Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses
Fünf Minuten von der Heerstraße entfernt, die von Basel und Straßburg, den Rhein entlang, nach Lauterburg und Mainz hinunterführt, liegt die etwa tausend Einwohner zählende Pfarrgemeinde, in welche ich, vor zehn Jahren bereits, berufen wurde, nachdem ich dreizehn Jahre lang droben bei Buchsweiler, am Fuße der Vogesen, im alten Hanauerlande, als protestantischer Geistlicher im Amte gestanden. An landschaftlichen Schönheiten hat die Umgebung, eine durchweg flache Riedgegend, wenig oder nichts aufzuweisen, aber deshalb ist sie doch nicht gerade einförmig. Auf zwei Seiten wird der Gesichtskreis durch Waldungen begrenzt, über welche die Vogesen theilweise zum Vorschein kommen, und dort drüben über dem Rhein erheben sich großartig und malerisch die blauen Berge des Schwarzwaldes. Langgestreckt dehnt sich das Dorf mit seinen vielen, die Häuser umgebenden Baumgärten vor dem Blicke aus; hoch über die gelb- und rothbraunen Ziegeldächer ragt stattlich der achteckige, mit Schiefer gedeckte Kirchthurm empor, den der Dichter des Schauspiels „Friederike“ gar sinnig mit einem umgestürzten Blumenkelche vergleicht; und so gewährt das Ganze denn doch ein freundliches und gemüthliches Bild, auf welchem der Beschauer gerne das Auge für eine Weile ruhen läßt.
So wenig Reize aber das stille, abgelegene Dorf auch bieten, so unbedeutend es an sich selbst von vornherein auch scheinen mag, es geht von ihm darum doch eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, und jedes neue Jahr hat der Besucher eine bald größere, bald geringere Anzahl aufzuweisen. Da kommen denn in buntem Durcheinander Studenten von Heidelberg und Polytechniker von Karlsruhe, Schriftsteller und Künstler, Richter und Landräthe, Pastoren und Officiere (letztere ganz besonders zahlreich vertreten während der jüngsten Kriegsereignisse), Deutsche und Franzosen, ja Russen selbst, und hie und da sogar noch ein Engländer. Und Alle richten ihre Schritte stracks nach dem Pfarrhof hin und treten, schüchtern meist und sich entschuldigend, bei mir ein. Was sie suchen und wünschen und wollen, das haben sie nicht nöthig mir vorerst zu sagen; auch komme ich gewöhnlich ihrer Bitte zuvor und stelle mich ihnen bereitwillig zur Verfügung.
Und was wollen und suchen denn nun eigentlich, so wird wohl der geneigte Leser fragen, diese Fremden, die nach dem abgelegenen Dorfe und zu dem unbekannten Pastor pilgern? – Sie wollen nichts Anderes, als die Stätten besuchen, wo vor jetzt gerade hundert Jahren der große deutsche Dichter geweilt; sie wollen die Orte sehen, wo Goethe so selige Augenblicke erlebt in jugendlichem Liebesrausch, und wo Friederike so namenloses Leid still und ergeben viele Jahre hindurch im gebrochenen Herzen getragen. Das Pfarrhaus, das ich bewohne, ist eben kein anderes, als das Pfarrhaus zu Sessenheim. So nämlich wird der Name in allen älteren und neueren amtlichen Acten geschrieben, obgleich Goethe, und nach ihm alle Schriftsteller, beharrlich Sesenheim schreiben. Ganz alte, im Pfarrarchiv aufbewahrte Documente haben Seßenheimb und Süßenheim. Im Volksmund heißt das Dorf Saes’m.
Aber das alte, das berühmte, das erinnerungsreiche,
[453][454] das eigentliche Sessenheimer Pfarrhaus steht schon längst nicht mehr; vor fünfunddreißig Jahren bereits mußte dasselbe nothgedrungen abgebrochen und durch ein neues ersetzt werden. Das erfahren gewöhnlich hier erst, und nie ohne laut ihr Leidwesen kund zu thun, die werthen Gäste, die bei mir einbrechen, um in der Nähe sich die Stätten anzuschauen, die in der Ferne ihnen so lieb geworden. Mir aber – das will ich dem lieben Leser nur ehrlich gestehen – mir, dem dermaligen Insassen des jetzigen so wohnlichen Hauses, thut diese Veränderung nicht im mindesten leid, auch habe ich es bis jetzt noch niemals über’s Herz bringen können, aufrichtig in diese wehmüthige Klage (die ich jedoch ganz und gar verstehe und auch gebührend achte) einzustimmen. Hat doch mein Vorgänger im Amte, vor hundert Jahren schon, fort und fort Beschwerde geführt über sein altes, baufälliges, hölzernes Häuschen, und ein Mal um das andere Pläne und Risse, bekanntlich auch durch Goethe selbst, zu einem Neubau anfertigen lassen. Dank jedoch der freundlichen Mitwirkung meines kunstfertigen Amtsbruders, Pfarrer August Lambs von Bischweiler, und meines Schwagers, des Kreiswegbaumeisters August Bauer von Hagenau, bin ich in den Stand gesetzt, dem verehrten Leser das alte sowohl, wie das neue Haus im Bilde vor Augen zu stellen, und diese, wie ich hoffe, nicht unwillkommene Zugabe wird es Jedermann ermöglichen, Vergleiche anzustellen zwischen Sonst und Jetzt, und sich einen richtigen Begriff zu machen von den Localitäten, wie sie gewesen und heute sind. Das Eckzimmer rechts im obern Stockwerk des Hauses, dessen Holzwerk damals allenthalben zu Tage trat, war das Goethezimmer, das untere links die Wohnstube.
Nun aber, nachdem wir das Häuschen von 1770 betrachtet und dessen Umgebung in Augenschein genommen, wollen wir eintreten und nähere Bekanntschaft machen mit der dasselbe bewohnenden Pfarrfamilie.
Der Herr des Hauses, der Pfarrer des ausgedehnten, um jene Zeit sechs Gemeinden umfassenden und mehr denn tausendfünfhundert Protestanten zählenden Kirchspiels, war der damals in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre stehende, am 11. April 1717 in Straßburg geborene Johann Jacob Brion. Gerade zehn Jahre vorher, um Martini 1760, war er von der etwas über zwei Stunden von hier entfernten Pfarrei Niederrödern nach Sessenheim befördert worden. Klein von Statur, freundlich in seinem Aeußern, etwas orthodox in seinen theologischen Ansichten (man denke an sein Gespräch mit Goethe über die Schnaken, „die im Paradiese nur angenehm gesummt und nicht gestochen“), durch Gelehrsamkeit ebensowenig ausgezeichnet wie durch besondere Geistesgabe, lag er, ohne Geräusch und Aufsehen zu machen, seinem Berufe ob, und hielt wohl ebenso pflichtgemäß die Gottesdienste ab, als er sauber und regelmäßig die von ihm verrichteten Casualhandlungen in die noch vorhandenen Kirchenbücher einschrieb. Was er als Prediger gewesen und als Seelsorger und Pfarrer gewirkt, darüber hat sich in der Gemeinde selbst keine mündliche Kunde erhalten und fortgepflanzt. Dieser Umstand aber kann uns nicht berechtigen, ein ungünstiges Urtheil über ihn zu fällen; denn die Pfarrer, welche am lautesten und am längsten von sich reden machen, sind auch heute noch, wie männiglich bekannt, nicht gerade die, welche am nachhaltigsten einen wohlthätigen und segensreichen Einfluß auf ihre Gemeindeglieder ausüben. Leutselig, gutmüthig und wohlthätig muß er jedenfalls in hohem Grade gewesen sein. Die Großmutter eines hiesigen Bürgers erzählte oft: „Mehr denn einmal hat er seinen Rock hergegeben, und wenn seine Weibsleut’ nicht gewesen wären, so hätte er auch noch das Hemd ausgezogen und verschenkt.“ „Sorget nicht für den andern Morgen“ – dies war der Wahlspruch, den er Frau und Töchtern entgegenzuhalten pflegte, wenn sie seiner allzugroßen Freigebigkeit hemmend in den Weg zu treten suchten.
Daß Vater Brion auch gerne Besuche bei sich sah und Gäste ihm allezeit höchst willkommen waren, dürfen wir nach mannigfachen Angaben wohl behaupten; und er konnte seine ihm, wie es scheint, zum Herzensbedürfniß gewordene Gastfreundschaft um so leichter üben, als seine Stellung in finanzieller Hinsicht eine günstige gewesen sein muß; denn er war nicht blos Nutznießer des beträchtlichen, aus etwa hundertsechszig Morgen (zweiunddreißig Hectares) bestehenden Pfarrguts, sondern er hatte auch noch den Feld- und Blut-Zehnten zu beziehen. Die sehr geräumige Pfarrscheune, welche noch an derselben Stelle und in demselben Zustande wie vor hundert Jahren sich befindet, und in welcher Goethe bekanntlich den mißlungenen Versuch machte, die pfarrherrliche Kutsche „mit Blumen und Zierrathen zu staffiren“, hieß nach der Aussage älterer hiesiger Personen, auch weit später noch, die „Zehnerscheuer“. Auch fanden sich Bekannte und Unbekannte im gastlich geöffneten Sessenheimer Pfarrhaus jederzeit gern und zahlreich ein; zu den Verwandten und Freunden aus dem Badischen und dem Elsaß gesellten sich mehr denn einmal Studenten von Straßburg und Officiere von Fort Louis, einer 1689 von Vauban auf einer anderthalb Stunden von hier entfernten Rheininsel erbauten, 1793 von den Oesterreichern unter Lauer zerstörten kleinen Festung – heute aber ein unbedeutendes armseliges Dörfchen. Dieses so sehr gesellige und vielbewegte Pfarrhausleben hat hie und da schon mannigfachen Anstoß erregt und zu allerlei nicht immer wohlwollenden Bemerkungen Anlaß gegeben. Wir dürfen dasselbe aber nicht nach unsern heutigen Schicklichkeitsansichten allein beurtheilen, sondern müssen billig vielmehr die andersartigen Verhältnisse und gesellschaftlichen Zustände der damaligen Zeiten in Anschlag bringen.
Als würdige Pfarrfrau und treffliche Hausmutter kommt uns wohlwollend Magdalena Salomea Schoell entgegen, welche, am 12. März 1724 geboren, in jener Zeit sechsundvierzig Jahre zählte. Sie war wahrscheinlich eine Badenserin, wenn nicht der Geburt, so doch der Abstammung nach. Viele Mitglieder ihrer Familie bewohnten die Markgrafschaft Baden-Durlach, gehörten dem höhern Beamtenstande an und blieben in fortwährendem Verkehr mit den Sessenheimer Pfarrersleuten, welchen sie oft Besuche machten und theilnehmend bei frohen und traurigen Gelegenheiten zur Seite standen. Frau Brion war groß und hager von Gestalt, „doch nicht mehr, als solchen Jahren geziemt“, aber ihre Gesichtszüge zeugten auch im vorgerückten Lebensalter noch von früherer Schönheit, „sie hatte vom Rücken her noch ein ganz jugendliches angenehmes Ansehen.“ Ihr Benehmen war fein, tactvoll und einladend und trug an sich den Stempel einer guten und sorgfältigen Erziehung. „Man konnte sie nicht ansehen, ohne sie zugleich zu ehren und zu scheuen,“ so sagt Einer, der sie wohl gekannt und dem wir vollen Glauben schenken dürfen. Sie ist anderthalb Jahre vor ihrem Gatten im Jahre 1786 von Gott aus diesem Leben abgerufen worden und findet sich der Sterbefall von Pfarrer Brion selbst im Kirchenbuche eingetragen.
Beide Ehegatten ruhen auf dem die Kirche umgebenden, aber schon längst nicht mehr benutzten Gottesacker; ihre Grabsteine sind noch vorhanden und liegen dicht an der Rückseite der Kirche. Auf dem einen Steine liest man:
Sey still und weine,
Christ und Menschenfreund!
Hier ruhen die Gebeine
Eines Mannes, der vereint
Tugend pries und Tugend übte,
Gott in seinem Leben liebte.
Mit Ausnahme der wohlerhaltenen Namen Magdalena Salomea Schoellin ist die Inschrift des zweiten Steines völlig verwischt und unleserlich geworden.
Von den Kindern des Hauses haben wir nur wenig zu berichten, und auch dies Wenige wäre für uns von keiner Bedeutung und würde das Interesse des Lesers nur in geringem Grade in Anspruch nehmen, wenn nicht sympathisch, so Vieler Herzen der Einen Tochter entgegenschlügen, die das Sessenheimer Pfarrhaus und Alles, was mit demselben zusammenhängt, so weithin berühmt gemacht.
Die älteste Tochter des Pfarrer Brion’schen Ehepaares hatte das elterliche Haus seit mehreren Jahren verlassen, als Goethe seinen ersten Besuch in Sessenheim machte und wird ihrer auch in dessen Memoiren nicht gedacht. Sie hieß Catharina Magdalena und starb als Gattin des Pfarrers Christian Bernhard Gockel in Emmerdingen.
Die zweite Tochter war Maria Salomea, die spätere Gattin des Pfarrers Gottfried Marx zu Diersburg im Badischen, in „Wahrheit und Dichtung“ mit Anspielung auf
[455] Goldsmith’s Vicar of Wakefield Olivia genannt. Sie scheint eine urwüchsige, praktische, auf die realen Aufgaben des Lebens gerichtete Natur gewesen zu sein, die, allem sentimentalen Wesen abhold, für ein poetisches Sichgehenlassen und müßiges Schwärmen keinen Sinn hatte, sondern darin ihre Freude fand, ihrer Mutter in der Sorge um die ausgedehnte Haushaltung hülfreich zur Seite zu stehen und im häuslichen Kreise und täglichen Leben sich bestens nützlich zu machen.
Dem Alter nach kommt nun Friederika Elisabetha, Goethe’s Friederike, deren Geburtsjahr bekanntlich ebenso wenig genau mehr festgestellt werden kann, als das ihrer Schwester, nachdem das Kirchenprotokoll der Pfarrei Niederrödern, wo sämmtliche Kinder des Pfarrers Brion geboren wurden, im Revolutions- und Schreckensjahre 1793 in den Flammen aufging. Da aber Friederikens und ihrer Schwester Confirmationstag in dem Sessenheimer Kirchenbuche aufgezeichnet ist, und hier zu Lande die Kinder gewöhnlich in ihrem vierzehnten Jahre confirmirt werden, so können wir das Geburtsjahr derselben doch annähernd wenigstens bestimmen. Und darnach wäre Friederike etwa 1752 geboren, während man gewöhnlich 1754 setzt.
Der vierten Tochter Jacobea Sophia, etwa vier Jahre jünger als Friederike, wird von Goethe mit keiner Silbe Erwähnung gethan. Festgestellt ist, daß sie nach dem Tode der Eltern längere Zeit mit Friederike zusammen in Rothau lebte; später siedelte sie nach Niederbronn über, wo sie denn auch bis zu ihrem am 27. December 1838 erfolgten Tode verblieb und allgemein unter dem Namen „Täntele“ bekannt, geschätzt und geachtet war. Sie soll denen gegenüber, welche Näheres über die früheren Verhältnisse ihrer Familie von ihr zu erfahren wünschten, sehr wortkarg und zurückhaltend gewesen sein und wich – von Goethe jederzeit mit großer Achtung sprechend – den an sie gerichteten Fragen gewöhnlich dadurch aus, daß sie sagte, sie sei damals zu jung gewesen, um mehr davon zu wissen. Bekannte selbst konnten ihr nur in seltenen Augenblicken und bruchstückweise vertrauliche Mittheilungen aus ihrer Jugendzeit entlocken; und noch seltener geschah es, daß sie die aus jenen Tagen stammenden sorgfältig verwahrten Briefschaften und Papiere hervorholte, um den sehnsüchtig und mit gespannter Neugierde Harrenden einen flüchtigen Einblick in dieselben zu gestatten. Kurz vor ihrem Tode hat sie, wie man mich versichert, aus allzu großer Besorgniß, eine gewisse Anzahl Goethe’scher Briefe dem Feuer übergeben. Einige seiner in Friederikens Liederbuch von ihm eingetragenen Gedichte jedoch sind gerettet und durch Professor August Stoeber in Mühlhausen, unsern elsässischen auch in weiteren Kreisen wohlbekannten Dichter und ebenso treuen als kundigen Pfleger vaterländischer Culturgeschichte, herausgegeben worden, zuerst im Musenalmanach von Chamisso und Schwab (1838), dann 1842 in seinem Schriftchen „Der Dichter Lenz und Friederike von Sessenheim“. Die Originalien dieser Gedichte jedoch standen Stoeber nicht mehr zu Gebote. Sophie Brion hatte dieselben einem Unwürdigen anvertraut, welcher sie treu- und ehrlos für sich behielt. Was aus denselben geworden ist, weiß ich nicht anzugeben. Die Abschrift aber, welche Friederikens Schwester Aug. Stoeber mittheilte, war nach ihrer ausdrücklichen Versicherung eine durchweg wortgetreue.
Was Goethe’s Autograph seiner für die Sessenheimer Freunde übersetzten ossianischen Gesänge von Selma betrifft, welches sich in Aug. Stoeber’s Besitz befindet, so ist ihm dasselbe nicht von Sophie Brion zugekommen, wie mein ehrenwerther Landsmann dies selber mir mitzutheilen die Güte hatte. Christian Brion hatte das kostbare Manuscript dem auf’s Freundschaftlichste mit ihm verbundenen Pfarrer Küß zum Alten St. Peter in Straßburg geschenkt; von diesem ging es an dessen Verwandten, unsern reichbegabten alsatischen Sänger Ehrenfried Stoeber über, welcher es seinem Sohne hinterlassen hat. Aug. Stoeber hat es bekanntlich in seinem Lenzbüchlein abdrucken lassen (es weicht an einigen Stellen von der im „Werther“ aufgenommenen Uebertragung ab) und gleichzeitig ein Facsimile davon mitgetheilt.
Nun noch schnell ein Wort über den Moses der Brion’schen Familie. Derselbe ist „1763 den 18. Martii zur Welt geboren und sogleich zur rothen Fluth der heiligen Taufe gebracht und benamset worden Christian.“ Daß er etwas vorlaut und verzogen gewesen und ihm mancherlei Freiheiten im elterlichen Hause gestattet waren, wird uns nicht sonderlich befremden, wenn wir bedenken, daß er das jüngste Kind, der einzige Sohn war, und daß seine bedeutend älteren Schwestern bestens mitgeholfen haben mögen ihn zu verwöhnen, um ihm die liebe Knabenzeit ja nicht zu verkümmern. Er ist darum doch ein wackerer und braver Pfarrer geworden.
Von Goethe selbst, der am 2. April 1770 nach der damals weitberühmten Universitätsstadt Straßburg gekommen war, um seine in Leipzig begonnenen juristischen Studien zu vollenden, und der so tief und so nachhaltig eingreifen sollte in die Geschicke der Sessenheimer Pfarrfamilie, entwirft sein Biograph G. H. Lewes ein so treues und anschauliches Bild, daß ich nicht umhin kann, dasselbe hier wiederzugeben.
„Er hatte das zwanzigste Jahr überschritten, und nie vielleicht war ein schönerer Jüngling durch Straßburgs Mauern eingezogen. Lange bevor er berühmt war, fand man ihn einem Apoll ähnlich; wenn er in ein Speisehaus trat, legten die Leute Gabel und Messer nieder und staunten ihn an. Bilder und Büsten geben nur eine schwache Andeutung von dem, was in seiner Erscheinung am meisten ergriff; nur den Schnitt der Züge geben sie, nicht deren Spiel, und selbst in den bloßen Formen sind sie nicht genau. Seine Züge waren groß und frei geschnitten, ähnlich wie die schönen leichten Linien der griechischen Kunst. Die Stirn hochgewölbt und mächtig; unter[WS 1] ihr hervor schienen große, glänzende braune Augen von wunderbarer Schönheit, mit Pupille von fast beispiellosem Umfang; die ein wenig gebogene Nase groß und fein geschnitten; der volle Mund mit der kurzen aufgeworfenen Oberlippe höchst ausdrucksvoll; Kinn und Kinnbacken von kühnem Bau, und der Nacken, der diesen Kopf trug, schön und kräftig. … Von Gestalt war er über Mittelgröße; aber, obgleich eigentlich nicht groß, sah er doch so aus, und wird gewöhnlich auch so beschrieben, so imposant war seine Erscheinung. Stark und kräftig gebaut, war seine Organisation doch zart und reizbar. … Ausgezeichnet in allen körperlichen Uebungen, war er gegen alle atmosphärischen Einflüsse so empfindlich, daß er sich selbst ein Barometer nannte.“ –
Diese äußeren Vorzüge aber und diese körperliche Schönheit waren es nicht allein, was ihn auszeichnete vor Vielen. Sein ungewöhnlich begabter jugendlicher Geist strotzte schon damals von einer so üppigen Fülle von Kraft und Leben, in seinem Innern wogte unaufhörlich eine solche Masse von großartigen Gedanken, kühnen Entwürfen und bahnbrechenden Bestrebungen auf und nieder, daß wir nur dann einen annähernden Begriff von seinem geistigen Zustande uns machen können, wenn wir die staunenerregende, vielseitige und ruhmreiche schriftstellerische Thätigkeit in’s Auge fassen, welche er in der Folgezeit entwickelt und an den Tag gelegt. Auch in jener Zeit schon trug er den Vorsatz mit sich herum, den ihm liebgewordenen Götz von Berlichingen, „diesen gewaltigen Mann in wilder anarchischer Zeit“, dramatisch darzustellen; und auch die Sage von dem Zauberer Faust „klang und summte gar vieltönig in ihm wieder“. In seinem unersättlichen Wissensdrang griff er begierig allenthalben zu, wo er geistige Nahrung und wissenschaftliche Befriedigung zu finden hoffte, und studirte zu derselben Zeit und mit demselben Eifer Medicin und Literatur, Chemie und gothische Baukunst, Homer und Ossian, Lessing und Shakespeare. Sein eigentliches Fachstudium trieb er jedoch nur mit mäßigem Fleiße, und blos insoweit, als er es nothgedrungen thun mußte, um den Anforderungen des gestrengen Herrn Vaters, annähernd wenigstens, Genüge zu leisten. Unter seinen Freunden und Bekannten übte ganz besonders der um nur wenige Jahre ältere, aber bereits zu einer gewissen Reife gelangte Johann Gottfried Herder einen bedeutenden und „anregenden“ Einfluß auf ihn aus, „und riß ihn fort auf dem herrlichen breiten Wege, den er selbst zu durchwandern geneigt war“.
Herder war als Reiseprediger des Prinzen Friedrich Wilhelm von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen, und benützte nun diesen Aufenthalt, der mehrere Monate dauerte, um sich durch Professor Dr. Lobstein von einem langwierigen und lästigen Augenübel, einer Thränenfistel, heilen zu lassen. Er war es auch, der Goethe und einige andere Freunde mit dem englischen Roman „Der Landpriester von Wakefield“ „ durch selbsteigene Vorlesung der deutschen Uebersetzung“ bekannt machte. Dieses Umstandes gedenke ich hier nur darum, weil aus demselben die erste Veranlassung zu Goethe’s Besuch in Sessenheim hervorgegangen ist.
[467] Ueber den „Landpriester von Wakesfield“, „welches Werk einen großen Eindruck bei ihm zurückgelassen, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft geben konnte“, unterhielt Goethe sich eines Tages denn auch mit seinem Tischgenossen Weyland, „der sein stilles fleißiges Leben dadurch erheiterte, daß er, aus dem Elsaß gebürtig (er war aus Buchsweiler), bei Freunden und Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einsprach“, und erfuhr von demselben, daß „nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Straßburg“, eine Pfarrfamilie lebe, welche mit der von Goldsmith geschilderten in vielfacher Hinsicht die größte Aehnlichkeit habe. „So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angewöhnt hatte, alle abzumüßigenden Tage und Stunden zu Pferde und in freier Luft zuzubringen.“
Weyland mußte versprechen, ihn in dieser Familie einzuführen, und es wurde alsobald beschlossen, den Ausflug nach Sessenheim ohne alles Zögern zu unternehmen. Aber auch diesmal konnte Goethe seiner „von Jugend an, selbst durch den ernsten Vater in ihm erregten Kunst sich zu verkleiden“ nicht widerstehen; mittelst eigener älterer und einiger erborgter Kleidungsstücke, sowie durch die wunderliche Weise sein Haar zu kämmen, wußte er sich das Aussehen eines ärmlichen Studenten der Theologie zu geben. An einem der ersten Octobertage, bei herrlichstem Wetter und in der heitersten Laune ritten beide Freunde auf der Landstraße dahin, und Weyland konnte sich oft des Lachens nicht erwehren, wenn Goethe, der gewandte Reitersmann, „solche Figuren, die man lateinische Reiter nennt, nachzuahmen wußte“. Wohlgemuth kamen sie in Sessenheim an, „ließen ihre Pferde im Wirthshaus stehen und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe“. „Laß Dich,“ sagte Weyland zu Goethe, indem er ihn das Haus von Weitem zeigte, „laß dich nicht irren, daß es einem alten und schlechten Bauernhause ähnlich sieht, inwendig ist es desto jünger.“
Pfarrer Brion war allein zu Hause, bald aber erschien die Mutter und kurz nachher die älteste Tochter, Beide auf ihre Weise und in ihrer Art angelegentlich, ja ängstlich sogar, nach Friederike sich erkundigend. Goethe’s Neugierde wurde im höchsten Grade gespannte; endlich kam auch sie, die Heißersehnte, und – „da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern [468] auf“. Die Schilderung des achtzehnjährigen Mädchens, die Goethe nach einem Zwischenraum von vierzig Jahren so meisterhaft entworfen, darf hier doch wohl nicht fehlen; um so weniger, da wir außer derselben kein anderes authentisches, aus jener Zeit stammendes Portrait von Friederike besitzen.
„Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettsten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder, und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als ob sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte. Der Strohhut hing ihr am Arme, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“
Es war – berichtet Albert Grün im Vorwort zu seiner „Friederike“ – es war ein Stern aufgegangen! Zwar wollte es mit dem Spielen und Singen am Clavier, wozu der Vater sie nöthigte, nicht recht flecken; beim Abendessen aber ward man vertraulich, und als es nachher zu einem Spaziergang im Mondenscheine kam, bei dem Goethe trotz seines komischen Candidaten-Habits Friederike führen durfte, da öffneten sich zwei Seelen: die eine zum erstenmal, die andere jedenfalls tiefer, als je.
„Sie wurde,“ erzählt Goethe, „zuletzt immer redseliger und ich immer stiller. Es hörte sich ihr gar so gut zu; und da ich nur ihre Stimme vernahm, ihre Gesichtsbildung aber, sowie die übrige Welt, in Dämmerung schwebte, so war es mir, als wenn ich in ihr Herz sähe, das ich höchst rein finden mußte, da es sich in so unbefangener Geschwätzigkeit vor mir eröffnete.“
Die Nacht wurde halb mit Weyland verschwatzt, halb selig verträumt. Am Morgen aber brachte ihn die verwünschte Garderobe, in der er sich unsäglich abgeschmackt vorkam, schier zur Verzweiflung. Er hatte einen unschuldigen Scherz treiben wollen; über Nacht war der Ernst gekommen: er schämte sich vor Friederike! Als Weyland ihn gar auslachte, lief er in leidenschaftlichem Unmuth davon, ließ in der Herberge sein Pferd satteln und eilte im Galopp gen Straßburg. Bis zur Manzenau kam er; da fuhr ihm ein toller Plan durch den Kopf.
George, der Wirthssohn von Drusenheim, hatte ja ungefähr seine Gestalt. Rasch lenkte er um, lieh sich die Sonntagskleider des Burschen, wofür er sein Pferd zurückließ, schwärzte sich die Augenbrauen mit einem angebrannten Korkstöpsel und übernahm die Ablieferung des Kindtaufkuchens, den George gerade in den Pfarrhof von Sessenheim zu bringen hatte. So nahm er zu Fuß den Wiesenpfad am Bache hin; Weyland und die Mädchen, die jenseits des Wassers an ihm vorüber spazierten, täuschte er wirklich, auch den Pfarrer und das Gesinde in Sessenheim. Frau Brion erkannte ihn zuerst, ging auf den Scherz ein und schickte ihn bis zum Essen in die Wiese, um dann Alle zu überraschen. Da fand er denn jenes herrliche Lieblingsplätzchen des Mädchens, einen von Bäumen und Gesträuch überschatteten Hügel, auf dessen Höhe über einem köstlichen Sitze die Inschrift stand „Friederikens Ruhe“. Dort saß er schwelgend in den vier himmelhellen Ausblicken und seinen holden Phantasien; dort fand und erkannte ihn zuerst die liebe Eignerin, dann die Schwester und Weyland, im Triumph wurde er in den Pfarrhof zurückgeführt und – war fortan darin zu Hause. Nach Tische wurde in der Laube „die neue Melusine“ improvisirt, die jetzt in „Wilhelm Meister’s Wanderjahren“ steht, und dann „mit dem Widerhaken im Herzen“ für diesmal Abschied genommen.
Der eben erwähnte, „Friederikens Ruhe“ genannte Hügel, niedrig, ganz unbedeutend, nur wenige Minuten von Sessenheim entfernt, von unseren Dorfbewohnern öwersch Berri (oberste Berg) genannt, ist wahrscheinlich ein celtischer oder römischer Grabeshügel – jedenfalls ist derselbe von Menschenhand aufgeworfen worden und viel flacher heute, als er vordem gewesen sein mag, da er schon längst als Feldstück bebaut und angepflanzt wird; darum kann man auch von demselben das Straßburger Münster nicht mehr sehen, wie in früherer Zeit. Alte Personen erinnern sich noch, daß auf demselben einige Bäume gestanden, von einem Wäldchen aber, das ihn umgeben, haben sie nie etwas gehört. Ob die Tafel mit der Inschrift „Friederikens Ruhe“ wirklich bereits existirte, als Goethe bei seinem ersten Besuche in Sessenheim dahin gekommen, habe ich alle Ursache zu bezweifeln, ja ich wage es beinahe mit Bestimmtheit zu verneinen. Friederike mag hie und da, allein oder in Gesellschaft, dieses freundliche Schattenplätzchen besucht und gerne manche Stunde dort zubracht haben – dies bin ich weit entfernt in Abrede stellen zu wollen; daß sie aber den Hügel nach ihrem Namen genannt oder gar noch die Inschrift „Friederikens Ruhe“ daselbst angebracht, gehört gewiß eher in das Reich der Dichtung, als der Wahrheit. Viel wahrscheinlicher scheint mir die Annahme, Goethe habe bei seinem Besuche gerne an dieser Stelle sich aufgehalten und, seiner Geliebten zu Ehren, ihr den in Rede stehenden Namen beigelegt, eine Annahme, die durch die Aussage von Sophie Brion so ziemlich auch bestätigt wird. Der Name Friederikens Ruhe war ihr unbekannt, aber sie erinnerte sich, daß eines Tages eine vom Dorfschreiner verfertigte Tafel daselbst angebracht wurde, auf welcher die Namen vieler Freunde verzeichnet standen; zu unterst soll Goethe selbst seinen Namen unter folgende Verse geschrieben haben:
„Dem Himmel wachs’ entgegen
Der Baum, der Erde Stolz.
Ihr Wetter, Stürm’ und Regen,
Verschont das heil’ge Holz!
Und soll ein Name verderben,
So nehmt die obern in Acht:
Es mag der Dichter sterben,
Der diesen Reim gemacht.“
Vor zwölf Jahren hatte Albert Grün den Ertrag einiger Leseabende in Straßburg, in welchen er sein Schauspiel „Friederike“ auszugsweise vortrug, uneigennützig dazu bestimmt, diesen Hügel anzukaufen und so wieder herrichten zu lassen, wie er vor hundert Jahren war. Allein der jetzige Besitzer mochte denselben nicht gerne abtreten, und überdies standen damals dem Vorhaben noch andere Schwierigkeiten im Wege. Wie ich höre, wird aber Grün jetzt einen neuen Versuch machen, den Hügel käuflich an sich zu bringen, und sein längst gehegter Wunsch dürfte wohl schon in kurzer Frist erfüllt und verwirklicht sein.
Goethe ging, aber er kam bald, er kam oftmals wieder. Denn ob er gleich durch eifriges Studiren seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben und „die angehende Leidenschaft“ niederzuschlagen sich bemühte, „Straßburg kam ihm leer,“ der Aufenthalt in der Stadt unerträglich vor. Schon im November „putzte er sich also sauber heraus,“ und ritt dem Ziele seiner Sehnsucht zu. Es war schon spät, an einem Samstag Abend, als er ankam. Unangemeldet wohl trat er in den Pfarrhof ein, aber darum doch nicht unerwartet; denn zu seiner großen Verwunderung hörte er Friederiken der Schwester in’s Ohr sagen: „Hab’ ich’s nicht gesagt – da ist er.“ Wie ein alter Bekannter wurde er begrüßt und aufgenommen. Bei einem Spaziergang, den er am folgenden Morgen mit der Geliebten machte, wurde gemeinsam der Plan entworfen, wie die zu erwartenden Gäste, vor und nach Tische, unterhalten werden sollten; und Goethe hatte Gelegenheit die Vorzüge kennen zu lernen, „welche sie auf’s Freiste vor ihm entwickelte: besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehen; Eigenschaften, die unverträglich scheinen, die sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr Aeußeres gar hold bezeichneten. Die Anmuth ihres Betragens schien mit der beblümten Erde, und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern.“ Nachher ging’s in die Kirche, wo er „an ihrer Seite eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.“[1] Indem er schied, „nährte er die Hoffnung, sie bald auf längere Zeit wiederzusehen.“
Die Erfüllung seines Wunsches ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nachher lud ihn Friederike „zu einem Feste ein, wozu auch überrheinische Freunde kommen würden; er sollte sich auf längere Zeit einrichten.“ Unverweilt „packte er einen tüchtigen Mantelsack auf die Diligence und in wenig Stunden befand er sich in ihrer Nähe.“ Er traf große und lustige Gesellschaft und war grenzenlos glücklich an Friederikens Seite. Sie erschien ihm lieblicher als je. Was Wunder daher, wenn er „allen [469] hypochondrischen, abergläubischen Grillen“ den Abschied gab[2] und bei Lösung der Pfänder die Gelegenheit benutzte, die „so zärtlich Geliebte recht zärtlich zu küssen“, wenn an jenem stillen Plätzchen das überglückliche Paar „durch die herzlichste Umarmung“ sich gegenseitig „die treulichste Versicherung gab, daß sie sich von Grund aus liebten.“ – Einer förmlichen Verlobung erwähnt Goethe in seinen Aufzeichnungen mit keinem Worte (was übrigens durchaus nicht beweist, daß eine solche nicht stattgefunden); jedenfalls schied er diesmal als erklärter Liebhaber aus der Familie, und er selber sagt: „des lieben Mädchens immer mehr annäherndes, zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh, und ich fand mich recht glücklich, daß sie mir diesmal beim Abschied öffentlich, wie andern Freunden und Bekannten, einen Kuß gab.“
Jetzt wurde ein regelmäßiger Briefwechsel mit der Geliebten eingeleitet. „Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe, sie mochte etwas Neues erzählen, oder auf bekannte Begebenheiten anspielen, leicht schildern, vorübergehend reflectiren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, springend, so leicht aufträte als sicher. Inhalt und Styl war natürlich, gut, liebevoll, von innen heraus, ihre Hand leicht, hübsch, herzlich.“ Auch Goethe „schrieb sehr gerne an sie,“ schickte ihr Gedichte, welche sie ihm eingegeben, Bänder, die er für sie gemalt, Bücher, die er zu ihrer weitern Ausbildung sowohl als auch zur Unterhaltung für sie ausgewählt, „denn sie las sehr gerne Romane; man findet darin, sagte sie, so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte.“
Goethe’s „Leidenschaft wuchs, je mehr er den Werth des trefflichen Mädchens kennen lernte“; das Verhältniß wurde immer inniger, und immer von Neuem wurden die ihm zum unabweislichen Bedürfnisse gewordenen Besuche wiederholt … und auch ausgedehnt. Sagt er doch selber: „Wir hatten eine Zeit lang zusammen still und anmuthig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging, ‚den Landpriester von Wakefield‘ nach Sessenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermuthet zu überreichen, als hätte es weiter gar nichts zu sagen. Die Gewohnheit zusammen zu sein befestigte sich immer mehr und mehr; man wußte nicht weiter, als daß ich diesem Kreise angehöre. Man ließ es geschehen und gehen, ohne gerade zu fragen, was daraus werden sollte.“
„Unbeachtet, wie es überhaupt dort und damals Sitte war,“ weil man sowohl auf Friederikens Gesinnungen, als auch auf Goethe’s Rechtlichkeit glaubte völlig vertrauen zu können, machte das liebende Paar Spaziergänge in der nächsten Umgebung, sowie auch größere Ausflüge (diese wohl ganz besonders während des sechswöchentlichen Aufenthaltes, den Goethe von Mitte April bis Ende Mai 1771 in Sessenheim machte). „Die Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheins in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier in den traulichen Fischerhütten[3] vielleicht mehr als billig angesiedelt, hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. Diesseits und jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort Louis, Philippsburg, der Ortenau, wurden die Freunde und Verwandten besucht“ und nur „seiner wunderlichen Studien und übrigen Verhältnisse wegen“ kehrte Goethe öfters in die Stadt zurück. Ja, so weit war es gekommen, daß, „weil es ihm unmöglich war, innerhalb vierzehn Tagen auf das Land zu kommen,“ die Mutter Brion sich entschloß, mit ihren Töchtern zu den Verwandten nach Straßburg zu reisen, „da man sich denn lieber in der Stadt, und mit einigem Zwange, als gar nicht sehen wollte.“
Das Band der herzinnigsten Liebe schien unauflöslich fest, für das ganze Leben um die zwei gleichgestimmten Seelen geschlungen zu sein. Und doch, gerade jetzt nahte rasch und unaufhaltsam die Stunde, wo es gewaltsam gelöst und auf immer zerrissen werden sollte. Wie aber und warum ist es so gekommen? Durch wen oder durch was wurde diese so unerwartete Wendung der Dinge herbeigeführt? – In seiner Lebensbeschreibung giebt uns Goethe keine Antwort auf diese Frage; mit keiner Sylbe spricht er sich darüber aus, wie es kam, daß sein Verhältniß mit Friederike so plötzlich abgebrochen wurde. Denn wenn er sagt: „nun sollte aber unsere Liebe noch eine sonderbare Prüfung ausstehen,“ so giebt uns dieses Wort keine Andeutung, geschweige denn eine Erklärung. Man hat darum die Vermuthung aufgestellt, daß der Besuch der Frau Brion mit ihren beiden Töchtern in Straßburg Veranlassung dazu gegeben habe, daß die Mädchen sich ungeschickt und täppisch in den ungewohnten Verhältnissen benommen, daß sich Goethe seiner Geliebten habe schämen müssen; ein Schriftsteller geht sogar so weit, daß er sagt: „In den Gehölzen von Sessenheim war Friederike eine Nymphe des Waldes, im Straßburger Salon wurde die Nymphe zur Bäuerin.“ In dem Benehmen der älteren Tochter, nun ja, da mögen allerlei kleinliche Verstöße gegen die Schicklichkeit und den feinen Ton des Stadtlebens vorgekommen sein; „sie bewies sich ungeduldig und wie ein Fisch auf dem Strande;“ aber „das anständige, ruhig edle Betragen der Mutter paßte vollkommen in diesen Kreis, sie unterschied sich nicht von den übrigen Frauen.“ Und Friederike? – „Sie war in dieser Lage höchst merkwürdig. Eigentlich genommen, paßte sie auch nicht hinein; aber dies zeugte für ihren Charakter, daß sie, anstatt sich in diesen Zustand zu finden, unbewußt den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so that sie es auch hier. Jeden Augenblick wußte sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen, setzte sie Alles in Bewegung, und beruhigte dadurch gerade die Gesellschaft, die eigentlich nur von der Langenweile beunruhigt wird … Ich sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unverändert, und auch in dieser Umgebung so frei wie den Vogel auf dem Zweig zu finden.“
Dieser Besuch, oder vielmehr das Benehmen der Sessenheimer Pfarrerstochter bei demselben war es also auf keinen Fall, was die Veranlassung zu dem vorerst gelockerten und bald nachher gelösten Verhältniß wurde. Die Ursache liegt anderswo, und es dürfte wohl nicht so gar schwer sein, dieselbe aufzufinden, wenn man nur ernstlich suchen und wirklich finden will. Goethe hatte sich in diesen Liebeshandel eingelassen und von Tag zu Tag wohler und glücklicher in demselben gefühlt, ohne auch nur einen Augenblick zu bedenken, was aus demselben schließlich noch werden könnte. Jetzt aber rückte raschen Schrittes die Zeit heran, wo er an sein Examen, an seine Disputation … und auch an seine Heimkehr denken mußte. Und auch Friederike – das hatte er erst wieder bei ihrem Straßburger Besuch auf mannigfache Weise wahrgenommen – hing immer inniger und fester an ihm und „schien nicht zu denken, noch denken zu wollen, daß dies Verhältniß sobald endigen könne.“ Nun konnte er die Fragen nicht mehr abweisen, die immer und immer wieder in ihrem ganzen hohen Ernste an ihn herantreten mochten: Kannst und darfst du dem Vater offenbaren, wie du zu der elsässischen Pfarrerstochter stehst? – Wie wird er deine Handlungsweise beurtheilen? – Darfst du hoffen, daß er sie billigen und seine Einwilligung zum früher oder später zu schließenden Ehebündniß geben werde? – Und er kannte seinen Vater, den vornehmen Patrizier, „den kalten, etwas pedantischen, in mancher Hinsicht launigen Mann, dessen Wort im häuslichen Kreise Gesetz war,“ viel zu gut, als daß er hätte erwarten dürfen eine zusagende Antwort erhalten oder gar erzwingen zu können. – Da stand er denn zwischen Thür und Angel, in der peinlichsten Verlegenheit („denn,“ sagt er selbst, „die Ursachen eines Mädchens, das sich zurückzieht, scheinen immer gültig, die des Mannes niemals“), und wir begreifen leicht, „daß es wie ein Stein von seinem Herzen fiel, als er sie endlich abfahren,“ Straßburg verlassen sah.
[486] Nach Friederikens Abreise gehörte Goethe wieder ganz seinen Studien, ungetheilt seinen Freunden an; seine letzten Vorbereitungen zum Examen waren bald beendet; die Disputation über Theses „ging mit großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorüber“; am 6. August 1771 ertheilte ihm die juristische Facultät der Straßburger Akademie die Würde eines Licentiaten der Rechte – und die Zeit war da, wo er von Straßburg scheiden sollte. Doch konnte er’s nicht, ohne Friederike wenigstens noch einmal zu sehen. Aber unter welchen Umständen und in welcher Gemüthsverfassung? Das erfahren wir von ihm nicht. So umständlich er früher die kleinsten Vorfälle, die unbedeutendsten Ereignisse, die geringfügigsten Nebenumstände weitläufig zu erzählen wußte, ebenso zurückhaltend ist er jetzt in seinen Mittheilungen; er stellt sich ebensowenig als schuldig dar, als er es versucht, sich zu rechtfertigen; er hüllt sich vielmehr in ein – ich will nicht sagen, vornehmes, doch jedenfalls bedeutungsvolles Schweigen ein und überläßt es dem Leser, eine beliebige Erklärung sich selber herauszubilden. „Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist“ – das ist Alles, was er uns zu sagen hat, bevor er uns die Trennung von Friederike erzählt. „Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim …“ Der Vorhang fällt, das Drama ist zu Ende! – –
Wir haben es uns angelegen sein lassen, mit möglichster Treue über das Verhältniß zu berichten, in welchem Goethe zu Friederike gestanden, und, nach unserm unmaßgeblichen Dafürhalten, die Ursache darzulegen versucht, welche dessen Auflösung herbeigeführt. Wir schreiben einen geschichtlichen Aufsatz und keine moralische Abhandlung, und haben darum auch hier nicht zu untersuchen, ob der Dichter mit Recht des Treubruchs beschuldigt oder seine Handlungsweise durch ausreichende Gründe gerechtfertigt werden könne. Die Erörterung dieser Frage würde uns überdies zu weit führen und wäre jedenfalls hier nicht an ihrer Stelle.
Noch einmal jedoch sollte Goethe mit Friederike zusammenkommen. Es war im September 1779, als er den Herzog Karl August auf seiner Schweizerreise begleitete. Ueber diesen Besuch schreibt er an Frau von Stein: „Den Neunundzwanzigsten Abends ritt ich nach Sessenheim und fand daselbst eine Familie, wie ich sie vor acht Jahren verlassen hatte, beisammen und wurde gar freundlich und gut aufgenommen. Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Athem guter und stiller Menschen sehr willkommen. Die zweyte Tochter vom Hause hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente, und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verwendet habe; ich mußte sie in einem Augenblick verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete, sie ging leise darüber weg mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich so allerliebst, mit so viel herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblick da ich ihr unerwartet auf der Schwelle in’s Gesicht trat und wir mit den Nasen aneinander stießen, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr daß sie auch nicht die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich in jede Laube und da mußt’ ich sitzen und so war’s gut. Wir hatten den schönsten Vollmond; ich erkundigte mich nach allem. Ein Nachbar der uns sonst hatte künsteln helfen wurde herbey gerufen, und bezeugt daß er noch vor 8 Tagen nach mir gefragt hatte: der Barbier mußte auch kommen, ich fand alte Lieder die ich gestiftet hatte, eine Kutsche die ich gemalt hatte, wir erinnerten uns an alte Streiche jener guten Zeit und ich fand mein Andenken so lebhaft unter ihnen, als ob ich kaum ein halb Jahr weg wäre. Die Alten waren treuherzig, man fand ich war jünger geworden. Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen bey Sonnenaufgang von freundlichen Gesichtern verabschiedet, daß ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken, und in Frieden mit den Geistern dieser ausgesöhnten in mir leben kann.“
Fortan gingen Beider Lebenswege auseinander; sie trennten sich auf Nimmerwiedersehen. Er folgte seinem Sterne, der ihm voranleuchtete auf glänzenden Bahnen zu Ehren und Würden und Ruhm. Sie wandelte einsam und entsagend ihren stillen Pfad, um ihrer Liebe treu zu dulden und zu sterben.
Und ihr Liebeshandel mit Lenz? – könnte man fragen. Aber ich frage wieder: Hat ein solcher denn wirklich bestanden, – hat Friederike die Liebe erwidert, welche Lenz für sie empfunden und so selbstgefällig in seinen Briefen an den Actuar Salzmann geschildert und zur Schau getragen hat? Die Frage ist wohl einer kurzen Antwort werth.
Jacob Michael Reinhold Lenz, der ebenso geniale wie unglückliche Dichter, war im Jahre 1771, selbst noch ein Jüngling (er wurde geboren zu Seßwegen in Liefland den 12. Januar 1750 und war der Sohn eines mit einer zahlreichen Familie gesegneten, aber spärlich besoldeten Landgeistlichen), als Hofmeister zweier jungen liefländischen Edelleute nach Straßburg gekommen und hatte dort Goethe’s Bekanntschaft gemacht, ohne jemals wirklich dessen Freund zu werden. Goethe sagt von ihm: „Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit, uns zu treffen.“ – Als im darauf folgenden Jahre Herr v. Kleist, der eine seiner Zöglinge, in französische Dienste trat, begleitete er diesen nach Fort Louis, wo dessen Regiment in Garnison lag, und besuchte von da aus das nahegelegene, ihm wohl schon von Straßburg her bekannte gastliche Sessenheimer Pfarrhaus. Friederike fing eben an (Juni 1772) sich zu erholen von der schweren Krankheit, welche sie nach Goethe’s Abreise befallen und ihr ganzes Nervensystem durch und durch erschüttert hatte. Theilnehmend, tröstend und ermuthigend suchte Lenz ihr nahe zu kommen und ihre Zuneigung zu gewinnen; er wiederholte seine Besuche, und je öfter er kam, je genauer er sie kennen lernte, desto unwiderstehlicher fühlte er sich, überspannt und leichtbeweglich, wie er war, in feuriger Liebe zu ihr hingezogen. Der liebreiche Zuspruch dieses geistvollen, feingebildeten jungen Mannes, der besser als ihre Angehörigen ihren Schmerz verstand und nach seiner ganzen Größe zu würdigen wußte, mochte ihrem verwundeten, noch immer blutenden Herzen unendlich wohl thun; sie wies darum seine Huldigungen nicht von vornherein entschieden und bestimmt zurück. Es war vielleicht ein Fehler, daß sie’s nicht that; aber der eitle, so gewaltig von sich eingenommene Lenz sah darin eine stillschweigende Hinnahme seiner Bewerbung und stand nicht an, die Freude über seine erträumte Eroberung seinem väterlichen Freunde Salzmann in Straßburg triumphirend mitzutheilen.
Nach dem, was ich weiter oben von Pfarrer Brion’s Charakter und Lebensweise mitgetheilt, wird es nicht befremden, wenn ich sage, daß er seinen Kindern wenig oder kein Vermögen zurückgelassen hat. Doch hatte er Sorge getragen, daß seine Familie nach seinem Tode ein Unterkommen fände, und zu diesem Ende in der an der Landstraße gelegenen Filialgemeinde Dengolsheim ein passendes Haus entweder gebaut oder angekauft. Es steht heute noch, und nach der Aussage des vorletzten Besitzers war der dazu gehörige Baumgarten in früherer Zeit mit vielen ausgezeichnet gutes und feines Obst tragenden Bäumen bepflanzt. Die beiden Schwestern Friederike und Sophie scheinen es jedoch nicht lange bewohnt zu haben, sondern bald nach des Vaters im Jahre 1787 erfolgtem Tode nach Rothau in’s Steinthal gezogen zu sein, wo ihr Bruder Christian Pfarrer war. Hier fingen sie einen kleinen Handel mit Weberzeugen (siamoises) und irdenen Töpferwaaren an, der ihnen jedoch keinen großen Gewinn abgeworfen zu haben scheint und darum bald wieder von ihnen aufgegeben wurde, und verfertigten allerlei weibliche Arbeiten; auch nahmen sie Mädchen aus Sessenheim und der Umgegend bei sich auf. Dies ist aber nicht so zu verstehen, als ob sie eine Töchterschule oder ein Institut gegründet oder geleitet hätten; die Mädchen waren ihnen vielmehr in der Haushaltung behülflich und besuchten nebenbei, wie Sophie Brion schreibt, „Herrn Boeckel’s Schule“ zur Erlernung der französischen Sprache, in welcher sie auch im täglichen Verkehr sich zu üben Gelegenheit hatten, da sie bekanntlich im Steinthal allgemein gesprochen wird. Aus dieser Zeit stammt denn auch der vom 9. Nivose VII. (30. December 1798) datirte und „an Bürger Heintz, Agent und Anckerwirth in Sessenheim“ gerichtete [487] Brief von Sophie Brion, welchem Friederike einige Zeilen beifügt. Diese Nachschrift bietet an sich durchaus kein Interesse dar, ist aber darum doch höchst werthvoll und wird von dem jeweiligen Sessenheimer Pfarrer wohl verwahrt, weil es eines der wenigen authentischen Schriftstücke ist, die, von Friederikens Hand geschrieben, bis heute erhalten worden sind. Ein Facsimile desselben ist dem Schauspiel „Friederike“ von Alb. Grün beigegeben. Es lautet also: „Prosit’s neu Jahr, Ihr Lieben. Ja gewiß muß euch in diesem Jahre ein besonderer Seegen zufließen, weil Ihr uns mit so vielen Wohlthaten im verflossenen beschenkt hat (sic), – und doch muß ich euch gestehen, das unter allem Lieben und guten mir doch euer Rickchen[4] das Liebste ist so wir von euch erhalten. Das ist Wahrheit von euern treuen dankbaren Gevatterin Fried. Brion.
P. S. Rickchen wünscht sein groß Persenes Halstuch zu haben, in einem Land wo niemand Kleine trägt.“
Der Steinthaler Aufenthalt währte nicht viel länger als bis zum Anfang dieses Jahrhunderts. Die Behauptung, Friederike sei vorher in Paris und Versailles gewesen und habe daselbst sogar in der großen Welt eine gewisse Rolle gespielt, gehört einfach in das Reich der Sage, wie überhaupt so manches Sagenhafte über sie in Umlauf gesetzt worden ist. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese und andere ebenso unbegründete Aussagen hier weitläufig zu erörtern und zu widerlegen. Schon im Jahre 1801 zog Friederike in’s Badische (Sophie wahrscheinlich zu gleicher Zeit nach Niederbronn) und zwar zu ihrem Schwager, dem Pfarrer Marx in Diersburg, mit welchem sie denn auch im Jahre 1805 auf die neue Pfarrei Meissenheim bei Lahr übersiedelte, und in dessen Familie sie mit längern oder kürzern Unterbrechungen bis zu ihrem Ende verblieb. Wenn man sagt, sie sei im Hause des Pfarrer Fischer gestorben, so ist dies nur halb wahr, denn Fischer hatte am 22. Februar 1813[5] Friederike Caroline, die zweite Tochter von Marx, geheirathet und war bei seinem Schwiegervater als Adjunctus angestellt bis zu dessen am 15. Januar 1819 erfolgten Tode, um welche Zeit er erst definitiver Pfarrer daselbst wurde. Hier in Meissenheim war sie nach der Aussage von Personen, die sie noch selbst gekannt oder doch mit der Familie Fischer in so vertrauter Verbindung gestanden, daß sie unzweideutigen Aufschluß geben können, unter dem Namen „die große Tante“ bekannt, während Sophie, ihre ebenfalls ab und zu im Pfarrhause sich aufhaltende Schwester, „das Täntele“ hieß. Die Leute schildern Friederike als eine schlanke, hagere, ziemlich hochgewachsene Figur mit schönen freundlichen Augen. Sie lebte still und zurückgezogen, von Armen und Reichen gleich lieb und werth gehalten; allenthalben spendete sie bereitwillig Rath und Trost, und ihr größtes Glück war das, Bedürftigen und Nothleidenden Hülfe zu bringen, oft ohne Rücksicht auf die geringen Mittel, die ihr zu Gebote standen. Von ihrer Jugendliebe und ihrem Verhältniß zu Goethe – es ist dies eine vielbezeugte Thatsache – hat sie in dieser letzten Periode ihres Lebens nie und zu Niemand gesprochen, und es fehlt jeder Anhaltspunkt, dieses beharrliche Stillschweigen auf die eine oder andere Weise zu erklären.
Auch in ihren vorgerückteren Jahren noch hatte sie etwas so Freundliches, Liebevolles und Herzliches in ihrem Benehmen, daß sie ohne Mühe die Zuneigung aller Derer gewann, welche mit ihr in Berührung kamen. Auch schreibt mir eine Dame, an welcher Friederike während etwa anderthalb Jahren (1804 und 1805) Mutterstelle vertrat und die Aufsicht über das Hauswesen führte:
„Sie war sehr gut mit uns Kindern und behandelte uns außerordentlich liebevoll. Noch lange, wenn ich als Kind von einem Engel reden hörte, so dachte ich ihn mir wie Tante Brion, in einem weißen Kleide. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie sie heftig weinte, als sie uns nach Ankunft meiner Stiefmutter verließ und mich zu wiederholten Malen in die Arme nahm und küßte. Ihr Verhältniß in meines Vaters Hause war ein sehr achtungsvolles.“
Ueber ihren Todestag giebt das Meissenheimer Kirchenprotocoll folgende Nachricht: „Samstag den 3. April Nachmittags um 5 Uhr starb dahier Friederika Elisabetha Brion, des weil. Joh. Jac. Brion, gewesenen Evangel. Luther. Pfarrers in Sessenheim und weild. Maria Magdal. einer geborenen Schoell ehel. erzeugte ledige Tochter in einem Alter von ohngefähr 58 Jahren; es wurde dieselbe heute den 5. April 1813 Abends um 5 Uhr begraben. Die Zeugen waren:
- 1) Christian Friedrich Gockel, Pfr. zu Ichenheim und Neffe der Verstorbenen.
- 2) Philipp Jacob Redslob, Pfr. in Allmannsweier und Neffe der Verstorbenen.
Meissenheim den 5. April 1813. M. Gottfried Marx, Pfr.“
Vor wenigen Jahren noch suchte man ihr Grab vergebens auf dem Gottesacker von Meissenheim; kein Kreuz, kein Stein bezeichnete es.“ Wohl hatte ihr Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ ein Denkmal gesetzt, schöner und dauerhafter als irgend ein in Erz gegossenes oder in Stein gehauenes, und so lange der Name des großen Dichters genannt wird, so lange wird auch Friederikens Name unvergessen bleiben. Doch auch von ihrem Grabe (sagt Leyser, Goethe zu Straßburg, S. 189 und 190; s. Gartenlaube 1869, S. 702) sollte der Bann genommen werden. Zwei wackere deutsche Männer, der rheinische Dichter Hugo Oelbermann und Friedrich Geßler von Lahr, wanderten in der Mitte der sechsziger Jahre zur verlassenen Grabstätte und beschlossen dort, einen Aufruf ergehen zu lassen zur Herstellung eines einfachen Denksteins. Ihr geflügeltes Wort ward rasch und weithin verkündet von den feurigen Zungen der Presse; bald wurden Gaben gespendet aus allen Gauen deutschen Landes, selbst aus Rußland und Siebenbürgen, und nach mancherlei Kämpfen mit dem leidigen Philisterthum wurde endlich dem Lahrer Comité die Freude zu Theil, am 19. August 1866 in einfacher, aber ergreifender Feier den Friederiken-Denkstein, ein Meisterwerk Hornberger’s, enthüllt zu sehen. – An die östliche Mauer des Kirchleins lehnt sich das einfache, doch edel gehaltene Denkmal: aus Goldgrund heraus grüßt uns eine Marmorbüste: es sind Friederikens Züge, wie sie der Phantasie des Künstlers entstiegen; Züge, auf denen bereits das Morgenroth der Verklärung zu spielen scheint, und doch mit jener ganzen Anmuth und Lieblichkeit geschmückt wie damals, als der Musensohn von Straßburg zum ersten Male sie erblickte. Die höchst sinnige Inschrift von Eckard lautet:
Friederike Brion
von Sesenheim gewidmet.
Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie,
So reich, daß er Unsterblichkeit ihr lieh.
Hier angelangt, lege ich – ohne andere einschlägige Fragen zu berühren oder weiter zu besprechen – die Feder nieder, die ich, ich darf’s wohl sagen, nicht eitel mich selber überschätzend ergriffen. Ich hätte wahrlich nicht daran gedacht, aus meiner stillen mir liebgewordenen Verborgenheit heraus, mit meiner geringen und unvollkommenen Arbeit vor ein größeres Publicum hinzutreten, wenn ich nicht vielfach wäre aufgefordert worden, zusammenhängend niederzuschreiben, was ich über die Familie Brion und besonders über Friederike in Erfahrung gebracht, und, meine Stellung benutzend, historische und locale Einzelnheiten mitzutheilen, die man wohl anderswo vergeblich suchen dürfte. Ich habe dies bestmöglichst zu thun versucht; ob und in wie fern ich mein Ziel erreicht, mag der geehrte Leser selbst nun beurtheilen, indem er das hier Gebotene mit dem vergleicht, was Andere schon [488] früher über denselben Gegenstand der Oeffentlichkeit übergeben. – Es sei mir noch vergönnt, zum Schluß das gelungene Sonett folgen zu lassen, in welchem unser sangreicher Mühlhauser Dichter Friedrich Otte (Zetter) das liebliche Bild der Sessenheimer Pfarrertochter so schön[6] und treffend gezeichnet hat:
Das ewig Weibliche, das ewig Schöne,
Du holdes Kind! laß mich’s in dir begrüßen,
Ob auch der Haß, die schnöde Lust zu büßen,
Dein Leben und dein Lieben noch verhöhne!
Horch! sind das nicht des Kirchleins Glockentöne?
Die Laube rauscht und sieh’! Dir liegt, der Süßen,
In seiner Liebe Seligkeit zu Füßen
Der glücklichste der deutschen Musensöhne,
Erröthend neigst du, zwischen Ernst und Scherzen,
Dein Haupt hernieder zum geliebten Gaste,
Dem unumschränkten Herrn in deinem Reiche.
Genügsam thront er noch in deinem Herzen,
Er, dessen Herz, das hohe, göttergleiche,
In spätern Zeiten eine Welt umfaßte.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: uuter
- ↑ Der Kirchenstuhl für die Sessenheimer Pfarrfamilie enthält vier Plätze und ist, auf etwa Meterhöhe, durch einen Verschlag in zwei Hälften getheilt. Goethe saß also wirklich, während des Gottesdienstes, an seines Mädchens Seite.
- ↑ Eine Anspielung auf das Abenteuer mit Lucinde, der Tochter des Tanzmeisters in Straßburg, welche seine Lippen verwünscht hatte mit den Worten: „Unglück über Unglück auf immer über Diejenige, die zum ersten Mal nach mir diese Lippen küßt.“
- ↑ Hier ist das zur Pfarrei Sessenheim gehörige Filialdorf Dalhunden gemeint, das zu Goethe’s Zeit nur zu Schiff erreicht werden konnte. Noch am Anfang dieses Jahrhunderts hatten die Rheingüterschiffe ihre Haltestelle da, wo gegenwärtig und erst seit Kurzem sich eine Feldziegelei befindet. – Diese Nebenarme des Rheins sind aber seitdem abgedämmt und der Strom selber weiter gegen Osten getrieben worden. Die vor hundert Jahren noch blos hie und da mit spärlichem Gesträuch bewachsenen, sehr oft unter Wasser stehenden Kiesbänke sind längst mit Kiefern angepflanzt worden, und bilden ein hübsches Wäldchen, durch welches eine gute Fahrstraße, von der Rheinstraße aus, über die Moderbrücke nach Dalhunden führt.
- ↑ Dieses Rickchen, die Tochter des Ankerwirths Heintz und Friederikens Pathenkind, ist eins jener Mädchen, welche die beiden Schwestern bei sich aufgenommen hatten, um deren weitere Erziehung und Ausbildung zu überwachen.
- ↑ Gegen diese Zeitangabe, welche jedoch dem Meissenheimer Kirchenbuch entnommen ist, scheint ein durch Vict. Wittmann in der Gartenlaube (1864, Nr. 21) mitgetheilter Stammbuchvers zu sprechen, den Friederike am 14. October 1807 für Pfarrer Fischer geschrieben und also unterzeichnet hat: „Dies aus dem Herzen Ihrer Sie liebenden Tante Fried. Br.“ Ob dieses Datum, 14. October 1807, richtig ist, kann ich nicht sagen, wenn aber auch, so braucht man an demselben in seiner Verbindung mit der Unterschrift „Tante“ doch keinen Anstoß zu nehmen. Fischer ist in Meissenheim geboren, und als der Sohn des damaligen Amtsschulzen wurde er frühzeitig von der Grundherrschaft zum Nachfolger von Marx im Pfarramte designirt und war wahrscheinlich schon frühzeitig mit dessen Tochter verlobt. Wenn nun Friederike bereits im Jahre 1807 den in Aussicht stehenden Gatten ihrer Nichte als Tante anredet, so darf man sich darüber um so weniger verwundern, wenn man zugleich weiß, daß sie den Namen Tante nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gemeinde führte. – Das in Rede stehende Albumblatt wurde lange Zeit in der Familie Fischer aufbewahrt, bis es einem Verehrer Friederikens zur Einsicht mitgetheilt – aber nicht mehr zurückgegeben wurde.
- ↑ Vorlage: „schon“