die „Mühle“. Von St. Grocholski. S. 569. – Holztriften in der Partnachklamm. Von R. Reschreiter. S. 573. – Bildnisse zu dem Artikel „Der Internationale Frauenkongreß in London“. Gräfin Ishbel Aberdeen. Fräulein v. Milde. S. 576. Frau Hanna Bieber-Böhm. Fräulein Sophie Christensen. Fräulein Dr. jur. Anita Augspurg. Mrs. May Wright Sewall. S. 577. – Am Gardasee. Von Alfred Enke. S. 578. – Das Teutsch-Denkmal zu Hermannstadt in Siebenbürgen. Von A. v. Donndorf. S. 579. – Peter Rosegger und sein ehemaliger Lehrmeister, der Schneider Ignaz Orthofer. S. 579. – Liebesorakel. Von F. Reiß. S. 580.


Hierzu Kunstbeilage XVIII: „Das Matterhorn!“ Von O. v. Kameke.




Kleine Mitteilungen.


Dr. Versmann, Bürgermeister von Hamburg †. Der greise Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Johannes Georg Andreas Versmann, ist am 28. Juli dieses Jahres gestorben. In ihm ist ein hervorragender Mann dahingeschieden, dessen Name nicht allein in der Geschichte seiner Vaterstadt glänzen, sondern auch in der des Reichs zu allen Zeiten mit hohen Ehren genannt werden wird.

Am 7. Dezember 1820 als Sohn einer schlichten Bürgerfamilie in Hamburg-St. Pauli geboren, trat Versmann, nachdem er in Göttingen, Jena und Heidelberg erst Medizin, dann Rechts- und Staatswissenschaften studiert hatte, im Jahre 1844 als Doktor der Rechte in das öffentliche Leben seiner Vaterstadt ein, die sich damals nach dem großen Brand auch innerlich neuzubauen begann. Das Jahr 1848 rief ihn unter Schleswig-Holsteins Fahnen, und er nahm an dem Gefecht von Bau teil, in dem sein jüngerer Bruder fiel. Nach dem schmählichen Ende von Malmö in die Heimat zurückgekehrt, wirkte der von den Ideen der Zeit durchglühte Mann mehr als ein Jahrzehnt in den Reihen der liberalen Opposition, die in Wort und Schrift für eine Aenderung der veralteten Verfassung und Verwaltung thätig war. Als diese im Jahr 1859 vorläufig zustande gekommen war, trat Dr. Versmann zunächst als Deputierter des Handelsgerichts in die „Bürgerschaft“ ein, die ihn sofort zu ihrem Präsidenten wählte; zwei Jahre später erfolgte seine Wahl in den Senat, dem er somit 38 Jahre lang angehört hat. Ein Mann von ungewöhnlicher Begabung und Willenskraft, dabei von feinen, liebenswürdigen Formen, hat Versmann im Lauf der Jahre auf allen Gebieten des inneren Lebens seiner Vaterstadt eine hervorragende, vielfach im besten Sinn reformatorische Thätigkeit entfaltet. So erschien er als der rechte Mann für die ungemein schwierige Situation, die für Hamburg entstand, als Fürst Bismarck – der Vertröstungen müde – im Frühjahr 1880 den Zollanschluß Hamburgs zu erzwingen sich anschickte. Den entschlossenen Willen des Gewaltigen hat auch Versmann nicht aufzuhalten vermocht, aber er hat sich selbst, hamburgisches Wesen und hamburgische Politik bei dem großen Gegner in Respekt zu setzen gewußt. Es ist wesentlich mit sein Verdienst, wenn die neue Ordnung der Dinge eine Gestalt gewann, mit der jetzt längst alle Gemüter in Hamburg aufrichtig versöhnt sind, und wenn verhältnismäßig bald nach den heißen Kämpfen ein so herzliches Verhältnis zwischen der alten Hansestadt und ihrem großen Nachbarn und Ehrenbürger entstehen konnte. Seit 1880 hat Versmann ununterbrochen dem Bundesrat angehört, von 1887 ab bekleidete er in dem üblichen Turnus das Bürgermeisteramt. Von Kaiser Wilhelm II vielfach ausgezeichnet, mit dem Fürsten Bismarck in dessen letzten Lebensjahren in aufrichtiger Freundschaft verbunden, eine glänzende Verkörperung hanseatischer Tüchtigkeit und republikanischen Gemeinsinnes, dabei dem großen deutschen Vaterland mit ganzem Herzen ergeben, zuletzt ein allverehrter Patriarch, so hat Bürgermeister Dr. Versmann bis zu seinem Ende des höchsten Bürgeramtes, das in deutschen Landen vergeben wird, ehren- und segensvoll gewaltet. H. D.     

Professor Erich v. Drygalski. Im Jahre 1895 hatte der „Geographentag“ in Bremen beschlossen, eine deutsche Südpolarexpedition auszurüsten, falls der im selben Jahre zu London tagende Internationale Geographenkongreß ein internationales Unternehmen in dieser Richtung nicht ins Werk setzen würde. Der Kongreß verhielt sich ablehnend, worauf sich eine Kommission bildete, welche die auf über eine Million Mark geschätzten Kosten der deutschen Expedition zusammenbringen sollte. Jetzt ist das Unternehmen gesichert. Im Hahre 1901 soll die Expedition mit einem Schiff ihre Reise in die antarktischen Gebiete antreten. Zu ihrem Leiter hat man den durch seine Grönlandforschungen wohlbekannten Professor der Geographie von der Berliner Universität Erich v. Drygalski erwählt. Derselbe ist zu Königsberg i. Pr. am 9. Februar 1865 geboren, studierte in Königsberg, Bonn, Leipzig und Berlin Naturwissenschaften und war von 1888 bis 1891 Assistent im Geodätischen Institut und Centralbureau der internationalen Erdmessung in Berlin. In den Jahren 1891 und 1892/93 leitete er die beiden von der Berliner Gesellschaft für Erdkunde ausgerüsteten wissenschaftlichen Expeditionen nach der Westküste Grönlands. Das Ergebnis dieser ebenso erfolgreichen als wichtigen Forschungen legte er in einem ausführlichen, 1898 erschienenen zweibändigen Werk nieder. Die an der geplanten Südpolarexpedition beteiligten wissenschaftlichen und sonstigen Kreise halten die Wahl des jungen und energischen Forschers zum Leiter des Unternehmens für außerordentlich glücklich und Erfolg verheißend.

Vermehrung der Pflanzen im August und September. August und September sind Monate, die bei der Vermehrung unserer Pflanzen reichliche Beschäftigung geben. Es ist die Zeit des Veredelns und Stecklingmachens. Das Veredeln geschieht bei Aepfeln, Birnen, allem Steinobst, vielen Zierbäumen, den Rosen überall durch ????. Durchaus notwendig dabei ist, daß der Wildling im (...???) Edelholz die gehörige Reife besitzt. Ob man mit oder ohne (...???) veredelt, das heißt das Edelauge nur mit der Rinde vom Edelreis losschält, oder ob man es mit einem dünnen Holzstreifen abschneidet, ist dabei ziemlich gleichgültig. Die Veredelungen der Rosen haben im letzten Jahrzehnt vielfach durch ein Insekt, die Okuliermade, zu leiden gehabt, welches die frisch eingesetzten Edelaugen ausfrißt. Wo die Okuliermade auftrat, vermochte man lange Zeit hindurch keine Veredelung groß zu bringen. Neuerdings schützt man sich gegen ihre Vernichtungen, indem man entweder mit starkem Wollfaden die Veredelungen überbindet, oder sie mit Burgunderharz, das in Spiritus flüssig gemacht wurde, dünn überzieht. Letzteres Verfahren ist einfacher und giebt gleichzeitig im Winter einen Schutz gegen Nässe, was sehr vorteilhaft ist.

Die Vermehrung durch Stecklinge geschieht bei allen Teppichbeetpflanzen, den Fuchsien, Pelargonien, Alternantheren, ??? auch bei vielen Gehölzen: Deutzien, Weigelien, Philadelphus etc., deren krautige Spitzen sehr leicht Wurzeln machen, wenn sie in einen Kasten gesteckt werden und hier Schatten und Wärme erhalten. Auffallend rasch geht die Bewurzelung bei warmem Fuß, das heißt dauernd warm gehaltenem Boden, vor sich. Vierzehn Tage sind dann oft zur Bewurzelung hinreichend. Auch durch Aussaat müssen wir auf die Vermehrung vieler Pflanzen im August und September denken: Stiefmütterchen, Vergißmeinnicht, Glockenblume, Rittersporn seien genannt als die bekanntesten aus dieser Gruppe.

Der Schnitt des Formobstes. Während man in früherer Zeit sich hauptsächlich darauf verlegte, den Schnitt des Formobstes im Frühjahr und Spätherbst durchzuführen, wird jetzt mit vollem Recht mehr Wert auf den Schnitt Ende August, Anfang September gelegt. Der Trieb der Bäume hat dann aufgehört. Sie bereiten sich für die nächstjährige Campagne schon vor und bilden ihre Blütenknospen kräftiger aus. Wird zu dieser Zeit nun das überflüssige Holz durch den Schnitt entfernt, dann ziehen die stehenbleibenden Augen daraus natürlich großen Vorteil, schwächer veranlagte können noch kräftiger werden und viele, die bislang noch nicht die Eigenschaften einer Blutenknospe besaßen, diese noch erhalten. Bei senkrechten und wagerechten Schnurenbäumen, Pyramiden und dergleichen bricht man die Seitentriebe über dem zweiten oder dritten Blatte ab, indem man sie einfach über die Klinge biegt. Das Abbrechen soll etwaigen Gelüsten nach neuem Triebe, welchen feuchtwarmes Wetter hervorrufen könnte, entgegentreten, da die Vernarbung und Verschließung der großen Wunde den Zweig längere Zeit beschäftigt als die Vernarbung einer glatten Schnittfläche.

Auch bei Tannen, beim Buchs und beim Lorbeer soll ein Schnitt zu jetziger Zeit, der der Form des Baumes angepaßt ist, die Entwicklung der Augen und damit den nächstjährigen Trieb fördern.

[548 e]


DAS MATTERHORN
Nach dem Gemälde von O. von Kameke

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 18

[549]

Photographie im Verlag der k. privil. Kunstanstalt Piloty & Köhle in München.
Goethe.
Nach dem Oelgemälde von J. K. Stieler. 1828. In der Neuen Pinakothek zu München.

[550]

Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Schluß.)


Herr Doktor Sebold hatte sich die Hinweise seiner Frau gemerkt. Ja, er war der Nächste dazu, seinen alten Freund, den Oberamtmann, darüber aufzuklären, daß ganz Mühlau sich mit der zur Zeit in seinem Hause lebenden Susanne Osterroth beschäftige.

Solche Missionen sind ja immer unangenehm. Aber was thut Freundschaft nicht. Und dann schließlich: gab es wohl in der Stadt irgend ein Ereignis, bei dem Sebold nicht Berater, Mitwisser war? Ja, wenn er hätte sprechen wollen!! Vor ihm brauchte man sich wahrlich nicht zu schämen, er wußte, daß schließlich jeder sein Skelett im Hause hatte.

Unter solchen Vorreden saß er in der Eßstube beim Oberamtmann, und schon fühlte sich die Oberamtmännin gefoltert vor Angst und Neugier.

„Um Gottes willen, so sagen Sie lieber geraderaus: was ist denn los?“ fragte sie.

„Es betrifft Fräulein Susanne,“ sagte er.

„Ach – die –“

Sie war ganz enttäuscht und erleichtert. „Wohl der dumme Klatsch, daß die mit Herrn von Körlegg was haben soll?“

„Sie wissen …“

„Voigtstedt kam gestern damit an. Aber da seien Sie ruhig, lieber Doktor – die kennen sich gar nicht!“

Das wußte Sebold nun besser.

Er erzählte ganz genau, wie gestern abend alles hergegangen: kaum betrat Susanne den Saal, so stürzte Körlegg auf sie zu; offen sagten sie, daß sie sich schon gekannt; bei Tisch drückte er ihr einmal heimlich die Hand, Frau Rechtsanwalt Müller, die gegenüber gesessen, habe es so genau gesehen, daß sie es beschwören könne; beim Cotillon brachte er ihr Blumen; immer stand er und sah ihrem Tanze zu; stets suchten ihre Augen ihn. Außerdem war Sebold heute morgen noch bei Frau Leermann vorgewesen, um es sich bestätigen zu lassen, daß Susanne Osterroth den Leutnant von Körlegg besucht habe; Frau Leermann, unter der Bedingung, daß ihr keine Fatalitäten erwüchsen, gab es zu; wie oft Susanne dagewesen, könne sie nicht sagen, gesehen habe sie sie einmal …

Ein Zweifel war nicht mehr möglich; und das mußte man doch zugeben: wenn es sich dabei um ein ehrliches, anständiges Einvernehmen handele, würde das Fräulein sich dem Oberamtmann schon anvertraut haben, oder Körlegg würde um sie anhalten. Wenn da thatsächlich Heiratspläne vorlägen – dann allerdings nähme er alles zurück. Aber das scheine doch leider nicht.

Weinend sagte die Oberamtmännin:

„Welch eine Schlange hat meine arme, ahnungslose Sabine da am Busen genährt!“

„Hör’ mal,“ sprach der Oberamtmann, „das darfst du nicht so schlankweg sagen. Wer weiß, wie alles zusammenhängt! Und wenn sie sich nun wirklich schon geliebt haben, ehe Körlegg die unselige Sache mit unserem Schwiegersohn hatte, so ist das doch sehr traurig für die jungen Leute.“

„Unser Schwiegersohn war auch Susannens leiblicher Vetter,“ betonte sie stark.

„Nu … wir leben doch nicht in einem Land, wo Blutrache ist!“

„Du nimmst Susannen immer in Schutz. Du hast ein ausgesprochenes Faible für sie!“ rief die Oberamtmännin gereizt, „natürlich – der blonde Haarschopf hat es dir wieder angethan!“

Aus der Tiefe der Zeiten tauchte die Gestalt einer blonden Wirtschafterin auf, der Deuben einmal in die Wangen gekniffen. Das hatte ihn damals viel gekostet.

„Am besten ist es wohl, wir hören mal, was Sabine von der Sache meint,“ sagte er ablenkend.

„Ja, Ihre Frau Tochter, als beste Freundin des Mädchens, müßte eingeweiht sein oder wenigstens Beobachtungen gemacht haben. Gab ihr Susanne nicht einmal dazu Gelegenheit, dann deutete das allerdings auf einen Grund von …“

Sebold zuckte die Achseln.

„Von unerhörter Verderbnis,“ schloß die Oberamtmännin.

„Sabine!“ rief der Oberamtmann aus der Thür.

Seine Stimme scholl durch die ganze Wohnung, das wußte er.

Richtig steckte Sabine auch den Kopf aus der Thür ihres Zimmers und rief über den Flur: „Ja, Papa. Was soll ich?“

„Herkommen. Aber bitte allein.“

Befremdet durch diesen Befehl, der Susannen und die Kinder ausschloß, erschien Sabine.

Sie sah Sebold stehen, das Fenster im Rücken, wie er immer gern stand, den Gesichtern der andern das Licht, seinem eigenen den Schatten lassend.

„Sebold bringt uns unangenehme Nachrichten,“ sagte der Oberamtmann. „Bitte, Doktor, erzählen Sie alles noch einmal genau.“

Und mit klagender Stimme, die Hände bedauernd reibend, fing er von vorn an.

Sabine hörte – unwillkürlich schritt sie näher – nah’ – mit den schleichenden Schritten einer, die sich in rasendem Zorn auf jemand stürzen will. Ihre Finger bogen sich, ihr Atem keuchte.

Vor ihren funkelnden Augen erschrak der salbadernde Mann und versprach sich, verwickelte sich, entschuldigte bei jeder Anklage. Er zog sich zurück, er stotterte, daß es ihm ja selbst sehr leid sei …..

„Welche Gemeinheit!“ schrie Sabine.

Ihre Mutter zitterte.

„Rege dich nicht so auf, mein Kind! Es schadet dir. Ja, es ist gemein von ihr. Deine beste Freundin! Und so hast du sie geliebt,“ sagte sie weinend.

„Unerhört!“ rief Sabine wieder. „Du glaubst es – du glaubst, daß Susanne etwas thun könnte, dessen sie sich zu schämen hätte?“

Sie ging mit großen Schritten und Gebärden im Zimmer hin und her.

„Mit welchem Recht unterstehen diese elenden Klatschbasen sich, das Thun und Lassen ihres Nächsten zu belauern und zu begeifern!“ rief sie in loderndem Zorn. „Kümmere ich mich darum, ob Nachbar Hinz seine Straße rechts und Nachbar Kunz seine Straße links hinaufgeht?! Wie arm, wie klein … o, könnte man sie fassen und strafen! Schlagen möcht’ ich sie. Schlagen!“

Sie blieb stehen, wo sie gerade war, und legte ihre Stirn gegen die Wand. Sie machte den Eindruck einer völlig Fassungslosen.

Der Doktor und die Eltern sahen sie angstvoll an.

„Gewiß, mein Kind, du hast im Princip ja ganz recht,“ begütigte der Oberamtmann, „aber an den Thatsachen können wir nichts ändern. Das ist nun mal in der ganzen Welt so: einer bespricht den andern. Und wer was Ungewöhnliches thut, muß besonders herhalten. Jetzt, in dieser Sache, müssen wir nun doch feststellen, was dran ist. Mir scheint, du weißt nichts davon. Soll’n wir mal Susannen rufen und sie zur Rede stellen?“

Sabine richtete sich wieder auf. Sie strich mit harten Händen ihr Haar aus der Stirn.

„Was geht es dich an, was Susanne thut? Du bist nicht ihr Vormund. Sie ist dein Gast, du darfst sie nicht kränken, indem du ihr den Verdacht aussprichst, sie könne Unweibliches gethan haben!“ sprach sie mühsam.

„Sie ist ein junges Mädchen und steht unter meinem Schutz. Solange sie bei uns ist, ist mein Haus für sie verantwortlich!“ sprach der Oberamtmann ernst.

Er wartete, daß Sabine sich weiter äußern werde.

Aber sie stand mit verschränkten Armen und starrte düster vor sich hin.

Sie würde die Wahrheit sagen! Das war ihr Entschluß! Sofort und gleich würde sie sie ihren Eltern kühn ins Gesicht schleudern. Nur nicht in Gegenwart dieses schleichenden, [551] neugierigen Mannes, der, kaum die Schwelle hinter sich, aller Welt mit rohen Worten von ihrem schmerzlichen, heiligen Geheimnis erzählen würde.

Von dem Geheimnis ihrer großen, unseligen, hoffnungslosen Liebe.

Nein, das um keinen Preis.

Schrecklich schon, daß sie es ihren Eltern sagen mußte. Mit Worten das Unsagbare klarlegen – das, was nur in keuschem Schweigen wahrhaft groß bleiben konnte. So groß, daß es sie noch erhob in all ihrem Elend. – – –

Ihr Vater mußte und würde dann Mittel und Wege finden, der Verleumdung den Mund zu stopfen.

Und hinter diesen Gedanken standen noch andere, quälend, unbestimmt, drohend.

Die Eifersucht regte sich und wollte Sabinens Herz angstvoll umklammern.

Wie – so vertraut, so innig hatten die beiden verkehrt, daß die Gesellschaft Liebende in ihnen zu sehen glaubte …

„Sabine, sollen wir sie rufen?“ fragte die Oberamtmännin.

„Nein. Ich werde erst selbst und allein mit ihr sprechen, wenn Herr Doktor Sebold fort ist!“ sagte sie hart.

„Ich gehe schon, meine beste gnädige Frau,“ beeilte er sich zu sagen. Denn er fühlte wohl: sie wies ihn hinaus.

In diesem Augenblick kam Guste in das Zimmer gestürzt, eine Visitenkarte in der Linken.

„Da ist ’n Offizier draußen. Er möchte mit Ihnen allein sprechen, Herr Oberamtmann,“ sagte sie.

Der Oberamtmann nahm die Karte.

„Es ist Herr von Körlegg,“ sprach er ernst.

Sabine wurde weiß wie der Kalk an der Wand.

Eine kurze Pause entstand.

„Ich lasse bitten. Guste, laß den Herrn ins Wohnzimmer! Na, Adieu, Sebold.“

Er schüttelte dem Doktor die Hand, und der fühlte sich zu sehr „entlassen“, um noch einen Augenblick bleiben zu können.

Der Oberamtmann rückte sich ein bißchen zurecht. Er fühlte, daß er einem wichtigen Augenblick entgegenging.

Hoch richtete er sich auf, in seiner ganzen, schwerfälligen Würde fast imposant anzuseh’n.

„Papa,“ sagte Sabine mit tonloser Flüsterstimme, „laß die Thür auf, daß wir hören können. Nur einen Spalt. Wir rühren uns nicht. Es ist ja kein Geheimnis für uns, wovon die Rede sein wird!“

Er nickte Gewähr und ging mit wuchtigen Schritten in das andere Zimmer.

Ein wahnsinniger Gedanke hatte sich Sabinens bemächtigt. Sie horchte mit allen Sinnen. Ihr war, als könnte sie durch die Mauer sehen und sähe den alten, selbstbewußten, würdigen Mann und ihm gegenüber ernst und nicht minder würdig den jungen. Und er gestand alles. Und er sagte, daß er und Sabine sich liebten, daß er geglaubt habe, des Toten wegen verzichten zu müssen, daß er aber nun eingesehen habe, welches Unheil auch für eine Unschuldige daraus entstanden sei, und daß er nun komme, um Sabinens Hand zu werben – – –

Sie horchte mit gierig vorgeneigtem Leib. Und sie hörte:

„Verzeihen Sie, Herr Oberamtmann, daß ich in Ihr Haus dringe. Sie werden annehmen, daß nur eine außerordentliche Angelegenheit mich bestimmen konnte, Ihnen zuzumuten, mich zu empfangen.“

„Ich bitte Sie, Herr von Körlegg, mich nicht für so kleinlich zu halten, daß ich nicht imstande wäre, den Thäter von der ungewollten That zu trennen. Lassen wir die Vergangenheit.“

Sabine hätte ihren alten Vater küssen mögen für diese verständigen, fast entgegenkommenden, vornehmen Worte.

„Sie haben ohne Zweifel, Herr Oberamtmann, von den geschäftigen Gerüchten gehört, die den Namen des Fräulein Susanne Osterroth mit dem meinen verbinden.“

„Allerdings, Herr Leutnant. Ihr Besuch fällt, wie ich offen sagen will, mitten in unsere Beratung hinein. Wir erwogen, ob wir den Gerüchten Glauben schenken sollten – wir sind dazu gezwungen, sie zu glauben.“

„Diese Gerüchte verbinden Wahrheit und Lügen.“

„Das pflegt so zu sein. Aber schlimm genug, wenn hier überhaupt nur etwas wahr ist.“

„Herr Oberamtmann!“ – Sabine hörte, wie die redende Stimme einen sehr energischen Ton annahm – „Herr Oberamtmann, die Angelegenheit, welche Fräulein Susanne Osterroth einmal in meine Wohnung geführt hat, ist ein absolutes Geheimnis zwischen ihr und mir. Der einzige, dem ich, im Interesse auch des Fräuleins, darüber Rechenschaft abzulegen mich gezwungen fühle, ist Herr Fritz Osterroth. Ein Brief mit den vollständigen Erklärungen an den Onkel und Vormund Fräulein Susannens ist unterwegs.“

Es schien ihren Vater zu reizen, daß Fritz Osterroth in dieser Sache der Vertraute und die Instanz sein sollte, wo man ihn ausschloß. Seine Rede klang erregt: „Daran haben Sie ohne Zweifel sehr recht gethan, Herr von Körlegg. Nur weiß ich dann nicht, weshalb Sie zu mir gekommen sind. Und überdies: Onkel Fritz ist in Berlin. Mag der da zehnmal alles begreifen und verzeihen. Damit ist die Geschichte hier in Mühlau nicht glatt gemacht.“

„Eben deshalb komme ich zu Ihnen. Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Oberamtmann, mir in Ihrer Gegenwart eine kurze Unterredung mit Fräulein Susanne Osterroth zu gewähren.“

„Zu welchem Zweck?“

„Ich möchte um sie anhalten.“

Sabine schrie nicht.

Sie stand erstarrt. Schwarz war es vor ihren Augen. Die ganze Welt ringsum schien von brausenden Glockentönen durchflutet. Die Schallwellen tobten in ihrem Kopf und raubten ihr die Besinnung.

Halb ohnmächtig fiel sie in die Knie und sank mit ihrem Kopf vornüber auf einen Stuhlsitz.

Tödlich erschrocken kauerte die Mutter neben ihr nieder.

Achim nebenan hörte einen dumpfen Ton, und die Dielen zitterten leise. Unwillkürlich richtete er seinen Blick auf die Thür, hinter welcher der Laut und die Erschütterung gewesen zu sein schienen. Diese Thür war nur angelehnt. – – –

Er ahnte, wer da horchen mochte. Und dies Gefühl erleichterte ihm nicht die ohnehin so schwere Stunde.

Um seinen Mund zuckte es herbe.

Der Oberamtmann aber verbarg mit Mühe sein plötzliches, schmunzelndes Behagen. Es that ihm sehr wohl, daß das entscheidendste und wichtigste Wort in der Sache denn doch in seiner autoritativen Gegenwart gesprochen werden sollte.

Mit seinen schweren Schritten ging er hinaus, um Susannen zu holen; er hielt es diesmal nicht für schicklich, über den Flur zu rufen.

Hinten saß Susanne vor Aufregung fiebernd. Man hatte erst Sabinen so sonderbar gerufen. Und dann war eben Lisbeth hereingestürzt gekommen, mit der Flüsterkunde: „Eben ist der Leutnant von Körlegg vorn ’reingelassen!“

Er – was wollte er in diesem Hause? Was ging vor?

Sekundenlang blitzte dieselbe Idee durch ihr Hirn, die Sabinen verwirrt hatte: wenn er doch noch zu Sabine zurückkehrte und jetzt um sie anhielte! – – –

Aber nein, das war unmöglich. Er hatte es so klar, so mit harter Deutlichkeit gesagt: er liebte Sabine nicht! Und er hatte sie auch nie geliebt, wenigstens nicht mit dem Gefühl, das für Susanne Liebe hieß.

„Ich komme, ich komme!“ sagte sie bebend, als der Oberamtmann den Kopf zur Thür hereinsteckte und ihr sagte, daß sie vorn erscheinen müsse.

Ihre Füße trugen sie kaum, schwankend ging sie hinter dem alten Manne.

Bei ihrem Eintritt verbeugte Achim sich sehr feierlich.

Vor Verlegenheit grüßte sie kaum – sie staunte ihn an, und ihre bangen Blicke quälten ihn sehr.

„Herr von Körlegg hat Ihnen etwas zu sagen, mein liebes Kind,“ hob der Oberamtmann an.

„Mir? Mir .....“

Sie faltete die Hände und stand vor Achim wie ein flehendes Kind.

„Mein gnädiges Fräulein!“ sprach er, während seine Mienen in ehernem Ernst zu erstarren schienen, „die Thatsache, daß Sie

[552]

Orientalischer Hahnenkampf.
Nach dem Gemälde von J. Gimenez-Martin.

[553] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [554] mir vor einigen Nachmittagen die Ehre Ihres Besuches schenkten, in einer Angelegenheit, die, wie ich bereits Herrn Oberamtmann gegenüber betonte, durchaus unser Geheimnis ist und bleibt, diese Thatsache ist bekannt geworden, ist häßlich ausgedeutet. Geben Sie mir das offizielle Recht, jeden zur Verantwortung zu ziehen, der an Ihren guten Namen tasten will. Ich nehme mir die höchste Ehre, die sich ein Mann Ihnen gegenüber nehmen kann: ich gestatte mir, mein gnädiges Fräulein, Ihnen meinen Namen, meinen Schutz, mein Leben zu Füßen zu legen. Fräulein Susanne: werden Sie mein Weib!“

Es riß ihn fort. In unerbittlichem Ernst begann er. Die zurechtgelegten Worte kamen wohlgeordnet von seinen Lippen. Und dann quoll eine Erschütterung in ihm auf … seine Augen wurden ihm feucht …

Susanne aber wich von ihm zurück.

„O mein Gott!“ rief sie, „o mein Gott!“

Sie begriff alles, ganz und gar.

Weil ein Dutzend fremder, elender Menschen schlecht von ihr gesprochen hatte, kam er, ritterlich und aufopfernd, und bot ihr seine Hand – – –

Nur darum – nur darum!

Was lag an den Menschen! Was daran, wie die von ihr dachten!

Und korrekt und kalt, einem Ehrgebot folgend, oder einer Aufwallung von Beschützergroßmut, kam er und hielt um sie an.

Ohne Liebe. Ganz ohne Liebe – – –

„O mein Gott!“ stöhnte sie noch einmal.

Für den Oberamtmann hatte diese ihre Aufregung den begreiflichsten Grund. Daß Körlegg so steif und verzweifelt ernst war, fiel ihm nicht auf. Er liebte es selbst, daß es bei feierlichen Anlässen auch feierlich zugehe.

„Trösten Sie sich, mein gutes Kind,“ sagte er voll väterlichen Wohlwollens, „Sie sind nicht die Erste und werden nicht die Letzte sein, die unschuldig in den Mund der Leute kommt. Es klärt sich ja nun alles auf. Wenn Sie sich verloben, ist ja alles gut. Daß junge Liebesleute vor ihrer öffentlichen Verlobung heimlich zu einander laufen, das kommt ja vor. Das haben wir alle gemacht, wie wir jung waren!“

„Ach, das ist mir ganz egal – was die Leute sagen!“ sprach Susanne.

Achim hörte – das war wie ein Klang aus fernen Tagen … gerade dasselbe hatte eine andere auch einst gesagt. War das der kühne, vornehme Mut stolzer Frauenherzen? Oder die Unerfahrenheit des Weibes? …

Der Oberamtmann lächelte nachsichtig.

„Nun, mein liebes Kind – was haben Sie zu antworten?“ mahnte er, „nehmen Sie auf mich und mein Haus keine Rücksicht. Sie stehen meiner Tochter sehr nahe. Aber über Freundschaft geht Liebe. Sie werden meiner Tochter ja nicht abverlangen, sich mit Ihrem Verlobten zu begegnen. Was dazwischen liegt, das wissen wir ja.“

Susanne sah vor sich nieder. Sie hatte nicht den Mut, dem Mann, zu dem sie jetzt sprach, ins Gesicht zu sehen.

Und weinen wollte sie nicht vor ihm, nur das nicht.

„Ich danke Ihnen, Herr von Körlegg,“ sprach sie sehr leise, „aber ich kann Ihren Antrag nicht annehmen!“

„Sie sagen Nein?“ rief der Oberamtmann ganz verdutzt.

Sie neigte das Haupt.

„Ich sage Nein.“

Achim von Körlegg verneigte sich sehr tief, erst vor Susanne, dann vor dem alten Herrn.

An der Thür machte er noch eine dritte, letzte Verbeugung und ging hinaus.

Susanne aber setzte sich an den Tisch, versteckte ihr Gesicht auf ihren auf der Tischplatte verschränkten Armen und fing an zu schluchzen, ganz fassungslos und ganz verzweifelt.

„Was ist denn dies? Was ist das alles?“ fragte der Oberamtmann, sich aus tiefstem Erstaunen aufraffend. Er klopfte ihr väterlich auf die Schultern. „Weinen Sie doch nicht so, mein Kind! Mögen Sie ihn denn nicht?“

„Ach ja – ach ja,“ schluchzte sie.

„Ja, dann versteh’ ich die ganze Geschichte nicht!“ sprach er.

„Nicht fragen – nicht fragen. Ach, ich mag nicht mehr leben!“

Sie weinte fort.

Er stand ratlos. Allerlei Gedanken kamen ihm. Vielleicht konnte Susanne, trotzdem sie den Mann liebte, doch nicht darüber weg, daß er ein Menschenleben vernichtet hatte – noch dazu dasjenige eines ihrer Blutsverwandten. Hm? Das arme Kind! Aber solch’ Gefühl ließ sich verstehen …..

Der alten Klatschbase, dem Sebold, und allen andern Mühlauern wollte er es aber eintränken, daß hier von keinem Leichtsinn und keiner bloßen Liebelei die Rede war. Er hatte es mit seinen eigenen Ohren gehört, daß ein Körlegg alles, was er war und hatte, dem Mädchen zu Füßen legte.

Die Oberamtmännin kam mit verstörten Mienen herein.

„Nun?“ fragte sie, auf die weinende Susanne blickend.

„Sie will nicht!“ Und dazu machte der Oberamtmann heftig abwinkende Gebärden: seine Frau solle nicht mit undelikaten Fragen kommen.

„Bitte, Susanne – wenn es möglich ist – fassen Sie sich – Sabine verlangt nach Ihnen. Guste und ich haben sie nach hinten auf ihr Bett gebracht. Sie wurde mir nebenan ohnmächtig,“ sagte sie.

„Was sind das alles für Geschichten!“ seufzte der Oberamtmann.

Langsam, das Taschentuch vor dem Gesicht, ging Susanne hinaus.

Hinten im Zimmer, auf dem Bett ausgestreckt, gegen das Versiegen der Kräfte gewaltsam ankämpfend, lag Sabine, bleich und matt.

Sie versuchte sich bei Susannens Eintritt ein wenig aufzurichten.

„Was hast du gethan?“ rief sie fieberhaft.

„Nein gesagt!“

„Ach – du konntest nicht anders, nein, du konntest auch nicht anders!“ flüsterte Sabine wie erlöst und sank zurück.

Die andere warf sich über sie, das Gesicht an ihrer Brust, weinend rief sie laut: „Aber ich liebe ihn! Jetzt will ich es dir sagen! Ich liebe ihn, seit ich ihn sah!“

Lange weinte sie fort.

Mit unsicherer Hand tastete Sabine nach dem Haupt der Weinenden.

„Armes Kind!“

Und dann flüsterte sie: „Ich habe mich bezwingen müssen – du mußt es auch!“

Sie vergaß, daß nicht sie sich, sondern daß das Schicksal sie bezwungen hatte.


13.

Nun wollte Susanne keinen Tag mehr dableiben. Sie wollte zu ihrer Mutter, zu Onkel Fritz, und Sabine widerstand nicht.

„Ich hörte ihn sagen, daß er Onkel Fritz alles geschrieben habe. Teile mir mit, was er ihm antwortete – du kannst es sicher erfahren!“ drängte sie. „Und schreibe mir auch, wie es ihm gehen mag, wenn er wieder in Berlin ist; wenn du auch selbst ihn nicht siehst, so kannst du durch Benno von Zeuthern doch immer etwas hören.“

Und als sie Abschied voneinander nahmen, da sagte Sabine das Höchste, was sie sagen konnte, um dem Herzen des treuen Mädchens wohlzuthun: „Dir allein hätte ich ihn gegönnt. Keiner Frau auf der Welt sonst!“

Sie hatte es leicht, sich in diesen Gedanken hineinzusteigern, denn ihre Seele war ruhig in der Gewißheit, daß der geliebte Mann Susannen niemals zu eigen sein werde und nach all diesen Ereignissen auch wohl niemals einer andern.

Susanne schrieb gleich. Sie hatte den „lieben einzigen herrlichen Onkel Fritz“ offen gefragt, was er „ihm“ wohl geantwortet habe.

„Er hat ungefähr folgendes geschrieben: Die Ehre einer Frau stände gottlob höher und fester, als daß der Klatsch sie ihr nehmen könne. Immerhin begreife er, daß Achim, als Offizier und Ehrenmann, mir die Genugthuung eines Antrages glaubte geben zu müssen. Im übrigen sei es ihm erwünscht, einmal eine [555] Unterredung mit Achim zu haben, sobald derselbe wieder in Berlin sei.“

Dies war das letzte Zeichen, das an die stürmische Zeit, die hinter Sabine lag, mahnte.

Dann sank eine große Stille über ihr Leben. Sie wandelte hindurch wie eine, die wachend träumt, an allem nur äußerlich mechanisch teilnehmend.

Das Weihnachtsfest ging so an ihr vorüber. Es blitzte Lichterglanz in ihre Augen. Kinderlachen scholl an ihr Ohr. Breite Festfreude that sich ringsum behäbig gütlich am Wohlleben der Feierzeit. Kirchenglocken hallten durch die Winterluft. Und auf den Fluren lag der stille, weiße Schnee.

Dann kam Reinalds Hochzeit. Wie nah’ war ihr einst dies Fest gegangen, wenn sie es in ihrer Phantasie im voraus erlebte. Dann war es ihr gewesen, als würde die Vermählung des einzigen geliebten Bruders ihre Seele tief erschüttern; heiße Wünsche und Sorgen für sein Glück ließen sie dann schon im voraus Thränen weinen.

Was ging sie dieser behaglich fröhliche, wichtig auftrumpfende Mann eigentlich an, der infolge der Anbetung seiner Braut ein unfehlbarer Sittenrichter geworden war, dem sich der Horizont langsam und ständig mehr eingeengt hatte, so daß er nur noch eine ganz kleine Welt voll zufriedenem Glück und ausschließlich landwirtschaftlichen Interessen einschränkte? Was ging er sie an?! Es war ihr Bruder! Ja.

Aus einer Wiege waren sie entsprossen. Ach, wie man im Leben auseinander wächst! Eigentlich war es zum Weinen.

Aber wozu weinen?

Sabinens Augen waren trocken.

Sie blieben es auch, als auf der Trauung alle Damen in Thränen schwammen und selbst die Herren sich heimlich die Augen wischten.

Warum weinten alle diese Leute? Reinald und Martha gingen ja einem fraglosen, sicher fundamentierten Glück entgegen. Es konnten einmal ein paar Mißernten kommen. Ihre Kinder konnten erkranken, oder sie bekamen keine Kinder und wünschten sich vergebens welche. Die kleinen Opferungen an das Schicksal würden ja auch ihnen nicht erspart bleiben. Aber was war das?

Ach, Alltagsleid und Alltagsglück.

Martha hing nachher an ihrem Halse, rot und gedunsen im Gesicht vom Weinen, und schwor ihr, Reinald glücklich zu machen.

Welch ein überflüssiger Schwur! Diese beiden mußten ja geradezu Kunst aufwenden, sich nicht glücklich zu machen.

Benno von Zeuthern war zu der Hochzeit eingeladen und auch gekommen. Er glaubte, Sabinen diese Rücksicht auf ihre Familie schuldig zu sein. Sie hatte darüber vorher eine kleine, blasse Freude gehabt. Sie konnte ihn nach Achim fragen. Endlich, endlich wieder etwas von ihm hören.

Aber als sie den jungen Schwager vor sich sah, nett, fröhlich, mit lauter Redensarten, die gerade im Regiment aufgekommen waren, da mochte sie den einen Namen doch nicht über ihre Lippen bringen.

Und der Schwager wunderte sich nicht wenig, Sabine so schweigsam, so drückend ernst und so abgemagert zu finden. So ganz heimlich hatte er früher seine Gedanken über seines Bruders Ehe gehabt, die er nicht für glücklich hielt. Und nun schien es, als verzehre sich Sabine im stummen Gram?! Das genierte ihn beinah’. Denn er hatte seinen Bruder schon längst verschmerzt. Aber die Witwe – na, das war am Ende ja auch was anderes.

Nach Reinalds Hochzeit ging die Zeit in ungestörter Ordnung weiter. Alle vierzehn Tage, Sonntags, aßen Reinald und Martha in Mühlau bei den Eltern. Es wurde dann vom Wirtschaftsbetrieb, der Küche und den Leuten auf Heinsdorf gesprochen. Sabine war naturgemäß von der Unterhaltung ausgeschlossen.

Ich bin ein fremder Gast am Tische meiner Eltern, dachte sie. Zuweilen regte sich im Untergrund der Seele ihr ein Gefühl, das mahnend fragen wollte: Liegt es nicht an dir? Was nicht in den Dingen ist, kann man hineintragen. Und trägst du höheren Gehalt hinein in deine Umgebung – mit jenem leisen, feinen Wirken, dessen eine kluge Frau fähig sein sollte? Thust du das?

Ich will nicht, antwortete sie trotzig der mahnenden Stimme.

Nein, sie wollte nichts. Kein Leben, keine Freude, kein Vergessen. Sie wollte leiden!

Jeden Tag stand sie vor ihrem Wandkalender und sah die Stelle an, wo der erste März verzeichnet stand. Das war der Erlösungstag. Dann würde sie, so war es ja schon im November bei ihrer Rückkehr aus Italien bestimmt, nach Berlin reisen.

Sie war zu erschlafft in ihrem brütenden Leid, um selbst Briefe zu schreiben. Das Rot stieg ihr in die Wangen, wenn sie daran dachte, daß sie dem alten Herrn wohl einmal schreiben müsse. Aber er, der alles verstand, würde auch ihr Schweigen verstehen.

An Susanne ging zuweilen eine Karte ab. Gewöhnlich stand nur darauf: ich habe deinen Brief empfangen, schreibe bald wieder.

Und Susanne schrieb oft. Gierig durchforschte Sabine die Zeilen nach dem einen Namen. Er kam nicht vor. Susanne hatte ihr fest versprochen gehabt, ihr von ihm zu berichten, sobald sie nur von ihm höre, oder ihn von weitem sähe, was ja immer im Schauspiel- oder Opernhaus noch am ehesten möglich sein konnte. Demnach sah sie ihn nie. Berlin war ja auch zu groß. Dort konnte man jahrelang leben, ohne einen Bekannten zu treffen.

Was aber Sabine nicht begriff, das war der lebensfrohe Ton in den Briefen der Freundin. Susanne schrieb befriedigt von ihren Studien; zum Ostertermin hatte sie sogar schon eine Stellung, worüber Onkel Fritz beinahe böse sei, und die Donnerstagabende bei Onkel Fritz seien immer bezaubernd.

Sie liebt nicht so wie ich, dachte Sabine dann. Oft aber war noch ein großes Erstaunen in ihr, daß Susanne Achims Antrag abgewiesen. Erst lange nachher, als Susanne schon wieder in Berlin war, begriff Sabine plötzlich, daß das eine furchtbare Versuchung gewesen war: Susanne liebte ihn und sagte dennoch Nein!

Gewiß, er hielt nur aus äußeren Gründen um sie an, nicht aus innerstem Herzenszwang. Aber konnte Susanne nicht hoffen, sich als Frau sein Herz noch zu erobern? Zitternd fragte sich Sabine, wie sie in solcher Lage gehandelt haben würde, und – wagte nicht, sich die Frage zu beantworten.

Wie sehr auch die Tage schlichen, endlich kamen sie doch bis an den ersten März.

Eigentlich ließen der Oberamtmann und seine Frau Sabine auch jetzt ungern reisen. Sie gefiel ihnen noch immer nicht. Die Eisenpillen, die Sebold ihr verordnet hatte und die sonst großartig wirkten, waren bei ihr ohne Erfolg geblieben. Sicherlich, dies alte Berlin würde ihr schaden.

Ueber die kahlen, vom aufgetauten Schnee nassen und schwarzen Felder brauste ein kräftiger Sturm. Sabine sah vom Coupéfenster aus, wie die Gipfel einzelstehender kahler Bäume niedergestrichen wurden. Alles, was vom Erdboden aufragte, schien eine Richtung nach Osten bekommen zu haben. Am Himmel jagten vor einem grellen, silbergrauen Lichtgrund regenschwere, dunkle Wolken dahin.

Gegen die vierte Stunde kam Sabine in Berlin an. Gleich sah sie den alten Herrn stehen. Vor Freude wurden ihr die Augen naß. Sie eilte ihm entgegen und nahm dankbar die schönen Rosen aus seiner Hand.

„Wo ist denn Susanne?“ fragte sie.

„Beschäftigt. Sie kommt später zu mir, um ihre liebe Sabine zu begrüßen.“

Er reichte ihr den Arm und führte sie hinab an einen Wagen.

Es war ihr lieb, daß er erst noch allerlei mit ihrem Gepäck zu thun hatte. Sie fühlte sich doch ein wenig beklemmt. Was sollten sie zusammen sprechen? Was vermeiden, was berühren?

Zu viel war geschehen, als daß sie noch mit Schweigen über das Vergangene hinwegzugehen vermochten.

Aber der alte Herr schien keine verlegenen und befangenen Gedanken zu kennen. Er war so lebhaft, ja geradezu munter, wie Sabine ihn noch nie gesehen hatte.

Während ihr Wagen vom Anhalter Bahnhof durch die Königgrätzer und Potsdamer Straße fuhr, drückte er ihr nur wiederholt herzlich die Hand.

Aber dann, als sie in die stillere Königin Augusta-Straße bogen und am Kanal entlang kamen, sagte er gleich:

„Während dieser langen Zeit, liebe Sabine, die ich Sie entbehren mußte, ist mir doch klar geworden, daß Ihre Eltern, sie mögen nun wollen oder nicht, Sie und Ihre Kleinen mir alljährlich einige Monate gönnen müssen. Schließlich, Sie sind ja [556] Ihr eigener Herr und mündig genug. Und ich denke auch so: Ihre Eltern werden gut daran haben. Jetzt haben sie eine Tochter, die sich müde flattert wie ein Vogel an den Käfigstäben des dortigen Lebens, der Verhältnisse. Später werden sie eine haben, die mit frischer Anregung und neugestählten Kräften immer gern wiederkehrt, liebe Pflichten freudig zu erfüllen. Was meinen Sie?“

Mit einem melancholischen Lächeln sprach sie: „Wie gern. Wenn Sie glauben, daß ich je wieder frisch werden kann – je wieder mit Mut das Leben zu tragen vermöchte …“

„O ja. Mit dem stolzen Mut des Ueberwinders!“ rief er.

Sie schüttelte den Kopf, bitter zuckte es um ihren Mund.

Er sah sie herzlich an. Aber er schwieg.

Sie kamen über die Herkulesbrücke.

„Da sind wir gleich. Haben Sie Nachsicht mit meiner Wohnung und mit meiner alten Meyerwisch. Sie wissen, wir wohnen erst seit zwei Jahren in Berlin, und die gute Frau hat ein wenig die Manieren einer ländlichen Schloßverwalterin behalten. Für meinen schönen stolzen Gast paßt das wenig!“

„Aber ich bitte Sie,“ sagte Sabine verlegen, „Sie kennen doch die bescheidenen Formen, in denen meine Eltern zu leben lieben!“

„Ja, ja. Aber da wandeln Sie immer ein bißchen herum wie eine verkleidete Fürstin,“ scherzte er.

„Thue ich das?“ fragte sie bestürzt. In seinem Scherz schien ihr eine Mahnung zu stecken …

Der Wagen hielt vor einem kleinen eleganten Hause, das nur vier Fenster im ersten Stock aufwies und im Erdgeschoß deren drei neben einer Hausthür. Auch hatte das Haus nur zwei Stockwerke.

„Oben bin ich Alleinherrscher,“ erklärte er, „unten wohnt die Eigentümerin des Hauses, ein altes Fräulein, das mich für einen leichtsinnigen Jüngling hält, woraus Sie auf ihren Taufschein schließen mögen, Und da meine Meyerwisch auch schon längst ihre fünfzig mit Ehren trägt, bekommen wir mit Ihnen so viel Jugend ins Haus, wie diese Mauern lange nicht sahen.“

Oben empfing Frau Meyerwisch schon auf der Treppe den Gast mit freudigen Lamentationen.

„Nein, daß die liebe gnädige Frau endlich da sind! Den ganzen Winter haben wir von nichts anderem gesprochen. Meyerwisch, sagte der Herr, wenn die gnädige Frau da ist, machen wir dies, wenn die gnädige Frau kommt, thun wir das!“

„Wollen Sie wohl schweigen! Nach solchen Reden wird die gnädige Frau mehr von uns erwarten, als wir ihr bieten können,“ sagte der alte Herr. „Und nun, liebe Sabine, vertrauen Sie sich der Führung dieser, wie sie bemerken, etwas aufschneiderischen Dame Meyerwisch an!“

„Die Fremdenzimmer sind oben neben meiner Stube,“ sprach die Frau, „wenn ich also bitten darf …“

Sie ging voran und sah sich dabei manchmal nach Sabine um, wie man sonst wohl als Pfadfinder sich vergewissert, ob der Weggenosse auch folge.

Frau Meyerwisch war groß und alles in ihren Zügen war groß: die fleischigen Wangen, die breite Stirn, die runden, braunen Kirschenaugen. Nur das feine Falkennäschen stand so fremd in dem Gesicht.

Und so war es auch mit ihrem Anzug bestellt. Zu einem würdigen, schweren schwarzen Wollkleid, dessen Schnitt von jeder Mode unabhängig schien, trug sie eine kleine schwarze Atlasschürze, die mit einem schwarzen Kreppvolant verziert war, auf welchem sich Rosen und Vergißmeinnicht in frühlingsfrohen Farben rankten.

Oben fand Sabine ein Zimmer, das so reizvoll ausgestattet war, daß ihr der Verdacht kommen mußte, der alte Herr habe erst ihretwegen diese heiteren grün-weißen Stoffe, die weißen zierlichen Möbel angeschafft.

„In einer halben Stunde bitte ich zu Tische,“ sagte die Frau, nachdem sie sich in freundlich eifrigen Fragen erschöpft hatte, ob auch alles so recht sei.

Zum erstenmal seit Monaten zog Sabine sich mit dem Bemühen an, gefällig und vorteilhaft auszusehen. Sie wußte, der alte Herr hatte ein Auge dafür.

Eigentlich hatte sie gedacht, daß sie niemals wieder ein Interesse daran haben würde, sich im Spiegel zu betrachten, ob auch ihr Anzug wohl geraten sei. Bei Tische fand sie sich dem alten Herrn allein gegenüber; ein Diener servierte.

„Ißt Frau Meyerwisch nicht mit uns?“ fragte sie.

„Sonst ja, wenn es Ihnen genehm ist. Heute bestand sie darauf, uns allein zu lassen.“

Von den beiden großen Zimmern, die Onkel Fritz’ Wohnung darstellten, war Sabine entzückt. Beide gingen auf die Straße, das eine diente zum Speisen. Und beide waren mit Kunstwerken aller Art harmonisch ausgestattet.

Obgleich es erst halb Sechs sein konnte, herrschte schon beinahe Dämmerung. Die kahlen Lindenwipfel der Kanaluferallee mochten das Licht nehmen, auch hingen dunkelfarbige Gardinen an den Fenstern.

Sabine war froh, daß der alte Herr Beleuchtung befahl. So lange sich hinzögernde Dämmerstunden beklemmten ihr die Seele. Auch schien es ihr, als sei er wieder in seine gewohnte Schweigsamkeit zurückgefallen, die immer so etwas Bedeutungsvolles hatte.

Vielleicht liebt er es auch nicht, dachte sie, sich in Gegenwart des Dieners eingehend zu unterhalten.

Sabine bildete sich ein, daß er sie manchmal sorgenvoll ansähe. Er legte auch zuweilen die Finger der Linken gegen seine Schläfe. Das war bei ihm ein Zeichen innerer Unruhe.

Was mochte er haben?

Sie wurde sehr nervös. Ein qualvolles Vorgefühl bemächtigte sich ihrer. Sie bildete sich ein, es warte etwas auf sie. Das Schicksal sei im Begriff, einen neuen vernichtenden Schlag gegen sie zu führen – –

Vielleicht war auch alles nur Einbildung – Stimmung – –

Sie fühlte sich erlöst, als die Tischzeit zu Ende ging und der alte Herr sie bat, mit in den Salon zu treten.

„Wo aber nur Susanne bleibt?“ fragte Sabine beinahe ärgerlich.

„Sie wird kommen, gewiß,“ versicherte er. Er führte sie zu einem besonders gemütlichen Eckplatz, wo man in tiefen Lehnstühlen um ein rundes Tischchen sitzen konnte und gerade den Blick auf ein großes, altes Oelgemälde hatte, von dem man beim Lampenschein zwar wenig zu erkennen vermochte, das aber als wohlthuender ruhiger Farbenfleck schön wirkte.

Nur um etwas zu sprechen, fragte Sabine nach dem Meister und nach der Erwerbungsgeschichte. Onkel Fritz erzählte sonst gern, wie und wo er so nach und nach seine Schätze gesammelt hatte. Aber heute schien er doch sehr zerstreut, horchte nach draußen, und wenn einmal die Glocke der Wohnungsthür anschlug, schwieg er erwartend.

Und einmal, bald nachdem der Glockenton erklang, steckte Frau Meyerwisch den Kopf zur Thür herein und nickte.

Der alte Herr erhob sich rasch und schien diese stumme Benachrichtigung zu verstehen. Er ging hinaus.

Sabine war es, als ob nebenan im Eßzimmer hinter der Portiere dann geflüstert würde. Aber sie konnte sich auch getäuscht haben, denn Onkel Fritz kam nicht daher, sondern vom Flur wieder ins Zimmer zurück. Er schien sehr blaß.

„Ich störe Sie,“ sagte Sabine rasch, „Sie sind irgendwie beansprucht? – Ich bitte, ganz ungeniert zu sein, sonst würde es mich bedrücken.“

Er setzte sich zu ihr. Er nahm ihre Hand.

„Nein, mein teures Kind!“ begann er herzlich. „Sie sind an Ihrem rechten Platz und sind es zur rechten Stunde. Ich habe Ihnen etwas zu sagen!“

„Mir …?“ brachte Sabine heraus.

Ihre Gedanken irrten umher: was? was?

„Gestatten Sie mir, zu Ihnen von Achim von Körlegg und der Vergangenheit zu sprechen?“ fragte er leise.

„Wenn es sein muß!“ sagte sie und begann heftiger zu atmen.

„Ja,“ fuhr er mit sanfter, trauriger Stimme fort, „es muß sein. Dies eine Mal muß es sein. Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.“

Er kam nicht weiter. Mit klammernder Hand packte sie seinen Arm an. Ihre dunklen Augen sahen ihm flammend ins Gesicht. „Er ist tot!“ keuchte sie.

[557]

Nach einer Aufnahme von W. Tirschthaler in Berlin.

Der neue Dom zu Berlin.
Die Nordfront mit der Grabkapelle der Hohenzollern.

[558] „Aber nein – mein liebes Kind! Welch ein Gedanke!“ sprach er.

„Ah ...“ Erleichtert, beruhigt seufzte sie auf. Ihre verzerrten Züge ebneten sich, ihre Hand fiel herab.

„Nicht wahr – das hätte Sie und uns alle, die wir ihn schätzen, hart getroffen? Auch Sie, ich weiß es, wünschen wie wir ihm Leben und – – Glück.“

„Glück?“ murmelte Sabine. Der alte Herr hatte das Wort so zögernd, so sonderbar gesprochen ….

„Ja, das Glück einer Ehe, die auf dem Fundament reinster Neigung, der völligen Zusammengehörigkeit zweier Charaktere beruht. Ein Weib, das ihn liebt, ehrt und versteht. Das seiner etwas schwergrüblerischen Art heitersten Lebensmut beigesellt.“

„Wie sollte er ein solches Weib finden?“ sprach sie tonlos.

Eine furchtbare Ahnung stieg langsam und mit grausamer Drohung vor ihr auf. Aber sie wollte nicht glauben … Und sie wollte auch Haltung bewahren …. stolze Haltung – lieber Verachtung zeigen als Gram …. lieber schlagen als wieder und immer wieder geschlagen werden.

„Er hat es gefunden!“ sagte der alte Herr langsam.

Sie saß wie von Stein.

„Achim ist seit vierzehn Tagen mit Susanne verlobt. Sie wollen der Welt erst ihr Glück zeigen, wenn es Ihren Segen, teure Sabine, erhalten hat,“ vollendete er.

Sie schwieg, sie rührte sich nicht. Sie sah vor sich hin mit starren, blöden Blicken.

„Mein Kind,“ rief der alte Mann, dem das Weh das Gemüt durchzitterte, „weinen Sie! Schreien Sie! Ich weine mit Ihnen. Besinnen Sie sich! Es ist eine Thatsache, auf die Sie immer einmal gefaßt sein mußten. Sie und Er – Sie konnten nicht zusammenkommen – nie! Das wußten Sie doch!“

Er nahm ihre Hand. Sie war kalt.

Schwer klopfte ihm das Herz, und eine große Angst erwuchs in ihm. Wenn sie nur nicht so still und starr und bleich dasitzen wollte … Wenn er doch ihre Thränen hervorlocken könnte! Wenn der Mosesstab doch sein wäre, diesen heiligen Quell fließen zu lassen, der das sengendste Leid kühlt!

Er neigte sich zu ihr.

„Sabine,“ sprach er, „soll ich Ihnen erzählen, wie es ward?“

Sie nickte nicht.

Aber er dachte: Vielleicht hört sie es doch. Und er nahm ihre Hand wärmer noch und inniger zwischen seine beiden. Seine Blicke, feucht von einer unendlichen Zärtlichkeit, innig von einer reinen Güte, hefteten sich eindringlich auf ihr lebloses Angesicht.

„Als er mir damals schrieb, er würde ihre Hand begehren, da, mein liebes Kind, da war ich ganz gefaßt darauf, die Nachricht zu bekommen, daß Susanne ihm jubelnd um den Hals gefallen sei. Es wäre vielleicht nicht sehr stolz gewesen. Vielleicht auch nicht sehr klug. Aber doch sehr menschlich und verzeihlich. Denn sie liebte ihn! Das hatte ich schon gemerkt von der ersten Begegnung her. Das lautere Herz meiner Susanne habe ich gekannt und beobachtet, seit ihren frühesten Kindheitstagen. Wie hätte mir die erste Beunruhigung dieses Herzens entgehen sollen!“

Sabine gab kein Zeichen, daß sie höre.

Er aber sprach fort. Er fühlte, daß Gerechtigkeit und Notwendigkeit ihn zwangen, zu sprechen.

„Lassen Sie mich es Ihnen frei eingestehen: daß dies tapfere, gesunde, ehrliche Kind den Mut und den Takt gehabt hat, so ohne Besinnen, so ohne Kampf und nachträgliche Reue Nein zu sagen, das hat meine Liebe zu ihr erhöht. Ich ließ mir dies ‚Nein‘ nachher von ihr begründen. ‚Onkel,‘ sagte sie, ‚wenn er mich liebte, so wie ich ihn, dann hätte ich Ja gesagt. Dann mußte ich Ja sagen, denn zweier Menschen Lebensglück durfte nicht aufgegeben werden, weil vielleicht die arme Sabine noch mehr gelitten hätte. Aber da er nicht aus Liebe um mich warb, mußte ich wohl Nein sagen – auf mein Glück allein kam es nicht an.‘ Nicht wahr, Sabine, das war eine gerade und gute Empfindung?“

Ihm schien’s, als zuckte die kalte Hand zwischen seinen umschließenden Fingern.

„Das waren nun Susannens Ansichten von der Sache, und ich erfuhr sie unter Thränen. Ach, diese jungen, leichtfließenden Thränen der Jugend, die selbst im schwersten Gram noch unbewußt in tausend Hoffnungen steckt! Auch ich hatte meine Ansicht von der Sache gewonnen, und zwar aus Achims Brief. Ich fühlte, daß auch in seinem Herzen eine noch zaghafte, aber unabweisbare Stimme für meine Susanne sprach. Ich sah zwei junge, mir teure Menschen, wie füreinander von der Natur bestimmt! Und ich sollte nicht das meine dazu thun, sie zusammenzuführen? Ja, meine teure Sabine, ich habe es gethan. Ich habe ihr und ihm vorgeredet, daß man sich nicht zu meiden braucht, nach solchem Antrag und solchem Korb. Ich habe sie zusammen eingeladen und meine innige Freude gehabt, wie die zarten Keime wuchsen, wie die zaghaften Stimmen lauter sprachen und wie endlich die innige Erkenntnis: ‚Wir gehören zusammen für Leben und Tod!‘ ihnen leuchtend aus den Augen brach. Und wenn ich Ihrer gedachte, liebe Sabine – und wann wäre eine Stunde vergangen, ohne daß ich nicht Ihrer gedacht? – dann sagte ich mir: Sie sind groß und gut! Und so werden Sie sich bewähren, auch diesem Bunde gegenüber. Susanne aber will sich ihres Glücks nicht freuen ohne Ihren Segenswunsch.“

Ein zitternder Seufzer kam von Sabinens Lippen. Das erste Lebenszeichen. Und es schien, als spräche sie etwas. Unhörbar …. Ihre Lippen bewegten sich. Ein bitteres Lächeln blieb auf ihnen zurück.

Er aber streichelte ihr liebevoll die Hände und sah sie immerfort an. Mit geduldigem Herzen wartete er. Er kannte den Schmerz. Er hatte in stillen Leiden gestanden, seit vielen, vielen Jahren. Er sah es … sie war wie betäubt von dem Schlage …

Wenn sie nur nicht daran zu Grunde gehen wollte! Nur ein bißchen Kraft und Stolz heraus retten aus dem Jammer dieser Stunde … Dann traute er sich’s schon zu, mit schonenden, geduldigen, leisen Händen sie langsam wieder aufzurichten ….

„Mit … Susanne …,“ kam es jetzt heiser aus ihrem Munde. Es war wie eine Frage. Wie ein Laut noch völligen Unglaubens.

„Mein Kind,“ begann der alte Mann fast feierlich, „es mag Ihnen als etwas Unbegreifliches scheinen: nach dem hohen, rasenden Flug der Leidenschaft, die sonnenwärts fuhr und sich die Flügel brach, nun den Mann sich zu denken als einen, der gleichsam durch friedliche Blütengärten wandelt. Sie sahen sich ergriffen von einer überlebensgroßen Liebe und verloren die fühlende Verbindung mit dem bürgerlichen Dasein. Ach! mein liebes Kind: es giebt nichts Ueberlebensgroßes zu zweien, im Gedränge der Wirklichkeit! Wer so fühlt, wie Ihnen ein Gott gab, empfinden zu können, der steht einsam! Sehr einsam, und ist vielleicht verurteilt, es für immer zu bleiben.“

Seine Stimme schien zu brechen. Sein Auge war naß.

Nie Vergessenes trat vor ihn hin. Himmelstürmende Freuden und Leiden vergangener Jahre erschütterten ihn neu.

Hier war eine, die litt, wie er einst gelitten, die staunte, wie er einst gestaunt – – – Und diese Eine hatte in den Winter seines alten Herzens noch einmal ein keusches, verborgenes Leben zurückgebracht ……

„Wir alle, meine Sabine, wir alle sind nur Menschen! Auch er, den Sie so sehr geliebt, war nur ein Mensch. Nicht kühn und hart genug, um über Gräber zu schreiten! Nicht kalt und eisern genug, die Schönheit zu fliehen, die mit tausend Zaubern der Liebe in seinen Weg sich stellte. Aber daß er nicht so hart und daß er nicht so kühn war, ehrt sein Herz. Und daß er nicht kalt und nicht eisern war – wer will ihn deswegen richten?! Er war ein Mensch von Fleisch und Blut! – Und Sie selbst, mein Kind, haben nicht auch Sie sehr menschlich gehandelt?! Und glauben Sie, wenn sich wirklich Ihre Wünsche erfüllt, wenn Sie den so leidenschaftlich Geliebten für immer sich zu eigen gewonnen hätten, daß Sie ein wahres Glück mit ihm finden konnten?! Auf den wilden Sturmesflügeln der Leidenschaft kann man nicht zu zweien durch dies Leben rasen. Ihr Wesen ist Unruhe, ihre Macht zu herrisch, ihr Atem kurz!“

Er schwieg. Er wartete wieder. Was er sagen konnte, es war gesagt.

Als sie zum zweitenmal seufzte, war es wie ein Erwachen. Sie entzog ihm die Hände und bewegte sie unruhig, gleichsam suchend auf ihrer Brust, auf ihrem Herzen.

Dann stieß sie den Tisch zurück und machte den Versuch, aufzustehen. Der alte Mann half ihr sanft.

[559] Sie stand und sah ihn an …. wie weh ihm der entgeisterte Blick that.

Da rührte es sich – die Falten des Thürvorhanges thaten sich auseinander, Susanne kam herein.

Die andere schrie auf. „Nein! Nein! Nein ...“

Aber schon war das Mädchen ihr nahe und schlang beide Arme um die Widerstrebende.

Ihr Gesicht war thränenüberströmt, mit flehenden Augen schaute sie Sabine an. „Ich kann nicht mehr warten!“ rief sie, „ich kann nicht mehr! Ich sollte erst kommen, wenn ich gerufen würde. Auf den Knien habe ich da drinnen gelegen und gewartet. Sabine, verzeih’ mir – aber siehst du, ich liebe ihn so sehr! Ich kann nicht von ihm lassen. Und auch er – siehst du – auch er nicht von mir. Wir haben uns lieb, Sabine. Wir gehören zusammen. Sage mir’s, daß du mir nicht zürnst, daß du uns nicht hassen willst! Das wäre wie ein Fluch. Wir wagten nicht glücklich zu sein!“

Sabine stieß sie von sich. Ihre Augen blitzten. Ihr ganzes Wesen bäumte sich auf in der alten, ungebrochenen Kraft ihrer leidenschaftlichen Natur. Sie rief:

„Das kannst du?! Das? Ihn heiraten – glücklich sein?! Und sagst, daß du mich lieb hast?! Und trittst Freundschaft und Liebe mit Füßen! Ueber mich hinweg willst du gehen … zu ihm, zu ihm? O mein Gott –“

Aber da flammte auch Susanne auf.

„Und was wolltest du?!“ fragte sie trotzig entgegen. „Ueber das Grab deines Mannes, über das Vorurteil der Welt, über das Herz deiner Eltern, ja über deine eigenen Kinder hinweg wärest du geschritten, in seine Arme. In meinem Weg’ steh’n keine solchen Hindernisse. Da stehst nur du! Und du hast kein Recht und keine Hoffnung – auch wenn ich nicht wäre. Sollen wir beide unglücklich sein, er und ich – nur deinetwegen … “

Da ging ein Zucken und Zittern durch die Gestalt der unglücklichen Frau.

„Meine liebe Tochter!“ sagte der alte Mann sanft und trat zu ihr, seinen Arm um ihre Schultern legend.

Sabine schloß die Augen. Ihr war, als müsse sie sich wehren, das nicht zu sehen, was drohend vor sie hinzutreten schien.

War es nicht das Schicksal, das kam und sagte: Mit denselben Waffen, mit denen du mich bezwingen wolltest, komme ich und besiege dich!

Rücksichtslos vorwärts getrieben von der Gewalt der Liebe, war sie bereit gewesen, sich zu ihrem Ziel emporzukämpfen – selbst über Leichen … Wenn er nicht ihr in den Arm gefallen wäre und gerufen hätte: Nein!

Und nun wollte sie an dieser richten und hassen, was sie selbst in hundertfach blinderer Selbstsucht zu thun bereit gewesen war ….

Schon bereute Susanne die hart mahnenden Worte.

Sie glitt neben der anderen nieder und umklammerte mit beiden Armen ihren Leib. „Sabine,“ flehte sie, „vergiß, was ich eben sagte! Ach, wir wollen doch keinen Unfrieden! Ich weiß es ja, du bist groß und gut und gerecht! Und einst hast du es mir gesagt: mir allein gönntest du ihn vor allen Frauen auf der Welt. Hast du es nur gesagt, weil du dachtest, er würde niemals mein? Sieh’, hier liege ich und bettle …“

Sabine stand und sah in unbestimmte Fernen hinaus ….

Ihre Zukunft lag vor ihr ausgebreitet ….

Was würde sie sein in dieser Zukunft?

Eine gute, liebende Mutter – eine bessere und liebevollere gewiß als vordem; eine treue, aufopfernde Tochter – hingebender und geduldiger als vordem.

Und doch: das Tiefste und Geheimste in ihrem Wesen würde einem ungehobenen Schatze gleichen. Es war wie ein Acker, von dem niemand Frucht begehrt. Alle Fragen, die das Weib an das Leben hat – sie würden unbeantwortet bleiben. Alles Sehnen ihrer Seele nach einer anderen Seele, der ihren zum Genossen gesellt – es würde ungestillt bleiben!

Wie bei tausend und aber tausend Frauen. Sie war nur eine mehr! Nur eine mehr?

Nein, sie war reicher als Tausende …. Eine große Leidenschaft war leuchtend durch ihr Leben gegangen und hatte ihre Seele erhoben, auf den Thron eines königlichen Glücks …

Sabine richtete sich stolz auf. Ein wunderbarer Glanz ging über ihr Angesicht. Sie fühlte es tief: es war wert, zu leben und zu leiden, wenn man liebte wie sie …

Ihre tastenden Hände suchten den blonden Kopf, der noch immer flehend zu ihr emporgerichtet war.

Mühsam, mit kalten Fingern, strich sie dem Mädchen das Haar aus der heißen Stirn und sah ihr lange, lange tief in die Augen.

Und dann, ein Lächeln erzwingend, das schmerzlich um ihre Lippen ging, sprach sie tonlos:

„Mache ihn glücklich … sehr, sehr glücklich …“

Ihre Stimme brach. Sie neigte das Haupt auf die Schulter des alten Mannes.

Und während ihre Thränen flössen, bedeckte Susanne in stillem Jubel die arme, liebe, blasse Hand mit Küssen.

Ihr war, als habe sie aus dieser Hand nun erst wirklich ihr Glück empfangen.




Der neue Dom zu Berlin.

Von Gundakkar Klaussen.
(Zu dem Bilde S. 557.)

Langsam und stetig reift der gewaltige Monumentalbau des neuen Berliner Doms seiner Vollendung entgegen. Außen sind die Baurüstungen gefallen, und obwohl noch Zäune und Buden das stolze Haus zum Teil verdecken, so ist doch das Aeußere im wesentlichen fertig und gewährt schon einen leidlichen Gesamteindruck. Unser Bild ist von der Gegend des Bahnhofs Börse aufgenommen und giebt einen Blick auf die Nordfront mit der Grabkapelle der Hohenzollern. Die Hauptfassade sieht nach Westen gegen den Lustgarten. Hier ist dem mächtigen Kuppelbau eine große, offene Säulenhalle vorgelegt von 84 m Länge, während die Gesamtlänge des Baues 114 m und seine größte Tiefe 73 m betrügt. An den Enden der Vorhalle erheben sich die beiden auf unserm Bilde rechts sichtbaren Türme, welche zur Aufnahme der Glocken bestimmt sind. Der figürliche und dekorative Schmuck, der an dem ganzen Gebäude nicht gespart ist, tritt auf dieser Seite ganz besonders hervor. Ueber dem Hauptportal steht Christus, von Schaper modelliert. Den Sims zieren die Gestalten der Apostel von Pfannschmidt, Calandrelli, Herter, Manzel, Brütt, Vogel und Baumbach. Trotz des Hochrenaissancecharakters, in dem das ganze Werk gehalten ist, verleugnet sich gerade in den Statuen der unserer Zeit innewohnende Zug ins Barocke nicht. Ebenso wie die Glockentürme und die beiden Türme nach der Spree zu, von denen man auf unserm Bilde nur den einen sieht, ist auch die große Kuppel mit Kupfer eingedeckt, an dem die Vergoldung nur in bescheidenstem Maße angebracht ist. Vorläufig wirken die großen rotbraunen Flächen nicht besonders schön, allein man rechnet mit der grünen Patinierung, die sich bilden soll.

In ihrer vom Kreuz überragten Laternenspitze erreicht die Kuppel die stattliche Höhe von 105 m. Die kolossalen Wetterfahnen auf den Türmen, welche unsere Leser auf S. 322 dieses Jahrganges in Wort und Bild beschrieben finden, mußten wegen ihrer ungeheuren Schwere auf Rollenlager gesetzt werden, ein Verfahren, das zu diesem Zweck hier zum erstenmal Anwendung gefunden hat.

Die Kuppel wölbt sich über den Mittelbau, die eigentliche Haupt- und Predigtkirche. Nach Süden zu ist ihr die saalförmige Tauf- und Traukirche vorgelagert mit einem Zugang von der Schloßseite her. Hier ist auch der allgemeine Eingang für den kaiserlichen Hof vorgesehen. Zwei Statuen von Lessing, Hoffnung und Liebe, schmücken diese Front. Auf der Wasserseite stehen Johannes der Täufer von Vogel und Moses von Janensch. Hier haben in Wandnischen auch die beiden Kupferstatuen aus dem alten Dom ihren Platz gefunden. Die Nordseite der Anlage bildet die ebenfalls mit Kupfer eingedeckte auf unserm Bilde deutlich sichtbare Grabkirche der Hohenzollern. Ihren Haupteingang hat sie unter dem Nordturm der Vorhalle. Gleich rechts von diesem Eingang wird der vom Kaiser geplante Bismarcksarkophag seine Aufstellung finden. Die mittelste Kapelle, deren Fenster und Giebel auf unserm Bilde erscheinen, ist vom Kaiser für seine eigene Person ausgewählt worden. In der Mitte der Grabeskirche wird ein Sarkophag Aufstellung finden, welcher zur Aufnahme der Särge während künftiger Beisetzungsfeierlichkeiten bestimmt ist. Eine breite Marmortreppe ist geplant, welche von der Denkmalskirche in die Kellerräume der Gruft hinabführt. In dieser werden die neunzig Särge untergebracht werden, welche früher im alten Dom standen und jetzt in der Interimskirche im Monbijoupark vorläufig ein Unterkommen gefunden haben.

Das für die Fassade verwandte Material ist gelblichweißer schlesischer Sandstein, hauptsächlich aus der Gegend von Cudowa. Nur [560] in dem unteren Teile ist schlesischer und bei der Gruftkirche auch bayrischer Granit verwandt worden.

Während sich das Aeußere schon recht stattlich ausnimmt, herrscht im Innern für ein Laienauge noch das Chaos. Rüstungen an den Wänden, Rüstungen bis in die Kuppelspitze hinein, Rüstungen überall. Von dem bunten Marmorbelag und den Mosaiken, die hier einst ein farbenprächtiges Bild geben sollen, ist noch nichts zu sehen. Wie die meisten derartigen Bauten, teilt auch der Dom das Schicksal, daß er nicht zur ursprünglich festgesetzten Zeit fertig werden wird. Die feierliche Eröffnung war für den Geburtstag des Kaisers, 27. Januar 1900, geplant. Jetzt ist sie vorläufig bis auf den Herbst 1902 verschoben.

Ueber die Gesichtspunkte, welche für die eigenartige Anlage bestimmend waren, äußerte sich der Dombaumeister, Geh. Regierungsrat Raschdorff, dem sein Sohn Prof. Otto Raschdorff, sowie der königl. Baurat Kleinau und Regierungsbaumeister Schmidt zur Seite stehen, folgendermaßen: „Die protestantische Kirche kennt kein Opfer, kein Altarsakrament; den Mittelpunkt ihres Gottesdienstes bildet die Predigt, in welcher nicht auf den Altar, sondern auf die Kanzel die Aufmerksamkeit der Gemeinde sich sammelt. Hierin liegt für den Baumeister eine große Schwierigkeit, deren sich auch die früheren Baumeister wie Schinkel, Stüler, Stier u. a., die sich mit der Dombaufrage beschäftigten, wohl bewußt waren. Sie suchten dieselbe dadurch zu umgehen, daß sie den Dom entweder als nationale Dankeskirche, als patriotische Gedächtnishalle, als eine Art Pantheon oder dergleichen auffaßten, oder aber indem sie den Charakter als Begräbnisstätte des Hohenzollernhauses vorwiegend zum Ausdruck brachten. Auch der neue Dom ist in ähnlichem Sinne gedacht, nämlich als Prunkkirche für den Summus episcopus der Landeskirche. Dem Wunsche des Kaisers entsprechend, soll der Dom diese seine hohe Bestimmung durch seine Monumentalität erfüllen und das ragende, weithin sichtbare Wahrzeichen Berlins sein.“


Zum Goethe-Gedenktag.

(Mit den Bildern S. 549, 560 und 561.)

Kurz vor dem Ende des Jahrhunderts, auf dessen Entwicklung der Genius Goethes so tausendfältig gewirkt hat, wird des Dichters hundertfünfzigster Geburtstag für die gebildete Welt zum festlichen Anlaß, dieses herrlichen Wirkens in dankbarer Bewunderung zu gedenken. Mit leuchtendem Glanze zieht sich durch die Geschichte unseres Jahrhunderts von seinen Erdentagen die Spur, die gleich der seines „Faust“ nicht in Aeonen untergehen kann.

Goethe.
Nach dem Oelgemälde von Georg Oswald May. 1779.
Photogravüre im Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger G. m. b. H. in Stuttgart.

Nach Millionen zählen die Exemplare seiner Werke, die in diesem Zeitraum über den ganzen Erdkreis Verbreitung gefunden haben, nach Millionen die Menschen, welche Erbauung und Erquickung höchster Art, ja das eigene Lebensideal aus diesen Werken geschöpft haben. An den Stätten, wo Goethes Dasein vornehmlich Wurzel schlug, in Frankfurt a. M., Leipzig, Straßburg und in Weimar, hat sich an ihm in stets wachsendem Maße bewährt, was in des Dichters „Tasso“ mit Bezug auf Ferraras Musenhof und seine Gäste gerühmt wird. Sein Vaterhaus und sein Sterbehaus sind Nationalheiligtümer geworden, die seinem Gedächtnis geweiht sind. In einer Litteratur von tausend Bänden haben bedeutende Männer, die nach ihm kamen, die Gedanken niedergelegt, welche das Studium seiner Werke in ihnen erzeugte. Eine besondere Wissenschaft beschäftigt sich nur mit ihm, und auf unseren Universitäten werden Vorlesungen über seine Dichtungen gehalten wie über die Gesänge Homers. Unzählige sind seinen Spuren nach Italien, nach Rom und Neapel gefolgt, um in seinem Sinn durch das lebendige Erfassen der Kunst der Renaissance und der Antike veredelnd auf die Bildung ihrer Zeitgenossen zu wirken. Und kein Dichter ist seit ihm in Deutschland erstanden, der nicht – und sei’s mit Widerstreben – in ihm seinen Meister erkannt hätte! Unter dem Vorgang Beethovens haben die größten Musiker des Jahrhunderts ihr Können darangesetzt, Goethesche Poesie in tönende Schönheit zu wandeln. Wer von der Bühne herab Nachruhm gewann, seit Gretchen und Faust, Clärchen und Egmont, Götz und Clavigo, Iphigenie und Orest, Leonore und Tasso deren Bretter zuerst betraten, gehörte auch zur Priesterschaft des Schönen, die einst Goethes Machtwort zur Nachfolge berief, als er in Weimars Hoftheater mit Schiller das Muster einer deutschen Nationalbühne schuf. Und so befruchtete Goethes Genius auch die bildende Kunst, sein Genius – wie seine menschlich schöne Persönlichkeit, der in der Jugend Aehnlichkeit mit einem Apoll, im Alter Aehnlichkeit mit dem Olympier nachgerühmt wurde, und die zu seinen Lebzeiten wie nach seinem Tode Maler und Bildner immer wieder begeistert hat, Goethe als das Ideal eines Dichters darzustellen, der mit „sonnenhaftem“ Auge die Schönheit der Welt umfaßt.

Aber nicht nur in Wissenschaft und Kunst hat sich diese gewaltige Wirkung von Goethes Genius vollzogen. Auch auf den großartigen politischen Aufschwung, den die deutsche Nation im ablaufenden Jahrhundert erlebte, hat er einen nicht hoch genug zu schätzenden Einfluß geübt. Erst der Besitz einer Nationallitteratur, deren idealer Gehalt in allen Gauen des Vaterlandes als gemeinsames Gut empfunden wurde und um welche das Ausland die Deutschen beneidete, rief das deutsche Nationalgefühl wach, dessen Großthaten die politische Geschichte des Jahrhunderts verzeichnet. Erst das Bewußtsein dieses gemeinsamen Gutes entzündete die patriotische Begeisterung, die 1813 den deutschen Stämmen und Dynastien die Kraft verlieh, das Joch des Korsen von sich abzuschütteln, die in tapferen Männern der Metternichschen Gewaltherrschaft zu trotzen wußte, die 1848 diese Herrschaft brach und 1870 auf den Schlachtfeldern in Frankreich jene Siege errang, die zur Errichtung des neuen Reichs führten.

Als Goethe zu schreiben begann, hatte die deutsche Sprache so wenig Ansehen in der Welt wie der Begriff der deutschen Nation. Die Eigensucht der Dynastien und Stämme hatte das nationale Bewußtsein vernichtet; die deutsche Sprache war in der Welt der Gelehrten ebenso mißachtet wie an den Höfen;

[561]

Photographieverlag der Photographischen Union in München.
Goethe und Friederike in Sesenheim.
Nach dem Gemälde von H. Seeger.

[562] Friedrich der Große setzte seinen Ehrgeiz darein, in Paris als französischer Autor zu gelten. Die „Gebildeten“ sprachen das Französische wie eine zweite „feinere“ Muttersprache. Ueberall Herrschaft des Fremden, Nachahmung fremdländischer Vorbilder.

Wie Lessing in diesen Zustand mit der blanken Klinge seines Geistes dreinfuhr, ist bekannt. Aber sein Erfolg war nicht durchgreifend, so wenig wie die Versuche Klopstocks, Wielands, Winckelmanns, Herders, die deutsche Sprache auch den feineren Wendungen des Gedankens dienstbar zu machen. Erst Goethes „Götz“ und sein „Werther“ übten solche Wirkung aus. Erst Goethe schöpfte seine Schriftsprache aus dem Jungbrunnen der Mundarten des Volkes, des deutschen Volkslieds, der alten Volkslitteratur, des Lutherschen Bibeldeutsch, so daß er für sein persönlichstes Empfinden und sein kühnstes Denken echt volkstümlichen und echt deutschen Ausdruck fand. Von dieser Wirkung Goethes schrieb Herman Grimm vor fünfundzwanzig Jahren wohl nicht zu überschwenglich: „Goethes Verse haben erst die Schillers in Fluß gebracht. Goethe hat Schlegel die Fülle verliehen, Shakespeare beinahe in einen deutschen Dichter umzuwandeln. Goethes Prosa ist nach und nach für alle Fächer des geistigen Lebens zur mustergültigen Ausdrucksweise geworden. Durch Schelling ist sie in die Philosophie, durch Savigny in die Jurisprudenz, durch Alexander von Humboldt in die Naturwissenschaften, durch Wilhelm von Humboldt in die philologische Gelehrsamkeit eingedrungen. All unser Briefstil beruht auf dem Goethes. Unendlich viele Wendungen, die wir gebrauchen, ohne nach ihrer Quelle zu fragen, weil sie uns zu natürlich zu Gebote stehen, würden uns ohne Goethe verschlossen sein. – Aus dieser Einheit der Sprache ist bei uns die wahre Gemeinsamkeit der höheren geistigen Genüsse erst entsprungen und ohne sie wäre unsre politische Einheit niemals erlangt worden.“

Freilich läßt sich dieses Verdienst nicht rühmen, ohne daß wir dabei dankbar des Einflusses gedenken, den Herder auf Goethe damals gerade geübt hat, als er in Straßburg und Frankfurt zum Dichter des „Götz“ und des „Werther“ heranreifte, – ohne daß wir zu Schiller aufblicken, den Rietschels schönes Denkmal vor dem Theater in Weimar neben Goethe stehend darstellt, mit ihm einen Lorbeerkranz haltend. Als der junge Schiller aber 1782 die erste Aufführung der „Räuber“ erlebte, hatte Goethes „Götz“, sein „Werther“ schon beinahe ein Jahrzehnt lang auf die Nation gewirkt. Goethe war es, der die geistige Bewegung, welche Herder angefacht hatte, zum Sieg führte; er war es, der den Hof Karl Augusts in Weimar zum Musensitz umschuf, der die Berufung Herders und Schillers nach Weimar, Jena bewirkte und jenen Wetteifer höchsten Strebens entfachte, unter dessen belebendem Ansporn Schillers „Wallenstein“ und seine weiteren Dramen entstanden. Herders großes Verdienst bleibt, daß er, der Forscher, der den „Stimmen der Völker“ in ihren Volksliedern lauschte, den jungen Goethe in Straßburg gerade in der Richtung beeinflußte, in der sich thatsächlich die Wiedergeburt der deutschen Litteratur vollziehen sollte. Er wies als Denker nach, welche Bedeutung für die Poesie der nationale Charakter und die Natürlichkeit des Empfindens habe; da fand sich in Goethe der Dichter, der aus eigenstem naiven Wesen heraus national und gleichzeitig natürlich empfand. Herder durfte Goethe den Weg bereiten; den Weg selbst zu beschreiten, war ihm nicht gegeben.

Als Goethe in der Vaterstadt am Main, der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser, aufwuchs, herrschte darin der Franzos. Der französische Statthalter, der „Königslieutnant“, hatte seine Wohnung in Goethes Vaterhaus. Der Riß, der damals schon durch die deutsche Welt ging, weil Preußen und Oesterreich als Feinde sich maßen, war auch in Goethes Familie spürbar: der gestrenge Vater des Dichters, der kaiserliche Rat, war ein Anhänger Friedrichs II; die frohgemute „Frau Rat“, die Mutter Goethes, Urenkelin eines Syndikus, Tochter des Stadtschultheißen der Freien Reichsstadt, hing im Herzen dem Kaiserhaus an, dessen Repräsentanten in ihrer Vaterstadt gekrönt wurden. Großvater Textor aber, der Stadtschultheiß, der über Franz I den Krönungshimmel getragen hatte und der im „Römer“ die gewichtige goldene Kette mit dem Bildnis der Kaiserin trug, war ein leidenschaftlicher Anhänger Oesterreichs. Dieser Konflikt in der Familie öffnete dem Knaben Wolfgang früh das Auge über die traurigen Zustände im Vaterlande. Mit dem Vater begeisterte er sich wohl für die sieghafte Persönlichkeit des Preußenkönigs, mit der Mutter aber schwärmte er für die frühere Reichsherrlichkeit, auf welche der „Römer“, der Dom, alle festlichen Bräuche der Vaterstadt glanzvoll zurückwiesen.

Die ersten Eindrücke der dramatischen Kunst empfängt er durch französische Stücke, durch eine französische Truppe; mächtiger wirken auf ihn die alten heimischen Volksschauspiele, deren Stoffe aus der Geschichte des deutschen Rittertums und alten Volkssagen stammen. Er spricht und schreibt in der oberdeutschen Mundart der Vaterstadt; in der naiven Sprache alter Chroniken wird er heimisch. Fünfzehn Jahre alt, erlebt er dann selbst die Krönung Josephs II: er wird Zeuge all der pomphaften Vorbereitungen, die ihm als Enkel des Stadtschultheißen vor vielen anderen zugänglich sind. Die farbenfreudige Welt der mittelalterlichen Kaiserzeit wird mit aller Pracht der Kostüme und symbolischen Bräuche vor seinen Augen lebendig. Zugleich aber überzeugen ihn persönliche Erlebnisse von der Unzulänglichkeit der Rechtsverfassung, die in der Vaterstadt herrscht. In Leipzig bezieht der Student eine Wohnung in einem der wenigen Quartiere von altertümlichem Reiz. In Auerbachs Keller belebt sich ihm die Gestalt des Zauberers Faust aus dem Volksspiel. Im Verkehr mit der sächsischen Bevölkerung wird er sich der Eigenart seiner oberdeutschen Mundart bewußt, und Versuche, sie ihm abzugewöhnen, bestärken ihn in der Freude an dieser Eigenart, ihrer Bildlichkeit, Gedrungenheit, ihrer Neigung zu sprichwörtlichen Redensarten. Aber an der „galanten“ Umgangssprache der gebildeten Leipziger lernt er auch die eigene Ausdrucksweise glätten, und die ursprüngliche Kraft der Meißnischen Mundart, in der Luther einst schrieb, tritt ihm entgegen in der schwertscharfen Prosa Lessings. Gleich einer Offenbarung wirkt Lessings „Minna von Barnhelm“ auf ihn ein, und er wird sich bewußt des „vollkommenen norddeutschen Nationalcharakters“ dieses lebensprühenden Zeitbildes. Die eigenen poetischen Versuche zeigen ihn aber noch auf den Spuren der äußerlichen Nachahmer des Anakreon und Horaz, offenbart sich in ihnen auch schon die Natürlichkeit seines Empfindens in lebhafter Frische. Die behagliche Grazie Wielands bestrickt ihn. Noch tändelt die von der Mutter ererbte „Frohnatur“ mit den Reizen des Lebens; sie gerät in Konflikt mit dem „ernsten Führen“ des Vaters; sein wissensdurstiger Geist, nach höchster Erkenntnis strebend, wendet sich unruhig und unbefriedigt von einer Fakultät der andern zu; Kummer und Krankheit vertiefen sein Gefühl, machen es aber auch in Frankfurt dem Einfluß mystischen Grübelns zugänglich.

Da kommt er nach Straßburg, der alten Reichsstadt am Rhein, die nun bereits seit einem Jahrhundert ganz zu Frankreich gehört, im Wesen aber noch völlig deutsch ist. Die großartige Schönheit des Münsters packt ihn im Innersten: solcher Kunst von so deutscher Art und so großen Stils will er sein Leben weihen. Schon recken sich die Gestalten des Götz und des Faust vor seiner Phantasie zu der Größe empor, in der sie in seine Dramen übergingen, da verweist ihn Herder auf Shakespeare, und bei diesem findet er den dramatischen Stil für ein Schaffen ins Große, in einer Sprache von nationaler Kraft und freiester Natürlichkeit des Ausdrucks. Und aus der Fülle der Gesichte, die ihm die Knabenzeit in Frankfurt aus deutscher Vergangenheit gewährte, ordnen sich vor seinem Geist, im bunten Wechsel, wie ihn Shakespeare liebte, farbenfrische scenische Bilder für diese Dramen. Herder macht ihn ferner mit seinen Sammlungen von Volksliedern bekannt und weckt in ihm die Lust, auf seinen Wanderungen durchs Elsaß selbst solche zu sammeln und sein lyrisches Talent an ihrem schlichten Ton zu schulen. Auf solcher Wanderung durch die ländliche Umgebung Straßburgs kommt er in ein Pfarrhaus, das ihm ein Freund als eine Wiederholung der Idylle gepriesen hat, welche Goldsmith im „Landprediger von Wakefield“ schildert, und hier lernt er das Mädchen kennen, dessen frischer Liebreiz die erste große Liebesleidenschaft in ihm weckt, Friederike Brion, die Tochter des Pfarrers von Sesenheim. Wie eine Verkörperung des Volksliedes trat sie ihm entgegen, in der schmucken Nationaltracht der Elsässerinnen, naive Frische, heitere Anmut im Wesen. Und die Liebe zu Friederiken löst seinem Herzen die Sprache; die [563] Lieder, die er seinem „Mädgen“ widmet, haben kein Vorbild mehr, die Liebesfülle, die in ihnen glüht, entströmt ganz unmittelbar seinem Innern: „Fühle, was dies Herz empfindet!“ Mitteilen will er sein Gefühl und im geliebten Herzen Wiederhall wecken. Aus dem stürmischen Hufschlag des Rosses, das ihn aus der Stadt hinaus zur Geliebten trägt, aus dem Jubeltakt seines eigenen Blutes erklingt ihm der Rhythmus zu seinem Sang – „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war gethan fast eh gedacht!“ – die Wonne des Glücks, die ihn noch im Trennungsschmerz durchschauert, jauchzt er mit heißem Herzenstrotz in die Welt: „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück!“

Es war eine schöne Fügung, daß das hundertjährige Gedenkfest an diese Straßburger Osterzeit von Goethes Poesie gerade in die Zeit fiel, welche uns die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches und den Wiedergewinn des Elsaß brachte. Häßlicher Klatsch hatte inzwischen das Andenken an die von Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ so ergreifend erzählte „Idylle von Sesenheim“ getrübt. Da brachte die „Gartenlaube“ jenen Aufsatz des Pfarrers Lucius von Sesenheim („Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses“, Jahrg. 1871, S. 452), den Erich Schmidt später in seinen „Charakteristiken“ so treffend „eine schöne Friedensbotschaft auf dem Boden eines gemeinsamen Kultus“ genannt hat, „welche die letzten Schatten von Friederikens Namen für immer verscheuchte.“ Begeisterte Goetheverehrer in Straßburg haben sich dann zusammengethan und jenen Hügel beim Sesenheimer Pfarrhaus erworben und mit einer Laube geschmückt, auf welchem zwischen Bäumen und Gesträuch Friederike ihren Lieblingsplatz hatte und so gern mit dem Geliebten – wie es das Bild auf S. 561 darstellt – in traulicher Gemeinschaft weilte. Und wenn demnächst das Goethe-Denkmal in Straßburg hinausschauen wird in das nun längst wieder zum Reiche gehörige Elsaß und der davor Weilende des kurzen Glückes und der langen Reue gedenken wird, die dem Dichter aus der Liebe zu Friederiken erwuchsen, so wird er voll dankbarer Sympathie auch der lieblichen Tochter dieser Landschaft gedenken, die, „selber eine Rose jung“, blühende Rosen reinsten Glückes in Goethes Jünglingsleben flocht und nach deren Bilde der Dichter die rührendsten Züge seines „Gretchen“, wohl der ergreifendsten Mädchengestalt der Weltlitteratur, schuf.

Er selbst hat am Ende seiner Laufbahn die Bedeutung seines Wirkens für die deutsche Nation und deren Litteratur in dem bescheiden stolzen Bekenntnis zusammengefaßt: „Wenn ich aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse.“ Von innen heraus waren die Gedichte an Friederike erklungen, aus seinem Innern stammte das freudige Heldenbewußtsein des Götz, das heitere Selbstvertrauen seines Egmont, Werthers Entzücken an der Natur, der schaffensfrohe Trotz des Prometheus und das titanische Ringen des Faust nach höchster Erkenntnis und höchster Erdenwonne, aber auch die Reue des Clavigo. In fast all seinen Dramen und Romanen stellte er den Drang der rein menschlichen Empfindung, sich frei zu bekennen und auszuleben, dem Konventionellen gegenüber, der Macht der herrschenden Zustände. „Lebt der Natur gemäß, entfaltet eure angebornen Organe, lauscht nicht nur der Klugheit, sondern auch der Stimme des Herzens!“ rief er den Deutschen zu in dem Organe der „Stürmer und Dränger“, den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“. Und so mahnte sein Dichterwort auch dann, als sich sein naives Bekennen der rein menschlichen Empfindung in ein bewußtes Verkündigen des Bildungsideals der reinen Menschlichkeit, der „Humanität“ gewandelt hatte, als nicht mehr Shakespeare und das Volkslied ihm die Muster für seinen Stil boten und seine „Iphigenie“ unter dem blauen Himmel Italiens, unter dem Eindruck der „ewigen“ Kunstwerke Roms ihre Vollendung fand. Was von den Lippen des Bruder Martin im „Götz“ hervorbricht als stürmische Klage – „Mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht Mensch sein zu dürfen!“ – das verkündet Iphigenie als Evangelium einer abgeklärten sittlichen Weltanschauung der Zukunft. Ein Irrtum aber ist es, zu meinen, Goethes Poesie habe in diesem Stadium ihrer Entwicklung ihren nationalen Charakter verloren. Das Humanitätsideal, das Goethe als gereifter Mann mit Lessing, Herder, Schiller teilte, war ja die edelste Blüte der humanistischen Bildung, welche die besten Geister Deutschlands seit der Reformation angestrebt hatten. Goethes Iphigenie ist ebenso deutschen Blutes wie sein Gretchen; Charlotte von Stein fand in jener ihr Abbild wie Friederike Brion in dieser. Die Gestalten in „Hermann und Dorothea“ fühlen nicht weniger deutsch, weil sie in Hexametern sprechen. Und Goethes Vaterlandsliebe führt in dieser Dichtung noch wärmere Sprache als im „Götz“. Eindringlicher und mit direkterem Bezug auf die Friedensstörer aus Frankreich am Rhein als ähnliche Stellen im „Götz“ klang die Mahnung des wackeren Hermann ins Vaterland:

„Wahrlich, wäre die Kraft der deutschen Jugend beisammen,
An der Grenze, verbündet, nicht nachzugeben den Fremden,
O, sie sollten uns nicht den herrlichen Boden betreten!“

Das ist freilich im Wechsel der Zeiten recht oft übersehen worden. Weil Goethes Stellung als Minister Karl Augusts ihn nach Sands Attentat auf Kotzebue zwang, gegen die erst von ihm begünstigte Burschenschaft in Jena einzuschreiten; weil er sich überhaupt nach den Befreiungskriegen gegen die unklare patriotische Bewegung der enttäuschten Jugend von 1813 ablehnend verhielt, zieh man ihn des Mangels an Vaterlandsliebe. Man schalt auf den „Dichter im Ministerrock“, den „Olympier“, der über den Wolken schwebe. Daß der gealterte Dichter, den auch als Forscher weitabliegende Aufgaben in Anspruch nahmen, anders empfand als sie, wollten die neuen Stürmer und Dränger nicht begreifen. Man spielte Schiller gegen ihn aus, mit dem er doch vereint dem deutschen Theater, als einem Bollwerk gegen die deutsche Vaterlandslosigkeit, in dem fruchtbaren Jahrzehnt von 1795 bis 1805 einen nationalen Charakter gegeben hatte. Man vergaß, daß der von Goethe beratene Herzog der erste von allen deutschen Fürsten gewesen war, der seinem Lande eine freisinnige Verfassung gab, die auch Preßfreiheit gewährte. Doch als später Eckermanns Gespräche mit Goethe und andere Zeugnisse seines geheimen Denkens und Fühlens erschienen, gestanden die liberalen Patrioten offen ihren Irrtum ein, und die Führer des Jungen Deutschland, Gutzkow und Laube, wurden die eifrigsten Verkünder seines Ruhmes. Heute sehen wir mit Staunen, wie das mächtige Adlerauge des Dichters in jenen hohen Jahren gleichwie die eigene Zeit die Zukunft des Jahrhunderts überschaute. Wir erkennen in seinen Aeußerungen über die nationale Bewegung ein realpolitisches Denken, das sich in denselben Bahnen bewegte, auf denen das staatsmännische Genie des Jahrhunderts seinen Siegen entgegenschritt. „Mir ist nicht bange,“ sagte Goethe im Jahre 1828, als Metternichs antinationale Politik in ihrem Zenith stand, „daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige thun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind! Es sei eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepaß eines weimarischen Bürgers von den Grenzbeamten eines großen Nachbarstaats nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag. Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum. – Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewunderungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs durchdrungen hat? … Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja, auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!“

[564] Aus jenem Jahre stammt das lebensvolle Porträt des Dichters von dem Münchner Hofmaler Stieler, welches die erste Seite dieser Nummer schmückt und dessen nähere Besprechung der Leser auf S. 580 findet.

Damals stand Goethe vor dem Ende seiner Tage, wie der greise Faust im Schlußakt des zweiten Teils der Dichtung sein Lebenswerk überschauend, das seinem Volke eine neue Welt schuf. In der Symbolik dieser Scene gestaltete er noch einmal sein Humanitätsideal: der von allen Leidenschaften befreite Faust findet sein Glück in dem Wirken für andere, in der Wonne des Schaffens, das andere beglückt! Auch ein kleiner Spruch aus jener Zeit, den Goethe einem Darsteller des Orest in das demselben gewidmete Exemplar der „Iphigenie“ schrieb, enthält die Quintessenz der idealen Weltanschauung, welche die Seele seiner reifsten Werke bildet:

„Was der Dichter diesem Bande,
Glaubend, hoffend, anvertraut,
Werd’ im Kreise deutscher Lande
Durch des Künstlers Wirken laut!
So im Handeln, so im Sprechen,
Liebevoll verkünd’ es weit:
Alle menschlichen Gebrechen
Sühnet reine Menschlichkeit!“

Mit diesem Mahnwort geleitet Goethes Genius die zur Macht geeinte Nation an die Pforten des neuen Jahrhunderts.Johannes Proelß.     


Die Kunst des Fliegens an der Jahrhundertwende.

Von Wilhelm Berdrow.

Zum zweitenmal binnen kurzer Zeit versetzt ein Unternehmen auf dem Gebiete der Luftschiffahrt, das zu Füßen der Alpen ins Werk gesetzt wird, die Welt in allgemeine Spannung. Im vorigen Jahre war es der Versuch des Kapitäns Spelterini, von Sitten aus die Berner Hochalpen im Ballon zu übersteigen, in diesem ist es die bevorstehende Vollendung und der erste Aufstieg des in einer schwimmenden Riesenhalle auf dem Bodensee erbauten Graf Zeppelinschen Luftschiffs, zu dem nicht nur die Herrscher von Württemberg und Baden, sondern auch das deutsche Kaiserpaar erwartet werden. Uns giebt dieses Ereignis, auf welches wir am Schlusse dieses Artikels des näheren zurückkommen werden, Veranlassung, dem Entwicklungsgang der Luftschiffahrt und Flugtechnik, dem die „Gartenlaube“ in seinen einzelnen Phasen immer mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, eine zusammenhängende Darstellung in Wort und Bild zu widmen.

Fig. 1. Lanas Entwurf eines Luftschiffes. 1670.

Fig. 2. Erster Versuch mit der Montgolfiere zu Annonay am 5. Juni 1783.
Nach einem gleichzeitigen Stiche.

Daß die Bestrebungen, mit Hilfe von Maschinen zu fliegen, älter sind als der Luftballon, ist nicht unbekannt. Lassen wir auch den Kreis der Sagen, die schon bei verschiedenen Völkern des Altertums von fliegenden Menschen erzählen, ganz beiseite, so hat doch das Mittelalter in seiner zweiten Hälfte, die überhaupt einen bedeutenden Aufschwung der mechanischen Künste herbeiführte, einige ernsthafte Versuche auf unserem Felde zu verzeichnen. Leonardo da Vinci, jener Riesengeist des 15. Jahrhunderts, der den ganzen Lebens- und Gedankeninhalt seines Zeitalters in sich zusammengefaßt hat, wie es nach ihm nur Goethe noch einmal verstanden hat, war nicht nur Maler, Bildhauer, Dichter und Schriftsteller, er war auch in seiner Zeit der hervorragendste Mathematiker, Techniker und Mechaniker. Nicht nur der Fallschirm, der bald wieder vergessen und nach Leonardo noch zweimal selbständig erfunden wurde, auch die Luftschraube, jenes bekannte Kinderspielzeug und die motorische Seele zahlreicher moderner Luftschiffe, soll ihm zu verdanken sein. Ja sogar die genaue Beobachtung des Vogelfluges als Grundlage für die Konstruktion mechanischer Flugmaschinen, die Aviatik (vom Lateinischen: avis, der Vogel), welche erst seit etwa 30 Jahren wieder die Frage des Fliegens in lebhafteren Fluß gebracht hat, ist von Leonardo da Vinci und nach ihm im Jahre 1680 von Professor Borelli in Rom zum großen Teil vorweg genommen worden.

Und es war nicht einmal die Aviatik allein, in der sich das spätere Mittelalter zu Gunsten des menschlichen Fluges tapfer bemüht hat, auch der Luftballon ist seinen unsterblichen Erfindern Montgolfier und Charles schon einige Male vorerfunden worden, wenn auch nur auf dem Papier, aber nach unleugbar richtigen Principien. Was ist das in Figur 1 dargestellte Luftschiff des Jesuiten Lana, aus dem Jahre 1670 stammend, anders als eine Gondel mit vier Ballons?

Freilich kannte Lana nicht den Auftrieb heißer Luft oder specifisch leichterer Gase, aber seine – wohlverstanden immer hübsch auf dem Papier – aus Kupfer getriebenen Ballonkugeln sollten luftleer gemacht werden und hätten dann denselben Zweck erfüllt, wenn nicht leichtverständliche Hindernisse diese Art der Ausführung verboten hätten. Der schlaue Dominikanerfrater Galien, der 1775 zu Avignon die welterschütternde Entdeckung machte, daß man große „hölzerne Kästen“ nur mit der leichteren Luft der höchsten atmosphärischen Schichten zu füllen brauche, um ganze Armeen durch die Luft zu transportieren, braucht Lanas Werk nicht eben gekannt zu haben, wenn es auch nicht unwahrscheinlich ist, daß er sich mit fremden Federn geschmückt hat.

Fig. 3. Das lenkbare Luftschiff von Ch. Renard und A. Krebs.

Die Geburtsstunde der modernen Luftschiffahrt schlug aber, als am 5. Juni 1783 der Brüder Montgolfier rauchgefüllte Kugel (s. Figur 2) sich zu Annonay ein

[565]

Fig. 4.0 Andrées „Adler“ im Aufstieg.

beträchtliches Stück in die Luft erhob, um freilich, schnell abgekühlt von den Winden, alsbald wieder zu sinken. Das Bessere ist des Guten Feind: als am 27. August desselben Jahres Professor Charles’ gasgefüllter, 5 w hoher Ballon nach 20stündigen, vom Spott der Menge begleiteten Vorbereitungen sich majestätisch von der Erde löste und in die Wolken schoß, wie eine Geistererscheinung angestarrt von hunderttausend Augen, da drohte der Bruder Montgolfier Ruhm zu verblassen. Man überbot sich jetzt, wie wir’s noch heute nicht besser können. Die Feuermaschine der Montgolfiers, ein von erhitzter Luft getragener Papierballon, stieg vor den Parisern, mit drei Tieren besetzt, empor, und noch im Oktober des Erfindungsjahres hatte Frankreich seine ersten Aeronauten, Pilatre de Rozier und Marquis d’Arlande; auch sie bedienten sich der „Montgolfiere“. Charles stieg dann mit dem Mechaniker Robert noch im Dezember 1783 in einem großen Wasserstoffballon empor und erreichte, als bei der Landung sein Gefährte unvorsichtig die Gondel verließ, mit dem pfeilschnell in die Atmosphäre zurücktauchenden Ballon eine Höhe von 3000 m.

Die für die Erdbewohner schon versunkene Sonne ging dem Auge des Gelehrten an diesem Abend noch einmal auf, und die ersten, wenn schon nicht welterschütternden Forschungsergebnisse schieden gleich beim Beginn die Ballonfahrten des Gelehrten von denen des Berufsaerouauten, der auf Sensation ausging und dessen Evolutionen fast immer schließlich auf HalsoderBeinbrüche hinausliefen.

Fig. 5.0 Die Hensonsche Flugmaschine.

Es genügt, aus der Weiterentwicklung der Luftschiffahrt gewisse Marksteine andeutungsweise hervorzuheben. Schon 1874 erfolgte die erste Ballonfahrt über das Meer, von Dover nach Calais. Blanchard, der später Vielgenannte, wagte und vollführte sie; eine Denkfaule am Kap Gris Nez bezeichnet den Ort der Landung. Pilatre de Rozier, der diese Fahrt mit mehr Ruhmsucht als Vernunft nachmachen wollte und, nach des Nestor Charles’ warnendem Ausspruch, „ein Pulverfaß über Feuer“ hing, d. h. eine gasgefüllte Charliere über eine flammengenährte Montgolfiere, zerschellte fünf Monate später auf denselben Felsen.

Es brach die Zeit der Ballonsucht an, jeder Mann, jede Frau von Namen mußte eine Reise durchs Luftmeer gemacht haben; die Berufsaeronauten wie Blanchard, Green, Durouf u. a., die entweder den Hals brachen oder in Armut und Einsamkeit starben, wenn ihre Zeit um war, wurden die Löwen der Gesellschaft. Wer die weitesten Fahrten machte, wer 12, 15, 20 Stunden in der Luft blieb, war der Berühmteste. Green fuhr 1836 von London bis Weilburg, 6701cm in 19 Stunden; Godard machte 1851, mit der Prinzessin von Solms und anderen hochstehenden Persönlichkeiten in der Gondel die Reise von Paris nach Spaa; Nadar, der sich später der Flugmaschine Widmete, kam 1863 mitneunPersonenindemriesenhaften „Giant“ von Paris bis Nienburg an der Weser binnen 14 Stunden. Gewaltige Reisen, einmal durch den größten Teil Frankreichs, einmal von Paris nach Preußen, hat auch Flammarion in 11 beziehungsweise 12 Stunden gemacht, und unter den kühnen Patrioten, die Paris während der winterlichen Einschließung 1870 im Ballon verließen, wurden zwei in einem großen Ballon während einer 20stündigen, furchtbaren Fahrt 1900 km weit, bis tief in die norwegischen Einöden hinein, verschlagen.

Das ist die bei weitem längste aller bisherigen Luftreifen, wenn sie nicht von der Fahrt Andrees, über die es immer noch an Kunde mangelt, inzwischen übertreffen ist.

Fig. 6.0 Lilienthals Flugapparat.
Nach einer Augenblicksaufnahme von Ottomar Anschütz G. m. b. H. in Berlin.

Langer Luftreisen aus der Neuzeit gedenken wir später, hier gilt es zunächst noch einer kurzen Epoche von Ballonfahrten anderen Charakters aus dem Beginn dieses Jahrhunderts ein Wort zu widmen, die nichts von dem Begehren nach Sensation und Ruhm an sich hatte wie die vorerwähnte, aber um so mehr ehrliches Streben nach Aufklärung und wissenschaftlichem Fortschritt. Deutschland, wo auch die wichtigsten Forschungsreisen der Neuzeit im Ballon unternommen wurden, hat im Jahre 1803 die erste derartige Fahrt zur Erforschung der höheren Luftschichten gesehen, die von L’Holst und Robertson in Hamburg unternommen wurde. Dann siedelte dieser Zweig der Forschung nach Frankreich und England über, wo besonders Gay Lussac und Glaisher durch ihre Hochfahrten berühmt geworden sind. Haben auch die Resultate dieser älteren Hochfahrten durch die strengeren und mit besseren Instrumenten ausgeführten Forschungsreisen des Deutschen Vereins zur [566] Förderung der Luftschiffahrt eine starke Abschwächung und zum Teil eine direkte Widerlegung gefunden (besonders die erreichte Höhe wurde damals auf Grund mangelhafter Instrumente weit überschätzt), so verdient jene erste Epoche der wissenschaftlichen Luftschiffahrt doch in dieser Rundschau über das ganze Gebiet, dem sie angehört, eine ehrenvolle Anerkennung.

Zwischen jene älteren Leistungen des Luftballons und seine heutige Rolle als Werkzeug der Wissenschaft und Forschung tritt nun aber eine neue Epoche, in der man zuerst daran dachte, aus dem Instrument der Sensation oder der Forschung ein brauchbares Verkehrsmittel zu machen. Der stencrlose, von den Winden getriebene Gasball konnte dazu nie bestimmt sein – wir stehen an der Wiege des lenkbaren Luftschiffes. Giffard, der französische, in anderen Fächern so eminent erfolgreiche Ingenieur, ist wohl der erste, der sich an dem stachligen Problem des Propellerund Steuerballons mit einigem Erfolg versuchte. Wenn auch schon 1816 in Rußland durch einen deutschen Mechaniker ein sischförmiger Ballon gebaut wurde zum Zweck des Antreibens und Steuerns in der Luft, so war doch damals die Technik des Maschinenbaues noch viel zu weit zurück, um irgend einen Erfolg zuzulassen. Giffards Spindelballon dagegen wurde wenigstens in stiller Luft durch seine dreipferdige Dampfmaschine, die eine dreiflügelige Schraube drehte, mit Schneckenlangsamkeit fortgezerrt; gegen einen leisen Wind allerdings konnte er nichts ausrichten, und im Grunde ebensowenig alle jene, die nach ihm kamen, mochten sie Hänlein, Dupuy de Lome oder gar Renard und Krebs heißen.

Letzteren gelang allerdings im August 1884 der große Wurf, welcher der ganzen Welt als die Lösung der lenkbaren Luftschifffahrt verkündet wurde. Der torpedoförmige Ballon von Renard und Krebs (s. Figur 3), in der 90 Jahre früher gegründeten Luftschifferschule zu Meudon entstanden, hat in Wirklichkeit einige kleine Fahrten bei windstillem oder -schwachem Wetter gemacht, bei denen er seine Lenkbarkeit und eine Eigenbewegung von 6 m in der Sekunde bewies. Daß aber ein Ballon, den ein Radsahrerdetachement leicht überholt, der bei Gegenwind versagen würde und sich in höhere Luftschichten aus Furcht vor stärkeren Windströmungen kaum hinauswagen kann, im Kriegsdienste keinen allzu hohen Wert hat, liegt nur zu klar am Tage.

In der That hat auch dieser Ballon in der Geschichte der Luftschiffahrt keine entscheidende Wendung hervorgebracht, und selbst dasjenige Konstruktionsprincip, auf das die Erfinder besondere Hoffnungen setzten, der Elektromotor, ist bei dem Bau späterer lenkbarer Ballons wieder verlassen worden zu Gunsten der leichten Explosivmaschine mit Gasoder Petroleumantrieb oder des Dampfmotors mit leichtem Röhrenkefsel, um dessen Ausbildung für flugtechnische Zwecke sich besonders der gleich zu erwähnende Aviatiker Lilienthal sehr verdient gemacht hat.

So hat denn auch der lenkbare Luftballon, wenigstens beim ersten Anlauf, sein Ziel nicht erreicht. Die wertvollsten bisherigen Forschungsresultate, die wir dem Luftschiff verdanken, hat man im einfachen, allen Windströmungen preisgegebenen Kugelballon erzielt, während die Militärluftschiffahrt umgekehrt in Zukunft, mehr als auf die früher viel geübten Freifahrten, auf den Fesselballon mit Steuerungsvorrichtung angewiesen zu sein scheint, dessen Konstruktion und Leistungen im Jahrgang 1897 der „Gartenlaube“ geschildert sind. Begeisterte Anhänger der Lufterforschung im freischwebenden Ballon wie Prof. Aßmann, Dr. Berson haben im Auftrage des Deutschen Vereins zur Förderung der Luftschiffahrt Forschungsreisen bis 9150 m Höhe und auf Entfernungen unternommen, die sich den von Nadar, Green und den anderen, von den Koryphäen der Berufsaeronautik ausgeführten Fahrten würdig anreihen.

Aber die Freunde des Luftmeeres wollen, wenn nicht sofort ein schlechtweg lenkbares und selbstthätig angetriebenes Luftfahrzeug, so doch einen Ballon, der sich unter Ausnutzung der gegebenen Luftströmungen wenigstens in ähnlicher Weise lenken läßt wie das Segelschiff auf hoher See. So entstand der Andreesche Schleppseilballon „Adler“ (s. Figur 4), zwischen dessen Gondel und der Erde zunächst durch lange, auf dem Boden schleifende Gurten eine gewisse Verbindung hergestellt wird, so daß die Bewegung sich verlangsamt und der Ballon vom Winde nicht ohne weiteres vor sich her getrieben werden kann. Ein Segel, das unten an der Gondel, oben am Ballon befestigt ist, trägt weiter zur Richtungsbestimmung bei und bewirkt nach vorgenommenen Versuchen eine Abweichung der Fahrt von der Windrichtung um einen ziemlich großen Winkel. Man kann also bei Südwind mit einem solchen Ballon nicht allein nördlich, sondern auch nordöstlich oder nordwestlich fahren und entsprechend bei anderen Windrichtungen.

Im Herbst des vorigen Jahres wurde die bereits eingangs erwähnte Forschungsreise der „Wega“ in den Schweizer Alpen in Scene gesetzt, freilich auch nur mit dem Erfolg, daß sie aufs neue bewies, wie es bei dieser Reisemethode selten nach Wunsch und Willen desjenigen hergeht, der die Fahrt unternimmt. Der schweizer Luftschiffer Spelterini hatte die Absicht, mit bedeutenden Größen der geologischen und geographischen Forschung wie Prof. Heim u. a. vom Wallis aus den gewaltigen Alpenstock des Bernergebiets in der Richtung aufs Finsteraarhorn, die Urnerund Glarneralpen zu überfliegen, um endlich am Bodensee zu landen (vergl. den Jahrg. 1898 der „Gartenlaube“, S. 676). Wochenlang hielt man den mächtigen, für Forfchungsund Beobachtungszwecke vortrefflich ausgestatteten Ballon in Bereitschaft und wartete auf günstigen Wind. Dann endlich wagte man im September den Aufstieg. Und der Erfolg?

Schon bei 1000 m Höhe wurde der Ballon in einer den Absichten der Lustschiffer direkt entgegengesetzten Richtung das Rhönethal hinab getrieben; man warf Ballast aus, bis 2500 w erreicht waren, aber der Flug ging ruhig im Rhonethal weiter, und obwohl man schließlich bis auf 6300 m stieg, war das eigenwillige Luftschiff nicht aus seiner Richtung zu bringen, die es nach Montreux, Averdon und endlich nach Dijon trug.

Selbst als Sternwarte hat der Ballon schon zu mehreren Malen dienen müssen und wird dazu jetzt, nach der Erfindung des steuerlosen Fesselballons von Siegsfeld-Parseval, wahrscheinlich bei Gelegenheit von Sonnenoder Mondfinsternissen noch häufiger benutzt werden, um hinderliche, niedrig lagernde Wolken oder Nebelschichten zu durchgingen. Am 14. November 1898 wurde z. B. von dem französischen Astronomen Janssen der Freifahrtballon zur Beobachtung des Leoniden-Meteorschwarms benutzt.

Aber zu lange schon sind wir den wenn auch noch so interessanten Phasen in der Ausnutzung und Ausbildung des Ballons gefolgt, auf dessen jüngste, unseren Jahren angehörige Umbildung zur Ballon-Flugmaschine wir am Schlüsse dieser Zeilen zurückkommen werden. Inzwischen haben wir auch auf den Wegen noch kurze Nachschau zu halten, auf denen, getrennt von den Anhängern der Ballontechnik, die Nachahmer des Vogelfluges und Erfinder der Flugmaschine, die Aviatiker, gewandelt sind. Ueber die Berechtigung, den Vogelflug auch für den Menschen als Vorbild zu wählen, und über die schwerwiegenden und jedenfalls durch die bisherigen Erfahrungen noch nicht widerlegten Einwände, die ron den Anhängern dieser Richtung gegen die Ballontechnik erhoben werden, ist in den Jahrgängen 1890, 1894 und 1896 der „Gartenlaube“ so ausführlich geschrieben worden, daß wir hier darüber hinweggehen können.

Es sei nur gesagt, daß der einst von Leonardo und von Borelli nerfochtene und dann in den 60 er Jahren unseres Jahrhunderts von französischen Aeronauten wie Nadar mit Begeisterung wieder aufgenommene Gedanke, den Menschen mittels Flügeloder Luftschrauben zum Fliegen zu bringen, endlich in den 80 er Jahren wissenschaftlich begründet und von Technikern ersten Ranges thatkräftig angefaßt wurde. Er machte sich mit ungeheurer Macht dermaßen geltend, daß die Idee, den Ballon lenkund treibfähig zu machen, auf zehn Jahre völlig zurückgedrängt wurde. Seit Männer von der technischen Bedeutung Lilienthals, Maxims, von der wissenschaftlichen Bildung Langleys, Wellners u. a., seit Mathematiker und Physiologen den Fahnen der Aviatik folgen, kann man auf den Erfolg ihrer Mühe schon einige Hoffnungen setzen und braucht sich durch anfängliche Mißerfolge, wären sie auch so niederschmetternd und traurig wie Lilienthals tödlicher Sturz, nicht auf die Dauer entmutigen zu lassen. Hier genüge es, auch aus der Geschichte der Aviatik einige packende Momentbilder hervorzuheben.

Von den Anhängern des Kunstfluges im Mittelalter ist oben gesprochen. Im 19. Jahrhundert begegnet uns Henson als der erste Aviatiker, dessen Maschine im Jahre 1843 wirklich zur Ausführung kam. Daß der Konstrukteur des in unserer Figur 5 wiedergegebenen Apparates ein scharfsinniger Kopf gewesen ist, [567] leuchtet dem Kenner der heutigen Flugmaschinen ohne weiteres ein. Wir sehen da dieselben platten Tragflächen, dieselbe gefächerte Gleitfläche des Steuers oder Schwanzes, die man noch heute anwendet, um Flugmaschinen mehr auf dem Winde gleiten als gegen ihn kämpfen zu lassen. Zwei kleine dampfgetriebene Schraubenräder unterhielten die Bewegung. Daß Henson mit den technischen Mitteln der vierziger Jahre das nicht erreichte, was heute mit weit besseren Antriebsmaschinen, leichteren Konstruktionsmaterialien und unbeschränkten Mitteln Gelehrte wie Trouvé und Ingenieure wie Maxim vergeblich erstreben, darf nicht wunder nehmen. Aber das Princip Hensons, eine glatte, durch mechanische Kraft getriebene Fläche von der Luft gleichsam tragen zu lassen, ist gesund und wird dereinst, wenn nicht alle Zeichen trügen, wenigstens für einen Zweig der Flugkunst, den Einzelflug, zum Ziele führen.

Lilienthal ist es gewesen, dem dieser Zweig der Flugtechnik – wir können ihn auch den persönlichen Kunstflug nennen, weil er das Gelingen und vor allem die Erhaltung des Gleichgewichtes von dem Geschick und der Geistesgegenwart des Fliegers selbst abhängig macht – die größte bisherige Förderung verdankt in Gestalt der gewölbten Trag- oder Gleitflächen, die von ihm nach langjährigen Versuchen empfohlen und selbst angewandt wurden (s. Figur 6). Lilienthal schreckte nicht davor zurück, sein eigenes Leben für die Richtigkeit seiner Erfindung einzusetzen; daß er es dabei einbüßen mußte, beweist nichts für die Untauglichkeit seines Systemes, sondern nur die Unvollkommenheit seines damaligen Apparates, der inzwischen durch mehrere unerschrockene Nachfolger des Berliner Experimentators weiter verbessert worden ist. Uebrigens war er nicht der erste, der die Förderung des persönlichen Kunstfluges durch einen unglücklichen Sturz büßte. Schon 1883 und 1884 wurden Gleitflugversuche mit ähnlichen Apparaten von de Groof in England unternommen, der sich dabei von Ballons mit in die Höhe nehmen ließ. Einige Versuche glückten, bei einem aber kam der Aviatiker samt seinem Flugapparat zerschmettert unten an. Lilienthal hatte eben das glückliche Princip des mehrflächigen, im Winde bedeutend stabileren Apparats erfunden und war beschäftigt, es zum erstenmal mit einem wirklichen Antriebsmechanismus zu versuchen, als ein tückischer Windstoß ihn dem Leben und der Wissenschaft entriß. Zu den Anhängern seiner Richtung zählt besonders Herring und dann Chanute, der auf dem Hügellande am Michigansee bei Chicago eine längere Versuchsreihe mit zwei- oder mehrflächigen Apparaten unternommen hat.

Fig. 7. Schematische Darstellung des Zeppelinschen Luftschiffes.

Eine Maschine, die sich automatisch, ohne der Geschicklichkeit und der im entscheidenden Moment doch wohl oft versagenden Geistesgegenwart des Menschen zu bedürfen, im Gleichgewicht erhält, ist das Ideal einer anderen flugtechnischen Richtung, die sich bereits durch eine Legion von guten Vorschlägen und eine ganze Anzahl von zweckmäßig ersonnenen und doch nach den ersten Versuchen wieder ins Dunkel getauchten Apparaten auszeichnet. Es sind glänzende Namen, die sich in den Dienst dieser Bewegung gestellt haben. Der durch Explosionsstöße und Flügelschläge getriebene Flieger von Trouvé ist nebst anderen Erfindungen dieser Klasse im Jahrgang 1894 geschildert worden. Trotz seines Erfolges im kleinen ist er ebenso schnell wieder von der Bildfläche verschwunden wie alle übrigen, bei ihrem Auftauchen mit so großem Enthusiasmus begrüßten Erfindungen dieser Art. Selbst von der Prof. Wellnerschen sogenannten Segelrad-Flugmaschine, in der die gekrümmte Lilienthalsche Flügelform mit allen anderen, bis 1896 erzielten Vorteilen vereinigt war, ist es längst wieder still geworden. Dagegen ist von der seiner Zeit auch in diesen Blättern beschriebenen Flugmaschine des amerikanischen Meteorologen Prof. Langley, die im Jahre 1896 über dem Potomacflusse eine Strecke von dreiviertel englischer Meile in der Luft durchmaß, neuerdings ein vergrößertes und vervollkommnetes Exemplar hergestellt, das leider die dann gesetzten Hoffnungen auch nicht gerechtfertigt hat. Nach dem glücklichen Erfolg des ersten kleinen Apparates hatte das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten dem Gelehrten 100.000 Mark zur Fortsetzung seiner Versuche zur Verfügung gestellt, aber die damit gebaute größere Maschine, die wiederum ohne Bemannung über dem Potomacflusse probiert wurde, flog nur etwa 250 m weit.

Also auch hier, selbst wenn wir alle Versuche der übrigen Aviatiker wie Maxim, Phillips, Hofmann, Stentzel u. a. einzeln anführen wollten, kein entscheidender Erfolg, sondern immer noch ein Suchen und Tasten, bei dem freilich eine fortschreitende Ausbildung der Hilfsmittel, besonders der leichten Motoren, nicht zu verkennen ist. War es ein Wunder, wenn demgegenüber die gegnerischen Anhänger des Propellerballons sagten: Wenn ihr es mit der Nachahmung des Vogelfluges nicht weiter bringt, so sind wir euch mit Hilfe des Ballons immerhin schon um Eins, das Schweben nämlich, voraus, und eure Errungenschaften, die leichten Motoren, die Anwendung des Aluminiums etc. kommen auch uns zu gute! Thatsächlich finden wir sie seit einigen Jahren wieder rüstig bei der Arbeit. Schwere Enttäuschungen freilich blieben ihnen nicht erspart. Der Aeronaut Wölfert, der seinen Wasserstoffballon durch einen kräftigen, in der Bambusgondel angebrachten Benzinmotor treiben wollte, verunglückte während eines Versuches bei Berlin, indem die Explosionsflamme des Motors in den Ballon überschlug. Dann versuchte man es, um die Nachteile der Ballondeformation bei heftigem Wind zu vermeiden, mit starren Ballonhülsen oder Gestellen, deren Stoffbespannung und Form unveränderlich ist. Der große Schwarzsche Aluminiumballon, der mit Anteilnahme und, wenn wir nicht irren, sogar mit Unterstützung der deutschen Militärluftschifferabteilung hergestellt worden ist, hatte zwar das Unglück, bei der ersten entscheidenden Auffahrt im November 1894 infolge Maschinenhavarie zu stranden, bedeutet aber immerhin, da er sich tadellos erhob und ein Stück gegen den ziemlich starken Wind anfuhr, einen gewissen Fortschritt. Man hätte wohl vorher nie geglaubt, daß der Vorschlag des alten Jesuitenpaters Lana, aus Blech getriebene Hohlkugeln zum Heben von Lasten in die Luft zu benutzen, sich noch einmal mit Hilfe des wunderbaren weißen Metalls der Thonerde verwirklichen würde.

Einer der vielen Laien, die, durch Neigung zur Luftschiffahrt hingezogen, allmählich ganz in ihren Problemen aufgehen und zu Technikern werden, ist der kühne, im 70er Kriege durch seinen schneidigen Rekognoscierungsritt ins Elsaß bekannt gewordene General Graf Zeppelin. Den Bau des von ihm geplanten Luftschiffs hat er in einer auf großen Pontons im Bodensee schwimmenden Halle ausführen lassen. Die Vollendung steht nahe bevor und seine Konstruktion soll uns als die jüngste Etappe auf dem Wege des Menschen zur Flugkunst nunmehr zum Schlusse beschäftigen.

Obwohl das Zeppelinsche Luftfahrzeug (s. Figur 7), gleich einem Eisenbahnzuge, aus mehreren aneinander gereihten cylindrischen Behältern in einer Gesamtlänge von 100 m und einem Inhalt von 10000 cbm besteht, macht es äußerlich doch den Eindruck eines einzigen, sehr langen und dünnen Ballons. Die Zwischenräume der einzelnen Abteilungen sind, wie letztere selbst, mit glattem Stoff bespannt und alle Vorsprünge, wo die Luft und der Wind hindernd anpacken könnten, sind vermieden. Um Gasverlusten während der Fahrt vorzubeugen, wird das durch Erwärmung und Ausdehnung ausgetriebene Gas in Reserveballons aufgespeichert, die ihren Platz zwischen den gleich zu erwähnenden Tragballons erhalten. Ein festes Geripp aus Röhren, Seilen und Drahtgeflecht schützt die Einzelballons vor schweren Beschädigungen; um aber den Gasinhalt und die Tragkraft auch bei harten Stößen unversehrt zu erhalten, ist das Gas selbst in den Abteilungen nicht unmittelbar, sondern in kleinen Einzelkammern aufgespeichert, von denen eine oder einige platzen können, ohne die Tragkraft wesentlich zu beeinträchtigen. Es ist das Princip der wasserdichten Schiffszellen auf die Luftschiffahrt angewandt. Dicht unter dem Ballon ist unverrückbar eine Reihe von Laufgängen durch Gestänge und Drahtseile befestigt. Sie tragen die Motoren unter der vordersten, gewissermaßen als Lokomotive dienenden Abteilung, die Passagiere und Lasten unter [568] den Trag- oder Luftballons. Die Propeller sitzen seitlich vom ersten Tragkörper und sind fest mit ihm verbunden. Um das Luftschiff in eine schräge Lage zu bringen, ist unter jedem Tragkörper ein Gewicht mittels eines Flaschenzuges aufgehängt, der an einer Laufkatze befestigt ist. Diese ruht fahrbar auf einem am Mantel des Tragkörpers befestigten Drahtseil und kann hin und her gezogen werden, wodurch man die schräge Lage des Ballons erreicht. Als Motoren dienen zehnpferdige Daimler-Benzinmaschinen, die in Verbindung mit denselben Luftschrauben, welche jetzt den Ballon treiben sollen, vorher auf einem Boote ausprobiert wurden, das anstatt durch Wasserschrauben, lediglich durch diese Luftpropeller in Bewegung gesetzt wurde. Die Versuche mit dem Ballon selbst sollen über dem Bodensee stattfinden, um das überaus kostbare Luftfahrzeug auch bei anfänglichen Mißerfolgen keinen Kollisionen mit der Erdoberfläche auszusetzen. Alle Vorbedingungen für ein glückliches Gelingen scheinen hier, soweit menschliche Berechnung reicht, im vollsten Maße gegeben; welches aber die Erfolge all dieser Mühe und dieses Scharfsinns sein werden, darüber wird die „Gartenlaube“ ihren Lesern später getreulich berichten.



Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Das lebende Bild.

Erzählung von Adolf Wilbrandt.

     (1. Fortsetzung.)

4.

Als Clotilde sich zurückwandte, sah sie im Gartensalon die Gesellschaft, die sich an der offenen Thür zu sammeln schien; Hans starrte neugierig hin. „Ich bin doch recht dumm,“ sagte sie, wieder in ihrem hellen, heiteren Weltton: „Hänschen will etwas erleben, und ich frag’ ihn hier nach dem alten Mahnke und nach der Landwirtschaft aus. Komm, mein Sohn: da ist die Quadrille!“

Hans, dessen Augen strahlten, wollte noch galant widersprechen; Clotilde hörte aber nicht, sie nahm seinen Arm und ging mit ihm ins Haus. Morland, der Hausherr, hatte in der That aus seinen Gästen, Damen und Herren, eine Gruppe gebildet; seine behagliche, phlegmatische, wohlbeleibte Gestalt mit der hohen Glatze trat vor, feierlich, so weit sie das konnte. Nach einem flüchtigen Blick und Gruß für Hans und einem humoristischen Räuspern nahm er das Wort: „Meine hochzuverehrende Schwägerin Clotilde, edler Gast meines Hauses! Es hat der werten Gesellschaft gefallen, dir außer dem Orden, den ich die Ehre hatte dir anzuheften, noch ein besonderes, festliches Ehrenzeichen zu widmen –“

Fanny, Morlands Frau, fiel ihm wie gewöhnlich in die Rede. Auf die jungen Damen neben ihr deutend setzte sie hinzu: „Das unsre liebreizende Jugend gepflückt und gewunden hat!“

Sie winkte einer der jungen Damen, einer stattlichen, beinahe schon üppigen Wohlgestalt; nun trat diese auf Clotilde zu. Mit etwas theatralischer Gebärde hob sie den Kranz in die Höhe, den sie in der Hand hielt, einen einfachen Kranz, den aber viele Seerosen schmückten, und sagte mit ihrer etwas rauhen, bedeckten Stimme: „Und ich soll die unverdiente Ehre haben, es zu überreichen. Diesen Kranz – unsrer Ruderkönigin!“

„Evviva!“ rief einer der Herren, der Bankier Ellenberger.

„Sie lebe hoch!“ schrie Morland.

Clotilde wehrte mit beiden Händen ab; sie hatte ihren jungen Ritter losgelassen. „Nein, nein, nein!“ rief sie aus. „Das ist Uebertreibung! Ich werde ja prämiiert wie bei einem landwirtschaftlichen Fest. Außerdem ist es ungerecht, muß ja den blassen Neid gegen mich erwecken. Diesen Kranz hätte Fräulein Jeannette von Lossow, unsre kühnste Reiterin, verdient … Da!“

Sie nahm ihn der stattlichen jungen Dame aus der Hand, aber nur um ihn ihr auf den Lockenkopf zu setzen. Dies gelang ihr indessen nicht; Jeannette von Lossow war stärker, oder gewaltthätiger. Sie ergriff den Kranz wieder; „nein, nein!“ sagte sie nun auch. „Der Königin der Gesellschaft!“ Damit drückte sie ihn Clotilden fest auf die Stirn.

„Bravo, bravo!“ rief Ellenberger.

Fanny Morland stellte sich vor Clotilde – sie hatten ungefähr den gleichen Wuchs, Fanny war aber voller, rundlicher geworden – und verneigte sich drollig gegen ihre Gäste, als wäre sie Clotilde. „Im Namen meiner Schwester dank’ ich der verehrten Gesellschaft und erkläre hiermit: Angenommen, Punktum!“

Clotilde zuckte mit den Achseln: „Was soll ich machen? Ich weiche der Gewalt. – Sehn Sie, großmütiges Fräulein Jeannette, wie mein Neffe sie bewundert; wahrhaftig, er hält förmlich den Atem an. Mein Neffe Hans von Hochfeld, den Sie noch nicht kennen.“

Hans verneigte sich tief; bei dieser übermütigen Bemerkung der Tante waren seine Wangen sehr erglüht. Er beeilte sich dann, Morland und Frau Fanny zu begrüben; ein beinahe krampfhaftes Lächeln stand auf seinem Gesicht.

„Nein, ihr treibt’s zu arg!“ fing Clotilde noch wieder an. „Man verwöhnt mich hier so, daß ich’s endlich gar nicht mehr aushalten werde, auf dem Lande zu leben.“

„Na, das wär’ ja gut!“ rief Fräulein von Lossow. „Kommen Sie nur zu uns nach Berlin! Da gehören Sie hin!“

Ellenberger lachte. Mit dem Fräulein durch den Saal gehend, summte er leise die bekannten, abgeleierten Verse (damals noch nicht so abgeleiert wie jetzt):

„Du bist verrückt, mein Kind,
Du mußt nach Berlin . . .“

„Tante Clotilde!“ flüsterte Hans, der dem Fräulein mit großen Augen nachblickte. „Aber die ist doch richtig jung?“

„O ja,“ antwortete Clotilde leise, mit dem geschulten Tondämpfen der Weltdame; „nach ihrem Taufschein sehr jung.“

„Ein ganz reizendes –! – Du! Ob die sich wohl für einen Landjunker wie mich –“

Er stockte.

„Interessieren könnte?“

Er nickte.

„Wenn du ein Pferd wärst, o ja!“

„Was heißt das?“

Clotilde blickte ihn lächelnd an; er verstand dieses Lächeln nicht. Der Bankier und Fräulein von Lossow kamen eben plaudernd zurück. „Fräulein Jeannette,“ sagte Clotilde, „ich muß Ihnen etwas verraten, das Sie nicht glauben werden: dieser mein Neffe, ein sonst braver Mensch, weiß noch nichts von Stronzian!“

Jeannettens wasserblaue Augen, für die große Gestalt zu klein, sahen dem jungen Menschen starr ins Gesicht. „Sie wissen nichts von Stronzian?“

„Nein,“ antwortete Hans verlegen. „Wer ist Stronzian?“

Ellenberger lachte fast beleidigend. „Sie wissen nicht, wer Stronzian ist? dieses Phänomen?“

„Mein edler Stronzian?“ setzte Jeannette hinzu.

„Ja, Ihr edler Stronzian,“ sagte Ellenberger mit komischem Vorwurf; „aber ich, der ich eins seiner Opfer bin: mit meinen besten Pferden schmählich besiegt –“

„Nämlich Bankier Ellenberger ist auch auf dem Turf zu Hause,“ bemerkte Clotilde, da Hans sie anglotzte.

„Ah!“ rief Hans. „Nun versteh’ ich endlich. Stronzian ist ein Rennpferd!“

Jeannette lächelte einen Augenblick, dann sagte sie wie in tiefem Ernst: „Aber, Herr von Hochfeld, so spricht man nicht von Stronzian. Das ist nach Kincsem das Höchste, was man erlebt hat –“

„Das Pferd aller Pferde,“ warf Ellenberger dazwischen.

Nun trat auch Fanny Morland wieder hinzu, sie schlug ihre lustigen Augen beinahe feierlich auf: „Dessen Namen ich garnicht mehr aussprechen kann, ohne mich zu begeistern!“

„Tante Fanny!“ stieß Hans in seiner Verwunderung hervor. „Du auch?“

„Ja, mein guter Junge. Warum ich denn nicht? Ja, auch ich leb’ und webe jetzt im Stronziankultus. Ich wette auf ihn, ich träume von ihm, ich glaub’ an ihn –“

„Na, das ist keine Kunst,“ rief der dicke Morland; „er gewinnt ja stets!“

Frau Fanny ließ sich aber das Wort nicht nehmen; „ja,“ rief sie aus, „veni, vidi, vici! – Du mußt seine Lebensgeschichte lesen, mein guter Junge; man hat sie gedruckt …“

[569]

Die „Mühle“.
Nach einer Originalzeichnung von St. Grocholski.

[570] Sie griff in eine von Morlands Seitentaschen und zog ein paar Blätter hervor. Nach einem Blick durch ihr langgestieltes Augenglas schüttelte sie aber den Kopf: „Nein, das ist es nicht. Das sind die Rennen, die ihm im September und Oktober noch bevorstehn. – Wo ist denn Stronzians Biographie?“

Rechts, wenn ich nicht irre/“ erwiderte Morlands phlegmatischer Bariton.

Fanny griff in seine rechte Seitentasche, ein Heftchen kam zum Vorschein. „Ja, das ist sie. Da!“ Sie drückte dem Neffen das Heft in die Hand. „Vierzigmal gesiegt! – Ich wette von nun an nur noch auf Stronzian! – Mußt dir mal mein Wettbuch anschauen; da wirst du sehn …“ Ihre Hand fuhr noch einmal in Morlands rechte Seitentasche; sie kam aber leer heraus. „Steckt mein Wettbuch denn links?“ fragte sie.

„Nein,“ antwortete Morland mit seiner unanfechtbaren, trockenen Gemütlichkeit. „In der Brusttasche, wenn ich nicht irre.“

Diesmal wollte er selber hineingreifen; Fanny kam ihm aber wie gewöhnlich zuvor; sie fand auch, was sie suchte. Sie hielt ihr kleines Wettbuch empor, dann reichte sie es dem Jüngling hin, der sie und Fräulein Jeannette noch immer tiefverwundert betrachtete. „Studiere das!“ sagte sie lustig ernsthaft; „bilde dich!“

„Und bis er sich gebildet hat,“ setzte Clotilde in demselben Ton hinzu, „verzeihen Sie ihm, Fräulein Jeannette; sein Herz ist eigentlich gut!“ Sie bemerkte jetzt, daß Herr von Marwitz sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtete; der einzige „Staatsmann“ in dieser kleinen Gesellschaft, Mitglied des sächsischen Landtags, eine elegante Erscheinung, nur durch eine Brille etwas entstellt. Er lächelte; sehr schmeichelhaft, wie es schien, aber es war doch etwas darin, das ihr eigentlich nicht gefiel. „Worüber lächeln Sie, Herr Politiker?“ fragte sie ohne Zögern; sie sagte gern alles frei heraus. „Mit Ihrem staatsmännischen Lächeln?“

„Ach, das war nur so,“ entgegnete Herr von Marwitz und lächelte wieder: „es war ohne jede politische Bedeutung. Ich – freute mich an Ihnen. Ich sah Sie so an, in Ihrer glücklichen, menschenfreundlichen, entzückenden Heiterkeit, und – und wunderte mich, daß Sie liebenswürdigste Frau doch auch einen Feind haben können. Denn Sie haben einen.“

„Ich?“ fragte Clotilde, nun auch verwundert. „Einen wirklichen Feind?“

„Ja, ja.“

„Wie sieht er denn aus? Was ist das für ’ne Art von Mensch?“

„Einer meiner Kollegen im Landtag; ein nicht sehr hagerer Mann, mit entschieden mehr Schädel als Haaren –“

„Ah!“ fiel Clotilde ihm ins Wort, „nun weiß ich, wen Sie meinen. Der hat mich einst als junges Mädchen angebetet, wie er behauptet; aber nun haßt er mich, wegen der Ochsenrede.“

„Ochsenrede?“ fragte Morland. „Was ist das?“

„Ach, dieser dicke Demosthenes machte mir den Hof; und sein abscheulicher Plan war, mich in den Landtag zu locken, wo mein Herz sich an einer seiner stimmungsvollen Reden tödlich berauschen sollte. In Gottes Namen! sagte ich endlich, morgen reden Sie wieder, um den Staat zu retten; ich nehme Ihre Eintrittskarte und ich gehe hin. Ich will Ihnen dann auch meine Gefühle zeigen: gefällt mir Ihre Rede so sehr, daß sie mich begeistert, dann werd’ ich mein Taschentuch in die Höhe heben und wie eine Fahne schwenken. Bleibt aber die Bezauberung aus, so heb’ ich das Taschentuch nur bis an die Nase und niese hinein! – Ich war nämlich damals ein ziemlich übermütiges Frauenzimmer, meine Herrschaften, und –“

„Na, da sei nur ruhig,“ rief Morland, „das bist du Gottseidank noch!“

„Also das war abgemacht. Ich sitze in der Loge, er unten bei den Rettern des Staats. Die Vorstellung – verzeihen Sie – die Sitzung hat begonnen. ‚Herr N. N. hat das Wort!‘ Mein Demosthenes steht auf –“

Clotilde trat hinter einen Stuhl, auf dessen Lehne sie die Hände legte; sie nahm eine sonderbare Haltung an, es war, wie wenn sie auf einmal breiter und dicker würde. Ein Doppelkinn heuchelnd, ein dümmlich bedeutendes Gesicht machend, begann sie mit einer eigentümlich fetten Stimme: „Meine Herren!“

Marwitz lachte auf. „Sehr gut! Ausgezeichnet! – Bitte, bleiben Sie stehn, gnädige Frau, halten Sie die Rede!“

„Ich soll diese ganze Rede halten?“

„Ja,“ rief Jeannette, „die ganze Rede!“

Ellenberger legte bittend die Hände aneinander: „So, wie Sie gestern beim Thee die Familie Miller spielten. Es war unvergleichlich!“

Clotilde lächelte; für so begeisterte Anerkennungen war sie sehr empfänglich. „Verlangt die ganze Gesellschaft, daß ich die Rede halte?“ Alles drängte näher, alles stimmte lebhaft zu. Jeannette schwenkte ihr Taschentuch.

„Gut, dann red ich, in Gottes Namen. Dann muß ich aber auch alle seine inneren Gedanken sprechen, die er während der Rede hatte – während er mich ansah – kurz, als stünde seine Seele nackt vor Gottes Thron! – Dieser Fächer ist sein Papiermesser, damit muß ich spielen. Diese Frisur“ – sie brachte ihr üppiges braunes Haar etwas in Unordnung – „stellt seine dreizehn Haare vor.“ Das Doppelkinn wuchs ihr wieder, die bedeutende Miene auch; sie that, als knöpfe sie sich den Rock bis oben zu; später knöpfte sie ihn wieder auf. Sie räusperte sich; dann fing sie an, mit der unheimlich fetten Stimme:

„Meine Herren! Es ist eines der ernsten Zeichen unsrer Zeit, daß die ,Ochsenfrage‘, wie ein geistreicher Vorredner den Gegenstand unsrer heutigen Verhandlung genannt hat, daß selbst diese Ochsenfrage zu einer Lebensfrage unsres Staates, ja des ganzen deutschen Vaterlandes wird und an den Säulen der öffentlichen Wohlfahrt rüttelt! Denn –“ Sie unterbrach sich; seitwärts verstohlen in die Höhe blickend, sagte sie leiser und wie für sich: „Ist sie da? – Ja. Sie hat das Taschentuch in der Hand …“

Mit einer drollig breiten und dicken Bewegung wischte sie sich den gedachten Schweiß von der Stirn; laut und kräftig fuhr sie dann fort: „Denn, meine Herren, wenn ein tiefsinniges altes Sprichwort sagt: quod licet Jovi, non licet bovi – was Jupiter darf, darf der Ochse nicht – wie kommen die Ochsen unseres vielbewegten Vaterlandes dazu, die Rolle des Blitzes zu spielen, der plötzlich aus heiterem Himmel auf uns niederfährt?“

Clotilde schielte wieder seitwärts hinauf, als säh’ sie nach der Loge. Ihre Stimme ward leise, blieb aber merkwürdig fettlich: „Warum lächelt sie? Findet sie es witzig –“ sie trocknete sich wieder die Stirn – „oder hab’ ich was Dummes gesagt?“

„Und doch“ – jetzt sprach sie wieder mit schallender Stimme – „und doch handelt es sich hier nicht um jene Ochsenfrage, die leider jedesmal auftaucht, wenn sich eine verderbliche Viehseuche unsern Grenzen nähert –“

Sie schielte und flüsterte: „Ich glaube, sie lächelt mir zu –“

„Auch nicht um weise Maßregeln unsrer Zollpolitik, durch die wir unsern Nationalbesitz an Rindvieh gebührender Weise zu vermehren trachten –“

Wieder schielend, flüsternd: „Warum hebt sie denn schon das Taschentuch? – Nur bis an den Mund ...“

„Sondern um eine jener –“

„Sie hält es sich vor den Mund!“

„Sondern um eine so künstlich aufgebauschte, pfahlbürgerliche Interessenfrage, daß der weiterblickende, echte Vaterlandsfreund wohl mit einigem Unwillen fragen darf: wer ist hier der Ochse?“

Clotilde lächelte selbstzufrieden; ihr kluges Gesicht war prachtvoll dumm. „Das war gut!“ flüsterte sie in sich hinein, nach der Loge schielend. „Ah! Jetzt hebt sie das Taschentuch. – Nein, nur bis zur Nase … Teufel! – – Die Pause wird zu lang …“

„Meine Herren!“ fing sie mit gewaltiger Stimme wieder an. „In einer solchen Lage –“

Ein rasches, erleichtertes Flüstern: „Sie reibt nur ihr Näschen …“

„In einer solchen Lage ist es die Pflicht der Regierung, den frivolen Anstiftern eines solchen Interessenkampfs den Herrn zu zeigen; hier also, den Ochsen bei den Hörnern zu fassen und ihm zuzurufen: ich, der Staat, bin ein größerer als du!“

Ein hoffnungsvolles Schielen: „Ob sie jetzt das Tuch hebt? – Ja!“

Plötzlich nieste Clotilde laut, mit merkwürdiger Kunst: es klang, wie wenn es aus einiger Entfernung käme. Dann war sie wieder der dicke Demosthenes: sie fuhr zusammen. Mit einem jammervollen Gesicht flüsterte sie stammelnd: „Sie niest! Großer Gott!“

[571] Wie wenn sie sich an einen Nachbar wendete, sagte sie schwach, gedämpft: „Bitte, ein Glas Wasser!“ – Darauf raffte sie sich noch einmal auf; die Augen, die umhergerollt waren, starrten leer, aber fest in die Ferne. Sie stützte die Hände heftig auf die Lehne. Wie mit ihrer letzten Kraft stieß sie laut hervor: „Dixi – animam salvavi!“ Im nächsten Augenblick war alles fort: das Doppelkinn, die Breite und Dicke, die denkende Borniertheit, die Niedergeschlagenheit. Clotilde trat mit leichter Anmut hinter ihrem Stuhl hervor und verneigte sich scherzhaft. Mit ihrer natürlichen Stimme sagte sie: „Dies, meine Herrschaften, war die Ochsenrede.“

„Bravo, bravo!“ rief Herr von Marwitz. „Als ob ich ihn hörte! – Gestatten Sie, Herr Kollege, daß ich Sie beglückwünsche!“

Er drückte ihr scherzend feierlich die Hand, wie im Parlament. Die andern klatschten und riefen Bravo. Jeannette von Lossow ergriff Clotildens rechte Hand und küßte diese mit Gewalt, da sie sich sträubte.

„O Sie goldenste Frau!“ rief Jeannette; ihre Stimme blieb leider dumpf und fast rauh. „Wie haben Sie das gespielt! – Nun halt’ ich es nicht länger aus ohne Ihr Bild. Sie haben mir’s versprochen!“

„Ja, wenn ich nur noch ein einziges hätte –“

Clotilde sah Hans, der neben ihr stand, vor Vergnügen strahlend. „Hänschen!“ sagte sie. „Mir fällt ein: du hast ja meine Photographie in der Brusttasche. Willst du sie mir für das Fräulein geben?“

„Mit unendlichem Vergnügen,“ erwiderte Hans voll Eifer und griff in die Tasche. „Das heißt, Tante, auf Ersatz!“

„Gewiß!“

„Mit Autograph!“ rief Jeannette.

„Wie Sie wünschen.“

Clotilde nahm die Photographie, zog einen zierlichen Stift aus ihrem Gürtel, der das Matrosenjäckchen umschloß, und schrieb auf die Rückseite des Kabinettsbildes ein paar Worte. Dann gab sie es dem Fräulein hin.

„Tausend Dank!“ sagte Jeannette verzückt, und las. „Ich muß noch was dazu schreiben …“

Sie zog auch einen Bleistift hervor und schrieb etwas unter Clotildens Schrift.

„Darf man wissen, was?“

„O ja; es ist kein Geheimnis.“

Clotilde blickte ihr über die Schulter und las: „Mein Ideal!“ – Sie lächelte; darauf machte sie doch ein ernstes, mißbilligendes Gesicht. „Kind! was schreiben Sie da!“

„Die Wahrheit, weiter nichts!“

„Sie sollten mir lieber Revanche geben; Ihr Bild.“

„Aber selbstverständlich, süße Frau,“ erwiderte Jeannette; „sobald ich eins habe! Ich lass’ mich nächstens zu Pferde photographieren; das erste Bild bekommen Sie. Einstweilen aber – warten Sie – einstweilen geb’ ich Ihnen etwas Besseres – ich hab’s immer bei mir – Stronzians Photographie!“

Sie holte sie aus ihrer Tasche; es war nur ein Bildchen. Clotilde konnte sich nicht enthalten, zu lächeln; mit höflich versteckter Ironie verneigte sie sich ein wenig: „Sie berauben sich so um meinetwillen. Danke, danke!“ – Hans trat unwillkürlich näher; seine neugierigen Augen ergötzten sie. „Nun, so schau dir das Wunder an!“ Sie hielt ihm das Bildchen hin; es blieb dabei zwischen ihren Fingern. Während Hans das Rennpferd betrachtete, sah sie, daß auf die weiße Rückseite etwas geschrieben war. „Was steht denn da?“ sagte sie gedankenlos. „‚Mein Ideal!‘ – Ah!“ Jeannettens weißes Blondinengesicht ward bis an die Augen rot. „Mein Gott!“ entfuhr ihr im ersten Schreck. Sie streckte eine Hand aus, um Clotilden das Bild wieder wegzunehmen; hielt dann aber verlegen inne. „Verzeihen Sie … Ich hatte ganz vergessen, daß –“

„Daß Sie noch ein Ideal hatten?“ fuhr Clotilde statt ihrer fort, mit liebenswürdig umschleiertem Lächeln. „Was ist da zu verzeihen? – Ich Glückliche: ich steh’ bei Ihnen ebenso hoch wie ein so vortreffliches Pferd!“

5.

Es folgte eine kleine Stille, dann ein gedämpftes, diplomatisches Lachen. Die Gesellschaft fing an, sich plaudernd zu verteilen; Marwitz und Ellenberger zogen mit Jeannette und einer zweiten jungen Dame im Saal herum. Clotilde fühlte eine Hand an ihrem Arm. Sie wandte sich und sah, daß es die Schwester war. „Was willst du?“ fragte sie. „Was giebt’s?“

Fanny erwiderte noch nichts; sie behielt den Arm in der Hand, winkte mit den Augen ein wenig und führte Clotilde langsam in ein Nebenzimmer. Unterwegs begann sie leise zu sprechen: „Na, Tilde, wie steht’s? Hast du Antwort auf dein Telegramm?“

Clotilde verdüsterte sich. Sie zögerte, es schien, daß sie gar nichts erwidern wollte. Endlich sagte sie doch: „Nun ja. Durch Hans.“

„Und was will der Gatte?“

„Das – das weiß ich noch nicht.“

„Das weißt du noch nicht?“

„Nein; du hörst ja doch. – Wird sich finden, sagt er. – Vielleicht kommt er selbst.“

„Hierher?“

„Ja; wohin denn sonst?“

„Verzeih. Ich frag’ wohl recht dumm. – Ich möcht’ dir nur sagen: wenn er kommt, und wenn er dann – – Tilde, Tilde, bleib fest!“

Clotilde machte ihren Arm los; ihr Gesicht ward bleich und noch finsterer.

„Ach ja, Kind,“ flüsterte Fanny rasch, „es ist eure Sache, ganz allein, das weiß ich. Aber ich bin doch älter als du; und ich hab’ die Erfahrung –“ durch die offene Thür sah sie auf ihren Morland zurück – „also erlaub mir nur ein Wort! Dies ist eure Krisis, Kind. Dein Julius schmollt und grollt jetzt abseits in seinem Zelt, wie Achill; der war’s ja doch, nicht? Bleib du fest! Bleib du fest! Er kommt vielleicht jetzt und spricht irgend ein großes Wort, das lieben die Männer ja. Sag du nicht viel und bleib fest! Wenn der Gatte sieht, daß seine thörichte Laune nicht über dich siegt, daß du ruhig auf deinem Willen beharrst, weil er vernünftig ist, dann wird er endlich in sich gehn, dich gewähren lassen – und zu dir zurückkommen!“

Clotilde, die vor sich nieder sah, schüttelte leise den Kopf.

„Schau, Tilde, wie hab’ ich meinen Anton erzogen; das ist ja doch das reine Glück, für ihn und für mich! Ich nähr’ ihn vortrefflich – das sieht man – ich lass’ ihm seine kleinen Liebhabereien und Thorheiten – daran hängt er; warum auch nicht. Die geben ihm zugleich das Gefühl, daß er ein freier Mann ist; na, das ist ja gut. Dafür hab’ ich die Freiheit, in allen Ehren zu thun, was ich will.“ Sie gab der Schwester einen kleinen Stoß mit der kleinen kräftigen Hand: „Hörst du? Bleib fest!“

Clotilde antwortete nicht. Fanny nahm ihren Arm, da die Hausfrauenpflichten ihr wieder einfielen, und zog sie in den Gartensaal zurück. „Meine Damen und Herren,“ rief sie mit ihrer hellen, lebenslustigen Stimme, „jetzt kommt der Ernst des Tages! Es will Abend werden; – ja, ja, mein Berthchen. Die geehrten ‚lebenden Bilder‘ werden die Güte haben, sich in ihre Garderoben zu begeben; die Primadonna, Frau Clotilde von Hochfeld, voran. Unterdessen nehmen wir andern im Konzertsaal Musik und Erfrischungen zu uns; – auch Herr Hans von Hochfeld wird hiermit feierlich geladen.“ Sie tätschelte Clotildens Wange: „Komm, lebendes Bild! Komm!“

Clotilde nickte zerstreut; eine sichtbare Unruhe war über sie gekommen. Sie sah in den Garten hinaus, auf dem die letzte Abendsonne lag. Etwas lange Zurückgedrängtes bedrückte ihr die Brust … Wo ist Luise? dachte sie. Wo bleibt denn das Kind? Es ist ja beinah, als meide sie mich. Sie geht ihrer Mutter förmlich aus dem Wege. Bei der Quadrille nicht, und im Garten auch nicht?

„Ja, ja, ich komme gleich,“ sagte sie und ging zur Gartenthür. „Laß nur erst die andern – – Ich bin immer die Schnellste. Ich komm’ immer noch zur rechten Zeit!“

„Willst du noch in den Garten?“ fragte Fanny.

Clotilde nickte, ohne zurückzusehn, und trat hinaus. Fanny folgte ihr mit den Augen; sie wunderte sich eigentlich nicht, sie wußte, daß die Schwester zuweilen ihre „Launen“, ihre „Grappen“ hatte.

„Wirst du dich nicht verspäten?“ rief sie ihr noch nach.

„Nein!“ rief Clotilde ungeduldig zurück.

Es that ihr auf einmal wohl, daß sie wieder im Freien war; vielleicht mehr noch, daß sie nicht mit den andern war; sie dachte nicht darüber nach, sie schritt aus. Wo ist Luise? dachte [572] sie wieder, mit den Augen suchend. Am Wasser? – Nein, da steht sie nicht; das ist nur ein Bäumchen. – Bei den Gewächshäusern? Diese Pflanzenwut hat sie ja vom Vater …

Sie wandte sich nach links; in demselben Augenblick erschien das Kind. Es ging langsam, in sich versunken, einen schmalen Pfad zwischen dichten Gebüschen hin; die lange, magere Gestalt erschien wohl noch magerer in dem schrecklich einfachen, dunklen Kleid, das der Mutter ein Greuel war. Und doch war auch etwas Vornehmes in dem ernsten Wesen … Clotilde betrachtete sie aufmerksam, mit einem schmerzlichen Gemisch von Verdruß und Freude. Es ward ihr so eigen eng ums Herz. Wie viel sie vom Vater hat, dachte sie, in Haltung und Gang. – Jetzt schaut sie auf, jetzt entdeckt sie mich. – Wie ernst sie mich ansieht. – Sonderbares, wunderliches Kind!

Luise kam heran, langsam wie vorher; sie nickte der Mutter zu. „Du noch im Garten?“ fragte sie etwas verwundert, mit der noch so jungen Stimme.

„Das wollt’ ich dich eben fragen. Und so allein für dich.“

„Mich entbehrt ja niemand,“ warf Luise scheinbar leicht und harmlos hin. „Oder hat man mich vermißt?“

„Vermißt? Ich hatte dich entschuldigt: du seist so beschäftigt.“

„Danke! Na, dann ist’s ja gut! Ich hatt’ auch wirklich zu schreiben; notwendige Briefe. – Und wenn sie jetzt Musik machen, oder Apfelsinen essen, was liegt daran, ob ich mitesse. Ich möcht’ lieber noch im Garten bleiben; die Elbe mit dem schönen Abendlicht und die Stadt da drüben – die Dampfer … Aber du willst dich ja griechisch kostümieren, Mutter.“ Das Mädchen sah auf seine Uhr. „O, da mußt du wohl gehn! Es wird spät!“

Ueber Clotildens Lippen flog ein etwas gereiztes Lächeln. „Nein, dieses sechzehnjährige Mädel ist die Pünktlichkeit in Person! sieht immer nach der Uhr –“ Sie brach ab. In Gedanken setzte sie hinzu: grade wie ihr Vater!

Luise zuckte mit einer liebenswürdigen Gebärde die Achseln; die erste Heiterkeit huschte über ihr Gesicht. Der Mutter ward doch wieder weich ums Herz. „Hast doch nicht immer im Zimmer gehockt?“ fragte sie so recht mütterlich.

„O nein. O, was denkst du! Nachdem ich die Briefe verfaßt hatte – am offenen Fenster – ging ich ins Gewächshaus; da hab’ ich lange die Pflanzen studiert. Dann kamen mir auf einem Beet die Blumen so vernachlässigt vor; da hab’ ich Wasser geholt und hab’ sie begossen.“

Wieder des Vaters Kind! dachte Clotilde, mit einem gepreßten Lächeln. Ihr schien auf einmal, daß sie diesem Kind viel zu sagen habe, daß ihr allerlei von der Seele müsse. Sie nahm Luise bei beiden Händen; dann ließ sie sie wieder los, legte einen Arm um ihre „lange Magere“ und ging so mit ihr auf und ab. „Ich hab’ dir allerlei zu erzählen,“ fing sie mit einer gewissen Unruhe an, die sie durch einen leichten Ton wegzuplandern suchte. „Nämlich dein Vater, Kind –“

„Soll ich hin?“ unterbrach das Mädchen sie. „Wann denn?“

„Nein. – Er kommt vielleicht heut noch her …“

„Ah!“ – Luise hob beide Arme vor Freude.

„Er will natürlich sehn, wie du dich nun ausnimmst. Ob du in der kleinen, stillen Stadt – – In eine Dresdener Pension wollt’ er dich ja damals nicht geben; er dachte, du wärst da der – Villa Viola zu nahe; du weißt, er hat nun einmal diese – Aversion gegen das Morlandsche Haus! Na, da gaben wir dich lieber gleich weit fort, damit du in eine ganz andere Luft, zu ganz anderen Menschen kämst; zu süddeutschen, wünschte dein Vater. Es hatte ja auch viel für sich; hat dir wohl auch gut gethan … Hat es? – Man weiß noch nicht! – Wie ernst, wie forschend guckst du mich an. Kann ich’s denn schon wissen? Wie viele Stunden, Kind, hab’ ich dich denn schon gesehn?“

Luise sah auf den Weg und schwieg.

Mit wachsender Anstrengung, etwas gereizt, ohne zu wissen warum, fuhr die Mutter fort: „Also nach diesem großen Abschnitt in deinem Leben: aus der Schule in die Welt hinein – was für Augen wird Vater machen! – Ich hoffe, dein liebes, gutes Gesicht wird ihm wohl gefallen; na, und vielleicht auch das an dir, was mir nicht gefällt – “

„Hm!“ machte das Kind. – 0 „Zum Beispiel, Mutter?“

Clotilde lächelte flüchtig, schwach: „Zum Beispiel schon dieses ,Hm‘, das du dir offenbar bei deinen Süddeutschen nicht abgewöhnt hast, und das so sonderbar unjugendlich, unmädchenhaft ist; hinter dem sich allemal ein stiller kleiner Trotz – ja, ja – oder eine kritische Mißbilligung versteckt. Ueberhaupt, mein liebes Herz, möchte ich dir sagen: Kind, werde kindlicher! Junges Mädchen, werde jünger, werde mädchenhafter! – Mädchen und Frauen, weißt du ja doch, sollen wie Blumen sein, ein Schmuck für die Welt; und wie brav und gut wir auch in unserm Innersten sein mögen, unsre erste Pflicht bleibt doch immer, liebenswürdig zu sein. Es ist gewiß sehr lobenswert und sehr respektabel, wenn man ein tüchtiger, ordentlicher und solider Mensch ist; aber so wenig wie man seinem Kind wünschen kann, mit zwanzig Jahren schon graue Haare zu haben, so wenig könnt’ ich wünschen, mein Herz, daß du vor lauter Tüchtigkeit und Solidität mit zwanzig Jahren ein altes Mädchen würdest, dem man respektvoll ausweicht! Deine Pünktlichkeit, deine Ordnungsliebe, deine in dich gekehrte, stille Ernsthaftigkeit, dein fast kaufmännisches Buchführen – dazu die Einfachheit deiner Toilette; schau dich doch nur an – all diese ehrenwerten Eigenschaften haben, wie ich leider merke, so ungestört an dir zugenommen, daß ich vorhin einmal dachte: ist sie älter, oder ich? – Meine liebe Luise, halt’ ein wenig inne! Uebertreib’ es nicht! Werd’ mir nicht ehrwürdig, liebes, gutes Kind, eh du rechtschaffen jung warst!“

„Hm!“ machte Luise wieder, mit einem halb kindlichen Schmollen der vorgestreckten Lippen. „Ich soll also lieber unpünktlich, unordentlich und unsolid sein –“

„Gott sei Dank,“ rief Clotilde aus, „da spricht sie einmal wie ein dummes Ding! – Nein, das sollst du nicht; aber – “

„Aber das alles hab’ ich ja vom Vater!“

Clotilde war eine Weile still. „Ja, gewiß, gewiß,“ sagte sie dann, so sanft wie möglich. „Ich hab’ ja auch vorausgeschickt: es sind ehrenwerte, gute, gute Eigenschaften. Nur – nur übertreib sie nicht! Sie sind auch gefährlich, mein Kind. Sie können sehr – drückend werden, wenn man sie hegt und pflegt, wenn sie immer wachsen und wachsen … Schau dich an, wie du aussiehst. Dieses Nonnenkleid –“

„Ich lieb’ es so, Mutter.“

„Ja, ja! Du liebst es so. Womit wird das enden? Daß du jahraus jahrein dasselbe Gewand trägst – nun ja, wie er, dein Vater. Daß man dich auswendig weiß wie ’nen Gesangbuchvers. Und daß du die Treue gegen deine Ueberzeugungen endlich auch so weit treibst, alles auf Vorrat, doppelt und dreifach zu haben: Hut, Rock, Mantel, alles. Sieh zu, mein Kind, ob dich die Welt dann auch liebenswürdig findet –“ sie stockte, sie zögerte – „wem du dann gefällst, wen du damit beglückst! – Ich geh’ jetzt, um mich umzukleiden; – muß ja sonst fürchten, du siehst wieder nach der Uhr. Möcht’st du unterdessen ein wenig über meine Warnungen nachdenken ...“

„Gewiß!“ murmelte das Mädchen, mit verhaltener Melancholie.

„Also ein andermal mehr davon!“

Clotilde ging der Villa zu. Sie blieb stehn und sah noch einmal zurück, mit einem freundlichen Mutterblick; dann schüttelte sie aber plötzlich den Kopf. „Nein, ich kann’s nicht anschauen! Diese Nüchternheit – das ist Mord!“ Sie kam gelaufen, wie ein junges Mädchen, löste sich mit Eins zwei drei ihre himbeerrote Krawatte ab und band sie Luisen um den Hals. „Ich muß dich etwas aufmuntern. So!“ Darauf lief sie ins Haus.

6.

Luise stand regungslos im Weg und sah in die Luft. Sie meint, ich versteh’ sie nicht, dachte sie und seufzte leise. Ich versteh’ sie recht gut. Das alles gefällt ihr nicht, was ich vom Vater hab’; – bei dem sie nicht ist – und der nicht bei ihr ist. – Ach Gott! Sie legte sich eine Hand auf die Stirn; dort oder anderswo – sie konnte nicht sagen, wo – war ihr weh zu Mut. Es war ihr schon öfter so gewesen, hier in diesen Tagen. Alsdann erleichterte sie nichts, als mit sich zu sprechen, laut; Wie ihre lebhafte, so gern phantasierende Mutter, von der sie’s geerbt hatte. Wie oft hatte sie schon als Kind mit lauter Stimme geträumt; bis sie endlich ein leises Lachen hörte und der Vater oder die Mutter oder beide in der Thür standen und auf ihr närrisches Mädel herablächelten … „Ach,“ sagte sie traurig vor sich hin, „damals waren sie beisammen, die Eltern; und miteinander so lieb,

[573]

Holztriften in der Partnachklamm.
Nach dem Leben gezeichnet von R. Reschreiter.

[574] so gut. – – Mutter mag mich nicht. Was soll ich denn anfangen, um ihr zu gefallen? Soll ich nicht mehr Luise von Hochfeld sein?“

Sie hörte Schritte hinter sich, erwachte und verstummte. „Meine Luise!“ hörte sie dann. Sie fuhr vor Freude zusammen. Als sie sich herumdrehte, sah sie den Vater im Wege stehn; ganz so, wie sie ihn beim Abschied nach Neujahr gesehen hatte: im dunkelbraunen, breitrandigen Filzhut, einen braunen Kapuzmantel über die Schultern geworfen; darunter ein schwarzer Rock. Er lächelte sie herzlich an. Sie lief ihm entgegen und warf sich ihm an die Brust. „Vater!“ rief sie und küßte ihn.

Er streichelte sie. „Gutes, holdes Kind! – Da steht sie! wirklich!“ – Ein zärtliches Lächeln flog über sein Gesicht: „Sprachst eben wieder laut mit dir; daran allein hätt’ ich dich erkannt. Also diese träumerische Offenherzigkeit haben wir behalten! – – Friedrich hatte doch recht. Ich kam angefahren, da stand er an der Gartenthür. Er behauptete, du wärst noch im Garten. War mir grade recht: nun stieg ich gleich an der Gartenthür ab und schlich mich herein. Und kann meinen Liebling ans Herz drücken, ohne die ganze Bevölkerung des Salons zu sehn …“

Mit einem Ausdruck des Widerwillens, die Brauen zusammenziehend, blickte er nach der Villa hin. Darauf suchte er das Kind wieder anzulächeln, fuhr ihr mit unruhiger Hand über das weiche, dunkle Haar. „Eine Stunde wenigstens hab’ ich dich … Dann – schnell wieder fort!“

„Nein,“ sagte Luise rasch, „nein, du sollst nicht fort.“ Sie nahm ihm Hut und Mantel ab und trug beides zu einer Hängematte, die in der Nähe zwischen zwei Bäumen hing, warf es dahinein. „Das geb’ ich dir nicht wieder,“ sagte sie künstlich heiter, während sie zurückkam. „Also mußt du hierbleiben!“

Julius ward finster. Ein tiefes „Hm!“ – ach, sie kannte das so gut – brach aus ihm hervor. Sie verlor ihr Lächeln; etwas scheu sah sie ihm in die ernsten grauen Augen. „Verzeih, wenn ich eben was Dummes gesagt hab’. – Ich wollt’ dich nur nicht wieder hergeben, Vater; hab’ dich ja noch gar nicht – –“

Sie schmiegte sich weich an ihn; es war, als umrankte sie ihn. „Sei nur gut!“ flüsterte sie. „Hab’ mich lieb!“

„Was red’st du, Kind?“ erwiderte er und streichelte sie wieder; „hätt’ ich dich etwa nicht lieb? Bist du nicht mein Glück?“ Er legte sie sich recht in den Arm; so führte er sie, zuweilen die leichte Gestalt ein wenig hebend, den gewundenen Kiesweg entlang, zum Elbstrom hin. Das Haus hinter sich, das er nicht anschauen mochte, blickte er mit ihr nach der Stadt hinüber, nach der alten und der neuen Brücke, die noch von Leben wimmelten. Dann wieder sah er in ihr junges, charaktervolles, reizend nachdenkliches Gesicht. „Nein, nein,“ sagte er mit Vaterstolz, „deine Pensionsmutter hat nicht übertrieben: eine rechte Blume. Vorhin etwas blaß; jetzt nicht mehr … Da steht eine Bank; komm, setzen wir uns. So, ganz nah zu mir; laß mich diesen schönen Augenblick mit ganzer Seele genießen!“

Er drückte sie sanft an sich; wie ein stilles Bild saß sie in der Dämmerung neben ihm da. „Dies ist nun also nicht mehr die Schulbank in der Pension,“ fing er nach einer Weile mit etwas gepreßtem Ton wieder an. „Englisch und Französisch haben wir vorläufig genug gelernt; jetzt auf gut Deutsch ins Leben – tapfer und tüchtig, nicht wahr – wie es uns auch anschaut!“

Sie hörte den leisen schwermütigen Klang in seiner Stimme; in ihr selber klang’s ebenso. „Gewiß, lieber Vater, gewiß!“ sagte sie fröhlicher, als sie’s fühlte.

„Deine Pensionsmutter, mein gutes Kind, hat mir viel Liebes und Schönes von dir geschrieben: daß du in manchem ein Vorbild für die andern warst, ausdauernd, gewissenhaft, treu, liebevoll mit allen Geschöpfen der Natur, Pflanzen oder Tieren; auch musterhaft ordnungsliebend.“ Er lächelte zufrieden. „Darin erkenn’ ich mein Kind!“

Sie lächelte auch und nickte.

„Dann – ja, dann hat sie mir freilich auch andres geschrieben – das nicht so erfreulich ist. Gewisse Sonderbarkeiten deines Temperaments, die seien trotz all ihrer Bemühungen auch gediehen;“ er lächelte gezwungener: „Unkraut in dem Weizen. Zum Beispiel, dieses ernsthafte Geschöpf, dieses charaktervolle kleine Mädchen da, plötzlich, so von Zeit zu Zeit, verfällt es in die Leidenschaft, sich zu vermummen, Faschingsnarreteien zu treiben, mit andern oder auch ganz allein; sich mit bunten Lappen und Fähnchen zu behängen, vor den Spiegel zu gehn, sich darin wie ein Pfau zu beäugeln – bis man ihr alles fortnimmt wie einem Kind. Ja, mit diesen Worten, glaub’ ich, hat sie mir’s geschrieben. Dann erwacht auch manchmal noch ein andrer kleiner Teufel in ihr, gegen den ich früher gekämpft hab’, du weißt wohl noch; der Spielteufel …“

Luise blickte ihn mit den dunklen Augen sehr ernsthaft an; es war ein eigentümlich verschleierter, rätselhafter Blick.

„Der Spielteufel,“ wiederholte er, durch diesen Blick etwas erregt; „also auch noch nicht ausgetrieben! Alles, was dir unter die Hände kommt, schreibt Frau Walter – Karten, Domino, Würfel, Damenbrett, ich glaub’, auch Schach – alles wird in solchen Zeiten gepackt, ins Versteck geschleppt; und mit derselben zähen, leidenschaftlichen Ausdauer, mit der du sonst deine guten Eigenschaften ausübst, giebst du dich dann diesem Spielteufel hin!“

Luise wiederholte leise das Wort, das ihr offenbar nicht gefiel. „Warum ist denn das unrecht?“ sagte sie darauf, vor sich nieder blickend. „Ist es denn ein Laster, zu spielen? Ist es eine Schlechtigkeit, wenn man sich vermummt?“

„Das sag’ ich nicht, mein Kind. Aber da nun einmal dieser Fluch auf unsern Fehlern ruht – wie oft hab’ ich dir das gesagt – daß sie so wenig wie wir im Stand der Kindheit und der Unschuld bleiben, daß sie wachsen und wachsen, wenn man sie nicht ausreutet; und daß sie zuletzt wie Schmarotzerpflanzen den Stamm umschlingen und aussaugen, bis wir nur noch dazu da sind, für ihr Leben zu leben –“

Ein Seufzer entfuhr ihm, in einer plötzlichen Bewegung stand er auf, er atmete tief. Dann erst beendete er seinen Satz: „Darum sag’ ich dir heute, daß mich das betrübt; daß es – mich erschreckt. Meine liebe Luise, gieb acht! Laß diese lieben kleinen Teufel nicht so wachsen, wie –“

Unwillkürlich blickte er nach der Villa hin, in der schon die ersten Lichter angezündet wurden. Er brach ab; er schüttelte nur noch Luisens Schulter. „Jag sie fort!“ stieß er mit einer Art von Lächeln heraus. „Jag sie fort!“

Wie von einer inneren Unruhe getrieben ging er dann von der Bank hinweg, der Gartenmauer zu.

Luise blieb sitzen. Ihre Arme hingen schlaff hinunter, auch der Kopf sank ihr gegen die Brust. Die Lippen öffneten sich ein wenig; ein mutloser Seufzer drängte sich an die Luft. Mir ist nicht zu helfen, dachte sie. Was ich von der Mutter hab’, das gefällt dem Vater nicht; und ihr nicht, was von ihm ist. Ja, was bleibt dann von mir? – Dann muß ich mich ja auflösen, in lauter Nichts. Dann haben sie vielleicht ein Kind, wie es ihnen gefällt!


7.

Frau Fanny Morland kam aus dem Hause, in ihrem behaglichen, etwas wiegenden Gang, dem man aber doch wohl abmerken konnte, daß diese rundliche Frau wußte, was sie wollte. „Schwager Julius!“ rief sie, während sie näher kam. Julius stand mit einer unwirschen Gebärde still und kehrte sich zu ihr herum.

Die gute Erziehung siegte, er ging ihr entgegen. „Eben sagt mir euer Friedrich,“ fuhr Fanny wie in schönster Unbefangenheit fort, „daß du im Wagen gekommen bist. Das war ein guter Einfall von dir! Freut mich außerordentlich. Du Einsiedler, du Entflohener –“

Auf eine ungeduldige Bewegung, die Julius durchaus nicht unterdrückte, ward sie augenblicklich still. Sie lächelte nur noch herzlich, zur Begrüßung, und gab ihm die Hand.

„Guten Abend, Fanny,“ sagte er höflich. „Du hast Gesellschaft, darum dacht’ ich gar nicht daran, dich oder irgend jemand zu stören. Ich wollte das Mädel sehn. Ich verschwind’ auch bald wieder; mein Wagen wartet.“

„Ah!“ rief Fanny aus. „Nein, nein!“

Luise war aufgestanden, sie horchte. Er will wieder fort! dachte sie voll Schmerz; es gab ihr einen Stich in die Brust. Es empörte sich etwas in ihr … Nein, fuhr ihr nun wie ein Blitz durch den Kopf, so bald lass’ ich ihn nicht wieder fort! – Ihr fiel ein, daß sie ihm Hut und Mantel fortgenommen hatte; beide lagen noch in der Hängematte. Die war aber zu nah; man konnte sie sehn. Rasch entschlossen, nach ihrer Art, ging sie hinter dem Vater und der Tante vorbei, nicht zu schnell, damit die nichts merkten; eher etwas träumerisch, als hätte sie nichts [575] im Sinn. Erst als sie vor der Hängematte stand, mit dem Rücken gegen die Beiden, die sie miteinander sprechen hörte, lächelte sie kindlich froh; „du wirst angeführt!“ sprach sie vor sich hin. Vorsichtig nahm sie Mantel und Hut, trug sie tiefer in den Garten hinein, bis zu einem kleinen Lusthäuschen, das bei dem großen Gewächshaus stand. Drinnen legte sie ihre Beute auf den runden Tisch. Wer wollte sie nun finden? – Sie liebäugelte mit dem schönen braunen Hut, der für sie zum Vater gehörte, in dem sie ihn sich am liebsten vorstellte. Sie setzte sich dazu und legte eine Hand auf ihn. Auf einmal verging ihr dann alle Freude; sie fing an zu weinen …

„Das hatt’ ich mir schöner gedacht,“ sagte unterdessen Fanny, mit einem bekümmerten Blick auf den spröden Gast. „Ich hoffte – – Es ist ja wohl schon ein Monat, daß du nicht mehr hier warst!“

„Mag sein,“ entgegnete Julius. – „Clotilde macht Toilette, wie ich höre – “

„Ja, für das lebende Bild.“

„Für das lebende Bild,“ sprach er ihr unfroh murmelnd nach. – „Wo ist denn Luise geblieben?“

„Da in den Garten hinein. Wird wohl wiederkommen. Ich weiß nicht, ob ich wagen darf, dich in den Salon –“

„Bitte, nein, nein!“ fiel er ihr ins Wort. „Du weißt, meine liebe Fanny, mir gefällt eure moderne Gesellschaft nicht.“

„Modern!“ sagte sie ruhig lächelnd. „Ihr modernen Verächter der Gesellschaft braucht so gern das vernichtende Wort ,modern‘! Mein Gott, antik können wir doch nicht sein. Es wär’ wohl auch noch sehr die Frage, ob wir dabei gewönnen, lieber Julius; mir scheint wenigstens, eure alten Griechen lebten auch in sehr ,gemischter‘ Gesellschaft! Mit all ihren Fabelgeschöpfen, ihren Faunen, Satyrn, Centauren –“

Julius unterbrach sie wieder: „Fabelgeschöpfe? Bitte sehr; ganz was anderes. Das sind alles tiefsinnige, symbolische, ewig wahre Geschöpfe; ewig wahre Nachbilder der menschlichen Unnaturen und Thorheiten. Eurer Unnaturen –“

„Ah!“

„Jawohl! Eurer, eurer! Ihr seid’s, sie kannten euch alle – euch da im Salon!“

„Das ist mir neu,“ erwiderte Fanny herzhaft lächelnd. „Wenn du mir das gefälligst –“

Centauren, sagtest du. Da in deinem Salon sind ja gleich so ein paar von ihnen, aus Berlin importiert! Fräulein Jeannette von Lossow, diese Prachtcentaurin, die offenbar in ihrer schönen Seele nur zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Pferd ist –“

„Ah, ah!“ rief Fanny aus, beleidigt und belustigt zugleich.

„Dann der Bankier Ellenberger, dieser Halbmensch, der sich durch seine Pferde zu ergänzen sucht; – der ist allerdings nur ein nachgemachter Centaur: die beiden Hälften sind künstlich zusammengenäht – wie die beiden Gaukler, die sich zusammengenäht hatten, um für siamesische Zwillinge zu gelten. Dann schwebt da, wie ich höre, Frau von Helling herum, diese alte Sirene, die mit ihrer süßen Stimme die Männer anzulocken sucht –“

„Nein, du bist abscheulich! Pfui!“ sagte Fanny, die wider Willen lächelte. „Als wenn mein Salon – – Und wir alle, sagst du. Also ich? Morland? Deine Frau?“

„Ist denn meine Frau nicht ein weiblicher Proteus, wie man ihn nur wünschen kann? Bald macht sie nichts so glücklich, als im feuchten Element zu leben, als Schwimmkünstlerin; oder obendrauf, im Boot, in der Ruderquadrille. Bald klettert sie zu Fuß, in einem graziösen Kostüm, auf die hohen Berge; bald jagt sie zu Pferde unten im Wald, als moderne Amazone! Dann überfällt sie die Leidenschaft, vor den ,Lampen‘ zu stehn, als dramatische Künstlerin; oder einen Salon als lebendes Bild zu entzücken. Ist das ein richtiger Proteus oder nicht? – Und Morland – dieser gute Morland, den du so vortrefflich dressiert hast, das Leben zu genießen – dein gemütlicher, zufriedener Silen –“

„Silen!“

„Ja, Silen!“

Fanny versuchte den Schwager in tiefer sittlicher Empörung anzublitzen; es gelang ihr aber nicht, die Heiterkeit ging ihr nicht vom Gesicht. „Ich sollt’ eigentlich wütend sein,“ fing sie mit ihrer lustigen Stimme an, „daß du so schauderhafte Sachen sagst; aber ich muß lachen. Mein guter, guter ,Silen‘ … Ja, er ist zufrieden. Ja, er genießt das Leben. Und das ist die Hauptsache; und das ist mein Verdienst!“

Julius sah ihr in das fidele Gesicht, als wollte er sagen: an dir prallt auch alles ab! – Seine Augen gingen dann unruhig umher; er konnte Luise nirgends entdecken. „Das Kind kommt nicht wieder,“ murmelte er. „Clotilde – – Clotilde macht also noch immer Toilette?“

„Es scheint so.“

„Hm! – Was für ein lebendes Bild wird man denn erleben?“

„Ach, wie nur sie es kann; von ihr allein gespielt! Eine ganze Reihe von Bildern, alle in einem Kostüm; bloß durch Veränderungen der Drapierung und der Stellung wird sie immer eine andere. Die sitzende Agrippina, die schlafende Ariadne; die Muse Polyhymnia oder wie heißt das Mädchen, dann die Flora; Niobide, die sich zu schützen sucht, stehende Matrone –“

„Der wahre Proteus! Bravo, bravo!“ – Julius lachte auf. Er ging dann einige Schritte hin und her; es war keine Ruhe in ihm. „Ja, ja,“ sprach er zwischen den Zähnen, „dieser Proteus hat sich gut entwickelt … Wenn ich denke, was sie nun schon alles nacheinander, nebeneinander war –“

„Mein Gott,“ sagte Fanny, „warum gönnst du ihr das nicht? Wärst du nur tolerant, wie du könntest und wie du solltest –“

„Wie dein lieber Mann –“

„Ja gewiß, wie mein vernünftiger Mann! Dann wärst du froh, sehr froh, daß deine lebhafte und lebenslustige Frau nicht – kokett ist, so wenig wie ich; daß sie nicht an Männer denkt, nur an unschuldige Amüsements. Proteus, sagst du. Sie wechselt, ja. Aber sie wechselt nur mit ihren Liebhabereien, nicht mit ihren Liebhabern; sie hat keine – sie hat nur einen, einen leider nicht sehr beglückenden und beglückten – ihren unduldsamen Gatten!“

Julius’ Brauen zogen sich eng und enger zusammen; er sah diese Frau fast feindlich an. Um die nötige Ruhe zu behalten, dämpfte er die Stimme: „Was ich darauf zu erwidern hätte, meine liebe Fanny, will ich dir nicht sagen. Dir will ich nur sagen: du, in deiner unerschütterlichen Heiterkeit, du, grade du hast vielleicht die meiste Schuld! Du hast Clotilde seit Jahren gereizt, verführt, ihre schon beruhigte Proteusnatur wieder zu entwickeln; du hetzest sie immer tiefer in diese verhängnisvolle Ruhelosigkeit des Genießens und Glänzens und Begehrens hinein; jawohl, du, Fanny Morland! Und ich – –“

„Und du?“ fragte Fanny mit äußerer Ruhe, da er nicht weitersprach.

Er antwortete nicht. Er fühlte sich aber in diesem Augenblick entschlossen wie noch nie. Und ich mach’ ein Ende, dachte er, sei es wie es sei!


8.

„Ah, das lebende Bild!“ entfuhr ihm jetzt; seine Brauen zuckten. In der Thür des Gartensalons erschien Clotilde, in einem altgriechischen Gewand von gelblich angehauchtem Weiß, ein Schleier wallte vom Kopf herunter; sie hatte aber, wohl als Schutz gegen die Abendluft, ein modernes, farbiges Tuch um die Schultern gelegt. Von dem weltklugen Einbläser, dem Friedrich, war ihr gesagt worden, daß Julius im Garten sei; plötzlich hatte es sie dann doch sehr gedrängt, ihn zu begrüßen. Als sie jetzt in der Thür stand und ihn erblickte, machte sie eine lebhafte Bewegung, ihm entgegen. War es nun aber die Ruhe, mit der er stehen blieb, oder war es, daß neben ihm Fanny stand: sie hielt wieder an sich, legte nur flüchtig eine Hand ans Herz; dann stand sie wie ein wirkliches Steinbild da.

„Guten Abend, Clotilde,“ sagte Julius nach einer Stille.

Sie nickte mit dem Kopf. Er trat einen Schritt auf sie zu; dann fiel ihm erst das Rechte ein. Er wandte sich wieder zur Hausfrau, deren beobachtende Augen hin und her gingen. „Gute Nacht, Fanny,“ sagte er sehr höflich und gab ihr die Hand.

„Ah,“ entgegnete sie lächelnd, mit gedämpfter Stimme, „das ist gut: er schickt mich aus meinem eigenen Garten fort! – Aber schon gut, ich geh’ schon. – Wegen deiner letzten Reden sollt’ ich dir sehr böse sein; ich bin aber zu gutmütig, es gelingt mir nicht. Also – gehab dich wohl; und auf Wiedersehn, wann es dir beliebt!“

Er grüßte stumm mit der Hand. Fanny ging zum Haus. Als sie an Clotilde vorbeikam, die sich nun näherte, flüsterte sie nur: „Bleib fest!“ Sie verschwand in der Gartenthür. (Fortsetzung folgt.)     


[576]

Der Internationale Frauenkongreß in London.


Der große, von zweitausend Teilnehmern besuchte Londoner Frauentag ist vorüber. Die Einberufer desselben, das aus den einzelnen Landesverbänden gebildete internationale Komitee, können mit hoher Befriedigung auf ihn zurückblicken. Während der in London doppelt drückenden Julihitze eine volle Woche lang in dichtgedrängten Sälen stundenlangen Vorträgen und Beratungen beizuwohnen, ist schon an sich eine Leistung, welche den Damen den vollen Respekt, aber auch die wärmste Sympathie des „starken Geschlechts“, die principiellen Gegner der Frauenfrage nicht ausgeschlossen, sichert. Sodann verliefen die Verhandlungen in solch ordnungsgemäßer Weise und die Leiter der einzelnen Sitzungen – allen voran die Präsidentin des gesamten Kongresses, Gräfin Ishbel Aberdeen – bekundeten ein solches parlamentarisches Talent, gepaart mit weiblichem Takt, daß man auch in dieser Hinsicht den aus Angehörigen der verschiedensten Nationalitäten zusammengesetzten Kongreß nur beglückwünschen kann. Man hatte von vornherein für jede Rede ein gewisses Zeitmaß festgesetzt, das nicht überschritten werden durfte, und mit einer einzigen Ausnahme fügten sich die Damen dieser Bestimmung, gleichviel ob sie ihren Gegenstand beendet hatten oder nicht. Eine der Rednerinnen hatte einleitungsweise so lange bei der Schilderung der Schönheit ihrer heimatlichen Berge verweilt, daß sie eben erst den eigentlichen Gegenstand beginnen wollte, als die Glocke der Präsidentin ertönte. Ohne Murren verfügte auch sie sich auf ihren Platz.

Gräfin Ishbel Aberdeen,
Präsidentin des Kongresses.

Vor allem aber war es der Inhalt der Verhandlungen, der Lady Aberdeen in ihrer Abschiedsansprache berechtigte, den Kongreß als ein „great success“, einen „großen Erfolg“, zu bezeichnen. Von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, konnte man sich des wohlthuenden Gesamteindruckes nicht erwehren: es war die Frau, die wahre, echte Frau, die hier zum Frauenherzen sprach. Es war das „Ewig-Weibliche“, das seinen heilenden, helfenden Einfluß geltend zu machen suchte.

Dies ist um so mehr anzuerkennen, als zwar nicht die Frauenbewegung selbst, aber doch der Internationale Kongreß bekanntlich eine überaus junge Schöpfung ist. Seine Gründung wurde im Jahre 1888 auf einer Frauenversammlung in Washington beschlossen. 1892 fand sodann der erste Internationale Kongreß in Chicago statt. Aber während es bisher vor allem die Rechte der Frau waren, für die man eintreten zu müssen glaubte, sind es heute, nachdem sich die Frau auf vielen Gebieten eine selbständigere Stellung errungen hat, vorzugsweise ihre Pflichten, ihre hohen Aufgaben innerhalb der menschlichen Gesellschaft, die in den Vordergrund treten. Dieser Grundgedanke konnte keinen schöneren Ausdruck finden als in den Worten, mit denen die Präsidentin den Kongreß eröffnete. So verschieden auch die Ziele seien – bemerkte sie –, welche die einzelnen Abgeordneten je nach Nationalität und Individualität im Auge hätten; ob sie die Extreme der Frauenemanzipation verträten oder gemäßigteren Anschauungen huldigten: in dem einen stimmten sie doch alle überein, daß es die Aufgabe der Frau sei, die Welt besser und glücklicher zu verlassen, als sie sie gefunden.

Diese breite und liberale Basis trat dem Besucher auch schon in der äußeren Erscheinung der Versammlungen entgegen. Die „Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar“ war eine ebenso große Seltenheit, wie es jetzt auch der „Mann mit dem wallenden Haar“ ist. Die dichtgefüllten Hallen boten einen erfrischenden Anblick dar, denn sämtliche Damen waren in hellen Sommertoiletten erschienen und neben der gereiften Frau befand sich so manche anmutsvolle Mädchengestalt. Der kosmopolitische Charakter der Versammlung bekundete sich in der Anwesenheit einiger indischer Damen in malerischer Nationaltracht, mit goldenen Armspangen und Ohrringen. Auf der Tribüne hatte die Gattin eines Attachés der chinesischen Botschaft in London, gleichfalls im Nationalkostüm, Platz genommen. Sie war auf ausdrücklichen Befehl ihres Kaisers erschienen und beteiligte sich sogar an den Verhandlungen, indem sie dem Kongreß durch ihren Dolmetscher sagen ließ, daß man sich in Europa meist einen ganz falschen Begriff von der chinesischen Frau mache. Dieselbe sei durchaus nicht so unwissend und niedrigstehend als man glaube. Sie sei vielmehr die ebenbürtige Gefährtin ihres Mannes, vorausgesetzt, daß sie es verstehe, ihn an sich zu fesseln. Diese mit allgemeiner Heiterkeit aufgenommenen Worte fanden ihre Bestätigung durch den Augenschein. Denn der Gemahl der jungen resoluten Frau, der ebenfalls erschienen war, wich keinen Augenblick von ihrer Seite. –

Fräulein v. Milde.

Die Verhandlungen – es fanden täglich acht verschiedene Sitzungen in drei Sälen statt – waren voll der interessantesten Aufschlüsse über den gegenwärtigen Stand der Bewegung. Ihre Führerinnen haben allen Grund, auf ihre Erfolge stolz zu sein. Eine ganze Anzahl von neuen Berufszweigen hat sich der Frauenwelt erschlossen. Als Aerzte, Sachwalter, Journalisten, als Kunsthandwerker, als Inspektoren in Fabriken mit weiblichen Arbeitern, sowie in einer ganzen Anzahl von Berufszweigen bescheidenerer Art haben die Frauen im Lauf der letzten Jahre Beschäftigung gefunden. Als Beweis für die künstlerische Begabung der deutschen Frau wurde vielfach der von Fräulein v. Milde gehaltene Vortrag „Die Frauen in der Litteratur“ citiert –, als begabte Vertreterinnen der modernen socialpolitischen Gedanken wurden Frau Bieber-Böhm und Fräulein Dr. jur. Anita Augspurg gefeiert. Hier in England blüht besonders der medizinische Beruf unter den Frauen. Einige Krankenhäuser für Frauen werden ausschließlich von Aerztinnen besorgt. In Dänemark dagegen hat namentlich das Kunsthandwerk weibliche Kräfte an sich gezogen; zu nennen sind Fräulein Sophie Christensen, Frau Ragna Nielsen, Frau Dagmar Hjort. Es giebt z. B. in Kopenhagen Kunsttischlereien, die von Frauen geleitet werden und mehr als ein halbes Hundert männlicher Arbeiter beschäftigen. Die größten Erfolge aber hat die Bewegung in Amerika aufzuweisen, deren eine Hauptvertreterin, Mrs. May Wright Sewall, einem europäischen Kreisen wohlbekannte Erscheinung ist. In den Vereinigten Staaten werden Frauen sogar zu Stadtverordneten und in den Stadtrat, ja selbst zu Bürgermeisterinnen gewählt. Das letztere, so versicherte eine Rednerin, ist zumal dann der Fall, wenn es sich um sparsame Bewirtschaftung eines allzu belasteten Haushaltplanes handelt! Trotz dieser Erfolge aber erklärten die amerikanischen Abgeordneten, daß ihre Erwartungen so lange unerfüllt bleiben werden, als man der Frau volle politische Gleichberechtigung mit dem Manne vorenthalte. Die Führerin dieser Bewegung ist die bekannte Miß Susan Anthony, die von ihren Gesinnungsgenossen für ihre Bestrebungen, der Frau Sitz und Stimme im Parlament zu verschaffen, ein schönes Rosenbouquet erhielt. Trotzdem wäre die Behauptung mehr als gewagt, daß der Kongreß in seiner Gesamtheit auf seiten seiner amerikanischen Schwestern gestanden habe. Zwar erhob sich ein vereinzeltes Zischen, als eine Engländerin es unternahm, gegen die politische Emanzipation der Frau zu sprechen. Ein kurzes Wort der Präsidentin jedoch genügte, um allen Widerspruch verstummen zu [577] machen. Als eine eigentümliche Ironie der Geschichte aber müssen wir es bezeichnen, daß an dem nämlichen Tage, als der Kongreß seine Sitzungen begann, das englische Herrenhaus einen Antrag auf Wahlfähigkeit der Frauen in die Gemeindevertretungen mit großer Majorität ablehnte. –

Frau Hanna Bieber-Böhm.
Nach einer Photographie von Otto Becker u. Maaß in Berlin.

Fräulein Dr. jur. Anita Augspurg.
Nach einer Aufnahme der photographischen Anstalt „Elvira“ in München.

Vielleicht die gewichtigste Frage, die dem Kongreß vorlag, betraf die Stellung der weiblichen Berufsarbeiter zum Familienleben. Diese Frage ist ja überhaupt eine der wichtigsten der ganzen Bewegung. Ist die Frau – wenigstens ein Teil der Frauenwelt – wie heute niemand mehr bestreiten kann, durch die Zusammensetzung der modernen Gesellschaft gezwungen, sich einen Beruf außerhalb des Hauses zu suchen, so entsteht auch sofort die Frage: Wie hat sie sich zu verhalten, wenn sie zur Familie zurückkehrt? Soll die verheiratete Frau ihren Beruf beibehalten oder im Interesse der Familie aufgeben? Es fehlte nicht an Stimmen, die das erstere befürworten. Freilich wurde dabei auch sofort die Befürchtung laut, daß der Gatte einer solchen Frau sich die Gelegenheit zu nutze machen und die Füllung des Familiensäckels ausschließlich der Frau überlassen könnte.

Es ist bei dieser Gelegenheit so manches strenge Wort gegen den „Mann an sich“ geäußert worden. Ein streitbarer Geist zog durch die sonst so anmutige Versammlung und die Atmosphäre des Saales begann schwül und heiß zu werden. Doch wie ein befreiender, elektrischer Schlag wirkte es, da die nicht minder als gefeierte Sängerin wie als leidgeprüfte Gattin und Mutter gleich hochverehrte Madame Antoinette Sterling sich erhob und die einfachen Worte sprach: „Ich glaube, daß Sie die Männerwelt zu hart beurteilen.“ Das Frauenherz hatte gesiegt! –

Und es siegte auf dem ganzen Kongreß. Nicht materielle, sondern ideale, ethische Anschauungen gewannen mehr und mehr die Oberhand. Das zeigte sich auch in den Ausführungen der berühmten amerikanischen Tragödin Miß Genevieve Ward, welche über die Stellung der Frau zur dramatischen Kunst sprach. Einst zu Shakespeares Zeit, so bemerkte sie scherzhaft, habe das Publikum zuweilen auf den Beginn der Vorstellung warten müssen, weil sich die Julia noch erst hinter der Bühne rasieren mußte! Heute habe sich die Frau auch auf der Bühne eine geachtete Stellung erworben. Aber nur volle leibliche, geistige und moralische Gesundheit könne auf Erfolg rechnen. Ihre Ausführungen wurden durch eine junge deutsche Schauspielerin, deren geschmackvolle Toilette, nach den englischen Berichten zu schließen, besonderes Interesse erregte, in wirksamer Weise ergänzt. –

Fräulein Sophie Christensen.

Mrs. May Wright Sewall.

Noch mehr aber traten die großen ethischen Gesichtspunkte der Frauenbewegung in den Vordergrund bei der Besprechung socialer Fragen. Das Los der weniger beglückten Schwestern zu lindern – darin erkannte der Kongreß offenbar seine Hauptaufgabe. Wir können aus dem weitverzweigten Gebiet nur einzelnes anführen. Einen interessanten Beitrag zur Auswanderungsfrage bot der Gemahl der Präsidentin, Lord Aberdeen. Durch langjährigen Aufenthalt in Nordamerika mit den dortigen Verhältnissen vertraut, empfahl er Kanada allen auswanderungslustigen Mädchen, warnte jedoch zugleich vor Illusionen. Es existiere eine absurde Erzählung, nach welcher ein nach der Stadt Winnipeg bestimmter, mit jungen Auswandrerinnen angefüllter Zug auf jeder Zwischenstation von heiratslustigen Farmern in Empfang genommen und eines Teiles seiner Passagiere beraubt worden sei, bis er endlich, in Winnipeg angekommen, überhaupt keine Passagiere mehr besaß. Diese Erzählung, so warnte der Lord, sei ganz geeignet, etwaigen Auswandrerinnen bittere Enttäuschung zu bereiten.

Daneben aber fehlte es auch nicht an Blicken in das dunkelste Gebiet der Frauenwelt: die Rettung der Gefallenen und die Fürsorge für die weiblichen Gefangenen. Auf dem letzteren Gebiet hat sich besonders Mrs. Ellen Johnson, Vorsteherin des Staatsgefängnisses für Frauen in Massachusetts, große Verdienste erworben. Auch sie war auf dem Kongreß erschienen und trat warm für die von ihr vertretene Sache ein. Es sollte ihr nicht beschieden sein, in ihre Heimat zurückzukehren. Noch während der Dauer des Kongresses ereilte sie ein plötzlicher Tod. Ein kleiner Vorfall aus ihrer Praxis möge ihr philanthropisches Wirken illustrieren. Eines Tages wurde eine neue Gefangene in ihre Anstalt eingebracht. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, denn auf dem langen Transport hatte sie wiederholt gewaltsame Fluchtversuche gemacht. Mrs. Johnson trat ihr liebevoll entgegen, ließ ihr sofort die Fesseln abnehmen, nahm sie trotz ernster Gegenvorstellungen der Umstehenden mit auf ihr Zimmer und bewirtete sie mit Speise und Trank. Diese unerwartete Liebe machte die Frau zu einer der fügsamsten Gefangenen. Der Verlust der edlen Amerikanerin war der einzige Schatten, der auf die Kongreßtage fiel. Frau Jeanette Schwerin, die verdienstvolle Vertreterin der Frauenbewegung in Berlin, ward erst nach ihrer Heimkehr vom Tod ereilt.

Neben ernster Arbeit wurde den Mitgliedern auch so manche festliche Veranstaltung bereitet. Zwar den dazwischen liegenden Sonntag verlebte man der Landessitte gemäß in stiller Ruhe. Die einzige Ausnahme davon machte eine Amerikanerin, welche auch an diesem Tag zu sprechen wünschte und die Kanzel einer Sektengemeinde bestieg, um an Stelle des Herrn Pfarrers die Predigt zu halten. Wünschte diese Dame etwa auch den geistlichen Beruf den Frauen zu eröffnen? Sicherlich hatte der Bischof von London, als er die Abgeordneten gastfreundschaftlich in seinen bischöflichen Palast einlud, von dieser seinem Amte drohenden Neuerung keine Kenntnis! Von den übrigen festlichen Veranstaltungen sei nur noch das großartige Gartenfest erwähnt, das Lady Rothschild auf ihrem herrlichen Landsitze unweit London veranstaltete. Den eigentlichen Abschluß aber bildete ein Empfang bei der greisen Monarchin des Landes. Etwa 250 Damen verfügten sich nach Windsor, wo sie von der Königin huldvoll empfangen und sodann gastfreundlich bewirtet wurden.

So endete der zweite Internationale Frauenkongreß in London. Sind abermals fünf Jahre über diesen Erdball mit all seinen schwebenden Fragen dahingezogen, so hofft man sich zum dritten Kongreß in Berlin wiederzusehen. –

Bournemouth. Dr. F. Müller.     


[578] 0


Blätter und Blüten.

Am Gardasee. (Zu dem untenstehenden Bilde.) Die malerische Studie Alfred Enkes führt uns an den Gardasee, jenes blaue Naturwunder, das auf der Grenze von Südtirol und Oberitalien zwischen himmelhohen steilen Uferwänden sein herrliches Bett gefunden hat. Zur Linken erheben sich die zerklüfteten Felsabstürze, zwischen welchen das tief eingeschnittene Ledrothal sich hinzieht, um an seiner Mündung den berühmten Ponalfall in die ultramarinfunkelnden Fluten des Sees zu entsenden. Den Fall selbst erblickt der Beschauer unseres Bildes nicht, wohl aber den kleinen Landungsplatz, zu welchem man von Riva aus in den kleinen behenden Ruderbooten und Segelschiffchen fährt. Den Hintergrund schließt die in duftiger Ferne verschwimmende bergige Landschaft gen Riva hin ab.

Am Gardasee.
Nach einer Studie von Alfred Enke.

Orientalischer Hahnenkampf. (Zu dem Bilde S. 552 und 553.) Ein seltenes und – seitdem die Veranstaltung öffentlicher Hahnenkämpfe in England gesetzlich verboten ist – nur noch im Orient heimisches Schauspiel führt uns der Maler unseres zweiseitigen Bildes vor Augen. Nur von wenigen erschaut ist auch der Schauplatz, auf welchem sich der Hahnenkampf abspielt, nämlich der Harem eines orientalischen Paschas. Der würdige Herr und Gebieter sitzt umgeben von den schönen und stattlichen Frauen seines Haushaltes und schaut interessiert wohl, aber doch melancholischen Auges dem Kampfe zu. Sein Herz neigt zur Milde, denn die Hähne sind ohne künstliche Waffen; sie können sich nicht mit eisernen Sporen tödlich verletzen, und vermutlich wird der Kampf nur mit dem Verlust eines allerdings nicht ganz unbeträchtlichen Teiles des glänzenden Federschmuckes des einen oder des anderen der ritterlichen Vögel enden. Der Kampf beginnt eben, und die vorläufig noch etwas gleichgültigen Mienen der reizenden Frauen werden sich bald beleben, denn in ihrem einförmigen Leben bedeutet selbst der harmloseste Hahnenkampf eine angenehme und ersehnte Abwechselung. Grimmig schauen nur die beiden schwerbewaffneten, schwarzen Haremswächter zur Rechten und Linken des Paschas drein, besorgt lediglich um die Sicherheit des Gebieters und des verschlossenen Heiligtums seines Hauses.

Das Teutsch-Denkmal zu Hermannstadt in Siebenbürgen. (Zu dem Bilde S. 579.) Die Siebenbürger Sachsen ehren in würdiger Weise das Andenken ihrer hervorragenden Stammesgenossen, welche auf die nationale und kulturelle Entwicklung ihres Volkes von entscheidendem Einflusse gewesen sind. Voriges Jahr errichteten sie ihrem Reformator Honterus ein charakteristisches schönes Denkmal in Kronstadt, und heuer ist es der im Jahre 1893 verstorbene Sachsenbischof Teutsch, dem seine Volksgenossen durch ein Standbild in Hermannstadt den Tribut tiefgefühlter Dankbarkeit darbringen wollen. Am 19. August dieses Jahres fand die Enthüllung des von Professor A. v. Donndorf geschaffenen Denkmals statt, wozu, wie bei der Honterusfeier, der Gustav Adolf-Verein und der Evangelische Bund, Vertreter der Wissenschaft aus dem Inland und „aus dem Reich“, sowie das ungarische Ministerpräsidium, vor allem aber die vielen Freunde des Bischofs Teutsch von nah und fern geladen worden sind.

Es ist nicht Ueberhebung von seiten des sächsischen Volkes in Siebenbürgen, daß es sich schon wieder eine so erlesene Gesellschaft zu Gaste lud; nur zufällig folgten die beiden Feiern so schnell hintereinander; – und vielleicht doch nicht ganz zufällig; denn wenn man in Siebenbürgen bisher nicht Zeit und Mittel fand, auch nur ein einziges Standbild zu errichten, so mahnen vielleicht die Stürme der Gegenwart, die keinen Winkel der österreichisch-ungarischen Monarchie verschonen, daran, solche Zeichen lebender und unvergänglicher Volkskraft aufzurichten, damit alle sehen, wie wenig man geneigt ist, sein sächsisches Volkstum aufzugeben.

Und fürwahr, in ihrem verewigten Bischof Teutsch haben die Sachsen einen Mann gehabt, in dem sich die unverfälschte sächsische Volksidee verkörperte. Für die Rechte seiner evangelischen Kirche und Schule hat er in stiller Gelehrtenarbeit unermüdlich gewirkt; er hat sie als Politiker verteidigt auf den Landtagen in Klausenburg und Hermannstadt, im Reichsrat zu Wien und im ungarischen Magnatenhause; er ist für sie persönlich eingestanden vor den Ministern, wie vor dem Monarchen selbst; – und was sein größtes Verdienst ist: er hat eine Geschichte seines Volkes geschaffen, wozu er, wie sein Biograph ganz richtig sagt, „die Bausteine aus dem Bruch schuf“, – eine Geschichte, von welcher der bekannte Geschichtschreiber Ludwig Häußer schrieb, er habe bei deren Lektüre „nur das eine wehmütige Bedauern empfunden, daß Deutschland nicht eine ähnliche Geschichte des gesamten deutschen Vaterlandes für das Volk besitze“.

Teutsch ist indessen auch bei Lebzeiten viel [579] hohe Anerkennung zu teil geworden: die theologische und philosophische Fakultät zu Jena und die juridische zu Berlin ernannten ihn zum Ehrendoktor; von ersten gelehrten Gesellschaften Deutschlands und vom Centralvorstand des Gustav Adolf-Vereins, wurde er der Mitgliedschaft gewürdigt, von deutschen Fürsten ausgezeichnet; und auch das höchste Glück blieb ihm nicht versagt; er hat sich die Herzen seines Volkes erobert für alle Zeiten. Daß dem also ist, will dieses Volk in der alten Sachsenfeste Hermannstadt beweisen.

Das Denkmal erhebt sich vor der evangelischen Hauptkirche, das Postament besteht aus poliertem schwedischen Granit mit einem Bronzefries, und auf der Vorderseite und Hinterseite befinden sich die Medaillons der vier hervorragendsten Mitarbeiter des Bischofs. Der hohen, in Erz gegossenen sympathischen Gestalt hat die Meisterhand Donndorfs große Lebenswahrheit verliehen, und nicht ohne Bewunderung und Ergriffenheit kann man die milden und doch energischen Züge dieses edlen Kopfes betrachten. L. K.     

Das Teutsch-Denkmal zu Hermannstadt in Siebenbürgen.
Nach dem Entwurf von A. v. Donndorf.

Peter Rosegger und sein Lehrmeister. (Zu dem untenstehenden Bilde.) Den Lesern der „Gartenlaube“ hat Peter Rosegger selber in seinem fesselnden Artikel „Wenn du noch eine Heimat hast“ 1893 geschildert, wie er aus dem armen Waldbauernbuben und Schneidergesellen der Dichter geworden ist, den wir alle bewundern und ins Herz geschlossen haben. Ignaz Orthofer hieß sein Lehrmeister, der ihn in die Kunst des Kleidermachens einführte und dem er bis heute ein treues, ehrendes Gedenken bewahrt hat. Am 5. Juli d. J. nun hat der Dichter ein fröhliches und freudiges Wiedersehen mit dem alten Handwerksmann gefeiert. Es war bei einem Fest in Mürzzuschlag, das von Verehrern Roseggers veranstaltet wurde. Einer derselben hatte den ehemaligen Lehrmeister Roseggers herübergeholt in das schöne Mürzthal, das der 85jährige Mann seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hatte, denn er lebt in einem zwar reizenden, aber sehr entlegenen Gebirgsdörfchen der oststeirischen Waldmark, in St. Kathrein am Hauenstein, gänzlich abgeschlossen von aller Welt. Doch gerne folgte er der Einladung in jenes herrliche Thal, in dem er einst als Wanderschneider seine Heimat hatte. Eine halbe Stunde von Mürzzuschlag entfernt steht der Bauernhof zum „Steinbauer“, wo Ignaz Orthofer mit seinem damaligen Lehrling Peter Rosegger einst, wie noch in 66 anderen verschiedenen Bauernhäusern, auf der „Stör“ gearbeitet hat. Noch am selben Abend traf auch Rosegger von seinem Sommerhause in Krieglach zu dem Feste in Mürzzuschlag ein, und nun wurde der denkwürdige 5. Juli gefeiert, an dem vor 39 Jahren der „Waldbauernbub“ zu dem Schneider Ignaz Orthofer in die Lehre kam.

Wer da Zeuge war, wie Rosegger mit seinem alten Lehrmeister in traulichem Gespräch so manche alte Erinnerung auffrischte und wie beide ihre herzliche Freude aneinander hatten, dem werden diese Stunden gewiß unvergeßlich fürs ganze Leben bleiben. Das Fest wurde im „Roseggerstübl“ des Hotels zur Post gefeiert, wo sich viele wertvolle Andenken an den Dichter befinden. Tags darauf wurde Rosegger mit seinem alten Meister photographiert und nachmittags kehrte er in sein Sommerhaus nach Krieglach, der alte Meister in sein stilles St. Kathrein zurück.

Peter Rosegger und sein ehemaliger Lehrmeister, der Schneider Ignaz Orthofer.
Nach einer photographischen Aufnahme von Franz Jos. Böhm, Mitglied der Rosegger-Gesellschaft in Mürzzuschlag.

Die „Mühle“. (Zu dem Bilde S. 569.) Nein, was muß das wohlgezogene Kind Evi sehen, da es eben, zierlich angethan, auf leisen Füßchen herankommt, um die beiden im Baumschatten schlafenden „Tanten“ nicht zu wecken! Keine Tante Klara, keine Tante Irma mehr auf der buntkarrierten Reisedecke, nur die Sonnenschirme und der hochgegipfelte Federhut halten Wache. Hinter dem Baumstamm aber ein Kichern und Lachen, ein Stampfen und Drehen, daß die leichten Kleider fliegen – wahrhaftig, das ist eine „Mühle“, wie sie Klein-Evi und ihre Freundinnen nicht kunstgerechter schwenken können. Starr vor Erstaunen sieht das kleine Ding diesen in der eleganten Stadtwohnung daheim ganz undenkbaren Vorgang, auch der treue Pluto spürt ein heftiges Mißfallen ob solcher Leichtfertigkeit und äußert es in scharfem Gebell. Aber die Herrin lacht unbekümmert weiter: man ist in der Sommerfrische, dort kommen die Leute, besonders wenn sie noch jung sind, auf allerhand Einfälle, und gut ist’s, wenn diese keinen gewagteren Charakter haben als das harmlose Drehen einer „Mühle“. Bn.     

Holztriften durch die Partnachklamm. (Zu dem Bilde S. 573.) Den herrlichsten Besitz unsrer Alpenländer bilden die Wälder, welche in breiten Zügen die mächtigen Rücken der Bergriesen bedecken. Fast das ganze Jahr hindurch klingt die Axt und knirscht die Säge, und wie Donner hallt es bald da, bald dort auf den Höhen, wenn ein Hundertjähriger, von den Holzknechten bezwungen, zu Boden stürzt.

Ist aber schon die Arbeit des Holzfällens eine außerordentlich schwierige und mühevolle, so erfordert der Transport der Stämme bis zu den Verkehrsstraßen im Thale noch ungleich mehr Aufwand von natürlichen und mechanischen Hilfsmitteln. Wo es das Terrain gestattet, hilft man sich durch Anlage von Rutschbahnen, sogenannten Holzriesen, auf starkgeneigten Grasflächen oder holzfreien Waldblößen, wo die Stämme zu Thal gleiten. In den meisten Berggegenden ist es aber möglich, irgend einen wilden Bergstrom zu zwingen, die Last auf seinem Rücken bergab zu tragen. Meistens nimmt ein solcher Wildbach seinen Ausgang zu Thal durch riesige Felsschluchten. Wo er sich nun in eine solche Schlucht stürzen will, wird sein Bett erweitert und gefestigt, so daß es eine Art Sammelbassin bildet, welches man „Klause“ heißt. Im Frühjahr, wenn infolge des Schneeschmelzens und starker Niederschläge die Wasser von allen Seiten dem Bergstrom zufließen und diesen anschwellen lassen, öffnet man die Klausen. Die dort angesammelten Holzmassen werden dann von dem brausenden Strome mit fortgetragen über Fälle und durch Schluchten, und diese Art, das Holz zu Thal zu bringen, wird „triften“ genannt.

Ein derartiger Triftgang befindet sich in unmittelbarer Nähe der Eisenbahnstation Garmisch-Partenkirchen im bayrischen Hochland. Tausende von Alpenreisenden durchwandern alljährlich die dort gelegene Partnachklamm, um sich an der wilden Schönheit dieser imposanten Felsschlucht zu erfreuen.

Mit Staunen betrachtet man die riesigen, turmhohen Felswände, welche eine dämonische Gewalt auseinandergerissen zu haben scheint, um dem brüllenden Bergwasser den Durchzug zu ermöglichen. Ein Fußpfad führt über die Höhe dieser Klamm, sowie ein Holzsteg unten durch dieselbe, welche das eigentliche Operationsfeld für die beim Triften beschäftigten Holzarbeiter ist. Von dort aus müssen die Unregelmäßigkeiten, die sich fortwährend unter dem schwimmenden Holz zeigen, beseitigt werden. Schwimmen kann man aber eigentlich den Vorgang nicht mehr nennen. Die Scheite, Blöcke und Stämme hüpfen, tanzen, springen und überschlagen sich in dem [580] schäumenden Strudel, sie verrennen sich hier in eine Felsenecke, dort hängen sie sich an eine seichte Erhebung oder sie verstricken sich unter sich selbst zu einem wirren Haufen, der aufgelöst werden muß. Die stämmigen Holzarbeiter verstehen es vortrefflich, mit langen Stangen, an welchen scharfe Eisenhaken befestigt sind, alle diese Unordnungen zu beseitigen; aber es gehören eine erstaunliche Kraft, eine bewunderungswürdige Gewandtheit und eine Ausdauer sondergleichen dazu, diese Titanenarbeit zu bewältigen; nicht selten ist es nötig, bis an den Hüften in der eisigen Flut stehend die kühne Arbeit zu vollbringen. Eine gegenseitige Verständigung der Arbeiter ist nicht möglich; jeder muß selbst wissen, wie und wo er anzupacken hat; denn das Brüllen des Wassers, das Donnern der fallenden Holzmassen übertäubt jeden Laut aus der menschlichen Kehle. Unsere Abbildung vergegenwärtigt uns den Vorgang sehr naturgetreu; sowohl die Scenerie als auch die in so eigenartiger Weise beschäftigten Menschen fesseln unser Interesse in hohem Grade; die Elementargewalt, die aus dem Naturschauspiel spricht, wie die Urwüchsigkeit der Alpenbewohner, die eine so außerordentliche Arbeit zu leisten vermögen, zwingen uns zur Bewunderung. B. R.     

Das Matterhorn. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Matterhorn im Hintergrund des Thales von Zermatt, von welchem wir in unserer Kunstbeilage eine Abbildung nach dem Gemälde des vor kurzem verstorbenen ausgezeichneten Landschaftsmalers Otto v. Kameke bringen, ist der merkwürdigste und am kühnsten geformte Gipfel der schweizerischen Alpenwelt, ein schlank zulaufender Felsenobelisk mit scharf ausgeprägten Kanten und etwas gebogener Spitze, die sich zu 4482 m Höbe erhebt. Den Fuß von Gletschern umlagert, schaut es trotzig in das freundliche grüne Thal von Zermatt und ist so steil, daß der Schnee kaum an ihm haften bleibt.

Der von allen übrigen Bergen durch breite Gebirgssenken abgetrennte Gipfel erweckt Gefühle der Beklemmung und der Furcht, aber auch der Bewunderung, und immer muß das Auge sie wieder suchen, die einsame Spitze in ihrer Größe und Erhabenheit. Indem der Blick auf ihr ruht, kann man sich der Täuschung nicht erwehren, daß der strahlende Gipfel mit seinem Krönchen von Eis in langsamem, majestätischem Flug ins tiefe Blau des Sommerhimmels begriffen sei; er erscheint immer als der höchste im Kreis der vielen Berge von Zermatt, obgleich ihn die nahe gewaltige Gruppe des breit aufgebauten Monte Rosa an senkrechter Erhebung übertrifft.

Lange galt das Matterhorn als vollkommen unersteiglich; am 12. Juli 1865 aber gelang es dem berühmten englischen Bergsteiger Edward Whymper und seinen Freunden Lord Francis Douglas, Reverend Ch. Hudson und Mr. Hadow, die sich Peter Taugwalder, einen der tüchtigsten Männer Zermatts, und Michel Croz von Chamonix als Führer und einen Sohn Taugwalders als Träger genommen hatten, den Fuß auf die nie betretene Spitze zu setzen. Allein mit dieser ersten Besteigung des Matterhorns ist eine der furchtbarsten Absturzkatastrophen verbunden, die sich je im Hochgebirge ereignet haben. Nachdem die Männer eine Stunde auf dem Gipfel geruht hatten und im Begriffe waren, am Seil über die Felsen abzusteigen, riß dieses und mit einem entsetzlichen Schrei stürzten Croz, Hadow, Hudson und der erst neunzehnjährige Lord Douglas über die Felsen von Wand zu Wand. Ihre zerschmetterten Leichname wurden auf dem Matterhorngletscher gefunden, nur der des jungen Lords nicht. So tragisch die erste Besteigung endete, der Bann, der bisher die Spitze des Matterhorns umgeben hatte, war gebrochen, es folgten sofort neue Besteigungen, und jetzt wird der Gipfel Sommer um Sommer von kühnen Kletterern erklommen.

Das kleine Zermatt am Fuß des Berges hat sich zu einem Bergsteigerquartier ersten Ranges entwickelt und mächtige Hotels schauen über die alten niedrigen, sonnversengten Holzhäuser des Ortes, der mit dem Hauptthal des Wallis durch eine Zahnradbahn verbunden ist und von dem die höchste Bergbahn Europas bis über die Gletscher zum 3100 m hohen Gornergrat aufsteigt. Zwei grundverschiedene Kulturen begegnen sich zu Zermatt in ergreifendem Gegensatz, das üppige, sorgenlose Leben der großen, ihren Zerstreuungen ergebenen Welt und der Daseinskampf eines in den engsten Anschauungen befangenen Völkchens, das hart am Rande der Gletscher der Erde noch kurze goldene Garben abschmeichelt, im übrigen sein ewig von Lawinen und Steinschlag, von allen Gefahren des Hochgebirges bedrohtes Leben in stummer, jedes laute Lachen scheuender Gottergebenheit trägt und einen Schatz alter schöner Sagen, Sitten und Gebräuche hütet. Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken als die lebenslustig, in bunten Gewändern auf dem Maultiere zu Berge reitende Fremde und das mit ihrem Wildheu wie ein Lasttier beladene, dem Dorfe zuschwankende, dunkel gekleidete Weib von Zermatt, dessen Leben in Arbeit und Gebet aufgeht. Allein manchmal verknüpft doch gemeinsame Sorge die beiden so verschiedenen Welten.

Eine Bergsteigergesellschaft, die nach der üblichen Zeitberechnung schon lange hätte ins Dorf zurückgekehrt sein müssen, ist noch nicht da und auch die ausgeschickte Rettungsmannschaft säumt. Aus der schlichten Dorfkirche ringen sich die Gebete der Einheimischen und Fremden in gemeinsamer Inbrunst zum Himmel. – Endlich um Mitternacht kommt ein Zug stummer Männer, mit verhüllten Gestalten auf dunklen Bahren. „Abgestürzt vom Matterhorn. – Steiger und Führer!“ Das Gebet in der Kirche und das Aufschluchzen der auf der Dorfstraße stehenden Menge. – Das ist das Band zwischen der großen sommerlustigen Welt und dem stillen Völkchen von Zermatt, sie haben beide Angehörige zu beweinen. Kein Berg hat so viele Menschenleben gefordert wie das Matterhorn. Davon reden die Steine und Kreuze auf dem Kirchhof des Dorfes. Von Zeit zu Zeit will der Löwe von Zermatt seine Opfer haben. J. C. Heer.     

Liebesorakel.
Nach einer Originalzeichnung von F. Reiß.

Unsere Goethe-Bildnisse. (Zu den Bildern S. 549 und 560.) Das heutige Heft ist mit zwei Bildnissen Goethes geschmückt, von denen das eine als das beste von denen gilt, die den Dichter im jüngeren Mannesalter zeigen, während das andere als das vorzüglichste unter den vielen Porträts gerühmt wird, die nach dem Dichter im hohen Alter gemalt wurden. Das Oelgemälde von Georg Oswald May, nach welchem das Bild auf S. 560 ausgeführt ist, stammt aus dem Jahre 1779. Es stellt also den Dichter im dreißigsten Jahre dar, im vierten Jahre nach der Uebersiedelung von Frankfurt nach Weimar. Das Bild wurde dort von May, dem Ansbachschen Hofmaler, im Auftrag der Herzogin von Württemberg gemalt.

Wieland schreibt darüber an Merck am 1. August 1779 aus Weimar: „… Mit Göthen hab’ ich vergangene Woche einen gar guten Tag gehabt. Er und ich haben uns entschließen müssen, dem Rath May zu sitzen, der uns ex voto der Herzogin von Würtemberg für Ihre Durchlaucht malen soll. Göthe saß Vor- und Nachmittags und bat mich, weil Serenissimus absens war, ihm bei dieser leidigen Session Gesellschaft zu leisten und zur Unterhaltung der Geister den ‚Oberon‘ vorzulesen. Zum Glück mußte sichs treffen, daß der fast immer wüthige Mensch diesen Tag gerade in seiner besten receptivsten Laune und so amusable war wie ein junges Mädchen von sechzehn …“

In seinem Werke „Die Goethe-Bildnisse“ giebt Hermann Rollett ein älteres Urteil über das Gemälde wieder, das er bestätigt: „Es stellt dies Bildniß den Dichter in jener unvergleichlichen Anmuth, in jenem Zauber edelster jugendlicher Schönheit dar, welcher schon der Genius sein Siegel leuchtend aufgedrückt hat, und mit welcher der junge Poet überall gleich bei seinem ersten Erscheinen die Herzen eroberte.“

Diese „Perle der Bildnisse Goethes“ kam im Jahre 1841 in den Besitz des Freiherrn G. von Cotta, des Besitzers der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart. Derselbe ließ von dem Bilde einen Stahlstich herstellen zu der „Volksbibliothek deutscher Klassiker“, die 1853–1858 erschien. 1878 hat dann der Cotta’sche Verlag von dem Bilde eine große Photographie herausgegeben, die weite Verbreitung fand. Als Beitrag zur gegenwärtigen Jubiläumsfeier läßt die Firma soeben treffliche Heliogravüren des Bildes, in einer größeren und einer kleineren Ausgabe, zu ungemein billigem Preise erscheinen.

Das Oelgemälde von Joseph Karl Stieler, welches unser Holzschnitt auf S. 549 wiedergiebt, ist 1828 entstanden. Im Juni dieses Jahres entsandte König Ludwig I von Bayern seinen Hofmaler Stieler nach Weimar, um den großen Dichter mit aller ihm nur zu Gebote stehenden Kunst nach dem Leben zu malen. Goethe selbst war mit seinem Abbilde, wie er an Gerhard in Leipzig schrieb, sehr zufrieden. König Ludwig fand das Gemälde ebenfalls außerordentlich gelungen. Mit besonderer Sorgfalt hatte Stieler darauf die Verse wiedergegeben, die auf dem Briefbogen sichtbar sind, welchen der Dichter in der Rechten hält. Es sind Verse des Königs, der bekanntlich seiner Kunstbegeisterung gern auch in Gedichten Ausdruck verlieh; sie bilden die fünfte Strophe des Gedichtes „An die Künstler“ und lauten:

„Ja! wie sich der Blume Flor erneuet
Durch den Samen, den sie ausgestreuet,
Zieht ein Kunstwerk auch das and’re nach.
Aus dem Leben keimet frisches Leben,
Das zum Werk gewordene Gefühl
Wird ein neues künftig herrlich geben,
Selber nach Jahrtausenden Gewühl.“



KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Fräulein E. R. in Breslau. Das Buch Légendes et Archives de la Bastille von F. Funck-Brentano (Paris, Hachette, 1898) ist in deutscher Übersetzung erschienen. Der Titel derselben lautet: „Die Bastille in der Legende und nach historischen Dokumenten. Von Franz Funck-Brentano. Mit einer Vorrede von Victorien Sardou. Uebersetzt von Oscar Marschall von Bieberstein.“ (Breslau. Schlesische Buchdruckerei. Kunst- und Verlagsanstalt vorm. S. Schottlander. 1899.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[580 a] 0


Allerlei Winke für jung und alt.


Der Feldstuhl zum Mitnehmen ins Freie, an den Strand etc. ist ein geschätztes Möbel, das sogar kunstgewerbliche Behandlung verträgt. Nimmt man die allereinfachste, billigste Form, zum Zusammenklappen, mit einem etwa 25 cm breiten Stoffstreifen bespannt, so ist zunächst der angenagelte Stoff abzutrennen und das Gestell mehrmals mit rotem englischen Lack zu überstreichen. Unbespannte Gestelle bekommt man nicht leicht. Ist der Stoff nicht gut genug zu weiterer Verzierung, so findet man in den Möbelstoffgeschäften nette, mit eingewebten Streifen versehene schmale Stoffe, die sich für unseren Zweck eignen. Mit Benutzung der gegebenen Streifen und Abteilungen bestickt man dann den Stoff in derben Mustern und Farben – das Rot des Gestelles soll dabei vorherrschen; unsere Abbildung deutet, in einer Art Querschnitt, die Verteilung an. Es genügen auch schon zwei schmale Borten am Rande. Mit hübschen Ziernägeln befestigt man dann den Stoff wieder an den obersten Leisten, und der Stuhl ist nicht wieder zu erkennen.

Stoffstreifen für einen Feldstuhl.

Transportabler Papierkorb.

Transportabler Papierkorb aus Lederpappe. Aus vier gleichen Teilen, die nach unten nur wenig abgeschrägt sind, und einem quadratischen Stück Pappe als Boden setzt sich ein transportabler Papierkorb zusammen, der bei längerem Landaufenthalt zum Beispiel sich als sehr praktisch erweist. Im Rande sind seitwärts und unten Oeffnungen angebracht, durch welche Bänder gezogen werden, wenn man ihn aufstellen will. Die Höhe wird etwa 40 cm betragen, die obere Breite 30, die untere 24 cm. Zur Verzierung eignet sich Brandmalerei am besten; unsere Abbildung zeigt die gelben sternartigen Blumen mit der rotbraunen samtigen Zeichnung im Innern, die in jedem Landstrich einen anderen Namen tragen. Das leuchtende Goldgelb und die dunkelblaugrünen Blätter wirken angenehm auf dem hellen Ton der Lederpappe. Der von dem ornamentalen Rand eingeschlossene Grund hinter den Blumen wird mit Bronze schraffiert, der Rand selbst dunkelbraun getönt, das Ganze mit Bodenwichse schließlich Übergangen. J.     

Spielschürze für Knaben.

Spielschürze für 3- bis 4jährige Knaben. Die kleidsame, niedliche Schürze hat einen sehr einfachen Schnitt, wie unsere kleine Zeichnung angiebt. Ein Stück graues oder blaues Leinen von 48 cm Länge zu 62 cm Breite legt man zunächst in der Mitte zusammen und schneidet nach einem aus Papier nach obigen Angaben beigestellten Muster, welches mit der punktierten Linie auf dem Stoffbruch liegt, die Schürze heraus, die nur noch ringsum eingefaßt werden muß. Dies sieht sehr hübsch aus, wenn es mit einem schräggeschnittenen Streifen gemusterten Kattuns ausgeführt wird, rechts aufgesetzt und nach links übergesäumt, wenn keine Nähmaschine zur Hand ist – im anderen Falle näht man den Streifen erst links an und steppt ihn nach rechts auf. Oben an der Schulter, bei * werden 4 cm breite, 45 cm lange, ebenfalls eingefaßte Achselbänder angenäht, die in der hinteren Mitte bei : anzuknöpfen sind; zum besseren Verschluß kann hier noch eine kleine Lasche von 16 cm Länge und 4 cm Breite, seitlich zugespitzt (in jeder Spitze ein Knopfloch), dienen, die über die Bänder geknöpft wird.

Plaidtasche. Eine durch eingesetzte Seitenteile fest geschlossene Plaidtasche nimmt in praktischer Weise außer den Tüchern auch noch sonstige Sachen sicher auf und ist aus Segeltuch, Leinen oder dergleichen leicht herzustellen. Der Hauptteil mißt 72 cm Höhe zu 62 cm Breite; die Seitenwände verlangen je einen 22 cm hohen und 18 cm breiten Stoffteil, der an den Ecken abgerundet wird. Die Querränder des Hauptteiles sind durch untergesetzte Leisten zu sichern und mit Knopfschluß einzurichten; sie treten so weit übereinander, daß die Seitenteile ganz glatt die seitlichen Oeffnungen füllen, die verbindende Naht kann auch Bandeinfassung erhalten. Neben dem Knopfschluß wird je ein gerader Tragbügel – 28 cm lang, 5 cm breit – aus mehrfachen Stofflagen festgesteppt; sicherer aber trägt sich die Hülle in einen Plaidriemen eingeschnallt. Beliebig kann die Tasche auch Stickereiverzierung erhalten.


–– Hauswirtschaftliches. ––


Saure Milch ist in heißen Tagen eine herrliche Erfrischung, aber wenige Stadtfrauen halten es für möglich, dieselbe ohne kühle Milchkammer zu „stellen“. Und doch läßt sich das in der kleinsten, heißesten Küche machen, ja in solcher besonders gut, weil da die Milch schnell zusammengeht. Einzige Bedingung des Gelingens ist ein zuverlässiger Lieferant, der kein Wasser zusetzt. Man gießt die Milch in enge 1/4 oder 1/2 Liter-Gläser, stellt diese auf ein festes Wandbrett, das keine Erschütterung erfährt, legt über jeden zwei Holzspäne, darauf ein Stück Pappe, daß die Luft Zutritt hat, und läßt sie zwei Tage in der Küche stehen. Am dritten kommen sie in das kühlere Speisezimmer, dann hat die Milch bis zum Abend den rechten Grad erreicht. Eine Viertelstunde vor dem Essen stellt man das Glas in eine etwas niedrigere große Kasserolle unter die Wasserleitung, deren stets fließender dünner Strahl das Wasser in dem größeren Gefäße beständig erneuert und damit die Milch abkühlt. Sie schmeckt dann beim Genuß so vorzüglich wie die beste Sauermilch auf dem Dorfe.

Säuberung gebrauchter Flaschen. Zur Einmachezeit pflegt man sehr oft in Verlegenheit wegen leerer Flaschen oder Fläschchen zu sein und alle Räume werden alsdann nach Behältern zur Aufnahme der mannigfachen Fruchtsäfte durchsucht. Sollen diese Säfte sich tadellos halten, so müssen die Flaschen, in die man sie füllt, peinlich sauber sein, man wird daher ihrer Reinigung ganz besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen und die Säuberung, je nach der Art des Inhalts, den sie enthielten, verschieden vornehmen. – Fettige Flaschen reinigen sich außerordentlich leicht, wenn man Wasser in die Flaschen füllt, dem man etwas übermangansaures Kali und Salzsäure zusetzt. Man schüttelt die Flaschen gut damit und spült sie darauf gründlich erst mit heißem Sodawasser und dann mit reinem lauen Wasser nach. Flaschen, welche eine harzige Flüssigkeit enthielten, müssen ganz anders gesäubert werden. Man löst Borax und Pottasche zusammen mit Wasser zu starker Lauge auf und reinigt die Flaschen gründlich damit, dann schüttelt man sie gut mit etwas reinem Spiritus und spült sie mit lauwarmem Wasser. – Aehnlich verfährt man bei Flaschen, welche allerhand Essenzen enthalten haben; man nimmt zu deren Reinigung Pottaschenlauge und danach eine Natronlösung und spült zuletzt mit lauwarmem Wasser gut nach. – Alle gereinigten Flaschen müssen gut austrocknen, bevor man sie in Gebrauch nimmt. Man legt dazu ein sauberes Tuch in eine reine Schale und stellt darin die Flaschen mit dem Halse nach unten an eine warme Herdstelle, bis alle Feuchtigkeit verschwunden ist. Dann schwefelt man sie auf bekannte Weise aus und kann jede Flüssigkeit unbesorgt wegen deren Haltbarkeit hineinfüllen. He.     

Kartoffelmuscheln zu Suppenfleischragout. Kartoffelreste werden gerieben und mit einem Ei, wenig Milch, etwas Muskatnuß und so viel Mehl verarbeitet, daß ein ziemlich fester Teig entsteht, der in kleine Stücke zerteilt wird. Man drückt diese mit der Hand gegen die Innenseite eines gewöhnlichen Reibeisens, daß sie eine gewölbte, muschelartige Form annehmen. Die so entstandenen Kartoffelmuscheln werden in Salzwasser gekocht und auf ein Suppenfleischragout gelegt.

Kartoffelschnittchen. Die geriebenen Kartoffelreste werden mit etwas schaumig gerührter Butter, einigen Eiern, Salz und gewiegtem Schnittlauch zu einer geschmeidigen Masse gerührt, welche man gleichmäßig auf in Milch geweichte Brotschnitten streicht. Man wendet die letzteren in geriebener Semmel, bäckt sie in Schmalz goldbraun und giebt sie zu kleinen Würstchen.

'Rührkartoffeln. Die Kartoffeln werden in Scheiben geschnitten, ebenso Suppenfleischreste in große Würfel geteilt. Man läßt Speck aus, brät die Kartoffeln und Fleischwürfeln darin durch, verquirlt drei Eier mit etwas Milch, gießt dies über die Kartoffeln und verrührt alles so lange miteinander, bis die Eier gar sind. Das Gericht wird mit gehacktem Schnittlauch bestreut zu Tisch gegeben.

Mostrichkarioffeln. Aus braunem Buttermehl, Fleischextraktbouillon, Salz, Pfeffer, Zitronensaft, einer Prise Zucker und einem Löffel Mostrich wird eine ganz sämige Sauce bereitet, in der man übrig gebliebene, in Scheiben geschnittene Kartoffeln heiß werden läßt, sie in warmer Schüssel anrichtet und mit verlorenen Eiern belegt.

Kartoffelberg. Die Kartoffelreste werden gerieben, mit mehreren gehackten Sardellen vermischt und mit etwas Essig, Oel, Pfeffer und Salz zu einer geschmeidigen, aber nicht dünnen Masse verrührt. Man richtet sie bergförmig an. belegt den Kartoffelberg mit Kapern und giebt ihn als Zugabe zu Zunge oder gekochtem Schinken. L. H.     

Italienische Vorspeise nach der Suppe. Die folgende Vorspeise ist bei Herren besonders sehr beliebt, sie mundet aber auch den Damen meist vorzüglich, jedenfalls ist sie fast unbekannt und bietet ehrgeizigen Hausfrauen den Ruhm, „etwas Neues“ gebracht zu haben. Man knetet aus 400 g Mehl, 100 g frischem Rindermark, 100 g geriebenem Parmesankäse, etwas Salz, wenig Pfeffer und etwa einem halben Glas Wasser einen weichen und geschmeidigen Teig, der sich glatt ausrollen läßt. Vorher bereitet man eine Fülle aus rohem gehackten Schinken, etwas gewiegter Petersilie, einem Ei, geriebenem Käse, Salz und Pfeffer. Von dieser Fülle legt man jedesmal ein walnußgroßes Stück auf ein viereckiges Stück des messerrückendick ausgerollten Teiges, dessen Ränder man mit Ei bestreicht und mit den Spitzen fest gegeneinander drückt. Die so entstandenen Täschchen werden in schwimmendem Backfett goldbraun gebacken und dann sofort aufgetragen. H.     

Wiener Schinkenwanndeln. Eine Form mit Vertiefungen, wie solche zum Backen der Spiegeleier oder Ochsenaugen verwendet wird, streicht man gut mittels Pinsel mit Butter aus. Sodann werden die kleinen Vertiefungen der Form mit mürbem Teig ausgelegt. Darein kommt ein vorbereitetes Haschee aus Schinken (feinfaschierter Schinken oder Rauchfleisch wird mit etwas saurem Rahm, einem Stäubchen Mehl, Salz und Muskatgeschmack auf Glut ausgedünstet). Ist jedes Wanndel also mit der angegebenen Fülle gefüllt, so wird ein entsprechend groß geschnittenes Deckblatt aus Butterteig darüber gelegt, die Teigenden fest aneinandergedrückt, damit das Wanndel geschlossen, obenauf mit Eigelb leicht bestrichen und in heißer Röhre langsam ausgebacken. Das Herausnehmen der Speise geschieht am besten vorsichtig mit Zuhilfenahme eines runden Tischmessers. Die Speise muß heiß serviert werden. Diese Wanndeln können auch mit beliebig anderen Haschees gefüllt werden. E. K.     

[580 b]

Allerlei Kurzweil.


Damespielaufgabe. Von A. Stabenow in Berlin.

Kryptogramm.


Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und gewinnt.

0


Umstellungsaufgabe.

Man stelle die Buchstaben eines jeden der nachfolgenden sieben Wörter um und bilde daraus ebensoviele neue Wörter:
1. Traum, 2. Selma, 3. Schiene, 4. Salbe, 5. Winde, 6. Pirat, 7. Gehirn.

Die Anfangsbuchstaben der neugebildeten Wörter nennen alsdann, in der hier gegebenen Reihenfolge gelesen, den Titel eines bekannten Dramas.


Rätsel.

Gar manchem bin ich unentbehrlich,
Doch werd’ ich vielen auch gefährlich,
Ich diene auch als Arzenei.
Nun tausche Zeichen zwei und drei:
Ein Leben voller Heiterkeit
Empfängt dich dort zu jeder Zeit.
 Th. Biedermann.


Scherzrätsel.

Es kennt der Leser doch die Monarchie,
Wo er die Mitte bildet und auch sie?  E. S.


Auflösung des Tauschrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 17.

Leere, Rebe, Tonne, Linnen. Sage, Benzin, Groschen, Meißen, Schallloch.

Leere Tonnen geben großen Schall.


Verwandlungsrätsel.

Metz | ··· | ·*· | *·· | ··+· | *··· | ·*·· | ··· | ·*· | *·· | +··· | ···* | Thorn.

Mit Hilfe von 11 Zwischenstufen, die alle richtige Hauptwörter sein sollen, suche man von Metz nach Thorn zu gelangen. Dabei unterscheidet sich jedes Wort von dem vorangehenden nur durch einen Buchstaben, der entweder weggelassen oder hinzugefügt (+) oder mit einem andern vertauscht (*) wird.
Beispiel: Weide, Wende, Ende, Erde, Erbe, Erbse.


Auflösung des Bilderrätsels „Der Geldsack“ auf dem Umschlag von Halbheft 17.
Liest man zeilenweise zuerst die Buchstaben ab, die unter den Einzelmünzen stehen, und dann jene unter den doppelt liegenden oder steckenden Münzen, so ergiebt sich der Spruch:

1) Der Geizhals hat
2) seinen Gott im Kasten.


Auflösung der Charade auf dem Umschlag von Halbheft 17.
Sand – Uhr, Sanduhr.


Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 17.

Im Talon lagen:
C behielt:

Der Gang der Partie war: I. A 6/6, B –, C 6/1; II. A 1/5, B 5/2, C 2/2; III. A 2/6, B –, C –; IV. A 6/0, B 0/4, C 4/5; V. A 5/0, B 0/1, C 1/3: VI. A 3/0, B –, C –; VII. A 0/0, B –, C –; VIII. A 0/2 (= 78).



[ Verlagswerbung Ernst Keil's Nachfolger
für Bücher von M. Bernhard u. R. Artaria.
Werbung für „Technikum Mittweida“ und „Technikum Altenburg S.-A.“
und Produktwerbung für „Sapolio“
Zur Zeit hier nicht dargestellt. ]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.