Die Gartenlaube (1899)/Heft 19
[580 c]
19. Heft. | Preis 10 cents. | 12. September 1899. |
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Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (Anfang) | 581 | |
Die Allgemeine deutsche Sportausstellung in München. Von B. Rauchenegger. | ||
Mit Abbildungen von Fritz Bergen | 592 | |
Der Einfluß des Atlantischen Oceans auf das Klima von Europa. Von Dr. H. J. Klein | 594 | |
Zugesel, nicht Zughunde! Ein Wort zum Tierschutz. | 596 | |
Das lebende Bild. Erzählung von Adolf Wilbrandt (2. Fortsetzung) | 598 | |
Neue Gedichte von Anna Ritter. Meine Kinder. Zwischen Erde und Himmel | 607 | |
Die Reichswaisenhäuser. Von Johannes Freudenberg | 607 | |
In Straßburg vor hundert Jahren. Von Dr. Emil Rechert. Mit Abbildung | 608 | |
Blätter und Blüten: Graf Münster, Fürst von Derneburg. (Mit Bildnis.) S. 610. – Hermann Rollett. (Mit Bildnis.) S. 610. – ein Veteran aus der Goethezeit. (Mit Bildnis.) S. 610. – Vorbei! (Zu dem Bilde S. 589.) S. 610. – Verschiedenes Streben. Gedicht von P. Anzinger (Zu dem Bilde S. 581.) S. 611. – Das „Heuscheuer-Kamel“ und der „Großvaterstuhl“ im Glatzer Gebirge. Von G. Nentwig. (Mit Abbildung.) S. 611. – Eppelein von Gailingens Flucht aus Nürnberg. (Zu dem Bilde S. 597.) S. 611. – Gewitter in der Puszta. (Zu dem Bilde S: 600 und 601.) S. 611. – Im Aehrenfeld der Witwe. (Zu dem Bilde S. 585.) S. 611. – Das Schulze-Delitzsch-Denkmal in Berlin. (Mit Abbildung.) S. 612. – Bambusallee im Versuchtsgarten zu Algier. (Zu dem Bilde S. 609.) S. 612. – Der Fünfmastklipper „Potosi“ bei Kap Horn. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 612. | ||
Illustrationen: Verschiedenes Streben. Von C. Hartmann. S. 581. – Im Aehrenfeld der Witwe. Von H. Bachmann. S. 585. – Vorbei! Von J. Jendrassik. S. 589. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Allgemeine deutsche Sportausstellung in München“. Von Fritz Bergen. Das Segelboot in der Vorhalle. Bei den Jagdhütten. S. 592. Das Panorama. Aufstieg zum Gebirgspanorama „Die Blaue Gumpe“. Dekoration in der Fahrrad-Abteilung. S. 593. – Eppelein von Gailingens Flucht aus Nürnberg. Von O. Meyer-Wegner. S. 597. – Gewitter in der Puszta. Von M. Plinzner. S. 600 und 601. – Sommerabend. Von Fenner-Behmer. S. 605. – Das Straßburger Münster. S. 608. – Bambusallee im Versuchsgarten zu Algier. S. 609. – Graf Münster, Fürst von Derneburg. S. 610. – Hermann Rollett. S. 610. – Karl Gille †. S. 610. – Das „Heuscheuer-Kamel“ und der „Großvaterstuhl“. S. 611. – Das Schulze-Delitzsch-Denkmal in Berlin. S. 612. |
Die Mutterliebe bei den Tieren, diese mächtige Empfindung, tritt so recht in ihrer Allgewalt zu Tage, wenn den Jungen Gefahr droht. Gegen stärkere Feinde, denen die Mutter an Kraft weit nachsteht, wendet sie meistens List an, oft aber setzt sie ihr Leben aufs Spiel, um die Jungen zu schützen. Die Rebhenne, deren Küchlein noch so „gering“ sind, daß sie nicht fliegen können, sucht die Aufmerksamkeit des Jägers und Hundes, vielleicht auch des Raubzeuges dadurch von ihrer Brut auf sich abzulenken, daß sie schreiend mit blustrigem Gefieder wenige Fuß hoch aufstreicht, zur Erde fällt und langsam, sich auch wohl überschlagend, weiterstreicht und sich stellt, als wäre sie verletzt und leicht einzuholen, und wenn sie dann durch die seltsamen Kapriolen den ihr etwa folgenden Hund weit genug von ihren Jungen fortgelenkt hat, streicht sie ganz gesund einer Deckung zu.
Ebenso machen es auch die Entenmutter, die Fasanen- und Birkhenne.
Selbst die Gattin des in aller Welt als Hasenfuß verschrieenen Meister Lampe wird bei ähnlicher Gelegenheit ihrem Grundsatze, daß ein ichleuniger Rückzug die weiseste Vorsichtsmaßregel ist, untreu und schützt aufs mutigste ihre Sprößlinge. Oefters ist es schon beobachtet, daß sie gegen ein Raben- oder Nebelkrähenpaar Front machte und, aufrecht stehend und mit den Vorderläufen schlagend, ihre Jungen verteidigte, bis das Raubgesindel seine Absicht durch die Mutterliebe vereitelt sah und fortstrich. Es giebt also auch ein „Hasenherz“ in anderem Sinne.
Daß auch die sonst so schüchterne Ricke, wenn ihren Kitzchen Gefahr droht, besonders aber, wenn eins sie laut klagend zu Hilfe ruft, alle Scheu vergißt und schmälend bis dicht an den Menschen heranstürmt und ihn anzugreifen droht, ja daß sie selbst den rotröckigen Freibeuter Reineke von ihrem Kitz durch Schnellen (Schlagen) mit den Vorderläufen vertreibt, hat schon mancher zu beobachten Gelegenheit gehabt, der in Wald und Flur zur Frühlingszeit die Augen offen hat. Aber nur äußerst selten gesehen ist es, daß eine Fehe (Füchsin) ihr Geheck außerhalb des Baues gegen einen Hund verteidigt und sogar den Hund verjagt und verfolgt. Anfangs Juni dieses Jahres hatte ich das Glück, daß sich ein solches interessantes Vorkommnis in meiner nächsten Nähe abspielte. Ein langjähriger Freund, mit dem ich früher öfters in der hannoverschen Heide gejagt hatte, besuchte mich, und da er ein gewaltiger Nimrod ist, mußte er natürlich einen Rehbock schießen. Es ist immer ein liebes Andenken, wenn man vom Freunde das Gehörn eines guten Bockes mitnehmen kann. Ich hatte auch einen für den „langhaarigen Oskar“, wie er in Sportkreisen heißt, „angebunden“. Der Bock „stand“ in einer dichten, mitten im Felde gelegenen Fichtenschonung und trat allabendlich mit einem Schmalreh über eine Wiese nach einem etwa l50 Schritt entfernten Kleestücke.
Wir legten uns zur rechten Zeit in einen angrenzenden Koppelweggraben hinter einen Weidenbusch und richteten unsere Blicke nach dem Fichtenkopfe hin, an dessen uns zugekehrter Wand einige hausgroße, fast kahle, teilweise mit Heide und niederem Gebüsch bewachsene Stellen waren. Auf diesen pflegte der Bock vor dem Austreten umherzuziehen, zu „plätzen“ und zu „schlagen“, wie der Jäger das mutwillige Scharren und das Bearbeiten der Stämmchen und des Buschwerks mit dem Gehörn nennt. Aber auch der „sicherste“, der sozusagen unfehlbar zum Abschuß ausgemachte Bock liegt noch lange nicht auf der Decke. Der Jäger hat gerade bei den „sichersten“ Böcken am meisten mit „unvorhergesehenen Fällen“ zu rechnen.
Die Sonne war bereits hinter den Harzvorbergen verschwunden und die Feldarbeiter waren müden Schrittes nach dem nahen Dorfe gegangen – da kam noch so ’n junger Windbeutel gerade am jenseitigen Feldhange hergestrolcht und pfiff sich ein Liedchen in die wonnige Abendluft, als wollte er mir den Rehbock vergrämen. Und als dann sein umherlungernder Köter einen Hasen hochmachte und lauthals hinter ihm herjagte, rief er ihm auch noch „Hu faaß!“ nach, daß das Echo wiederhallte, und schrie und gebärdete sich, als wenn sein Verstand mit dem Hunde und Hasen um die Wette liefe. Wenn das einem auf einen Rehbock anstehenden Jäger die Galle nicht ins Blut – – aber warte nur, Köter, du kommst mir gerade geschlichen! Meister Lampe hatte die Richtung spitz auf uns zu genommen, und ich machte mich fertig, um dem Hinterdreinmusicierenden mopsartigen Köter das Jagdvergnügen gründlich zu verderben. Da wandte sich der Hase dem Fichtenbusche zu und verschwand im Holze, hinter ihm her Möppelchen mit hellem Hals, die Rute stolz auf dem Rücken gekringelt. Was doch so’n Köter, für eine Courage hat, wenn der Feind flieht! Das Vergnügen dauerte aber nicht lange, in der Ferne erklang ein kreischendes, etwas in die Länge gezogenes Jauf! und das lustige Gekläff war plötzlich verstummt. Jetzt wurde es auf der kahlen Stelle an der Wand lebendig. Zuerst kam der Hase aufs Freie, nicht flüchtig, sondern ganz langsam angehoppelt, als wenn er seinen Feind weit hinter sich wüßte. Kaum war er wieder im jenseitigen Buschwerk verschwunden, so erschien Möppelchen – aber wo war sein Stolz geblieben! Das Ringelschwänzchen hing schlaff herab, der Kopf war fast an der Erde, und er lief womöglich noch rascher als vorher – – denn hinter ihm bürstete eine Fehe her und verfolgte ihn laut kreischend so lange, bis er aus den Fichten sprang und ohne sich umzusehen in schnellster Flucht nach dem Dorfe zu rannte. Die Fehe aber setzte sich hinter einen Busch – wir konnten nur ihren Kopf sehen – und schrie noch zehn Minuten lang dem Flüchtlinge ihr wütendes Jauf! nach – was übrigens in der Fuchssprache je nach der Betonung mehrerlei Bedeutung hat, zum Beispiel auch: „Kinder, Gefahr! Rette sich, wer kann, in den Bau!“
„Und der Rehbock?“ wird gewiß neugierig die eine oder andere schöne Leserin fragen. Der kam in der Dämmernng trotz alledem – – aber, wie ich schon vorher gesagt habe: „Auch der ‚sicherste‘ liegt noch lange nicht auf der Decke.“ Karl Brandt.
Lauf- und Werfspiele für Kinder. Bei der immer mehr Boden gewinnenden Ansicht, daß unsere Jugend in ihren Freistunden möglichst viel Bewegung im Freien und muskelstärkende Spiele treiben solle, sei auf einige solcher Spiele hingewiesen. Kann doch nicht überall ein Lawn Tennisplatz gemietet oder ein Fußballklub gegründet werden! – Gerade auf dem Gebiet der Ballspiele giebt es viele gesunde, lustige Uebungen, so zum Beispiel Werfen des Balls nach der Scheibe: ein kleiner Gummiball, mit einem weichen Stoffe überzogen oder einem Seidennetze überstrickt, wird von den Spielern nach der in größerer Entfernung aufgehängten Scheibe geworfen, wobei, wie beim Preisschießen, das Treffen ins Schwarze den Sieg bedeutet. – Ganz ähnlich ist auch das Schleudern nach bestimmtem Ziel, nur daß hierfür sehr kleine, aus Watte gefertigte Bälle erforderlich sind, welche in eine ca. 65 cm lange Schlinge von breitem Band gelegt und mittels dieser in die Luft geschleudert werden. – Ein sehr mit Unrecht aus der Mode gekommenes Spiel ist das Reifenwerfen, bei welchem jeder Teilnehmer ein hölzernes Schwert führt, mittels dessen er die kleinen, von farbigem Stoff überzogenen Reifen möglichst hoch dem einen Nachbar zuwirft und die vom anderen ihm zugeworfenen geschickt aufzufangen sucht. – Viel Vergnügen gewährt das Wettspringen nach einem in ziemlicher Höhe befestigten Gegenstand; nur muß der Boden, auf dem das Spiel vor sich geht, weich und elastisch sein. – Schließlich ist als Laufspiel die sogenannte „Schlange“ zu erwähnen, wozu mindestens neun bis zehn Teilnehmer gehören; man stellt sich hintereinander auf, hält sich fest an der rechten Hand, und der Kopf der Schlange, das heißt der vorderste, dem alle übrigen folgen müssen, bemüht sich, den Schwanz, nämlich den letzten Mann der Kette, zu fangen, was dieser natürlich zu hindern strebt. Löst sich hierbei die Schlange auf, so hat der Vordermann verloren und muß Hintermann werden. – Viel Vergnügen zu diesem und den übrigen Spielen! H. R.
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Halbheft 19. | 1899. |
Der König der Bernina.
Ein Adler kreist am blassen Frühhimmel, er schwimmt über dem dreizackigen sammetgrünen Thalstern des Engadins.
„Pülüf – pülüf,“ dringt sein hungriges Pfeifen aus der Bläue; die Gabel fächerartig ausgebreitet, steigt er etwas in die Tiefe und späht, dann hebt er sich ungeduldig in die oberen Lüfte, der Sonne entgegen, ja höher als die Bernina, die sanft und doch kühn in das Thal herniederschaut und den ersten Strahl des Taggestirns mit ihrem Silberschild auffängt.
Der Reif funkelt auf den Auen, die den jungen Inn säumen.
Ueberall Licht, reines Licht der Höhe, und die Berge wachsen in seiner schwellenden Flut.
Voll andächtiger Ruhe zieht der Adler seine Runde und rührt die gespannten Flügel nur dann und wann in zwei oder drei leichten Schlägen. Er überfliegt die weißen Spitzen, er schwebt über den Dörfern Pontresina, St. Moritz, Samaden und über lichtglänzenden Seen. Wenn er in die Tiefe steigt, so spielen seine Schwung- und Ruderfedern in der Sonne, meistens aber hängt er, ein Punkt nur, den das Licht vergoldet, an der Himmelsglocke.
Es muß wonnig sein, als Adler, als Herr und König, vor dem die Kreatur erbebt, über dem Gebirgsland zu schweben.
Durch die schweigende Frühe geht von Samaden her, den Krümmungen des Inns entlang, ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann gegen die paar Häuser von Celerina empor, das in der Mitte des Thaldreiecks liegt. Er hat das Gewehr quer über den Rücken gehängt, seine Blicke folgen mit Spannung den Ringen und Flugfiguren des Vogels in leuchtender Höhe.
Ob sich der Jüngling vermißt, den König des Gebirges aus seinem lichten Reich zu stürzen? – – Doch wohl nicht.
Lange, lange liegt das Thal im Morgenfrieden, der Ruf des Adlers und das Rauschen des Inns sind die einzigen Laute in der tiefen Stille.
Da erheben die Glocken von Samaden ihre Stimme, andere helle Klänge schweben aus den drei Thälern heran und rinnen über der Ebene in einen einzigen Ton zusammen.
Die Straßen, die sich in Samaden treffen, beleben sich, das Völklein des Oberengadins zieht zur Landsgemeinde.
In losen Gruppen und Trupps wallen die Bergleute dem gemeinsamen Ziele zu. Die Wohlhabenderen, Vornehmeren reiten oder sie fahren auf leichten Gebirgswägelchen und Scharabanken, die ausgedörrten Schuldenbäuerlein, die Weger, die Säumerknechte, die Gemsjäger und Fischer, die weder Pferd noch Wagen haben, gehen zu Fuß; zwischen allen aber, die reiten, fahren oder wandern, ertönt der weiche, romanische Gruß „Dieus allegra“[1] und eine gemessene, ruhige Freundlichkeit waltet, wie sie einem kernhaften Volk am Ehrentag der Heimat wohl ansteht.
[582] Von Pontresina herab wandert ein Grüppchen schlichter Leute, ein Dutzend Männer, Frauen, Mädchen und Buben.
„Die Hütte wird verkauft – der Bub’ schlägt sich schon durch. Er geht über Basel in die Welt,“ sagt der wetterbraune Säumer Tuons, der immer ein Birkenzweiglein im Munde hält.
„So lange man weiß, ist Auswanderung im Engadin gewesen,“ versetzt der Mesner, ein bedächtiges, eisgraues Männchen, dessen Rede man es wohl anspürt, daß er auch eine Art Schulmeister des Dörfchens ist. „Aber jetzt ist ein Rausch im jungen Volk, daß wir bald nur noch alte Kracher und überzähliges Weibervolk in unsern Dörfern haben. Wo man hinkommt, in Pontresina, Samaden, St. Moritz, hört man den gleichen Trumpf ,Fort in die Fremde – fort!‘, und unsere kleinen Dörfer werden viel zu groß.“
„Ha, die Felsen können wir halt nicht fressen,“ erwidert Tuons mit derber Grobheit und verzwicktem Lachen. „Das ist die Weltgeschichte: ein Großer macht einen Federstrich und tausend Kleine verderben dran!“
Den verhängnisvollen Federstrich, von dem der Säumer redet, hat für das Bündnerland, für das Engadin General Napoleon Bonaparte durch den „Veltliner Raub“ gethan.
Der „Veltliner Raub“. – Vor bald dreihundert Jahren hatte der Herzog Maximilian Sforza den Bündnern das Veltlin mit den Städten Chiavenna und Bormio geschenkt und man hatte das jenseit der Bernina gelegene Land durch Vögte als Unterthanenschaft verwaltet. Namentlich die Engadiner hatten in dem gesegneten Thal ihre Landhäuser, ihre großen Güter, Obstgärten und Weinberge besessen und sie durch Pächter bewirtschaften lassen, um je und je im Herbst voll Fröhlichkeit zur Ernte hinüber zu ziehen und den Herrenanteil des Ertrags einzuheimsen. Da waren aber vor einiger Zeit im Veltlin Unruhen entstanden und die Bewohner des Thales hatten Bonaparte, der just als siegreicher Feldherr in der Lombardei stand, zum Helfer angerufen. Mit seinem Machtspruch riß er den Garten Rhätiens vom Bergland los, verschenkte die bisherigen Privatgüter der Bündner an seine Günstlinge, und alle Proteste und alle Mühen um ihre Wiedererwerbung sind umsonst.
Wie sich nun abfinden mit dem Verlust eines Gartens, wenn um das eigene Haus hin nur etwas Wald und Gras wachsen? Denn das Engadin ist wohl ein wunderschönes Thal, die silbernen Firnen leuchten wie ein Gruß Gottes darüber hin, seine Seen sind kristallne Märchen, in seinen Felsen blühen die herrlichsten Blumen, aber fragt man in St. Moritz: „Was gedeiht bei euch?“ so antworten die Leute: „Weiße Rüben“, in Pontresina: „Weiße Rüben“, in Samaden: „Weiße Rüben“, und erst weit unten in Zuoz sagen die Dörfler: „Wir wohnen in einer köstlichen Gegend, denn bei uns wächst, so Gott will, auch ein Mundvoll Gerstenbrot.“
Davon und von dem Kriegselend, das nach dem Veltliner Raub ins Thal hinaufgestiegen ist, sprechen die Männer.
„Beim Eid, es kommt noch dazu, daß die Alten wie die Jungen in die Fremde gehen müssen. Die Rosse stehen vor der leeren Krippe im Stall und wir können uns auf die Hände stellen und zwischen ihnen hindurch nach einem Taglohn auslugen. Es ist kein Glück mehr auf unsern Pässen.“ So redet Tuons, die Arme reckend.
Da überholt ein Reiterpaar die wandernde Gruppe, die Fußgänger weichen aus und ziehen die flachen dunklen Filzhüte.
Der Reiter und die Reiterin grüßen mit freundlichem Zuruf.
Es sind der leutselige Pfarrer Jakob Taß von Pontresina, ein stattlicher Fünfziger in halb geistlichem, halb weltlichem Anzug, und ein Fräulein in blumigem Sommerkleid. Unter dem gelben Florentinerhut, der ihr feines Gesicht überschattet, glänzen goldbraune, freudige, große Augen, ihre Haltung ist stolz und frei, ihre Bewegungen sind leicht und kräftig und ihr Wuchs ebenmäßig.
Ihre Erscheinung sprüht vor Leben, bewundernde Blicke folgen ihr, und sie ist mit dem Pfarrer kaum aus Hörweite geritten, so fragt Tuons: „Wer ist sie? – die hat ja Augen wie zwei Sonnen!“
„Das wißt Ihr nun nicht,“ lächelt der Mesner. „Es ist Cilgia[2] Premont, die Nichte des Pfarrers, und erst etliche Tage da. Sie war in der Erziehungsanstalt des Dekans a Porta zu Fetan.“
„Verbessert denn a Porta, der Menschenfreund, auch das Weibervolk?“ spöttelt der derbe Tuons.
„Ueber die braucht Ihr Euch nicht lustig zu machen,“ versetzt der Mesner und schüttelt mißbilligend den halbkahlen Kopf. „Die ist so gescheit, daß sie eine Gelehrte werden könnte. Denkt nur, sie treibt mit dem Pfarrer Latein!“
„Premont – Premont?“ fragt jetzt Tuons. „Ist ihr Vater der verstorbene Podesta von Puschlav, der das schöne Haus links an der Straße gebaut hat?“
„So ist’s,“ bestätigt der Mesner. „Er hat vor etwas mehr als zwanzig Jahren die Regina Taß, die jüngere Schwester des Pfarrers, zur Frau nach Triest geholt – und Bündner Kaffeewirte giebt es zu Paris, London und Petersburg, in allen Haupt- und Meerstädten, aber keinen, der angesehener gewesen wäre als seiner Zeit Premont in Triest. Als er verwitwet heimkam, wurde er gleich Podesta.“
„Woher also das Fräulein die Gescheitheit hat, muß man nicht fragen,“ meint Tuons.
„Der Podesta,“ erklärt das alte Männchen, „wollte aus Puschlav eine Mustergemeinde machen; er richtete zuerst im ganzen Land eine Schule ein und hielt sich dabei an die Ratschläge a Portas. So kam’s, daß der Philanthrop das Mädchen nach dem Tod ihres Vaters aus Freundschaft in sein Institut zu Fetan aufnahm, obgleich er es sonst nur Jünglingen öffnet.“
„Fetan,“ versetzt Tuons lebhaft, „wenn Ihr von Fetan sprecht, so kann ich Euch etwas Funkelnagelneues berichten! Im Wirtshaus zum Weißen Stein am Albula habe ich es gestern gehört.“
„Was ist’s denn?“ drängten die andern.
Allein erst nach einer Kunstpause erwidert Tuons:
„Am gleichen Abend, wo Lecourbe nach der Schlacht von Finstermünz in Fetan einzog, hat man dort einen Tiroler Spion gerettet und heimlich über die Grenze geführt.“
„Das glaubt der stärkste Mann nicht!“ fährt ein Ziegenhändler heraus, und der Mesner winkt dem Säumer mit heftigem Erschrecken Schweigen zu.
Allein der fährt prahlerisch fort: „Der nächste Schluck Veltliner soll mich töten, wenn die Geschichte nicht wahr ist!“
„Tuons, jetzt haltet das Maul!“ unterbricht ihn der Mesner scharf. „Wollt Ihr Häuser, Dörfer anzünden? In Chur steht immer noch der Gesandte Frankreichs. Gotts Tannenbaum, Tuons, das ganze Engadin käme ja in Kontribution! Habt Ihr denn die Geschichte des Junkers Rudolf von Flugi schon vergessen?“
Tuons blickt bei der scharfen Zurechtweisung verlegen in die Weite, wo sich das Reiterpaar bewegt, und lacht plötzlich gezwungen auf:
„Ich habe nichts sagen wollen, als die Podestatochter von Puschlav habe Augen wie zwei Sonnen.“
Die andern schweigen, denn Kriegsfurcht steckt noch allen in den Gliedern.
Den Frühling hindurch, ja bis vor wenigen Tagen hatte das Engadin vom Maloja bis nach Martinsbruck zu unter dem Durchzng fremder Heere gedröhnt. In der einen Stunde tränkten die Reiter Lecourbes, des französischen Generals, in der andern die Londons, des österreichischen, an den großen Dorfbrunnen ihre Pferde. Mit dem Ruf „Vive 1a republique!“ errichtete man vor der Ankunft der französischen Standarten Freiheitsbäume, mit Jubel warf man sie ins Feuer, wenn die österreichischen Lanzenfähnchen von fern im Winde flatterten. Man litt und duldete, und kam mit der Losung „Den Mund halten!“ leidlich durch die Not der Zeit.
Einem aber – darauf spielte der Mesner an – war das Herz übergelaufen. Dem Junker Rudolf von Flugi, dem Gemeindevorsteher von St. Moritz. Als der französische Oberst Diriviliez in dem schon ausgehungerten Dorf seine Reiter auf Requisition ausschickte, trat der alte Edelmann vor ihn: „Bürger [583] Oberst, Ihr vergeßt, daß General Bonaparte den Bewohnern des Bündnerlands gegen die Zusage unserer Neutralität nicht nur die Sicherheit des Lebens, sondern auch des Eigentums verbürgt hat. Ich berufe mich gegen die Requisition auf die französische Ehre. Ein Schelm, wer ein Brot nimmt!“ Am andern Tag führten zwei Reiter den Junker gefesselt nach Chur ins Gefängnis, und unter der Bevölkerung wurde ausgestreut, ein angesehener St. Moritzer Bürger habe den Junker als heimlichen Berater Oesterreichs verraten.
Bald nach diesem Ereignis indessen hatte sich das Blatt gewandt.
In den schauerlichen Felsenklüften von Martinsbruck und Finstermünz, über denen die letzten Berge Bündens und die ersten Tirols hellsonnig ragen, erwartete der Tiroler Landsturm den Feind. Und siehe da: die Tiroler Bauernschützen, die zu beiden Seiten der Schlucht todesmutig an den Felsen hingen, warfen die Franzosen in entsetzlicher Entscheidungsschlacht ins Engadin zurück, und General Lecourbe zog mit seinem geschwächten Heer über die Pässe ab. Bei der Rast in Chur schenkte er dem Junker von Flugi, dessen ältester Sohn in französischen diplomatischen Diensten stand, die Freiheit, und man war im Engadin nicht wenig überrascht, als der schon verloren Gegebene über die Höhen des Julier herniederstieg und zu den Seinen zurückkehrte.
Der eben zusammentretende Thalrat wählte ihn zum Landammann des Hochgerichts Oberengadin, und heute ist die Landsgemeinde, an der das Volk dem neuerwählten Magistraten huldigt und er es zu Gast empfängt. –
Aus schwerer Not, aus bitterer Demütigung heben die Engadiner ihre Köpfe und schöpfen wieder Atem.
Frühling in den Lüften – Frieden im Thal. Das sprießende Grün auf den Matten entsündigt die Erde von dem Blut, das sie getrunken hat, und um die verrosteten Waffen, das zerbrochene Sattelzeug, die bleichen Knochen, die noch da und dort am Wege liegen, blühen die goldenen Primeln.
Ein Frühlingskind, reitet Cilgia Premont neben dem schon leicht ergrauten Pfarrer und ihr silbernes Lachen läutet in den innig schönen Tag.
Sie hat den Adler erspäht, dessen Schrei eben wieder aus unergründlicher Höhe dringt.
„Dort steht er über dem Piz Rosatsch und leuchtet wie eine Ampel, als thue er es nur dem schönen Tag und der Landsgemeinde zulieb.“
Der Pfarrer lacht herzlich: „Thörin du – der dort oben sinnt gewiß auf nichts als auf Raub, Verderben und Teufelei. Es ist der Rosegadler, der alte, fast zwanzigjährige Räuber.“
„Onkel, Ihr seid gewiß auch ein großer Nimrod!“
Um Cilgias Lippen zuckt der Schalk und vergnüglich geht der Pfarrer auf ihren Ton ein.
„Was hat man im Bergdorf anderes zur Kurzweil als Bücher und die Jagd!“
„Ja, aber Pfarrer und Jäger, das stimmt doch nicht so recht zusammen?“ Die blühende Neunzehnjährige sieht ihn von der Seite übermütig und erwartungsvoll an.
„Was hast du gegen die Jagd? Ich habe mich schon gefreut, du würdest im Herbst mit mir in die Gemsreviere gehen – vielleicht selbst einmal ein Tier schießen. Du wärst nicht die erste im Engadin!“
„Nein – die Jagd ist abscheulich,“ sagt Cilgia fest. „Ihr wißt, mein Vater hatte sie nicht gern, weil sein einziger hoffnungsvoller Bruder als Jüngling beim Jagen verunglückt ist – und seine Abneigung ist mir ins Blut übergegangen. Auch weiß ich von der Mutter her zu viele schreckliche Gemsjägersagen. Aber Onkel,“ fuhr sie fort und blickte dabei unternehmungslustig in den Kreis der Berge, „a Porta hat erzählt, es sei eine neue Sitte im Werden: aus Deutschland und Frankreich kommen jetzt zuweilen gelehrte Männer ins Gebirg, die es nur aufsuchen, weil sie seine Schönheit und Größe bewundern. Mit denen möchte ich es halten! Wir wollen einmal zusammen recht hoch ins Gebirge steigen.“
Und die goldbraunen Augen blitzen in Unternehmungslust.
„Also dir gefällt’s bei uns im Oberengadin?“ scherzte der Pfarrer wohlgelaunt. „Das freut mich! Du bist ja auch rasch als Engadinerin anerkannt und unter die Ehrenjungfrauen der Landsgemeinde geladen worden.“
„Das verdanke ich Konradin von Flugi. Ich freue mich, in Samaden den Jungen wiederzusehen. Auf der Reise von Fetan verging er fast vor Elend darüber, daß sein Vater gefangen war.“
In diesem Augenblick fliegt vor ihr und dem Pfarrer ein kleiner dunkler Schatten pfeilschnell über die weiße Straße und die Pferde stutzen.
„Nur die Wildtaube dort in der Luft,“ lacht der Pfarrer.
Sie haben aber den hochfliegenden Vogel, der wie ein hellleuchtender Blitz vom Schafberg über das Thal nach dem Waldhügel St. Gian bei Celerina hinüberfliegt, kaum erspäht und die unruhigen Pferde wieder angetrieben, so erleben sie ein größeres Schauspiel.
Aus der blauen Luft hernieder rauscht mächtig wachsend der Aar, stößt wie ein Ungewitter schief hin auf die Taube, und indem er sie in einem der Fänge hält, hebt er sich schon wieder.
„Die freche Bestie!“ eifert der Pfarrer.
Da kracht ein Schuß, über dem Wald bei Celerina zerrinnen ein paar Ringe bläulichen Rauches, die Taube gleitet aus den Krallen des Adlers zur Erde. Der Räuber steigt noch, sein Flug wird aber schwankend, er flattert, er überschlägt sich, und schnell und machtlos fällt der König des Gebirges zwischen dem Weg und dem Wald auf die grüne Matte.
„Schau – schau, Cilgia! Ich möchte nur wissen, wer den Schuß gethan hat!“ ruft der Pfarrer voll Spannung.
Ein junger hochgewachsener Mann eilt aus dem Gehölze auf den im Todeskampf ringenden Vogel zu.
„Wenn das nicht Markus Paltram ist – er ist’s!“ ruft Cilgia. „Ich muß ihn grüßen.“
Sie schwenkt ihr Tüchlein seltsam erregt, ihre Bewegungen sind hastig.
„Markus Paltram?“ sagt der Pfarrer verwundert. „Ich kenne ihn nicht.“
Eine feine Röte steigt auf in Cilgias Gesicht.
„Es ist der Bote, der Konradin von Flugi den Brief seiner Mutter mit der Nachricht gebracht hat, daß sein Vater von den Franzosen verhaftet und fortgeführt worden sei.“
„Weswegen denn diese Unruhe, Kind? Die Zügel zittern dir ja in der Hand?“
Cilgia wechselt die Farbe, sie schlägt die Augen schuldvoll zu Boden – und nun zuckt es ihr doch wieder schelmisch um die Unterlippe. Sie schaut den Pfarrer frei an.
„Fragt jetzt nicht so viel, Onkel,“ bettelt sie schlicht, „ich habe mit Paltram – ein Geheimnis – auf der Straße kann ich es Euch nicht verraten – aber am Abend in der Stube will ich es Euch gern beichten – bis jetzt habe ich schweigen müssen.“
Als sie seinen großen, überraschten Blicken begegnet, erglüht sie wieder wie ein sich schämendes Kind.
„Denkt nichts Böses von mir – nein, das könnte ich nicht leiden!“
Da nimmt der Pfarrer eine Prise aus silberner Dose und lächelt. „Das thue ich nicht – hinter deiner Stirn hat ja gewiß kein böser Gedanke Raum. Es wird übrigens so ein Geheimnis sein, wie wenn zwei Buben gemeinsam ein Vogelnest im Hag kennen!“
Der junge Schütze hat sich unterdessen des Adlers bemächtigt und kommt näher. Da erkennt er die Reiterin, tritt sichtlich erfreut herzu und grüßt mit dem Anstand eines Mannes, der die Welt gesehen hat, ja mit verbindlicher Höflichkeit.
„Ein Meisterschuß,“ lobt der Pfarrer eifrig, „ein Schuß, wie er nicht alle Jahre im Engadin fällt.“
Der Schütze aber wandte sich an Cilgia:
„Darf ich Euch ein paar der schönsten Federn geben Fräulein?“
Er hebt den Adler, aus dessen Brust das hellrote Blut über die Wellen des Gefieders rieselt, an einer Flügelspitze so hoch, als sein Arm reicht, und die prächtigen Schwingen des Vogels öffnen sich rauschend, so daß das Ende des andern Flügels den [584] Boden berührt und sich die großen stolzen Schwungfedern in zwei mächtigen Fächern spreizen.
„Laßt das schöne Tier, wie es ist,“ sagt Cilgia und wendet das Auge von dem blutenden Vogel.
„Ihr seht, meine Nichte ist keine Freundin der Jagd,“ scherzt der Pfarrer und plaudert lebhaft mit Paltram, der seine Neugier erregt.
Ein eigenartig schönes, ein merkwürdiges Gesicht. Dunkles Haar, zwei blauschwarze Augen voll blitzenden Feuers, eine leichtgebogene, kaum merkbar nach links abgedrehte Nase, ein starker Mund voll der herrlichsten Zähne, in allen Zügen das Gepräge großer Kühnheit und eines eisernen Willens, aber auch – in diesem Augenblick wenigstens – etwas Sanftes. Und dann allerdings noch etwas, worüber sich der Pfarrer keine Rechenschaft geben kann, etwas Gedrücktes, Leidenschaftliches, Gewaltsames!
Wie der junge Mann, so fesselt auch das Gewehr, das er trägt, den Pfarrer. Er läßt sich den doppelläufigen Feuersteinstutzen auf das Pferd reichen und prüft ihn sorgfältig. Unterdessen tätschelt Paltram den Braunen Cilgias am Hals, und das ist nicht bloß ein Spiel der augenblicklichen Laune, denn Cilgia neigt sich lebhaft zu flüsterndem Zwiegespräch gegen ihn. Zuerst leuchten seine, dann ihre Augen auf – ja, einen Augenblick hätte man meinen können, es wäre eine Herzensgemeinschaft zwischen ihnen.
„Auf Ehrenwort, er ist daheim bei Vater und Mutter,“ versetzt der junge Mann leise.
„Daheim! Gott sei Dank, daß ich es weiß,“ antwortet Cilgia halblaut.
Markus Paltram aber wendet seine Augen zögernd von ihrem feinen, glückstrahlenden Gesicht zum Pfarrer zurück, welcher ihn, jetzt eben aufblickend, anredet: „Der Stutzen ist wohl französische Arbeit? Es ist ein herrliches Stück!“
„Der Stutzen ist Engadiner Arbeit, aber freilich in Frankreich verfertigt. Es ist mein Gesellenstück von St. Etienne.“
Ein leises, selbstbewußtes Lächeln läuft über Paltrams Gesicht.
„Ihr seid ja ein merkwürdiger Mann. Ein Engadiner, der Büchsenmacher ist, das hat man nicht so bald gehört. – Und dazu noch solch ein Schütze! – Wie lang’ seid Ihr schon zurück?“
„Unmittelbar vor dem Kriege kam ich heim nach Madulein.“
„Habt Ihr Euch dort eingerichtet?“
„Nein, ich habe die Zeit im Lager Lecourbes als Dolmetscher zugebracht. Wohl möchte ich mich gern einrichten – es geht indessen nicht. In Madulein sitzt mein Bruder Rosius unter dem väterlichen Dach, und so viele Häuser im Engadin auch leerstehen, so vermietet mir doch niemand einen Raum zu einer Werkstatt. Es ist nicht unsere Sitte.“
Ueber sein ausdrucksvolles Gesicht fliegt eine Wolke, und die glänzenden blauschwarzen Augen verschleiern sich. Dann sagt er leichthin: „Ich gehe wieder nach Frankreich zurück – nach Paris!“
Cilgia heftet ihre sonnigen Blicke auf den Pfarrer.
„Es ist nicht unsere Sitte,“ wiederholt dieser wohlwollend, „aber wir wollen doch sehen, junger Mann! Für uns wäre es ganz geschickt, wenn wir die Gewehre nicht wegen jedes Mangels nach Chur oder Cleven schicken müßten.“
Jetzt haben der Mesner und Tuons mit ihrer Begleitschaft das Reiterpaar wieder erreicht, und sie betrachten den Adler, den Paltram an den Wegrand hingelegt hat.
„Gelt, dich hat’s, du verdammter Schafdieb!“ höhnen sie.
Und die Buben ballen die Fäuste gegen das tote Raubtier.
Tuons hat inzwischen den Schützen erkannt, grüßt ihn und sie tauschen ein paar Worte des Wiedersehens – jeder kühl freundlich gegen den andern.
Der Pfarrer spricht eifrig mit dem Mesner und wendet sich dann zu Paltram: „Kommt morgen bei mir vorbei! Ich weiß Euch eine Werkstatt zu Pontresina, die Hütte des verunglückten Fischers Colani, für die kein Liebhaber da ist.“
Paltram dankt und schlägt mit seiner Beute einen Feldweg ein. Cilgia reitet, über den Ausgang des Gesprächs beglückt, mit dem Pfarrer in schärferer Gangart gegen das im Vorblick schimmernde Samaden, und die Fußgänger sind wieder unter sich.
Da sagt Tuons: „Wohl, der Pfarrer brockt sich und uns eine gute Tunke ein, wenn er Den nach Pontresina nimmt.“
„Was habt Ihr gegen ihn? Er ist ja ein anständiger Bursche,“ knurrt der Mesner mißbilligend, „und ein Büchsenschmied steht dem Dorfe gut an.“
„Ich sah ihn zu St. Moritz,“ wirft der Ziegenhändler zwischen hinein. „Er diente der Junkerin von Flugi als Bote nach Fetan, und man zeigte mir ihn, weil er der einzige sei, der durch die französischen Posten zu Zernetz komme.“
„Der war in Fetan?“ ruft Tuons. „Dann ist die Geschichte von dem Tiroler Spion, den man vor der Nase der Franzosen in Sicherheit gebracht hat, also wahr!“
„Tuons, denkt an das, was ich Euch gesagt habe,“ mahnt der Mesner zürnend.
„Ich kenne ihn von Madulein her – habt Ihr ihm in die Augen geschaut?“ erwidert der Säumer.
„Wozu das?“
„Dann hättet Ihr gesehen, daß er ein Camogasker ist.“
„Ein Camogasker?“ rufen die Wandernden erschrocken und wie aus einem Munde.
„Ja, er ist ein Camogasker,“ erklärt Tuons. „Im Dorf Madulein weiß es jedes Kind. Man braucht nicht zu staunen, daß er durch die französischen Posten gekommen ist. Er ist ein Camogasker und die können mehr als Brot essen! Sie dürfen alles wagen, wagen alles und alles gerät ihnen. Ist es nicht so, Mesner?“
„Das sagt das Volk, aber es sagt noch mehr,“ erwidert das alte eisgraue Männchen mit geheimnisvoller Miene, indem es den erhobenen Zeigfinger schwenkt, „die Camogasker dürfen alles wagen, sie wagen alles – – aber sie müssen die schlagen, die ihnen die Liebsten sind. – –“
Das Schweigen des Schreckens herrscht unter der Gruppe, und sie erreicht Samaden.
Der kleine Flecken Samaden ist festlich belebt. Unter den alten großen Holzhäusern, die ein paar kurze Gassen bilden, drängt sich das Volk. Muntere Leutchen schauen aus den kleinen, tiefen Fenstern, die zusammen mit den weit aus den Wänden ragenden Viertelsrunden gemauerten Backöfen und alten Malereien und Sprüchen den Engadinerdörfern ihr eigenartiges Gepräge geben, und die Landsgemeindegäste sammeln sich auf dem Platz vor dem Plantahaus.
An den Fenstern des stattlichen, doch einfachen Palastes der Familie von Planta, dessen reichster Schmuck die kunstvollen schmiedeeisernen Gitter sind, stehen in der festlich blumigen Tracht der Zeit die schönsten Mädchen des Oberengadins, Mädchen mit jenen feingeschnittenen Gesichtern und dunklen Augen, wie sie den Frauen eines Völkleins zukommen, das seine Abstammung unmittelbar von den alten Römern herleitet.
Da führt Pfarrer Taß noch Cilgia Premont in den Saal und geht. Mit einem anmutigen Neigen des Kopfes grüßt Cilgia die Mädchen, die ihre Gespielinnen werden sollen; dann tritt sie an ein Fenster und schaut ins Gewühl auf dem Platz.
„Das ist eine Stolze,“ flüstern die anderen Jungfrauen; ihre scheuen Blicke huschen zu der Fremden hinüber, die dies offenbar nicht bemerkt.
„Er ist daheim!“ Das ist der einzige Gedanke, der Cilgia beherrscht, seit sie mit Markus Paltram gesprochen hat. Fast statuenhaft lehnt sie am Fenster, lichtbraune Aehrenflechten krönen ihr Haupt wie ein Diadem, die junge, leichtgewölbte Brust atmet ruhig, ihre schlanke Gestalt zeigt verhaltene Kraft, schlichte Vornehmheit, und die schönen braunen Augen unter den langen Wimpern haben jetzt den nach innen gewandten Blick einer Träumenden.
Die Mädchen haben recht: stolz und schön ist sie und von lachender Frische – so recht eine gesunde Natur, und man versteht nicht gut, warum sie so vor sich hinstaunen kann. – –
Sie denkt an das Geständnis, das sie vor dem Onkel Pfarrer abzulegen hat; das Geheimnis, mit dem sie ins Pfarrhaus getreten ist, macht ihr Pein.
[585]
[586] Wie merkwürdig ist doch Markus Paltram in ihren Lebenskreis getreten!
Da dröhnen von der altersgrauen Peterskirche am Berghang hinter Samaden die Böller, sie hallen an der Bergwand der Piz Languardkette wieder, unter Trommelwirbel beginnt der Umzug des Volkes, der der Landsgemeinde vorausgeht, durch den Flecken. Voran reitet der Weibel im langen zweifarbigen Mantel, das Bündnerwappen, den springenden Steinbock, auf der Brust. In gemessenem Abstand folgen der alte und der neue Landammann, den Degen zur Seite, den Zweispitz auf dem Haupt. Hinter ihnen reitet einzeln der Landgerichtsschreiber, der das silberbeschlagene Landbuch auf den Sattelknopf stützt. Dann schreitet einer zu Fuß, ein gar düsterer Geselle, der ein langes, zweischneidiges, mordlustiges Schwert in markiger Faust erhoben hält. Das ist Domino Cla, der auf einer Innwiese bei Bevers vom Leben zum Tode richtet. Es folgen zu Pferd die dreizehn Richter in dunkler Tracht und hinter ihnen zu zwei und zwei junge und alte Reiter.
Einige Jünglinge grüßen, die Hüte lüftend, zu Cilgia empor, und sie erwidert mit anmutigem Nicken. Es sind ehemalige Zöglinge des Instituts a Porta: der hochaufgeschossene Luzius von Planta von Samaden, der bedächtige Andreas Saratz von Pontresina und Fortunatus Lorsa von St. Moritz, eine kraftvolle Feuerseele.
Einer aber grüßt nicht, Konradin von Flugi, der Sohn des Landammanns, und Cilgia zieht einen lustigen Schmollmund.
„Natürlich der Poet – auf dem Pferd sitzt er am Ehrentag seines Vaters wie ein Schneider – warte, du heimlicher Tasso des Engadins!“
Der berittenen Vorhut des Zuges, die langsam hinter den Häusern des Fleckens verschwindet, folgen die Wagenfahrer, eine Abteilung älterer und gemütlicher Leute, die ihre Frauen und Töchter zu sich auf die Fuhrwerke gehoben haben, und endlich die Fußgänger, unter denen sie auch Markus Paltram bemerkt.
Und sie errötet, indem sie seinen Gruß erwidert.
Zusammen mögen die Ziehenden, die der Sitte der Zeit gemäß die hellgelben hirschledernen Kniehosen und den halbhohen Hut tragen, etliche Hundert sein, ländlich elegante Junker, die sich Zweispitz und Degen gestatten, stolze Herrenbauern, reiche Händler, viele, denen man es ansieht, daß sie in fremden Ländern gewesen sind, und das bodenwüchsige Volk der Säumer, Weger, Sennen und Kleinbauern, das nicht glatt rasiert ist wie die Herren, sondern sich Schnurr- und Kinnbart gönnt. Und das von Süden strahlende Silberlicht der Bernina, das neugierig wie ein Kind an allen Häuserecken hervorguckt, weiht das schlichte Volksgepränge.
Allein Cilgia lebt von ihren Kindertagen her in den buntern Bildern italienischen Volkslebens und in den heitern Tönen einer wärmeren Volksseele – hier, im Heimatthal ihrer Mutter, ist alles so voll Ernst und Würde, voll Einfachheit und Festigkeit.
„Wie würde dieses strenge Volk urteilen, wenn es wüßte, was zu Fetan geschehen ist?“
Auf dem Landsgemeindeplatz, wo zuletzt nur noch wenige Gruppen gaffender Zuschauer stehen, sieht sie ein altes, häßliches Weib in bunten Lumpen herumgehen und den müßigen Leuten Ziegenglöckchen und Kuhschellen anbieten. Das ist die Mutter des Hauderers und Glockengießers Pejder Golzi, die Wahrsagerin mit dem fleischlosen Kopf – der wandernde Tod. Auch sie mahnt Cilgia an Fetan. Hätte sie damals anders handeln können, als sie gehandelt hat? Ewig würde sie es doch freuen, daß sie ein junges Leben sich selbst und einer Mutter den Sohn zurückgegeben hat. Was komme, sie wird die Verantwortung tragen!
Unbeweglich ruht sie und sinnt. Vor ihrer Erinnerung steht hellglänzend das kleine Dorf, das halb noch auf Erden, halb schon im Himmel sich auf einer Bergaltane des Unterengadins erhebt und in die tiefe Schlucht hinabsieht, wo sich die silberschuppige Schlange des Inns windet. Im Institut a Porta sind nur wenige Zöglinge, die meisten hat der Krieg in die Heimat zerstreut. Man hat – es war anfangs der vergangenen Woche – sich um den gebeugten Dekan in einem lichten Föhren- und Birkengehölz gesammelt und horcht auf die ferne Schlacht, die seit gestern abend schon und seit dem frühen Morgen in der Gegend von Martinsbruck und Finstermünz tiefer im Innthal wütet. Es ist, als ob der dumpfe Donner der Kanonen aus der Erde selber steige, und je nachdem der Wind weht, hört man auch Gewehrgeknatter wie das Geräusch eines Hagelwetters. Die Zöglinge legen das Ohr auf die Erde, um zu entscheiden, ob der Kampf näherrücke oder sich entferne. Sie werden nicht klug daraus. Dann und wann jagt eine Stafette auf der Straße. Der Reiter heischt Wasser, giebt keinen Bescheid, flucht auf die Oesterreicher, auf Gott und die Welt. Endlich erbetteln sich die Zöglinge die Freiheit, gegen Remüs hinunterzuwandern, damit sie, wenn möglich, etwas über den Gang der Schlacht vernehmen.
Da kommt von der andern Seite, von Steinsberg her, ein einsamer Gänger, er grüßt, er fragt a Porta: „Seid Ihr der Herr Dekan?“ Er übergiebt ihm zwei Briefe. Der erste versetzt den würdigen Philanthropen in einen Taumel der Freude. „Sieh, Cilgia, was mir der herrliche Herr Heinrich Pestalozzi von Zürich schreibt: ‚Meinen Segen und Kuß, Dir, Du Engel des Engadins.‘ Das ist Himmetstau in der schweren Betrübnis dieser Zeit! Erquicke den Boten!“ Markus Paltram – er ist der Ueberbringer – sagt gespannt: „Lest auch den andern Brief, Herr Dekan!“ Dieser thut’s und erschrocken fährt er auf: „Sie haben den Vater unseres Konradin gefangengenommen. Ich muß den Armen vorbereiten – ich führe ihn morgen selbst seiner Mutter zu! Cilgia, wenn ich Pferde auftreiben kann, kommst du mit – du bist auch sicherer im Oberengadin!“ Damit eilt der würdige Philanthrop den Zöglingen nach, die auf dem Weg nach Remüs sind.
Sie ist allein mit Markus Paltram. Ein mit einer Leinwandblache überdachter Wagen schwankt von der Remüser Seite heran. Ein derber schwarzer Mann und eine Frau, über die der Schweiß niederströmt, ziehen ihn, das alte hagere Weib mit dem Totenkopf schaut vorn, schmutzige Kinder blicken auf der Seite der Leinwandblache heraus, und eines der Kleinen schreit: „Mutter, Millich, dort ist Millich!“ Der Wagen steht und der Hauderer stößt einen Fluch aus: „Hol’s der Teufel, weiter fahren wir nicht!“
Cilgia bringt ein Becken gestockter Milch, sie tränkt die Kleinen, da tönt eine Stimme aus dem Innern des Wagens: „Fräulein, um Gott’s und Maria willen gebt mir ein Tröpfchen – ich thu’ verbrennen.“ Der Hauderer, der rauhe Pejder Golzi, fährt auf: „Du dummer Hund, wenn du dich selber verrätst, so magst du sehen, wie du weiter kommst – wir bringen dich nicht mehr vorwärts!“ Er öffnet die Blache, er reißt einen blutrünstigen, nassen jungen Mann vom Wagen und eilt, sein Weib antreibend, mit dem Fuhrwerk Hals über Kopf gegen Steinsberg, als wäre die Hölle hinter ihm her.
Da steht der Flüchtling, ein junger blauäugiger Mann, voll Schmutz, Schlamm und Blut, und trinkt gierig Milch. Auf der Straße von Remüs schreitet langsam a Porta mit den Zöglingen heran, strömen Leute, die von den freien Punkten Ausschau gehalten haben, und der Ruf „Die Franzosen kommen – die geschlagenen Franzosen!“ verbreitet sich durch die Frühlingsdämmerung. – –
Soweit sind Cilgia die Bilder des erregten Abends in eilender Hast vor der Erinnerung vorübergezogen, da tritt eine zierliche Blondine, die einzige, zugleich die jüngste in der Schar der jungen Mädchen, auf Cilgia zu und die anderen begleiten sie mit neugierigem Blick.
„Fräulein,“ sagt sie errötend, „wir wollten Euch nicht stören, aber wir sollten unsere Plätze wählen!“
Ein Lächeln gleitet über Cilgias Gesicht. „Ihr seid gewiß Menja Melcher!“ und ein herzgewinnender Blick streift das Mädchen mit den vergißmeinnichtblauen Augen.
Es verwirrt sich und fragt: „Woher kennt Ihr mich?“ Schüchtern klingt ihr Stimmchen.
Um Cilgias Lippen und Augen zuckt es von Schalkheit: „Kommt nur und zeigt mir das Gemach, wo ich die Gäste zu erwarten habe.“
„Nein, Ihr müßt es selber wählen, wir haben es so verabredet.“
Lieblich wie eine Hagrose glüht das sechzehnjährige Kind.
„So kommt, Menja, wir wollen uns das Haus ansehen.“ Und Cilgia legt den Arm leicht um die Hüfte des Mädchens.
Sie wandern durch die Säle und Gemächer des Palastes. [587] Stuccatur und gemalte Wappen mit lateinischen Spruchbändern schmücken die Decken, altes braunes Getäfel mit hübschen Friesen die Wände, Glasmalereien mit sammetroten Schildern die Fenster, schwere geschnitzte Stühle stehen vor sauber gedeckten, schweren Tischen und auf diesen altes, schönes Venetianer Geschirr, auch zinnerne Kannen und Becher. Dazu auf bemalten Platten hochgeschichtete Haufen Biskuits und Kuchen.
„Das gefällt mir,“ sagt Cilgia, „ein ganzes Volk bei seinem Landammann zu Gast!“
Menja Welcher, die liebliche Blondine, sieht sie fragend an, wo sie denn ihre Aufstellung wünsche, aber erst in einem weit zurückliegenden, halbversteckten Gemach sagt Cilgia: „Wenn Ihr einverstanden seid, so will ich hier die Gäste erwarten!“
„Wählt doch ein schöneres Gemach, Fräulein!“
„Laßt es gut sein, Menja!“ bittet Cilgia.
Mit einer feinen, liebkosenden Bewegung fährt sie ihr über das in Seidenfäden fliegende Blondhaar, wirft einen vorsichtigen Blick um sich und sagt:
„Woher ich Euch kenne, Menja, habt Ihr gefragt? Aus den Versen eines jungen Mannes, der das Ladin in kunstvolle Stanzen gießt und Blumen um den Namen Menja windet! Was er geschrieben hat, hat er mir gezeigt!“
Purpurröte steigt Menja ins blühende Gesichtchen, und mit leuchtenden Augen weidet sich Cilgia daran.
„Ihr seid gewiß keine andere als Cilgia Premont von Fetan; von Euch hat mir Konradin viel Liebes und Gutes erzählt,“ ruft Menja mit ihrer reinen Stimme, und zur Verlegenheit tritt die Ueberraschung. „Mein Vater hat gestern, als er von Baron von Mont zu Mals in Tirol zurückkehrte, auch von Euch gesprochen. Er sollte dem reichen Lorenz Gruber im Suldenthal berichten, ob Ihr von Puschlav seid.“
„Lorenz Gruber im Suldenthal.“ – – Cilgia sieht vor sich hin und wird ihrerseits verlegen. Das ist gewiß wieder eine Erinnerung an den ereignisvollen Abend. – Kommt denn alles in Samaden zusammen?
„Er will einmal,“ fährt Menja fort, „wenn die Welt etwas friedlicher ist, zu uns nach St. Moritz kommen und auf der Reise Euch in Fetan besuchen.“
„Ich wohne jetzt zu Pontresina, bei meinem Onkel, dem Pfarrer Taß,“ berichtigt Cilgia sie.
„Das trifft sich aber schön, der ist ja ein guter Freund meines Vaters,“ sagt Menja Melcher herzlich erfreut.
Cilgia ist wie auf Kohlen, sie will nichts verraten und hätte doch gern mehr über Lorenz Gruber gefragt.
Da hört man den Trommelschlag des Umzuges, der wieder auf den Platz kehrt, und die Mädchen eilen durch den geräumigen Flur ans Fenster, wo sie den freien Ueberblick über die Landsgemeinde haben.
Mit entblößten Häuptern und in lautloser Stille ordnet sich das Volk im weiten Ring, lauter ernste Gesichter.
Die Landsgemeinde ist wie ein Gottesdienst im reinen Firnenglanz der Bernina. Nach einer kurzen, markigen Ansprache nimmt der alte Landammann Romedi den neuen in Eid: „Junker Rudolf von Flugi, schwört Ihr, daß Ihr als Landammann die Gesetze und Satzungen des Volkes halten und daß Ihr unparteiisch richten und regieren wollt nach bestem Wissen und Gewissen?“
Der Junker legt die drei Eidfinger auf das Schwert, das vor ihm über dem Landbuch gekreuzt ist, und spricht mit tiefer, weittragender Stimme:
„Ich schwöre, daß ich als Landammann die Gesetze und Satzungen des Volkes halten und unparteiisch richten und regieren will nach bestem Wissen und Gewissen. Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!“
So werden auch der Landschreiber und die dreizehn Richter des Hochgerichts beeidigt, und dann heben sich die Hände und Finger des Volkes und dem Eid des Gehorsams folgt die Formel: „Wir schwören es, so wahr uns Gott helfe!“ Die vielen Stimmen verwirren sich und tönen, als ginge Windesbrausen über den Platz dahin.
Cilgia, die zuerst nur einen kühlen Eindruck von der Landsgemeinde empfangen hat, ist von dem Vorgang tief ergriffen. Das Bild des Völkleins, das in Luft und Sonne tagend, die ewigen Berge und Gott im Himmel zu Zeugen seines wankellosen Willens nimmt, bewegt sie.
Der neue Landammann, der würdige Junker von Flugi, hält nun seine Rede. Er dankt Gott, daß er die Prüfungen des Krieges nicht schwerer gemacht habe, und wendet sich dann ans Volk:
„Ein Lob aber auch der engadinischen Treue! – Unter den schwersten Umständen blieb jeder von euch, liebe Mitlandsleute, der Verantwortung für alle andern bewußt. Ihr habt manchmal der zürnenden Faust, selbst den weichen Stimmen des Mitleids und Mitgefühls Halt geboten, die Neutralität gegen eine übermütige Soldateska im großen und kleinen gehalten und damit dem Thal die Geißel der Brandschatzung und das Entsetzen des Standrechts, unendliches Leid erspart.“
Cilgia ist es, als dringe ein großes, schmerzhaft blendendes Licht gegen sie.
Ihre Brust atmet heftig. Sie hat es wohl vorher schon gefühlt, aber jetzt hat sie es laut aus berufenstem Munde gehört: ihre That zu Fetan ist ein Verrat an einem feierlich gegebenen Treuwort des Volkes; wenn sie bekannt wird, ist sie eine gräßliche Gefahr für das Engadin. Denn rät nicht eben jetzt der Landammann, Vorsicht zu bewahren, da noch Späher genug im Lande stehen?
Sie hört es nur undeutlich, wie seine Rede weitergeht, vor ihren inneren Augen steht wieder der Flüchtling, wie er bei dem Ruf „Die Franzosen kommen – die geschlagenen Franzosen!“ eine schwache Bewegung der Flucht macht, in die Knie sinkt und in dunklen, unverständlichen Lauten stöhnt, bis sie plötzlich und deutlich die Worte „Vater – Mutter“ hört. Die Worte und der Anblick des Hilflosen foltern sie und sie wendet sich an Markus Paltram, der bisher dem Vorgang mit kühler Ruhe zugesehen hat, so g’rad’, als wenn ein Mensch in höchster Todesnot für ihn etwas Alltägliches wäre. „Ratet, helft! Wir können den Unglücklichen doch nicht opfern.“ – „Dem ist nicht zu helfen, der einzige offene Weg geht über das Sesvennagebirge. Den erträgt der Tiroler da nicht, er ist ja schon halb tot,“ antwortet Markus Paltram. Dem Flüchtling laufen die Thränen der Hilflosigkeit über das Gesicht, und in der Ferne sprengen französische Reiter die Berglehne entlang. Sie weiß selber nicht mehr, was sie thut. „Seid barmherzig, Markus Paltram; wenn Ihr nicht um des Flüchtlings willen barmherzig sein wollt, seid’s um meinetwillen!“ So fleht sie ihn an. Da steht er auf und sagt mit einem seltsam höflichen Lächeln und einem sonderbaren Blick: „Wohlan – um Euretwillen, Fräulein. Es kann den Kopf kosten, aber für Euch reut er mich nicht. Ich führe den Burschen durch das Waldthal der Clemgia ins alte Bergwerk von Scarl. Dort mag er ruhen, bis er wegfähig ist, oder in Frieden sterben. Ich verlasse ihn nicht – auf mein Ehrenwort nicht!“
Und fast barsch wendet er sich an den Flüchtling: „Hängt Euern Arm um meinen Hals und vorwärts!“
„Gott geleite euch!“ – Die beiden, der Tiroler auf Paltram gestützt, sind noch kaum bei den Uferstauden eines Bächleins, die sie schützen sollen, angekommen, so haben schon einige Fetaner das Fluchtunternehmen entdeckt; zum Glück erschweigt der Zornschrei der um ihr Dorf geängstigten Bauern in der Furcht vor den Franzosen, die jetzt Fetan besetzen.
Ein wilder Abend folgt. Ueberall Lichter, Gefluch der Hauptleute, Gestöhn Verwundeter, Hufschlag und Pferdegewieher; im Lehrsaal des Instituts sitzt der geschlagene General am Pult a Portas und die Offiziere, die Befehle holen, gehen ein und aus.
Bei ihm besorgt der Philanthrop einen Paß durch die Wachen von Zernetz.
Jeden Augenblick fürchtet Cilgia, daß die Kunde komme, ein Fetaner habe die That Markus Paltrams verraten – sie werde zu einem Verhör gerufen – es werden Häscher nach den Wandernden ausgeschickt. Doch nichts geschieht!
Um Mitternacht kniet sie in ihrem Kämmerlein. Ueber den Domen des Sesvennagebirges, hinter dem das Tirol liegt, steht die Mondsichel und über dem dunklen Scarlthal zieht die Bergwand entlang ein Nebelchen – ein Nebelchen wie ein Reiter in weißem, fliegendem Mantel. Dort gehen Paltram und der Tiroler! – –
In ihr tiefes Sinnen über alles damals Erlebte klingen jetzt die letzten Worte der Landammannsrede: „Und also, liebe [588] getreue Vorsteher und Mitlandleute, lade ich euch nach altem Brauch zu einem kleinen Imbiß ein und bitte die Ehrenjungfrauen im Plantahaus und in den anderen Häusern der Nachbarschaft eurer zu warten.“
„Hoch der Landammann – hoch – hoch!“ schallt es, und bald erdröhnt das Plantahaus unter den Schritten der zuströmenden Gäste; doch dauert es eine Weile, ehe sich der erste in das Gemach Cilgias findet, die vor ihr helles und blumiges Kleid eine blitzblanke Schürze gebunden hat.
„Ihr, Herr Konradin – das ist hübsch! Die Poesie hat man immer gern. Doch denkt, ich habe Menja Melcher, Eure Flamme, kennengelernt.“
Der Angeredete ist ein Jüngling von zwanzig Jahren, nicht besonders hübsch, etwas mißfarbig, sommersprossig und, obgleich er den Zweispitz und den Degen des Junkers trägt, von linkischer Art. Ein Aufleuchten geht über sein gutmütiges Gesicht, allein es erlöscht rasch, und traurig sagt er: „Ich wage es heute nicht einmal, Menja Grüß Gott! zu bieten. Mein Vater grollt dem ihrigen so schwer!“
„Er hat sie doch als Ehrenjungfrau geladen,“ bemerkt Cilgia teilnehmend.
„Das wohl. Die Väter sind zwei vornehme Gegner, aber darum nicht weniger hart gegeneinander. Es geschah nur, um keine Todfeindschaft heraufzubeschwören, und aus dem gleichen Grund hat Melcher die Menja hierhergehen lassen. Denkt, wir wohnen in St. Moritz, Fenster gegen Fenster, an der gleichen Straße. Da muß jeder etwas überwinden.“
„Da seht Ihr sie doch häufig,“ scherzt Cilgia. „Aber sagt, was haben denn Eure Väter gegeneinander?“
„Ach, Fräulein Cilgia – ein alter Handel um die Sauerquelle von St. Moritz; mein Vater hängt an den Zeiten, die vergangen sind, der ihrige an denen, die kommen sollen; die unglückselige Gefangennahme des meinen ist dazu getreten, er redet sich ein, niemand als Melcher habe ihn an die Franzosen verraten. Die Wahrheit ist: es hat gar keinen Verrat gebraucht, denn es ist landbekannt, daß mein Vater an Oesterreich hängt und die Franzosen nicht leiden mag, obgleich mein Bruder Alfons im Dienst Napoleons steht. Wißt aber, Fräulein Cilgia, Melcher siegt, er hat die Jugend für sich. Sagt ehrlich, hat Euch heute die Rede meines Vaters gefallen?“
Mit lebhaften Augen und roten Wangen fragt es Herr Konradin.
Cilgia will nicht bekennen, daß sie die Rede, von den eigenen Gedanken gefangen genommen, überhört hat, und bejaht freundlich.
Konradin von Flugi, der sich auf einen Stuhl gesetzt hat, steht auf.
„Ich hätte die Rede anders gehalten,“ zürnt er. „Es ist lächerlich, mit geheimen Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, das Volk zur Zufriedenheit, zur Bescheidenheit, zum Sichfügen in die Ratschlüsse Gottes zu mahnen. Unser Engadin hat noch nie gepraßt, und jetzt, wo es nichts mehr zu beißen hat, gehört ihm ein anderes Wort. Einen Spiegel soll man ihm vorhalten und die Krebsschäden aufdecken, die an seinem Mark nagen, und es mahnen: die Zeit der großen, selbstgenügsamen Faulenzerei ist vorbei, das Herrenspiel von Jahrhunderten her ist aus. Das Veltlin ist gefallen. Wir wollen jetzt zu arbeiten anfangen. Laßt uns Straßen bauen, damit der Verkehr von Deutschland nach Italien wieder wie in früheren Jahrhunderten über Bünden geht; kündigt den Bergamaskern unsere Alpen, damit wir selbst Alpwirtschaft treiben; laßt unsere Jugend Handwerke lernen, damit wir nicht jeden Kessel, der eine Beule hat, nach Chur oder Cleven zum Flicken schicken müssen, sucht das Heil nicht in der Auswanderung, die wohl etwas Geld zurückbringt, aber unser Volk langsam in der Fremde hinsiechen läßt! Freie arbeitsame Engadiner im Engadin – das sei die Zukunftslosung! Einen Mann aber, Fräulein Cilgia, einen mutigen Mann sollten wir haben, der es ohne Menschenfurcht sagt, was not thut, und selber Hand anlegt.“
Mit schöner Lebendigkeit sprach der Jüngling.
„Werdet selbst der Mann, Herr Konradin,“ lacht ihn Cilgia mit einem vollen warmen Blicke an.
Allein die Glut auf dem Gesichte des Jünglings, die es mit einer Art Schönheit geschmückt hat, weicht der Trostlosigkeit und hält den glänzenden Augen Cilgias nicht stand.
„Ich habe kein Talent dazu,“ sagt er gedrückt, „ich bin ja doch nur ein schwächlicher Poet – ich könnte mit meinem Vater nicht brechen – ich bin nicht rücksichtslos genug – ich bin der wohlerzogene Sohn eines Adelshauses, mit allen Gebrechen eines solchen Sohnes. Die Wiedergeburt des Engadins muß von Einem herbeigeführt werden, der – hau’ es, stech’ es – seinen Weg geht. Und die wachsen nur in der Tiefe – in den Hütten!“
In diesem Augenblick öffneten zwei junge scheue Geschwister in schäbigem Trauergewand die Thür des Gemachs, wollten sich aber wieder zurückziehen.
„Kommt nur, Pia,“ rief Cilgia, „da sind ganze Haufen Kuchen für euch und Raum, wie ihr seht!“
Da setzen sich die beiden, Bruder und Schwester, schüchtern und beginnen an dem Gebäck zu knuspern.
„Es sind die Waisenkinder des verunglückten Fischers Colani, Pia ist unsere kleine wilde Ziegenhirtin und ihr Bruder Orland will in die Fremde ziehen,“ wendet sich Cilgia an den Junker.
„Also auch ein Opfer unserer Mißstände,“ antwortet er bitter und verabschiedet sich, um seine Freunde aufzusuchen.
Cilgia wendet sich zu den Geschwistern und ermuntert sie zum Essen.
„Du hast ja Wangen wie Alpenrosen, braune Pia!“
Das Kind, sonst eine wilde Hornisse, drängt sich zärtlich an den Bruder, wie wenn es sich die Gesichtszüge des schönen gebräunten Burschen noch recht fest ins Gedächtnis prägen wolle.
„Sie hat so heiß, weil sie sich von der alten Golzin hat wahrsagen lassen,“ giebt an ihrer Stelle Orland Bescheid, ein frischer Junge, dem man es wohl ansieht, daß er sich durch die Welt schlagen wird.
„Und was prophezeit sie euch Gutes?“ fragt Cilgia neugierig.
„Mir geht’s übel und ich bleibe ledig,“ giebt die braune Pia mit funkelnden Augen zurück, „mein Bruder aber wird angesehen und reich.“
Die kleine rassige Hummel spricht es mit felsenfestem Glauben und schlingt den schmalen Arm um den Hals des Bruders. „Wenn du reich und angesehen bist, so komme ich zu dir, Orland – und wenn ich schon tot wäre, so stände ich aus dem Grabe auf und käme zu dir, Orland, um zu sehen, wie es dir gut geht!“
Der Zärtlichkeitsausbruch überrascht Cilgia an dem Kind, das in Pontresina als ein böser, kratziger Waldteufel voll toller Einfälle gilt, die sich namentlich gegen die etwas kindisch gewordene Großmutter richten. Pia liebt es, der Alten eine Menge Blumen ins schneeweiße Haar zu stecken und ihren Rock mit Tannenzapfen zu behängen, und wenn die Alte so durch das Dorf geht und alles lacht, beißt sie sich vor Vergnügen in die Finger.
Jetzt ist sie ganz zahm und abschiedsergeben.
Allmählich füllt sich das Gemach Cilgias, doch, weil es so entlegen ist, meist mit einfachen Leuten, Wegern und Säumern.
Ihr aber bereitet es just Spaß, das verwitterte Werkvolk mit großer Liebenswürdigkeit zu bewirten.
Während sie eine frische Platte Kuchen aufstellt, hört sie plötzlich den Namen Markus Paltram.
Die Gäste sprechen von seinem Adlerschuß, und was sie nun weiter hört, fesselt sie so, daß sie ihre Pflichten als Wirtin völlig vergißt.
„Er ist ein Camogasker,“ behauptet ein struppiger Weger, „in der Nacht, als er zur Welt kam, gingen hoch oben in der Ruine Guardaval die Lichter hin und her, als ob ein Fest wäre.“
„Ich weiß, was ich weiß,“ prahlt der Säumer Tuons, der sein Birkenzweiglein aus dem Munde genommen hat und die Arme breit auf den Tisch stützt, „es wird bald genug eine Geschichte an den Tag kommen, die zeigt, was er ist.“
Und er grinst geheimnisvoll.
Ueber Cilgias Gesicht verbreitet sich die Purpurröte der Angst.
Und Tuons erzählt: „Ich habe seine Mutter als Mädchen wohl gekannt. Ich war zehn Jahre beim reichen Romedi zu Madulein im Dienst und hätte selber Lust für die stolze Gredy gehabt. Da hat sie aber zu Simon und Judä am Piz Mezzân, dort wo an diesem Tag kein Mädchen hingehen soll, gewildheut, da ist der Jäger gekommen. Sie hat, weil er so schön gewesen [589]
ist, das Stoßgebet vergessen – und dann – dann hat sie auf einmal den Küfer genommen, der ihr so lange umsonst nachgelaufen ist, und den sie nie hat erhören wollen – Knall und Fall hat’s Hochzeit gegeben. Markus war das erste Kind aus der Ehe.“
„Und mit fünfzehn Jahren,“ versetzt ein anderer, „hat Markus den Stutzen geführt wie ein Alter. Eines Sonntags, während das Dorf im Morgengottesdienst ist, fällt ein Schuß. Der Stillständer eilt aus der Kirche, um zu sehen, was vorgefallen sei. Markus Paltram hockt auf einem Baum, Rosius, der zweite unter den Buben, auf einem andern und der ruft: ‚Es ist nichts, Stillständer, mein Bruder hat mir nur das Thonpfeifchen des Vaters vom Mund weggeschossen!‘“
Eine Bewegung des Erstaunens geht durch die Gesellschaft.
„Wartet, das Merkwürdige kommt noch,“ sagt Tuons. „Der Stillständer, der reiche Romedi. bei dem ich diente, nahm Markus Paltram wegen des gottlosen Spiels das Gewehr ab und verwahrte es zu Haus. Zu jener Zeit war aber in der Familie g’rad’ ein großes Unglück. Das Kind des Stillständers hatte sich bei der Wäsche aufs schrecklichste verbrannt und schrie in seinen Schmerzen, daß man es drei Häuser weit hörte. Unter dem Vorwand, daß er von der Mutter Lilienöl für die Verletzte bringe, kam Markus, der sein Gewehr zurückbetteln wollte, ins Haus. Er reichte dem hoffnungslos daniederliegenden Mädchen die Hand. Und siehe da – plötzlich litt es keine Schmerzen mehr. Bis es starb, mußte Markus bei ihm bleiben, denn es bat in einem fort: ‚Markus, halte mich, das thut so wohl.‘ Und das Mädchen, das ihn sonst immer gefürchtet hatte, sagte, wenn es wieder gesund und etwas älter geworden wäre, so müßte Markus sein Bräutigam werden. Nun frage ich: Ist das nicht wunderbar, ist das nicht die Macht des Camogaskers?“
„Und die Geschichte ist wahr,“ sagt wieder einer, „ich erinnere mich ganz gut daran, der Stillständer ist ja ein Vetter zu mir.“
Das Gemach Cilgias hatte sich inzwischen mit weiteren Gästen gefüllt, welchen sie aufwarten mußte; überall war frohes Getäfel, Plaudern und Lachen.
Mitten in ihrer vielfältigen Thätigkeit verließ aber Cilgia der Gedanke an das, was sie am Tisch der schwarzen Pia über Markus Paltram gehört hatte, nicht wieder.
Wohl sagt sie sich: die Geschichten von Markus Paltram sind ja trotz aller Versicherungen der Erzähler erfunden. Aber seit Fetan kennt auch sie die dunkle Wucht seines Wesens und den Reiz seines geheimnisvollen Auges. – Wie er so eigenartig gesagt hat: „Wohlan, Fräulein, um Euretwillen,“ ist ihr gewesen, wie wenn ihr jemand ein unsichtbares Netz übergeworfen hätte, das sie abschütteln müsse.
Wer ist denn Markus Paltram? Aus dem Gespräch der Männer weiß sie es: der Sohn einer Wildheuerin und – sieht man [590] von der tollen Camogaskersage ab – der eines beschränkten Küfers. Ein junger Handwerker ist er, ohne Werkstatt und Arbeit.
„Ich aber bin Cilgia Premont, die Tochter eines Podesta.“
Mit einem Ruck hob sie den stolzen Kopf. Da summte ihr die Rede Konradins von Flugi neu durchs Ohr: Die Wiedergeburt des Engadins muß von Einem herbeigeführt werden, der – hau’ es, stech’ es – seinen Weg geht. Und die wachsen nur in der Tiefe – in den Hütten!
Und plötzlich fühlt sie: „Dieser Mann ist Markus Paltram – es giebt keinen andern außer ihm!“ Ihr ist, als ob eine Stimme in ihrem innersten Innern es schreie. „Nein, nein,“ wehrt sie sich, „was geht mich Markus Paltram an?“
Plötzlich hört sie die aufkreischenden Worte der schwarzen Pia: „Der darf nicht in unser Haus – ich zerkratze ihn, wenn er kommt.“
Und der kleine Waldteufel sträubt sich wie eine Wildkatze. Jetzt richtet sie ihre zornigen Augen auf Cilgia selbst.
„Wenn uns der Pfarrer das zu leid thut, dann Fräulein – beiße ich Euch einmal, daß Ihr ewig an mich denkt!“
Cilgia muß hell herauslachen, der braune Wildling mit seinen Raubtieraugen ist so schön in seinem grenzenlosen Zorn.
Bald lockt indes vom Landsgemeindeplatz Tanzmusik, die lustig durch die Fenster hereindringt, und die Gäste verlieren sich aus dem Gemach – auch die Hornisse Pia mit ihrem Bruder.
„Ich wünsche Euch herzlich Glück in der weiten Welt!“ sagt Cilgia und giebt diesem die Hand.
Nun, die hellen Augen des Burschen bürgen dafür, daß es ihm nicht schlecht gehen wird. Fortunatus Lorsa und Menja Melcher kommen und holen auch Cilgia zum Tanz. Auf dem Landsgemeindeplatz wiegt sich bei den Klängen einer bäuerlichen Musik bald im Ringelreigen, bald in Paaren das junge Engadin. Um die Tanzenden steht ein dichter Ring und Knäuel von Zuschauern, aus den Fenstern des Plantapalastes schauen die alten würdigen Herren auf die Lustbarkeit, und über die Dachgiebxl der Nachbarhäuser blickt die Bernina, die sich im Abendsonnenstrahle rötet, auf das Völklein ihres Thales.
Ein Kreis von Bänken, die zum Ausruhen dienen, scheidet die Zuschauer von den Tanzenden. Dort sitzen eben Cilgia und Menja in einem Kranz von Gespielinnen, welche die Scheu vor der Fremden abgelegt haben.
Cilgia fühlt sich heimisch und glücklich.
Da lachte die zierliche Menja: „Seht, dort im Fenster links hin stehen mein Vater und der Herr Pfarrer, Euer Onkel – gewiß erzählt er ihm von Mals, sie reden so ernsthaft – schaut, Euer Onkel hat ja einen ganz roten Kopf.“
Auch Cilgia erglüht nun so heiß, daß sich Menja auf die Lippen beißt und denkt, sie habe wohl eine Thorheit gesagt.
Zum Glück kommt gerade Fortunatus Lorsa mit seinen Freunden, die Mädchen zum Tanze zu holen. Cilgia liebt den Reigen, sie liebt alles, was die Kräfte spannt, und ist die anmutigste und begehrteste Tänzerin im Kreis.
Sie tanzt eben mit Konradin von Flugi, der ein herzlich schlechter Partner ist, und die Furcht, mit dem ungelenken Jüngling, den sie sonst wohl leiden mag, eine unansehnliche Figur zu machen, beengt sie.
Und jetzt sieht sie unter den vordersten Zuschauern Markus Paltram, der seine blauschwarzen Augen auf sie geheftet hält.
Ihr ist, als ob ein höhnisches Lächeln über seine Lippen gehen müsse; aber wie sie mit Konradin einmal ganz nahe an ihm vorübergleitet, sieht sie in seinen Augen nichts als ein großes, zitterndes Verlangen.
„Er wagt es nicht, mich um einen Tanz zu fragen, er tanzt aber auch mit keiner andern.“ Der Gedanke gefällt ihr, sie will sich ihm dankbar erweisen, und er ist so wohlgekleidet, sieht so gut aus, daß sie sich mit ihm recht gut im Ring zeigen darf. Sie erliegt dem geheimnisvollen Reiz: wie das alte komische Musik- und Tanzmeisterlein ruft: „Die Mädchen wählen!“ überwindet sie das Bedenken und knixt zur großen Ueberraschung ihrer jungen Freunde mit ihrer vollen Anmut vor einem Burschen, den sie nicht kennen.
Markus Paltram zögert einen Herzschlag lang – dann läuft ein Glücksstrahl über sein Gesicht, und nun wiegen sie sich in den Klängen der warmen Musik. Einige Leute aber drehen die Köpfe nach ihnen und fragen verwundert: „Wie kommt der Camogasker zu dieser Ehre?“
„Mit Euch geht es besser als mit Herrn Konradin,“ sagte Cilgia schon nach ein paar Takten, und er sah zwischen frischen Lippen ihre weißen Zähne fröhlich blitzen.
Sie fand in seinen Zügen auch plötzlich das nicht mehr, was sie wie eine Warnung, wie eine rätselhafte Scheu von ihm abgestoßen hatte, sondern mit dem Gefühl der Sicherheit und erhöhten Lebens glitt sie an seiner Seite dahin; doch spürte sie es, wie er sie im leichten Tanz je länger desto fester an seine Brust zog, sein heißer Atem streifte sie, und plötzlich sah sie in seinen Augen wieder ein Funkeln, vor dem sie erbangte.
„Nicht zu wild,“ flüsterte sie; als er aber ihrem Wunsche augenblicklich nachgab, da bereute sie ihre Mahnung fast.
So hatte sie noch nie getanzt, an seiner Seite hatte das Spiel eine hinreißende Macht, es war ein Fordern und Nachgeben, ein Jneinanderrinnen der Bewegungen wie ein Lied und mehr, unendlich mehr als ein fröhlicher Kinderreigen.
Einmal flüsterte Markus Paltram: „Einen solchen Dank habe ich mir damals zu Fetan gewünscht. Aber habt Ihr auch bedacht, Fräulein, wie gefährlich es ist, daß wir hier tanzen?“
„Gefährlich?“ fragte sie.
„Die Geschichte von dem geflüchteten Tiroler geht um.“
Sie wußte aber in diesem Augenblick kaum etwas, als daß sie in ein glückstrahlendes Gesicht geschaut hatte, und mit glühendem Gesicht, mit wogender Brust erwiderte sie: „Es geht jetzt doch rasch zu Ende. Holt mich auch zu einem Tanz, Paltram. – Ihr versteht Euch auf den Reigen ja so gut!“
Da lockten die Geigen wieder, der letzte Tanz in blauer Abenddämmerung war da, und nun kam Markus Paltram und erbat sich ihn. Rings um sie her wogten die Paare, selbst die braune Pia, der Waldteufel, drehte sich mit ihrem Bruder in der Runde, und wieder mahnte Cilgia ihren feurigen Partner: „Nicht zu wild!“
Plötzlich aber sagte sie: „Seht, dort ist ein Streit!“ – Ein Dutzend Bursche hatten sich am Rand des Tanzplatzes um den schwarzen Pejder Golzi, den fahrenden Glockengießer, geknäuelt und schrieen: „Haut ihn, werft ihn zu Boden, er hat einen Tiroler Spion geführt!“
Neben dem Hauderer stand die Alte mit dem Kopf, der wie ein hautüberzogener Totenschädel aussah, und kreischte:
„Die dort wissen es, wer ihn geführt hat – wir nicht!“ Und sie wies mit ihrem langen dürren Arm und mit bösem Blick auf Markus Paltram und lenkte und zog den Knäuel in die Tanzenden. Ehe sie sich’s versahen, standen Cilgia und Paltram in seiner Mitte, und das Aufhören des Reigens vermehrte die Verwirrung.
„Ja, der Camogasker – dem ist alles zuzutrauen! Schlagt ihn tot! Um den ist’s kein Schade!“ So erheben sich Stimmen.
Und die alte Wahrsagerin zetert am meisten gegen Markus Paltram und hetzt mit hexenhaftem Gekreisch. Die Stimmen schwirren ringsum und die Fäuste heben sich. Den Zornigen steht nichts mehr als die Gestalt Cilgias im Weg.
Paltram hat sie losgelassen – er weicht einige Schritte zurück, senkt den Kopf wie ein Stier, der auf seine Angreifer losgehen will, legt die Ellbogen an die Hüften, ballt die Fäuste, und die rollenden, funkelnden Augen, deren Weiß gespenstisch aufblinkt, suchen das erste Opfer.
Ein paar Mädchen, die in der Nähe stehen, schreien auf vor Entsetzen über die grausame, keuchende Wildheit im Gesicht des Burschen. Ein Unglück steht bevor.
Da faßt plötzlich Cilgia ihren Tänzer am Handgelenk: „Ruhig, Markus Paltram – mir zuliebe!“
Sie stellt sich, ihn mit der einen Hand zurückhaltend, so vor ihn, daß sie ihm den Rücken zuwendet, und sagt zu den Leuten: „Ich bin die Schuldige – ich schäme mich nicht. Wenn ihr schlagen wollt, so schlagt zu – ich stehe ja da!“
Ihre Brust wogt, sie ist blaß zum Verscheiden, aber ihre Augen sind hell und ihre tiefe, wohltönende Stimme besitzt Kraft genug, daß man sie ziemlich weithin hört.
Wer will in ein so bildschönes Gesicht und zwei so strahlende Augen schlagen?
Eine Verwirrung entsteht, die Angreifer sind unschlüssig, Gelächter ertönt: „Schaut – schaut! – Die schöne Podestatochter [591] von Puschlav und Paltram, der Camogasker! – Wie kommen denn die zusammen?“
Der Augenblick hat genügt, daß sich die jungen Freunde schützend um Cilgia sammelten. Lorsa scheint nicht übel Lust zu haben, seinerseits die Feindseligkeiten zu eröffnen, und eine Stimme ruft: „Das ist ja klar, die Herrenbuben helfen dem Herrenkind!“ Viele, die im Kreis herumstehen, wissen auch nicht, worum es sich handelt, sie sind wütend, daß die Landsgemeinde mit einem Streit geschändet werden soll, und machen sich ihrerseits bereit, über den ersten herzufallen, der einen Streich führt.
So steht Cilgia eine lange, bange Minute vor hundert Augen, Paltram, wie einen blutdürstigen Tiger, den man zähmen will, an der Hand.
Und überraschend – er folgt dem leichten, zitternden Spiel ihrer Hand und verbeißt seine schäumende Wut.
„Der Landammann. – Der Landammann!“ – Vor dem alten, achtunggebietenden Herrn legt sich die Bewegung. „Narrheiten, ihr Leute – he, Musik, noch einen schönen Tanz – jawohl – jawohl, an einer Landsgemeinde streiten wollen! – Ihr aber, Fräulein, und Ihr, Paltram, folgt mir!“
Die Musik spielt.
Die Haudererleute haben die allgemeine Verwirrung benutzt, um sich zu flüchten; aber Pejder Golzi ist zurückgebracht worden zu einem Verhör im Plantahaus, wo bereits der Landammann mit den Gerichtsherren, Cilgia und Paltram sitzen. – Auf die Frage des Landammanns begann nun der halb scheue, halb freche Mann zu erzählen:
„Wir flicken in Strada bei Martinsbruck, wo wir daheim sind, allerlei Lederzeug für die Soldaten und horchen auf die Schlacht. Wir haben den ganzen Tag noch keine Soldaten gesehen, da brechen plötzlich jenseit des Inns fünf Tiroler hervor – stutzen – einer wirft sich in den Inn, die andern ihm nach, ein Dutzend Franzosen kommen auch aus dem Wald, schießen auf die Schwimmenden und alle versinken vor unserm Blick. – So meinen wir wenigstens. Und die Franzosen sind wieder fort. Da bellt der Hund so stark. Wir schauen nach – ein Tiroler liegt unterhalb des Dörfchens am Ufer. Er stöhnt: „Rettet mich – mein Vater, der reiche Lorenz Gruber aus dem Suldenthal, wird es euch vergelten.“
„Der reiche Lorenz Gruber aus dem Suldenthal?“ – Der Landammann und die Gerichtsherren spitzen bei diesem Namen die Ohren und schwatzen leise.
Der Hauderer aber fährt hastig fort: „Gewiß haben wir ihn nicht wegen dem Geld, das er aus der Tasche klaubt, auf den Wagen genommen, nein, weil mir mein Weib mit viel Worten von christlicher Barmherzigkeit den Kopf vollgemacht hat. Unter den Kindern haben wir ihn versteckt und sind bis nach Fetan gekommen, der Weg und die Angst haben uns aber so müde gemacht, daß wir ihn dort abgeladen haben. Das weiß die da.“
Damit zeigte der Kuhglockengießer auf Cilgia und fragte mit verdächtiger Demut: „Darf ich jetzt wieder gehen?“
„Das drängt nicht,“ versetzte der Landammann trocken.
Cilgia sitzt in glühender Scham auf ihrem Stuhl vor den Herren und fühlt den Blick des Pfarrers, der wie sich wärmend am kalten Ofen steht, in Vorwurf, in großer Sorge und herzlicher Teilnahme auf sich gerichtet.
Er weiß von Melcher aus wohl schon alles.
Die Gerichtsherren reden leise zusammen; es scheint Cilgia, als habe der Name Lorenz Gruber der Geschichte ein neues Gesicht gegeben, sie aber denkt mit heimlichem Verdruß: Jetzt ist der Geborgene nicht einmal ein Armer! Neben ihr steht mit zusammengezogenen Brauen Markus Paltram.
Da pocht es; auf das „Herein“ des Landammanns tritt sein Gegner, der Großviehhändler Melcher, ein frischer Vierziger, in den Saal und spricht:
„Ich glaube, ich kann den Herren, die hier sitzen, eine Sorge abnehmen. Als mir mein Töchterchen Menja erzählte, was vorgefallen ist, war ich eben mit meinem Freund Casparis von Thusis, den wir alle als einen zuverlässigen Mann kennen, in der ‚Krone‘. Er berichtet, daß gestern morgen der französische Gesandte abgereist ist. Er hat ihn selber mit drei Fuhrwerken Kisten und Schachteln fortfahren sehen. Und seine Stelle wird vorläufig nicht wieder besetzt, da sie mit dem Abzug Lecourbes ihre Wichtigkeit für die französische Regierung verloren hat.“
„Wir danken Euch, Melcher,“ sagt der Landammann kühl und höflich, „die Mitteilung ist wertvoll. Wir brauchen uns jetzt mit der Angelegenheit amtlich nicht weiter zu befassen, denn wo voraussichtlich kein Kläger ist, ist kein Richter.“ Und zu Pejder Golzi: „So, jetzt könnt Ihr gehen.“
Da flüchtete sich der Hauderer über Kopf und Hals.
Den Gerichtsherren aber sah man es wohl an, wie ihnen mit dem Bericht Melchers ein Stein vom Herzen gefallen war. Man war aus der furchtbaren Zwangslage befreit, eigene Angehörige, die man im innersten Selbst nicht verurteilte, unter dem Druck einer fremden Macht zur Rechenschaft zu ziehen, ja einen gewissen vorgreifenden Eifer zu heucheln, damit nicht das ganze Thal wegen Neutralitätsbruch in empfindliche Strafe gerate.
Cilgia Premont und Markus Paltram wurden in Gnaden, ja mit bewunderndem Lächeln entlassen.
Die Frühlingsdämmerung war eingebrochen und das Volk wandte sich, als es noch rasch den befriedigenden Ausgang des Vorfalls gehört, seinen Heimatsorten zu. – Die Namen Cilgia Premonts und Markus Paltrams liefen, zusammengekettet durch das Ruhmgeschmeide einer kühnen That, mit den Heimkehrenden auf den Straßen des Oberengadins. – –
Im Schein der Frühlingssterne, die über den Scheitel der blaßschimmernden Bernina zogen, ritt Pfarrer Taß mit seiner Nichte heimwärts. Es wollte ihn kränken, daß ihn Cilgia nicht gleich bei ihrer Ankunft ins Vertrauen gezogen hatte, aber es war mit dem Mädchen nichts anzufangen. Auch zwang ihn die Kraft, mit der sie geschwiegen hatte, zu großer Achtung vor ihr: sie war doch eine echte Bündnernatur – eine von den Frauen, die stehen und schweigen können wie der Fels des Hochgebirges!
Sie hatte ein Erlebnis, eine That hinter sich!
Und der sonst so stillfröhliche Pfarrer Taß seufzte. – Sein eigenes ruhiges Leben kam ihm wie ein langer Traumwandel vor.
Er suchte im Reiten Cilgias Gesicht zu erkennen, aber er sah in der Dunkelheit nur unsichere Umrisse.
In seinem einsamen Leben war die frische Gestalt ein später Sonnenstrahl, und doch fühlte er ihr rotblütiges, heißes Wesen auch wie eine Bürde der Sorge. Gehen so hoffnungsreiche Menschenkinder nicht den härtesten Weg und brechen sie sich, nachdem sie alle Hindernisse überstiegen, zuletzt nicht doch die Flügel?
In der Ferne ertönten die Freudenjauchzer heimkehrender Bursche.
Da fand auch der Pfarrer seinen herzlichen heitern Ton wieder:
„Kind – Kind – was sind das für Geschichten! – Ja, a Porta hat recht damit, was er über dich sagt.“
„Was sagt er denn?“
„Du seiest eine von denen, die man nie ganz ergründet – deine harmlose Schelmerei und Fröhlichkeit sei bei dir nur der Werktag; du habest aber für dich immer noch einen Sonntag von Gedanken, und die fliegen so hoch und so tief, daß man einen stillen Kummer um dich nie ganz los werde.“
„Das hat a Porta, mein verehrter Lehrer, sehr hübsch gesagt,“ versetzte Cilgia mit einem Anflug von Spott.
„Und wenn nun Sigismund Gruber, euer Flüchtling aus Tirol, als Freier zu dir kommt, was sagst du ihm, Cilgia?“
„Ich kann noch keinen Freier brauchen,“ lachte sie voll Mädchenübermut.
„Der junge Gruber kommt aber – Melcher sagt’s. – In aller Not hat er sich zu Fetan in deine Augenlichter verschossen, und der Alte ist nicht dagegen, denn er hat deinen Vater gekannt.“
Cilgia schwieg eine Weile, dann sagte sie nachdenklich und warm: „Gott sei Dank, daß die Last des Geheimnisses von mir genommen ist! – Ich fürchte aber, Onkel, daß ich mit einem Mann nicht glücklich würde, den ich um sein Leben habe winseln sehen. Ich habe so wunderliche Vorstellungen von der Liebe. Ich meine, ich sollte zu einem Mann emporsehen können wie zu einem Berg, und es müßte von ihm Firneschein ausgehen für mich und viele. Dann könnte ich ihn lieben und ihm dienen wie eine Magd – ja ich fürchte, ihn liebte ich nur zu sehr!“
Die Lichter von Pontresina schimmerten und die Pferde hielten vor dem Pfarrhaus von selber an.
„Gott mit der Landsgemeinde und allen, die daran teilgenommen haben!“ sprach der Pfarrer.
(Fortsetzung folgt.)
Die Allgemeine deutsche Sportausstellung in München.
Das hübsche Ausstellungsgebäude auf der sogenannten Kohleninsel in München, welches im Vorjahre erbaut wurde, um die Fortschritte der Technik auf dem Gebiete der Kraft- und Arbeitsmaschinen zu zeigen, dient heuer den Zwecken der Allgemeinen deutschen Sportausstellung. Die Bevölkerung, sowie die Gäste der Stadt bekunden hierfür ein sehr großes Interesse, denn irgend ein Sport wird heute in allen Kreisen getrieben, aktiv oder mindestens passiv, da es sich hierbei um etwas handelt, das jeder zu erfassen, wenn auch nicht zu üben vermag. Schon der Eintritt in die Halle läßt Dinge ersehen, die auch ohne Katalog kenntlich sind. Der große Vorplatz, an dessen Seiten die Kassen, Bureaus und Garderoben, sowie ein paar Eingänge zu kleineren Ausstellungsabteilungen sich befinden, ist sehr hübsch mit Sportsemblemen ausgestattet; den Mittelpunkt nimmt die nebenstehend abgebildete voll aufgetakelte Segeljacht ein, deren eleganter und zierlicher Bau allgemein bewundert wird; sie versinnbildlicht in einfacher Weise den Charakter der Ausstellung.
Ein paar Stufen führen von hier in die erste Abteilung der Ausstellung hinab, die sich schon im farbenreichen Bilde darstellt. Es ist die Jagd, welche die Beschauer wohl am meisten fesselt; denn auf einer künstlich aufgebauten Felsgruppe, an die sich ein Wiesengrund und ein kleiner See anschließen, sind alle möglichen jagdbaren Tiere Deutschlands ausgestopft in naturgetreuen Stellungen zu sehen. Hoch oben bemerkt man ein paar prächtige Gemsen, in ihrer Nachbarschaft den mächtigen Steinadler samt seiner räuberischen Verwandtschaft; zwischen den Felsspalten treiben sich Murmeltiere herum; wo der Grashang beginnt, schreitet der Edelhirsch mit seiner Gefährtin, weiter davon weg sieht man äsendes Rehwild, und unten nahe am See wetzt ein borstiger Eber seine Hauer am Gestein. Auf der Fläche des Sees, in dem sich lebende Forellen tummeln, schwimmen Enten, Möwen, Taucher und Sumpfgeflügel aller Art; hinter dem See auf Legföhren zeigen sich Auerhahn und Spielhahn in ihrem liebestrunkenen Gebaren. Um das Wassergeflügel schleicht der lüsterne Fuchs mit seiner schnell erwischten Beute im Rachen, vor seiner Erdhöhle steht der träge Dachs, und in einer Ecke sind sogar zwei Wölfe beschäftigt, ein harmloses Lamm zu zerreißen. An der Grenze dieses „Jagdterritoriums“ befindet sich (links auf unserem untenstehenden Bilde) eine Jagdhütte ältester Art, wie sie vor einem halben Jahrhundert noch dem Jäger genügte; dieselbe zeigt keine andere Einrichtung als ein einfaches Heulager und einen aus Steinen
[593] errichteten Kochherd mit offenem Feuer, während die gegenüber sichtbare Jagdhütte, ein Erzeugnis der Neuzeit, alle Bequemlichkeiten aufweist, die ein Weidmann für seines Leibes Notdurft nur wünschen mag. Gleich in der Nähe befindet sich das lebensgroße Standbild des Prinzregenten Luitpold im Kostüm eines Hochgebirgsjägers; ein großes Gemälde seitwärts stellt Kaiser Wilhelm II in Jagdgala dar. Reiche Geweihsammlungen und Jagdtrophäen aller Art ergötzen das Auge des Jägers und des Laien; daß hier auch das Beste an Waffen und Jagdgeräten in größter Auswahl vorhanden ist, versteht sich von selbst. Neben der Jagd nimmt die Fischerei einen großen Platz in Ansprucb, um alles in ihrem Gebiete Sehenswerte und Nützliche zu zeigen: das Publikum fühlt sich am meisten angezogen durch eine Anzahl lebender Edelfische, unter denen sich wahrhaft herrliche Exemplare befinden. In der westlichen Ecke der ersten Abteilung hat die Münchener Armbrustschützengesellschaft „Wintzerer Fähndlein“ ausgestellt, die das „Stachelschießen“ nach altem Herkommen betreibt.
Die zweite große Abteilung füllt der Fahrradsport. In erster Reihe sind es die Maschinen aller Systeme, welche zu Hunderten dem Sportsmann Gelegenheit geben, Konstruktion und Eigenart derselben zu prüfen und auf Grund praktischer Erfahrung zu vergleichen. Aber auch alles andere, was der Radfahrer zu seiner Ausrüstung benötigt, ist in verschiedenster Bearbeitung zu sehen. Den Abschluß dieser Abteilung bildet eine hübsche von unserm Maler nebenstehend wiedergegebene Dekoration, welche die ideale und praktische Seite des Radfahrsportes vergegenwärtigt. Ein Bauernhäuschen, das sich an einen felsigen Hintergrund anlehnt und ein „Bildstöckl“ im Vordergrund deuten wohl auf einen Ausflug in das herrliche Oberland. Verschiedene Radfahrer und Radfahrerinnen, sportsmäßig gekleidete Figuren, geben ihrer durch das Erreichen des Ziels gehobenen Stimmung Ausdruck. Eine reizende Radlerin, ganz in Weiß, steckt eben einen Blumenstrauß an das Bildstöckl, eine andere ist zur Felsplatte aufgestiegen, um dort ihren Namen zu verewigen; ein älterer Radler sitzt mit einer jüngeren Radlerin vor dem Bauernhäuschen und läßt sich ein Schöpplein schmecken, oben auf der Laube bemüht sich ein offenbar nicht so ermüdeter Fahrer um die Gunst einer hübschen Gebirglerin. Die Gruppe bietet ein hübsches, farbenreiches Bild, durch welches der Zweck der Aussteller – Maschinen und Kostüme zu empfehlen und Lust zum Sport zu erwecken – sicher erreicht werden dürfte.
Ein weiteres, man darf sagen großartiges Dekorationsstück befindet sich in der dritten Hauptabteilung, welche dem alpinen Sport überlassen wurde. Es ist dies ein von verschiedenen Künstlern hergestelltes Gebirgspanorama, die sogenannte „Blaue Gumpe“ auf dem Wettersteingebiete. Die Phantasie der Künstler hat als Eingang zu diesem Schaustück einen originellen Aufstieg ersonnen, dessen Anfang unser nebenstehendes Bild unten zeigt.
Zwischen zwei mächtigen Felswänden führt in enger Windung ein sogenannter Prügelweg zur Höhe des Plateaus, von dem aus sich ein Blick auf das Panorama eröffnet. An der linkseitigen Felswand, die in großen Buchstaben die Bezeichnung „Bergsport“ aufweist, ist eine Wegtafel angebracht; sie trägt die Inschrift „Zur Angerhütte – Zur Knorrhütte – Zum Münchnerhaus“ – das sind die Stationen des Weges, welcher zur Zugspitze führt. Oben gelangt der Wanderer zur Aussicht der „Blauen Gumpe“. Es ist das ein kleiner Bergsee von tiefblauer Farbe, der in einem wildromantischen Hochthale gelegen ist, wie es sich im oberen Teile unseres Bildes darstellt. Das herrlich gemalte Panorama wird gegen den Standpunkt des Beschauers zu allmählich plastisch, so daß man ein wirkliches Stück Hochgebirgsromantik vor sich zu haben glaubt, denn hier rieselt das Wasser durch chaotisch angehäuftes Gestein, daneben am seitlichen Hang kriechen verkrüppelte [594] Bergföhren auf dem Felsboden und dazwischen leuchten die Blüten der Alpenrosen hernieder! Eine Fortsetzung der künstlichen Felsschlucht führt von diesem Platze weg in die Ausstellungsräume zurück. Der prächtige Hintergrund ist von Zeno Diemer gemalt; an der plastischen und dekorativen Ausgestaltung haben sich außerdem die Künstler Leopold Schoenchen, E. T. und E. H. Compton, O. Erich Engel und H. B. Wieland beteiligt. Hinter diesem Panorama befindet sich die eigentliche alpine Ausstellung, in welcher die prächtigen Reliefkarten von Südbayern und von Tirol am meisten Bewunderer finden. Alpine Gebrauchsgegenstände aller Art fesseln nicht minder die Aufmerksamkeit aller derer, welche mit der Wanderung in den Bergen irgendwie zu thun haben oder eine solche beabsichtigen.
Von hier aus betritt man die Halle, welche für Turnen, Fechten und sportliche Spiele bestimmt ist; der Rudersport ist in einem eigenen Seitengebäude untergebracht, und hier nehmen die Modelle der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger die Aufmerksamkeit der Besucher vor allem in Anspruch. Nun wären noch die Seitenflügel und Galerien des Ausstellungsgebäudes zu besuchen. Es sind dort Plätze für Luftschiffahrt, Sammelsport, Amateurphotographie und die Koststellen untergebracht; in einem Seitenflügel sind die praktischen Erfahrungen in der Pferdehaltung dargestellt. Ein Stall für die neuesten Ungetüme, die Automobile, befindet sich seitlich vom Hauptgebäude.
Aber genug der Schilderung! Denn auch der gewissenhafteste Besucher der Sportausstellung wird mit einem Male nicht fertig und ist nach kurzer Zeit genötigt, sich in dem herrlichen Gartenrestaurant ein wenig Erholung zu gönnen, wobei ihm das bunte Treiben der Menge, die wechselnden Scenen bei Ballon- und Wasserfahrten und das Konzert die Zeit in gewiß angenehmer Weise kürzen werden.
Der Einfluß des Atlantischen Oceans auf das Klima von Europa.
Wenn man eine Weltkarte zur Hand nimmt und studiert, so erkennt man bald, daß es keinen Teil der Erde giebt, der so hoch nach Norden hinauf bewohnbar ist und kultiviert wird wie Europa, besonders in seinen nordwestlichen Teilen. Die Häfen der norwegischen Küste bis zum hohen Norden sind auch zur Winterszeit zugänglich und in den tief ins Land eindringenden schmalen, von schroffen Felsen umrahmten Buchten, den sogenannten Fjorden, ist es im Januar nicht wesentlich kälter als unmittelbar an der Küste. Im westlichen Norwegen kommt unter 66° nördlicher Breite noch die Kirsche zur Reife, und Gerste wird bis 70° nördlicher Breite gebaut, selbst Blumenkohl gedeiht dort noch in dieser hohen nördlichen Gegend. Thorshaven auf den Faröern hat durchschnittlich einen milderen Januar als Venedig, aber freilich auch weit mehr Bewölkung und trübe Tage mit Regen.
Wenden wir uns jedoch nach der amerikanischen Seite des Atlantischen Oceans, so finden wir ganz entgegengesetzte Verhältnisse.
Dort ist selbst in Gegenden, die 1000 km südlicher liegen, in den Regionen um die Hudsonsbai, in der nämlichen geographischen Breite wie Edinburgh in Schottland, der Boden zur Winterszeit bis auf 5 m Tiefe gefroren und taut auch im Sommer nur wenig über 1 m auf. Im Frühling und Herbst giebt es daselbst häufig nasse Nebel, im Winter aber ist die Luft mit Milliarden Eisnadeln angefüllt, die aus gefrorenem Wasserdampf bestehen und leuchtende Ringe um Sonne und Mond erzeugen. Die Sonne, so schildert der Engländer J. Ellis, erhebt sich dort und sinkt in einer breiten Kugel von gelbem Lichte, und kaum ist sie gesunken, so erfüllt das Nordlicht die ganze Wölbung des Himmels mit tausendfarbigen Strahlen. In Labrador, unter der nämlichen geographischen Breite wie Schottland, beginnt der Winter schon anfangs Oktober, und erst im Mai kommen einzelne frostfreie Nächte vor. Dann hebt der kurze Frühling an, aber erst Ende Juni wird die Küste eisfrei. Im Juli und August steigt dafür die Temperatur bisweilen bis zu unerträglicher Hitze, aber nach wenigen Stunden sinkt sie auch fast auf den Gefrierpunkt, wenn Treibeis an der Küste liegt. Anfangs Oktober beginnt wieder der Winter und sogleich mit großer Strenge; im November kommen schon 25° bis 30° Cels. Kälte vor und später sogar –40°. Das Meer bedeckt sich meilenweit hinaus mit 3 bis 4 m dickem Eise. Quebecks „eisbedeckte Wälder“ aber liegen noch 100 Meilen südlicher als diese Gegenden!
Nordwärts treffen wir in Nordamerika auf noch ungastlichere Regionen. Während in Norwegen unter dem Polarkreise noch Gemüsezucht getrieben wird, durchschneiden diesen Kreis in Amerika jene furchtbaren Eiseinöden, in welchen die ganze Franklin-Expedition durch Hunger und Kälte ihren Untergang fand. Unter den nämlichen Breitengraden ist sogar Grönland völlig von einem zusammenhängenden Eispanzer bedeckt. Die einzigen Menschen, welche über diesen grönländischen Eispanzer je gewandert sind, Nansen und seine Begleiter, fanden seine Oberfläche glatt wie einen Spiegel, ohne andere Spuren als die, welche ihre Füße hinterließen. Die Oberfläche dieser ungeheuren Eiskappe war mit Schnee bedeckt, ohne Staub oder Schmutz oder Gestein. Ob unter diesem glatten Eispanzer, über welchem Luft von 40° Kälte in rasendem Sturme gepeitscht wird, Bergland oder flache Ebene begraben liegt, weiß niemand, ebensowenig wie dick die Eispanzerung ist, noch seit wie vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden sie auf dem Lande dort ruht.
Die gleiche Herrschaft der Kälte und des Todes wie in den arktischen Gegenden Amerikas finden wir auch in Nordasien, im nördlichen Sibirien. Die Temperatur sinkt dort häufig unter –40°, und das Quecksilber im Thermometer bleibt monatelang gefroren. Dazu kommen die furchtbaren Schneestürme. „Wer es nicht selbst erlebt hat,“ erzählt Baron von Middendorff, „hat keinen Begriff von der unwiderstehlichen Gewalt, mit welcher der Sturmwind in seiner äußersten Wut als Orkan über diese waldlosen, nordischen Ebenen dahinrast. Mit größter Anstrengung vermag man sich kaum auf den Beinen zu halten; statt von Luft wird man von Schneeteilen umwirbelt, welche aus allen möglichen Richtungen kommen. Der Ausdruck, daß man die Hand nicht vor den Augen sieht, ist viel zu schwach, denn das Peitschen der Schneeteile gestattet nicht, die Augen zu öffnen, es braust in den Ohren, ja man kämpft bisweilen mit der Furcht, zu ersticken, da der wütende Luftbrei das Atmen bedrängt. Man wird in dem unbegreiflichen, unwiderstehlichen Gewirr so irre, daß man nichts zu unterscheiden vermag und sich verirrt. Man geht wenige Schritte beim gesuchten Ziele vorbei, trotzdem es nichts geringeres als ein ganzes Haus ist, und man hört in dem betäubenden Toben weder Rufen noch Schreien.“ Baron Wrangel berichtet über das Klima von Nishnij Kolymsk, welches südlicher als Alten in Norwegen, dafür aber in Ostsibirien liegt, daß der volle Winter dort 9 Monate dauert. Im Januar steigt die Kälte bis auf –54°. Dann wird das Atmen schwer, das Wild zieht sich in das tiefste Dickicht der Wälder zurück und selbst der Schnee dampft. Kein Wunder, daß in Nordsibirien auf 100000 qkm Fläche keine menschliche Ansiedlung angetroffen wird.
Und nun vergleiche man mit diesen Regionen der Kälte und des Todes die unter den gleichen Breitengraden liegenden nordwesteuropäischen Gebiete, die Gestade Norwegens, wo im Winter im Meere wahre Ernten gehalten werden und im Dezember und Januar mehr als 40000 Menschen zusammenkommen, dem Fischfang obzuliegen, um alljährlich mehrere Millionen an Wert aus der See zu holen. Und gerade die Winterszeit ist es, in welcher dort das regste Leben sich entfaltet. In seinen „Wanderungen durch Norwegen und Schweden“ schildert Bechhold das Leben und Treiben an der norwegischen Küste jenseit des Polarkreises sehr lebendig. „Als ich,“ sagt er, „mit dem Dampfer zwischen den Lofoten durchfuhr, war ich erstaunt über die großen und zahlreichen Dörfer, die auf diesen kleinen, fast vegetationslosen [595] Inseln angesiedelt, aber nur während des Winters bevölkert sind. Gegen 30000 Fischer kommen zu dieser Jahreszeit in ihren großen Ruderbooten hingefahren, und der Landhändler, der den Sommer über ein ruhiges Leben führt, hat alle Hände voll zu thun: er verkauft Angelschnüre und vermittelt Wohnungen, ist gleichzeitig Postbeamter und Gastwirt. Eine Armee von Telegraphistinnen ist über die Inseln ausgebreitet, um mitzuteilen, wo der Dorsch aufgetreten ist, wie hoch er im Kurs steht, und alle Bedürfnisse für eine solche Menschenmasse eiligst zu beschaffen.“ Man sollte es kaum für möglich halten, daß dieses Leben und Treiben sich in Gegenden abspielt, die dem Nordpol hundert Meilen näher liegen als viele vereiste Regionen Amerikas und Nordasiens.
Diese überaus großen klimatischen Vorzüge verdankt Nordwesteuropa aber nicht lediglich dem Atlantischen Ocean als solchem, denn dieser bespült auch Labrador und Grönlands Küsten, sondern der eigentümlichen Cirkulation des Wassers in demselben und den Winden, die darüber wehen. Die ganze nordwestliche Küste Europas wird von einer mächtigen Strömung warmen Wassers bespült, die von der amerikanischen Seite her zwischen 40° und 50° nördlicher Breite den Atlantischen Ocean durchquert und zwischen dem Nordkap und Spitzbergen sich im Eismeer verliert. Ueber dieser Strömung im Wassermeere herrscht eine ähnliche im Luftmeere vor, die sich in warmen und feuchten Südwestwinden ausspricht, ja, diese Südwestwinde haben einen entscheidenden Anteil an dem Bestande der Warmwasserströmung im Meere. So genießt denn das nordwestliche Europa den Vorzug einer ungeheuren, natürlichen Luft- und Warmwasserheizung, die niemals aussetzt, und die Wärme, welche die Sonne über dem Atlantischen Ocean in der heißen Zone dem Meere und der Luft spendet, kommt ganz West- und Nordwesteuropa während des Winters zu gute. Ein Teil des warmen Wassers, welches Europas Küste umspült, entstammt dem sogenannten Golfstrom, der zwischen Cuba und der Halbinsel Florida aus dem Mexikanischen Meerbusen strömt. Früher glaubte man, daß sogar ausschließlich diese Wasser es seien, welche die europäische Nordwestküste erwärmten; allein die neuesten Untersuchungen haben gezeigt, daß eine weit bedeutendere Warmwasserströmung östlich von den westindischen Inseln sich mit dem Golfstrom vereinigt und beide Strömungen zusammen den Weg über den Atlantischen Ocean nach Europa nehmen. Die Luft über dieser in mächtiger Breite, wenngleich langsam fließenden Warmwasserschicht, strömt vorwaltend aus Südwest und bringt gleichfalls die Wärme der südlichen Regionen nach Nordosten, verbreitet sie also über ganz West- und Nordwesteuropa. Die Luft- und Meeresströmungen begünstigen demnach vereinigt unseren Erdteil und gewähren ihm klimatische Vorzüge, welche demselben nach seiner hohen nördlichen Lage allein nicht zukommen.
Indem nun aber Luft und Wasser von der europäischen Seite des Atlantischen Oceans gegen das nördliche Polarbecken hinströmen, wird notwendig auch ein Abströmen aus demselben stattfinden, da das Gleichgewicht der Meeresoberfläche und der Atmosphäre erhalten bleiben muß. Dieses Abströmen findet in der That statt, und zwar längs der amerikanischen Seite des Oceans. Betrachten wir allein die Strömung im Meere, so finden wir, daß aus den höchsten nördlichen Breiten eine ununterbrochene Drift stattfindet, welche Eisberge von gewaltiger Zahl zwischen Grönland und Spitzbergen und weiterhin zwischen Grönland und Island gegen die Labradorküste hinführt. Diese Eisdrift wird verstärkt durch eine andere, aus der Baffinsbai kommende und beide vereinigt, strömen auf die Bank von Neufundland zu, wo sie in Konflikt mit dem warmen Golfstrom geraten und unter diesen hinabsinken.
In den warmen Fluten schmelzen die riesigen Eisberge, welche der kalte Polarstrom mitbrachte, mit großer Schnelligkeit, ja sie explodieren förmlich, wobei die Schutt- und Gesteinsmassen, welche sie trugen, auf den Meeresboden fallen. Besonders im Spätfrühling und zu Anfang des Sommers ist die Zahl der Eisberge in der Nähe der großen Bank von Neufundland sehr beträchtlich, im Herbst nimmt sie ab und zur Winterszeit fehlen sie fast gänzlich, denn nunmehr ruht weiter oben alles in den Banden des grimmigsten Frostes. Die Schutt- und Gesteinsmassen, welche beim Schmelzen der Eisberge in der Höhe von Neufundland auf den Meeresboden fallen, sind es auch, welche im Laufe der Jahrtausende dort die unterseeischen Bänke gebildet haben. Nach Verlauf von unzähligen weiteren Jahrtausenden werden diese Bänke zuletzt als Klippen über den Meeresspiegel emporragen und der warme Golfstrom sowohl, als der die Eisberge bringende Polarstrom werden dann gezwungen sein, ihren Weg weiter ostwärts im Atlantischen Ocean zu nehmen.
Mit dem kalten Polarstrome kommen in jedem Frühjahre Walrosse und Eisbären bis zu den Küsten Neufundlands, also bis in Gegenden, die unter denselben Breitengraden liegen wie Paris oder Dresden. An der europäischen Küste, selbst im hohen Norden, sind dagegen Besuche von Eisbären unerhört. Wohl tummelt sich dieser Tiger des Nordens überall im Eismeer, wo Schollen schwimmen, aber niemals hat er noch die skandinavische Nordküste betreten, weil die warmen Fluten des Golfstromes diese umhüllen, und auch die großen Wale scheuen vor diesen wie vor einem Feuermeere zurück.
Die allgemeine Bedeutung des Golfstroms für das Klima Europas, besonders aber seine entscheidende Einwirkung auf die Milderung der Winterkälte in dem ganzen westlichen und nordwestlichen Teile unseres Erdteiles ist schon in den Zeiten von Humboldt und Dove deutlich erkannt worden. Eine andere Frage aber ist die, ob Veränderungen in der Laufrichtung, Ausbreitung und Temperatur dieser warmen Meeresströmung sich in den Witterungsverhältnissen unserer Gegenden deutlich kundgeben. In kühlen, nassen Sommern geht die Meinung des Publikums häufig dahin, es seien besonders viele und große Eismassen aus dem Polarmeere südwärts vorgedrungen und hätten die Wasserwärme des Atlantischen Oceans vermindert, wodurch dann weiter die Lufttemperatur in unseren Gegenden ungünstig beeinflußt worden sei. Diese Vorstellung ist in jedem Fall irrig. Denn wenn die größere Menge der Eisberge, welche die Polarströmung aus dem Norden herabbringt, die Lufttemperatur über Europa in gewissen Sommern verminderte, so würde dies in weit höherem Maße auch für Nordamerika der Fall sein müssen, während festgestellt ist, daß gerade kühle Sommer und warme Winter in Europa mit heißen Sommern und strengen Wintern in Nordamerika fast immer gleichzeitig auftreten. Dagegen kann man wohl die Frage aufwerfen, ob der Golfstrom und seine Ausläufer längs der europäischen Küsten zur gleichen Jahreszeit stets den gleichen Wärmevorrat enthalten, oder ob Schwankungen in der Wasserwärme stattfinden und diese Schwankungen sich in den Witterungsverhältnissen Nordwesteuropas bemerkbar machen.
Diese Frage ist in neuester Zeit von dem schwedischen Meteorologen Pettersson studiert worden und hat zu interessanten Ergebnissen geführt. Er untersuchte nämlich die Wärmeverteilung in den wärmeren Gebieten des Atlantischen Oceans gemäß den Beobachtungen an fünf Stationen, von denen zwei auf Island und die drei anderen auf den Faröern, Shetland und an der norwegischen Küste liegen. An jeder dieser Stationen sind während eines Zeitraums von 22 Jahren ununterbrochen Beobachtungen angestellt worden. Während dieses Zeitraumes war das Jahr 1888 im nordwestlichen Europa ungewöhnlich kalt, der Winter 1890 war dagegen außerordentlich mild. Es ergab sich nun bei Prüfung der Temperaturbeobachtungen der Meeresoberfläche, daß das Wasser des ganzen östlichen Hauptzweiges des Atlantischen Stromes im Jahre 1888 beträchtlich kälter als gewöhnlich war, im Winter 1890 dagegen erheblich wärmer, während der westliche Teil desselben 1888 wärmer, im Winter 1890 dagegen kälter erschien. Daraus folgt, daß der wärmere Teil des Golfstromes, sozusagen die Wärmeachse desselben, in gewissen Jahren bald näher, bald entfernter von der europäischen Küste verläuft, und zwar lag er näher der amerikanischen Seite während der Periode, da es in Nordwesteuropa kälter als gewöhnlich war. Daraus ersieht man auch, daß die Meinung, diese größere Kälte sei durch das Auftreten ungewöhnlich zahlreicher Eisberge bei Island verursacht, falsch ist, denn gerade damals trat der warme Wasserstrom in größerer Intensität in der Nähe von Island auf. Pettersson fand überhaupt, daß die Schwankungen des Golfstroms in seiner Richtung und Stärke mit dem Eintreffen von kalten und warmen Wintern in Nordeuropa zusammenfallen. Er untersuchte ferner die Temperatur der Nordsee im Februar 1894 [596] und 1895 und fand, daß die Wasser derselben an der Oberfläche im erstgenannten Jahre von der norwegischen Küste bis zum englischen Kanal mehr als 6° warm waren, im Februar 1895 war dagegen das wärmere Wasser nirgendwo über 6° und die ganze südliche Nordsee sogar von ungewöhnlich kaltem Wasser überflutet. In den Wintermonaten 1894 blieb aber das Wetter in allen skandinavischen Ländern sehr mild, während die entsprechenden Monate des Jahres 1895 sehr kalt waren.
Es giebt also auf dem Nordseegebiet bezüglich der Meerestemperatur warme, kalte und normale Winter, und wie Pettersson ferner fand, tritt der Charakter dieser Winter schon am Beginne der kalten Jahreszeit in der Wassertemperatur deutlich hervor. Wenn man daher genaue und umfassende Beobachtungen dieser Wassertemperatur nicht nur in der Nordsee, sondern auch im norwegischen Meere und im nordatlantischen Ocean anstellt, so wird man daraus schon im Dezember wichtige Schlüsse über den Charakter des kommenden Winters ziehen können. Diese Schlüsse werden um so sicherer sein, wenn der bevorstehende Winter ein extremer, also entweder ungewöhnlich kalt oder ungewöhnlich warm sein wird, also gerade in den Fällen, die vorauszuerkennen am wünschenswertesten ist.
Ein deutscher Meteorologe, Dr. Meinardus, hat die Untersuchungen des schwedischen Forschers noch ein Stück weiter geführt. Er fand u. a., daß die Durchschnittstemperatur des Januar und Februar in Berlin während des Zeitraums 1874–1896 mit Ausnahme von zwei Fällen dieselben Schwankungen zeigte wie die Wassertemperaturen an der norwegischen Küste. Ja noch mehr. Er fand auch, daß man mit großer Sicherheit die Temperaturverhältnisse der Monate Februar, März, April in Mitteleuropa, speciell im deutschen Küstengebiet, vorherbestimmen kann, wenn man die täglich in den Zeitungswetterberichten veröffentlichten Temperaturen der Station Christiansund (in Norwegen) in dem Vierteljahr November bis Januar zu Rate zieht.
Ist es dort wärmer als der gleiche Zeitraum des vorhergehenden Jahres, so wird in Mitteleuropa höchst wahrscheinlich der Zeitraum Februar–März und März–April auch wärmer sein als im Vorjahre. Das Gleiche gilt umgekehrt, wenn es in Christiansund kälter ist. Da aber die Lufttemperatur in Christiansund mit der Temperatur des dortigen Küstenwassers, also auch mit der des Golfstromes, in gleichem Sinne sich ändert, so kann man nach Meinardus allgemein sagen: „Einer hohen (resp. niedrigen) Temperatur des Golfstromes an der norwegischen Küste im Vorwinter (November bis Januar) folgt gewöhnlich eine hohe (resp. niedrige) Temperatur in Mitteleuropa im Nachwinter (Februar bis März) und Vorfrühling (März bis April).“
Das ist ein praktisch interessantes und wertvolles Ergebnis, und auf Grund desselben werden wir in den nächsten Jahren in der Lage sein, wenigstens im allgemeinen vorausbestimmen zu können, ob der Winter und der Vorfrühling besonders streng oder sehr mild ausfallen werden. Einzelheiten können natürlich auf diesem Wege nicht vorausgesagt werden, aber dies ist überhaupt auf längere Zeit hinaus bezüglich des Wetters unmöglich. Der mächtige Einfluß des Golfstromes auf das Klima Europas tritt gerade auch in diesen Aenderungen deutlich zu Tage und es wird nun Aufgabe der ferneren wissenschaftlichen Forschung sein, zu ermitteln, wodurch die Schwankungen in der Lage und Mächtigkeit dieser warmen Meeresströmung veranlaßt werden. Höchstwahrscheinlich haben wir die Ursache davon in der heißen Zone zu suchen, denn die Sonnenstrahlung ist es zuletzt allein, welche die Bewegungen auf der Erdoberfläche verursacht.
Zugesel, nicht Zughunde!
Friedrich Theodor Vischer hat in seinem trefflichen Buche „Auch Einer“ einem Manne ein schönes Denkmal gesetzt, der mit dem polternden Zorn eines alten Griesgrams und dem weichen Gemüt eines Kindes sein ganzes Leben hindurch gegen die „Tücke des Objekts“ einen aussichtslosen Kampf führt, den aber sein goldenes Herz über alle großen und kleinen Uebel dieser Welt hinwegbringt. Es ist kein Zufall, daß der Dichter den prächtigen Menschen als einen warmen Freund der Hunde hinstellt und diesen Zug seines Wesens immer wieder betont. Als „Auch Einer“ über den Gotthard geht und einen Hund keuchend den schweren Wagen den Berg hinaufschleppen sieht, da schenkt er dem Besitzer das Geld, sich einen Esel anzuschaffen, und ist glücklich, als er nach Jahren den Mann im Besitze eines Grautiers äußerst zufrieden wiederfindet.
Der Gedanke, den Zughund durch den Zugesel zu ersetzen, ist neuerdings vom Deutschen Tierschutzverein aufgenommen worden, und wie es scheint, dürfte es gelingen, ihn erfolgreich in die That umzusetzen.
Man geht dabei von der Ansicht aus, daß es eine Tierquälerei ist, den Hund zum Ziehen zu benutzen, da seine Körperbeschaffenheit und sein Temperament in keiner Weise zu einer solchen Arbeit geeignet sind. Das Zugtier muß einen festen, harten Fuß haben, der starken Druck ohne Schaden aushalten und außerdem noch gegen Reibung und Abnutzung durch einen Beschlag geschützt werden kann, wie das bei Pferd, Esel und Rind der Fall ist. Die Pfote des Hundes dagegen ist weich, vielteilig, zwischen den Zehen nur durch eine feine Haut gedeckt und äußerst empfindlich. Einen Beschlag verträgt sie nicht; bei starkem Druck werden die Zehen auseinandergepreßt, Scherben und Nägel können leicht eingetreten werden. Der hartgefrorene Boden im Winter reibt den Fuß schnell wund, das Salzwasser, das in den Straßen der Großstadt zur Beseitigung des Schnees dient, frißt sich in das Fleisch ein und verursacht quälende Schmerzen. Die Beinknochen des Hundes sind verhältnismäßig schwach. Er kann laufen und springen, ziehen ist ihm nicht natürlich. So kommt es, daß die meisten Zughunde bald fußkrank werden oder sich wider Willen und Begabung zu einer Art von Sohlengängern entwickeln, wie der Bär es ist. Das Rückgrat des Hundes ist schwach und beweglich, das der eigentlichen Zugtiere starr und stark. Sein Gang geht nicht geradeaus, sondern schräg seitwärts, „eigentümlich schief“, wie Brehm sagt; er ist also nicht in der Lage, sich mit voller Wucht ins Geschirr zu legen. Dazu kommt, daß er ursprünglich ein Raubtier ist, unstät, beweglich, flüchtig. Sein Temperament ist lebhaft, es ist gegen seine innerste Natur, im gleichmäßigen Zugschritt zu gehen. So zieht er denn auch gewöhnlich mit großem Ungestüm an und ermüdet sich schnell. Die kurze, fliegende Atmung wird durch den Druck des Geschirrs, durch die unpassende Arbeit oft bei großer Hitze ins Ungemessene zur Qual des Tieres gesteigert. „Jede unvernünftige, der Natur eines Tieres zuwiderlaufende Verwendung desselben,“ sagte Dr. A. Sondermann, kgl. bayr. Hofstabsveterinär, auf dem IX. internationalen Tierschutzkongreß zu Wien, „ist Mißbrauch, Tierquälerei. Der Mensch hat die Begabung, die Tiere nach ihren Eigenschaften und Kräften, nach ihrer Bauart für gewisse Zwecke abzurichten, gebrauchsfähig zu machen: er wird den Ochsen nicht zur Jagd gebrauchen wollen, das Pferd nicht als Wächter aufstellen und den Hund nicht als Zugtier verwenden.“
Nichtsdestoweniger ist in Deutschland und besonders im Norden der Hund noch immer das Zugtier des kleinen Mannes. Aber das soll und wird anders werden. Was in England möglich war, wo schon seit dem Jahre 1839 die Benutzung des Hundes als Zug- und Lasttier bei Strafen von 40 bis 100 Mark verboten ist, das muß auch in Deutschland möglich sein! Daß ein Ersatz für den Zughund sehr wohl zu beschaffen ist, lehrt wieder ein Blick auf England mit seinen little donkey-carts (kleinen Eselkarren), die man überall auf der Straße trifft, zeigt nicht minder ein Blick auf Italien. „Die Züchtung von Eseln,“ schreibt Mr. Colam, der Sekretär des Londoner Tierschutzvereins, „geschieht in allen Teilen Englands, vornehmlich an der Ostküste, in Schottland, Irland und Süd-Wales. Kräftige, gesunde Tiere kosten je 2 bis 5 Lstrl. (40 bis 100 Mark), ein gutes Geschirr etwa 2 Lstrl. (40 Mark) und ein guter Karren der landesüblichen Art 3 bis 4 Lstrl. (60 bis 80 Mark). Die Haltung der Tiere kostet da so gut wie nichts, wo sie auf die Weide gebracht werden und sich mit Nahrungsstoffen begnügen, die das Pferd verschmäht.“ Die Anschaffungskosten für Wagen und Geschirr sind also bei Esel- und Hundefuhrwerk ungefähr die gleichen. Dagegen scheint der Hund zunächst billiger zu sein, da er schon für 15 bis 50 Mark zu haben ist. Diese Wohlfeilheit ist aber in der That nur scheinbar, denn während der Hund durchschnittlich sechs Jahre arbeitsfähig bleibt, erreicht der Esel bei vernünftiger Behandlung bequem eine Dienstzeit von zwanzig Jahren. Dabei ist seine Leistungsfähigkeit mindestens dreimal so groß wie die des Hundes. Auch versagt er weder bei Kälte noch bei Hitze, wie dies beim Hunde öfters der Fall ist. Krankheiten und Hufschäden kommen bei ihm fast nie vor. Allerdings muß er beschlagen werden, dafür ist er aber auch nicht dienstuntauglich wie der oft fußkranke Hund. Ferner ist bei der Preisfrage auch zu bedenken, daß ein arbeitsunfähig gewordener Hund völlig wertlos ist, während der Verkauf des Esels beim Roßschlächter immer noch 15 bis 30 Mark einbringt.
Einige Schwierigkeiten macht, besonders in großen Städten, naturgemäß die Stallungsfrage. Der Hund teilt zur Not das Zimmer seines Herrn. Der Esel braucht einen besonderen Raum. Aber auch diese Schwierigkeit dürfte sich mit der Zeit verringern, zumal der genügsame Esel schon mit einem Kellergelaß, wenn es nur trocken ist, befriedigt wird. Auf dem Lande dürfte von einer Schwierigkeit so wie so keine Rede sein. Die Fütterung des Esels ist nicht kostspieliger als die eines gut gehaltenen Hundes, da der Esel, wie gesagt, außerordentlich genügsam ist. Im Berliner Tierschutzverein stellten sich die Kosten pro Tier und Tag für 10 Pfund Heu und 2 Pfund Häcksel mit Hafer auf 35 bis 40 Pfennig. Dabei
[597][598] ist jedoch zu bedenken, daß der Esel auch Abfälle wie Kartoffelschalen, Grünzeug, altes Brot und ähnliches mit Vorliebe nimmt. Nur sauber muß das Futter und vor allem auch das Trinkwasser sein. Sauberkeit ist auch in der äußeren Haltung des Esels nötig. Er muß, wenn auch nicht täglich wie das Pferd, so doch zwei- bis dreimal wöchentlich geputzt und gestriegelt werden. Aber auch der Hund bedarf, wenn er nicht Ungeziefer haben und gesund und seuchenfrei bleiben soll, der Körperpflege. Die Wartung des Esels ist einfacher als die des Hundes. Während das Futter für diese zubereitet werden muß, brauchen dem Esel Heu, Hafer und Häcksel nur eingeschüttet zu werden. Auch die allgemach sprichwörtlich gewordene Dummheit des Esels wird von der neueren Wissenschaft bestritten. Hachet-Souplet stellt in seinem unlängst erschienenen Buche „Dressur der Tiere“ die Intelligenz des Esels sogar höher als die des Pferdes. Er ist in der That, wenn er freundlich behandelt wird, willig und gutartig, läßt sich leicht einfahren und wird störrisch und bösartig nur bei rohen Mißhandlungen. Nicht zu vergessen ist, daß auch der Dung des Esels noch eine Einnahmequelle für den Besitzer bildet. Eselsmilch aber, die heute zu Heilzwecken vielfach Verwendung findet, bringt fürs Liter 3 bis 4 Mark!
Der Deutsche Tierschutzverein in Berlin ist nun in dankenswerter Weise damit vorgegangen, den Ankauf von Eseln zu erleichtern. Er hat bis jetzt vier größere Transporte kommen lassen, die schlank abgesetzt sind, zum Teil außerhalb, zum Teil in der Reichshauptstadt.
Schon mancher, der bis dahin mit dem Hunde gefahren war, hat sich sehr befriedigt über das neue Zugtier ausgesprochen. Die Nachfrage wächst stetig, im Tierdepot an der Stralauerbrücke, Stadtbahnbogen 79/80, laufen täglich Bestellungen ein. Auch der Wiesbadener und Hamburger Verein sind bereits dem Beispiel Berlins gefolgt. Hoffen wir, daß dies gemeinnützige Bestreben in den weitesten Kreisen Anklang und Unterstützung findet! G. K.
Das lebende Bild.
Julius erwartete seine Frau, ohne sich zu regen; es widerstand ihm, der Villa noch näher zu treten; für die Zwiesprach zwischen Mann und Frau war sie immer noch näher, als ihm gefiel. Er sah mit widerwilliger Freude, in wie edler Haltung diese antike Gestalt heranschritt; sie erinnerte ihn wieder – früher hatte sie es oft gethan – an das Musterbild für griechischen, königlichen Gang, Charlotte Wolter, die Künstlerin. Aber „bleib fest!“ sagte auch er zu sich. Erst als Clotilde fast vor ihm stand, trat er ihr entgegen. Die grauen und die braunen Augen winkten einander zu.
„Laß mich dir ohne weiteres sagen,“ begann er mit Fassung und fester Stimme, „was zu sagen ist; Umschweife zu machen, das stünd’ uns nicht gut. Als ich zuerst zu Hans davon sprach, ich führe heut vielleicht hierher, da dachte ich nur des Kindes wegen zu kommen; oder vielmehr, ich bildete mir’s ein. Dann ist mir aber klar geworden, daß es nun endlich – zur Entscheidung kommen sollte zwischen dir und mir. In jedem Menschen, weißt du ja, bewährt sich seine Natur; die meine –“
Er mußte erst einen jähen, tiefen Schmerz bekämpfen, ehe er weitersprach: „die meine erträgt keine Halbheit.“
Clotilde war zusammengefahren, als sie das Wort „Entscheidung“ hörte; auf dieses Aeußerste war sie nicht gefaßt. Sie bezwang sich aber wie er. Den Schleier ein wenig vom Gesicht zurückwerfend, sagte sie, wie wenn ihr Kleid sie zu einer alten Römerin machte: „Auch die meine nicht.“
„Mag sein. Eben darum denk’ ich – – Dieser letzte Monat war unleidlich; immer noch ein Warten und Warten, ob es anders werde, ob deine Abneigung gegen mein Stillleben und – mich doch noch zu einem guten Ende kommen werde … Das ist nicht geschehn; konnte wohl nicht geschehn. Und so hab’ ich denn jetzt meinen Entschluß gefaßt; denn jeder Entschluß ist erträglicher als die Unentschlossenheit – in der man sich verzehrt. Also diesen meinen Entschluß leg’ ich dir nun vor. Ich lasse dir eine letzte Bedenkzeit – natürlich – aber eine kurze. Jetzt fahr’ ich wieder heim, aufs Land. Bis Mitternacht wart’ ich dann noch auf dich. Bist du bis dahin nicht gekommen, reis’ ich morgen ab.“
Clotilde erschrak nun doch noch heftiger als vorhin. Es war ihr einige Augenblicke, als käme ihr die Erde entgegen, als müßten sie beide zusammenfallen. Sie drückte die Augen ein, um etwa so den Nebel zu verscheuchen, der sich ihr hineindrängte. Es gelang ihr auch. Sie blieb aufrecht, sie sah auch wieder klar. Der Erdboden kehrte in seine alte Entfernung zurück.
„So reisest du morgen ab –“
„Ja. – Auf lange. – Mit andern Worten: so machen wir aus einer halben Trennung eine ganze … Ohne Geräusch, natürlich. Wir zwei unter uns; die Welt geht es nichts an. Luise – –“
Jetzt zitterte er doch; drum zitterte auch die Stimme mit. Er wartete eine Weile, bis er ruhiger fortfahren konnte: „Luise kann und werd’ ich dir nicht nehmen; sie ist ein Mädchen und gehört zur Mutter. Wir werden uns aber so einigen, denk’ ich, daß sie einen Teil des Jahres ihrem Vater gehört –“
„Julius!“
„Clotilde?“
Sie hob die Hände gegen ihn; ließ sie wieder sinken. „Befiehl, daß ich mit dir hinausfahre – so gehorch’ ich!“
„Hm!“ murmelte er. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich will keinen Gehorsam dieser Art; der hilft uns zu nichts. Was für ein Zusammenleben, wenn es ohne Wahrheit, ohne Ueberzeugung ist, wenn es dem Widerwillen abgerungen ist? Nein, lieber Trennung; so weh – – “
Er sprach nicht weiter.
Auch Clotilde war eine Weile still; ein schmerzliches Lächeln irrte um ihre blaß gewordenen Lippen. „Thut dir’s doch noch weh?“ fragte sie endlich.
Er schwieg.
„Julius! Bist du ein anderer geworden oder ich? Früher gefiel dir an mir das alles, alles, was du jetzt verdammst. Meine Lust am Leben – meine Lust, mich in allerlei Gestalten zu bewegen, allerlei Künste zu können – meine ‚Sonntagsstimmung‘, wie sie damals hieß – mein ,Unternehmungsgeist‘. Du warst jung mit mir! Denk doch zurück. Als du noch so eifrig Bild auf Bild von mir machen ließest, oder selber machtest; Photographien über Photographien; weißt du das nicht mehr? Um all meine ‚Metamorphosen‘ darin festzuhalten, wie du sie nanntest – wie du sie an mir liebtest –“
„Verzeih,“ fiel er ihr ins Wort. „Das ist – lange her. Du warst eben jünger als jetzt. Jetzt muß ich fürchten –“
„Was?“
„Daß bei dir dauernd, ewig wird, was nur der Jugend gut steht; was dich nicht mehr schmückt, sondern – verzeih, Clotilde – sondern lächerlich macht, wenn es dich bis ins Alter begleitet! – Aber wie eine Leidenschaft ist es über dich gekommen – wie es über so manche Frau an der Grenze der Jugend, in den kritischen Jahren des Uebergangs kommt: jung bleiben um jeden Preis! glänzen und genießen! So kam es auch damals – so viel Jahre früher – über deine Schwester. Und nun sieh sie an: die Jugend ist zu Ende, aber diese Leidenschaft nicht; sie wird nie mehr enden, nie mehr, nie mehr, nie mehr! Ihr Beispiel, statt dich abzuschrecken, hat dich angesteckt; ,ewiger Karneval‘, das ist eure Parole. So schau’ ich das Leben nicht an! So will ich nicht leben!“
„Nein!“ sagte Clotilde bitter, mit verzogenen Lippen. „‚Ewiger Aschermittwoch‘, so heißt es bei dir! Denn dir ist es leider umgekehrt ergangen: vor der Zeit bist du still, alt und kalt geworden. Menschenmüde, weltscheu, vergraben in deine Bücher, Pflanzen und Gedanken – –“
Sie hielt inne, sie machte eine Bewegung mit der Hand, als jage sie ihre Worte weg, als vertreibe sie sie aus der Luft. „Verzeih,“ setzte sie ruhiger hinzu. „Ich hatte mir gelobt, diesen Streit nicht mehr zu erneuern –“
„Ich auch. Also vergieb! – Nur dies eine Wort laß mich dir noch sagen: du stehst so festlich, so geschmackvoll und edel gekleidet da – auch so schön – o ja – aber glücklich siehst du doch nicht aus. Mir deucht, du fühltest es eben selbst: diese Bewegung, mit der du dich abwandtest … Und jetzt, in [599] diesem herausfordernden Blick, ist doch auch mehr Trotz als Glück. Wie sollt’ es auch anders sein? Du hast zu viel Geist, um mit solchen Karnevalsmenschen wirklich glücklich zu sein; und auch zu viel Herz. Du kannst es nur nicht mehr entbehren, in diesem Taumel zu leben, der deinen Ehrgeiz, deine Eitelkeit umflimmert, deine Phantasie berauscht. Befriedigen kann er dich nicht; das verlangst du wohl auch nicht … O genug, genug! Ich hab’ also mein letztes Wort gesagt. Nicht daß ich ernstlich gehofft hätte, dich noch zu bekehren; dazu kenn’ ich denn doch das Menschenherz zu gut. Aber – den Versuch war ich dir und mir noch schuldig. Den Versuch – den –“
Er zögerte, ein Ende zu machen. Seine Augen lagen mit einer letzten, langen Frage auf ihrem fast statuenbleichen Gesicht. Dort sprach aber nichts. Die trotzigen Lippen waren festgeschlossen, und auch wie versteinert. „Also genug, genug!“ wiederholte er, dieses nutzlose Schweigen brechend. „Ich hab’ nun mein Kind gesehn – und – und dich noch einmal – und nun ist’s gut. Heute Mitternacht – Ende. Dann morgen ein neues Leben; jeder für sich!“
Clotilde zuckte zusammen. Sie erwiderte dann aber: „Wie du willst.“
„Nicht wie ich will –“
„Also wie ich will,“ sagte sie tonlos.
„Gut. – Gute Nacht!“
Es schien, daß sie gehen wollte; es ward aber ein Schwanken daraus, bei dem sie sich mühsam aufrecht hielt. „Clotilde!“ rief Julius und trat näher.
Das gab ihr Kraft, sich aufzurichten; sie wehrte ihn mit Fassung ab. „Was noch?“ fragte sie kalt.
Er trat wieder zurück. Eine letzte Stille entstand. „Wo ist Luise?“ murmelte er. Seine Augen suchten rechts und links; und sie fürchteten doch, das Kind zu sehn. „Lassen wir sie,“ murmelte er weiter; „wohl ebensogut, ich geh’ fort, ohne sie zu sprechen. Sag ihr, bitte – – Nein, nein; es ist nichts zu sagen. Ich werd’ ihr schreiben … Also Gute Nacht! – Mein Mantel? Mein Hut?“
Es war dunkel geworden; der fast volle Mond begann jedoch zu leuchten, und Julius’ scharfe Augen sahen weit genug. Ihm schwebte vor, als hätte Luise seine Sachen in die Hängematte gelegt; die war aber leer. Ah, nur fort, nur fort! dachte er. „Was liegt an dem Hut,“ warf er hin, um über die Stille hinwegzukommen; „ich lass’ mir einen von Morlands Hüten holen. Und die Nacht ist mild. Milder, als ich dachte. Den Mantel, den brauch’ ich nicht …“
„Find’st ja auch draußen den andern, den gleichen,“ sagte Clotilde, scheinbar ruhig, mit verhaltener Bitterkeit.
„Ja, gewiß, gewiß. – Mir war, als wollt’ ich noch etwas sagen. – Offenbar ein Irrtum …“
Er wartete zwei, drei letzte Sekunden. Sie schwieg.
„Gute Nacht!“ murmelte er und ging, am Hause vorbei zur Gartenthür.
Erst nachdem er fort war – sie sah ihn nicht mehr, sie hörte nur noch gedämpfte Schritte – sagte auch Clotilde, tonlos: „Gute Nacht.“ Sie fühlte nun doch einen dumpfen Schmerz in ihren Knien; wunderbar ermattet fühlte sie ihre ganze Gestalt. Es wunderte sie auch nicht; eher staunte sie, daß nicht in allen Gliedern Weh und Elend war. Sie rang die Hände ineinander, ohne es zu wissen; aus ihren Augen leuchtete aber der starre Trotz. Näher beim Hause sah sie ein paar Sessel stehn. „Ach ja!“ seufzte sie. Halb unbewußt wankte sie hin und sank auf den nächsten. Abschied! dachte sie. Es schien ihr nicht ein Wort, sondern eine Sache, ein körperliches Ding zu sein. Es stand in der Luft vor ihr. So auch „Mitternacht“. Bis Mitternacht; dann ist’s aus …
Der Gedanke schüttelte sie. – Es ist aber nicht zu ändern, dachte sie. Es ist nicht zu ändern …
Die beiden Hände legten sich vor ihr Gesicht.
Morland trat vorsichtig aus dem Hause, mit den kleinen Augen spähend. Noch bei der Thür fragte er mit möglichst wenig Stimme: „Julius ist fort?“
Clotilde fuhr auf. Sie blieb aber auf dem Sessel. „Ja,“ antwortete sie.
Die runde Gestalt kam näher, stand dann bedächtig, fast schüchtern still. „Ich störe, wie es scheint ...“
„O nein,“ warf sie hin.
„Sehr schön! – Wenn du nun also bereit wärst, meine liebe Clotilde –“
Ohne Blick, wie abwesend, fragte sie: „Zu was?“
Morland lächelte ein bißchen: „Eine merkwürdige Frage. Wir warten ja schon auffallend lange, teure Schwägerin. Wir warten mit Sehnsucht – mit Entzücken – auf das lebende Bild. Ist die schlafende Ariadne bereit?“
Clotilde legte sich fest gegen die Lehne. „Nein,“ antwortete sie.
„Nein?“
Sie zog sich das Tuch enger um die Schultern, als fröstle sie. „Jetzt anfangen? – Ich kann nicht. Ich – – Luft muß ich haben; Luft!“
Sie legte sich eine Hand an den Kopf.
„Was heißt das?“ fragte Morland bestürzt. „Was hat’s gegeben? Was giebt’s?“
„Weiter nichts, als daß ihr warten müßt. Sollst der Gesellschaft melden, verstehst du: das lebende Bild hat Kopfweh. Das lebende Bild bleibt noch hier im Garten! – Habt doch Geduld, Geduld. Bin ich denn nur auf der Welt, euch zu unterhalten?“
„Um Gottes willen! O nein!“ Morland that sein Aeußerstes mit beiden Armen, um ihr zu beteuern, das sei nicht der Fall. Diese Frauen mit ihren Launen, o Gott, o Gott! dachte er; zugleich fuhr er aber fort zu reden: „Beste, Teuerste, wie bedaur’ ich das; ich bin ganz geknickt. Kopfweh. Infam! Eine solche Frau und Kopfweh! – Soll ich Erfrischungen holen? Soll ich bei dir bleiben? Was soll ich?“
Der ganze Umfang des dicken Silens stellte sich zu Befehl.
„Sollst mich ein wenig in Ruhe lassen“, erwiderte sie, den Kopf schüttelnd; „das ist alles, was ich wünsche. Weiter brauch’ ich nichts. Geh, sag’s ihnen. – Geh!“
„Augenblicklich, standepede,“ stieß er diensteifrig hervor, mit einer Gebärde, als stürze er bereits davon. „Ich hoffe nur, süße Frau – – Nicht wahr, ich gehe in der Hoffnung auf –“
„Besserung! Gewiß!“
Sie entließ ihn mit einer ungeduldigen Bewegung. Er nickte und ging dem Hause zu. Als er an die Thür kam, hatte er schon sein ganzes phlegmatisches Behagen wiedergefunden; er zuckte wohl noch die Achseln, aber mit einer Art von Genuß. Gemütlich resigniert spitzte er die Lippen. Sie macht’s grade wie Fanny, dachte er. Na, in diesem Punkt bin ich abgehärtet!
Die Thür schloß sich hinter ihm. Clotilde horchte, das Geräusch that ihr wohl; sie atmete erleichtert. Sie war nun wenigstens einstweilen allein auf der Welt … Der heraufsteigende Mond schien nur gar so hell, und ihr ins Gesicht. Sie stand auf, sie wandte sich von ihm ab, sah umher. Jetzt leuchtete das weiße Haus so grell unter seinem Licht; es war ihr so nah; es starrte sie so zudringlich an. Aus den Fenstern kam überall rötlicher, gelblicher Schein; als wären Dutzende von Riesenaugen auf sie gerichtet, neugierig oder vorwurfsvoll: warum amüsierst du uns nicht? du, unsre Primadonna? Warum treibst du dich so allein herum? Was ist dir geschehn?
Sie wandte dem Haus den Rücken zu. Ich will tiefer in den Garten gehn, dachte sie; wo mich niemand sieht! – Am Fluß war es zu frei, zu hell; rechts war die Mauer zu nah, der Garten bald zu Ende. Nur links, auf die Gewächshäuser zu, konnte sie in tiefem Schatten verschwinden. Sie schritt rasch, beinahe heftig aus, in diesen Schatten hinein. Mit einer Art von Wollust versank sie in die Nacht unter den hohen Bäumen, zwischen den dichten Gebüschen.
Als sie das große Gewächshaus und daneben das Lusthäuschen sah, hörte sie gedämpftes Sprechen; es klang wunderlich, traurig, dabei ganz eigen verschleiert. Sie war zuerst erschrocken, blieb dann lauschend stehn. Nun merkte sie, daß es aus einer dicht überwachsenen Laube kam, nur wenige Schritte von ihr, am Weg. Sie staunte beklommen: es war Luisens Stimme …
[600]
[601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] Mit wem spricht sie denn? dachte sie. Eine Weile verstand sie nichts. Das Reden ward beinah zum Flüstern; dann zu einer Art von gesprochenem Gesang; aber undeutlich, wie aus dem Traum. Spricht sie denn mit jemand? – Clotilde schüttelte den Kopf. Ach nein, dachte sie, dann kläng’s nicht so. Mit wem sollt’ sie auch – – Nein, das ist wieder eines ihrer Selbstgespräche! Das hat sie von mir! – Wirkt denn heut der Mond auf sie? Oder – ist ihr auch das Herz so traurig? – Könnt’ ich nur verstehn!
Sie stand und regte sich nicht. In der Laube knarrte etwas; das Kind schien auf der Bank ausgestreckt zu liegen, sich unruhig nach rechts und nach links zu drehn; und es knarrte wohl die Bank auf ungleichen Füßen. Die junge Stimme wuchs allmählich. Sie klang so traurig, daß Clotilde auf einmal zitterte, was sie wohl hören werde …
„Ach, was wollt ihr [??] ?“ – Luise sprach noch leise, aber doch zu laut; Clotilde verstand nun jedes Wort. – „Ach, warum quält ihr mich. Kann ich mich denn auflösen? Kann ich mich zerreißen? Laßt mich doch, wie ich bin. Bin ich denn nicht euer Kind? – Ihr könnt auseinander gehn, ach ja, – ich kann’s nicht; in meinem armen Kopf müßt ihr euch vertragen. Ihr müßt! Ja, ja, ja, ihr müßt! – Hab’ doch das alles von euch geerbt, ohne daß ihr mich fragtet. All die ,Teufel‘ und Nichtteufel, die haben in meinem Kopf miteinander gelebt all die Jahre her. Warum hetzt ihr sie mir gegeneinander auf? Was soll ich dann machen?“
Clotildens Kopf, bisher vorgestreckt, sank ihr allmählich gegen die Brust. Das Kind warf sich offenbar wieder auf der Bank herum; es kam ein Seufzer aus ihr, daß die Mutter zuckte. Eine Weile war’s dann still. „Dich kenn’ ich sehr gut,“ fing Luise plötzlich wieder an zu sprechen; „dich da in der Ecke! Du bist der ,Spielteufel‘, wie Vater dich nennt. Du bist von der Mutter. Bist du denn so schlimm? Ich hab’ immer nur gefunden, daß du lustig bist. Ach was, ich kann dich nicht so ohne weiteres hinausjagen … Aber die andern auch nicht. Also geh hin und vertrag’ dich! – Geh zu dem andern da, zum Ordnungsteufel, den Mutter nicht mag. Halt du nur Frieden mit ihm, dann seid ihr wohl auch beid’ nicht so schlecht, wie sie von euch sagen! – – Ach, Vater! Mutter! – Warum ist das so? – – Du bist der kleine Trotzteufel! der immer ,Hm‘ sagt; das mag sie auch nicht. Na ja, mit dir muß es wohl auch besser werden; – dich werd’ ich mit dem andern Bösewicht, dem Verkleidungsteufel, in die Ecke stellen, bis ihr besser werdet. Aber da steht dann und vertragt euch! Ich hab’ euch von Vater und Mutter, ihr müßt Frieden halten! Wenn ihr alle auseinander geht, kann ich nicht mehr leben!“
Großer Gott! dachte Clotilde erschüttert, plötzliche Thränen in den Augen, wie das Kind phantasiert! – Als hört’ ich mich selbst. Wenn ich als Mädchen, im Kummer über meine uneinigen Eltern, in halbem Fieber, in närrischen Phantasien – –
„Ach, Vater!“ fing das Kind wieder an. „Warum bist du mir doch weggefahren; ohne Hut und Mantel. Ich hab’ deinen Wagen rollen hören. Hast mir nicht einmal Adieu gesagt. Warst wohl wieder uneins mit ihr! – Nun scheint hier der Mond durch die Blätter; und ich lieg’ hier allein; und er fährt allein. Und im Saal machen sie nun wohl Musik, und Mutter steht als lebendes Bild … Ach, Vater! Mutter! – Ich bin auch nicht glücklich!“
Sie fing an, leise zu weinen. Hörbar war es doch.
Das ertrug Clotilde nicht; „sie weint!“ fuhr ihr aus der Kehle, wenn auch fast ohne Klang. Sie bewegte sich wohl auch.
Luise hatte das eine oder das andere gehört; ihr Weinen ward plötzlich still. Es schien, daß sie horchte. Dann stand sie auf und ging leise bis an den Eingang der Laube. „Ist da jemand?“ fragte sie, mit Angst in der Stimme. Nach einer Weile, etwas mutiger: „Wer ist da?“
Clotilde hatte im Schatten gestanden; sie trat nun rasch in den Mondschein vor, als käme sie eben gegangen, und auf Luise zu. „Ich bin’s,“ sagte sie.
„Du?“ fragte das Kind verwundert, immer noch etwas verwirrt. Sie blieb in der Laubenöffnung stehn. „Wie kommst du hierher, Mutter?“
„Ich komm’ aus der Villa, Kind. Mein Kopf ist nicht gut. Ich wollte mich in der Luft – – Nein, bedaure mich nicht! Laß mich nur hier – bei dir!“
Sie ergriff Luisens Arm und drückte ihn mit zärtlicher Heftigkeit.
Luise verstand nicht, was das sollte. Befangen, mit bittenden Augen sagte sie: „Verzeih, Mutter –“
„Was?“
„Ich war da in der Laube, im Mondschein – und ich hab’ versäumt, dich mit anzuschauen.“
„Du hast nichts versäumt! Das lebende Bild ist noch hier, siehst du; noch hat es kein Mensch gesehn. – Anzuschauen … Eben schaust du mich ja an. Ganz mit – deines Vaters Blick …“
Auf einmal warf sich ihr das Kind an die Brust: „Verzeih’! ich kann nichts dafür!“
Vor Erschütterung stand Clotilde eine Weile wie erfroren da. Sie hielt Luise in den Armen, wagte sie aber nicht zu drücken. „Kind!“ stammelte sie endlich, sich allmählich fassend. „Was sprichst du nur? Ich versteh’ dich nicht. Wie können dir solche Worte, solche Gedanken kommen …“
Ihr wuchs der Mut, sie preßte sie leidenschaftlich an sich. „Ich hab’ dich ja über alles lieb, du närrisches Kind; so, so, wie du bist! ganz so, wie du bist!“ Sie sah ihr in das gute Gesicht, das eben so kummervoll geträumt, auf die schöne junge Stirn, die wie im Fieber des Grams phantasiert hatte; mit beiden Händen faßte sie den Kopf, streichelte ihn, küßte ihn. „Ach, dieser arme Kopf – mit allem, was in ihm ist – laß ihn so, Luise. Er soll Frieden haben …“
Luise starrte die Mutter betroffen an; hatte die etwas gehört? – Clotilde machte ihre Uebereilung geschwind wieder gut. „Wenn ich dir vorhin weh gethan hätte, mein’ ich; bei unserm Gespräch vor dem Haus. Als ich mit dir schalt … Ach, du bist mein gutes Kind. Ich hab’ dich lieb, wie du bist!“
An die Mutter angeschmiegt, vor Glück lächelnd, drückte das Mädchen die Augen zu. „O,“ sagte sie leise, „wie thut das gut. – Daß du mir das jetzt sagst – grade jetzt – o wie thut das gut. Wenn du wüßtest, Mutter …“
Clotilde antwortete nicht und drückte sie nur an ihre Brust.
„Ach, laß mich noch ’ne Weile so …“
„Ja, ja, ja,“ hauchte Clotilde ihr an die Wange hin. „Du hast recht: so ist’s gut!“ – Sie beugte den Kopf zurück und betrachtete das junge Gesicht. Wie sie ihm gleicht, dachte sie; und doch ein Mädchengesicht. – Wie wunderbar ist die Welt gemacht! – – Und ihre Mondscheinphantasien – darin mein, mein Kind. Ja, doch auch mein Kind! – Eine gute Mischung …
Sie küßte das dunkle Haar, die lichte Stirn. Luise nahm der Mutter Hand und drückte die heißen Lippen darauf.
Ach, dachte Clotilde, so eine gute Mischung sollte auch die Ehe sein; Frieden und Eintracht, wie in diesem jungen Kopf. – In einem jähen, hoffnungslosen Schmerzgefühl ließ sie das Kind aus den Armen. – Vorbei! Vorbei! Ach, das kommt nicht wieder!
Auf dem schattigen Weg von der Villa her tauchten farbige Lichter auf; Stimmen und Schritte ließen sich hören, ein ganzer Zug kam heran. Es fehlte keiner von der lustigen Gesellschaft. Die Bowle hatte sie angeheitert, man konnte es den Stimmen abmerken und auf den Gesichtern sehn. Morland ging voran, mit einer der älteren Damen; Ellenberger und ein paar junge Herren trugen bunte Papierlaternen, in denen die Lichter brannten. Marwitz hatte einen Hut auf dem Kopf, die andern waren unbedeckt. „Lebendes Bild im Mondschein,“ rief Morland, der offenbar nicht zu wenig getrunken hatte, wenn auch noch nicht zu viel: „Mutter und Kind!“
„Wir hielten es nicht länger aus, gnädige Frau,“ sagte Ellenberger. „Da das ‚Bild‘ noch immer nicht kommt, so gehn wir zum Bild!“
Fanny drängte sich vor: „Wir mußten sehen, hören. Na, du arme Kleine, wie geht’s?“
„Danke,“ antwortete Clotilde, die sich wie von einer Schar von Bacchanten überfallen fühlte. „Besser. Sehr viel besser.“
„Besser, sehr viel besser,“ sprach Fanny ihr nach. Dann [603] lachte sie drollig auf. „Ich glaub’ wahrhaftig, ich hab’ zu viel Bowle getrunken!“
Ein unwillkürliches „Hm!“ kam aus Luisen hervor. Sie trat darauf, wie erschrocken, hinter die Mutter zurück.
Wieder dieses väterliche „Hm!“ dachte Clotilde; diesmal lächelte sie aber inwendig. – „Was giebt’s?“ fragte sie. Hans hatte sich an ihre Seite gestellt und machte ihr verstohlene, geheimnisvolle Zeichen.
„Diesmal war ich zu rasch im Urteil, Tante,“ flüsterte der Jüngling. „Wenn Stronzian ihr Ideal ist, dacht’ ich, mit so ’nem Gaul konkurrier’ ich nicht! Aber das nehm’ ich zurück. Ein ganz famoses Frauenzimmer! ein Prachtmädel!“
„Ah!“ flüsterte Clotilde.
„Und gegen mich sehr liebenswürdig; aber schon sehr! Beim nächsten Rennen, dem Schlußmeeting – ein Flachrennen, ein Hürdenrennen und drei Steeplechases – soll ich Stronzian mit ihr in ihrer Loge bewundern. Morlands und ich. – Lebend oder tot, kommen muß ich!“
Er hatte nach und nach, vielleicht mit Absicht, etwas lauter gesprochen. Jeannette von Lossow war mittlerweile auch herangetreten; einige Hauptworte hatte sie gehört. „Sie sprechen von Stronzian?“ fragte sie; ihre Wasserblauen Augen waren voll Harmlosigkeit und Unbefangenheit.
„Nein, von Ihnen, mein Fräulein!“ erwiderte Hans galant. „Ich erzählte meiner Tante eben – –“
Er sprach leiser weiter. Also schon wieder verliebt! dachte Clotilde. Richtig, nach einigen Augenblicken ging er mit dem Fräulein den Weg entlang, auf die Gewächshäuser zu, eifrig in sie hineinredend; sie sah in den Mond, er in ihr Gesicht.
Ellenberger und die andern Laternenträger waren in die Laube getreten und hatten dort die bunten Lichter auf den Tisch gestellt; sie kamen jetzt auf den Weg zurück. Ellenberger blickte den beiden jungen Leuten nach; er sagte nichts, aber er ging hinterdrein. Fanny, Morland, Marwitz verfolgten wieder ihn mit vergnügten Augen; sie sahen im Mondschein, wie er zu den beiden stieß, wie nun zwei Trabanten um die üppige Jeannette kreisten. Fanny lachte leise. „Das muß man sehn,“ murmelte sie ihren Herren zu, „wie diese kluge Jeannette die beiden da magnetisiert! Sie will einen Mann haben!“
In ihrer Bowlenheiterkeit sprach sie allmählich lauter: „Beide haben Geld; der eine auch hübsche Pferde; der andre ist selber hübsch. Für wen wird sie sich entscheiden? Wer weiß das?“
„Um Gottes willen,“ flüsterte Morland, „sprich doch nicht so laut. – Die Bowle!“
Fanny lächelte.
„Sie nimmt Ellenberger,“ setzte Morland hinzu.
Fanny schüttelte den Kopf. Ihre Wangen glühten, ihre Augen lachten. „Ich wette, sie nimmt Hans!“ – Das Wort „wetten“ brachte sie auf einen fidelen Gedanken; mit immer lachenden Augen hob sie ihren Zeigefinger: „Wetten wir! Wetten wir!“ Sie griff in Morlands Brusttasche und zog ihr kleines Wettbuch heraus, riß ein Blatt davon ab und nahm ihren Bleistift. „Ich setz’ fünfhundert Mark auf Hans, daß er früher ankommt. Wer hält gegen mich?“
Luise stand rückwärts, auch an der Laube, allein; sie hatte von Fanny’s Reden einiges gehört. Unwillig das Gesicht verziehend stieß sie wieder ein „Hm!“ heraus, diesmal ganz unbewußt.
Niemand gab drauf acht; nur Clotilde, die sich auf eine Rasenbank unter dem Gebüsch gesetzt hatte, hörte den bekannten Ton. Was „hmt“ sie wieder? dachte sie.
„Im Mondschein kannst du ja doch nicht lesen,“ murmelte Morland.
„Zur Not, o ja!“ antwortete Fanny; „aber da brennen ja die Lampions.“ Sie winkte ihren Herren und trat in die Laube; Morland und Marwitz folgten ihr. „Hans hat Rasse,“ fuhr sie fort und setzte sich an den Tisch; „und er hat gut gestartet. Wer hält gegen mich, auf Ellenberger?“
„Ich!“ sagte Morland, fast zu laut; er legte sich dann die fette Hand auf den Mund.
„Ich auch,“ flüsterte Marwitz lächelnd.
Fanny schrieb mit ihrer modernen, kühnen (nachträglich gelernten) Schrift auf das ausgerissene Blatt: „Fanny Morland fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld; Handicap-Steeplechase; Ziel: Jeannette von Lossow. Herr von Marwitz fünfhundert Mark auf Bankier Ellenberger …“
Sie schrieb für Morland das Gleiche. Morland schmunzelte. Er liebte jeden gewagten Humor.
Jeannette kam von den Gewächshäusern mit ihren beiden Männern zurück. „Ach Gott,“ seufzte Hans, nach einem heimlichen Eifersuchtsblick auf Ellenberger, „ich muß leider fort!“
Jeannette bedauerte es; ihre Augen suchten ihn noch zurückzuhalten.
„Das verdammte Pferd ist gesattelt,“ seufzte er weiter, „und die elende Pflicht ruft!“
Luise trat jetzt hinter der Laube hervor; auf einmal stand sie im hellen Mondlicht. „Du mußt fort?“ sagte sie zu Hans. In diesem Augenblick fiel ihr ein [??] hatten sich noch gar nicht gesehn. Sie gab ihm die Hand: [?? g]uten Abend, Hans. – Du reit’st nach Hause? zu meinem Vater?“
Er nickte. „Das heißt, ich muß ja erst noch in die Altstadt hinüber; ein paar Besorgungen. Verbummelt. – Dann geht’s Hals über Kopf hinaus!“
„Bitte, wart noch eine Minute!“
Luise lief fort, dem Hause zu.
„Sie reiten doch gern?“ fragte Jeannette, die neben der Laube stand.
„O gewiß!“ beteuerte Hans. „Mit Passion!“
„Ich find’ alles andre fad; nur zu Pferde ist man ein Mensch! – Tanzen? Es ist so lächerlich, wenn man sich herumdreht – “
Hans nickte. Er stimmte jeder ihrer Behauptungen zu; – so ein Vollblutmädel.
„Und Schlittschuhlaufen,“ fuhr sie fort, „ist Cichorie!“ – Sie lächelte ihn an. „Wollen Sie mit mir reiten, Herr von Hochfeld?“
„Ich? Ob ich will! Durch ganz Rußland, bis Sibirien!“
Fanny war in den Eingang der Laube getreten, das kleine Blatt in der geschlossenen Hand; Marwitz und Morland streckten hinter ihr die neugierigen, geröteten Gesichter vor. „O seht, seht,“ flüsterte Fanny zurück, „wie sie den Hans avancieren läßt. Seht Ellenbergers versauertes Gesicht. Ich wette noch fünfhundert auf Hans!“
Marwitz lächelte überlegen, staatsmännisch. „Er behält aber nicht die Führung.“
„Ein Outsider,“ murmelte Morland geringschätzig.
Fanny lachte die Herren leise aus. „Wer hält Ellenberger?“
Marwitz deutete auf seine Brust.
Ihren Gatten beiseite schiebend, trat Fanny wieder an den Tisch, setzte sich und schrieb.
Jeannette hatte sich inzwischen zu Ellenberger gewendet, um den etwas Vernachlässigten wieder aufzuheitern; es kam auch schon ein erster Sonnenstrahl in sein Gesicht. Hans blickte den Weg hinunter, ob Luise käme; dabei entdeckte er Clotilde in ihrem Schatten, auf der Rasenbank. Abschied nehmen! dachte er. Ihm war lächerlich verrückt zu Mut: das Herz in ihm lachte und blutete zugleich. Es blutete und lachte … Er ging zu Clotilden hinüber. „Gute Nacht,“ sagte er mit weich gedämpfter Stimme, „Tante aller Tanten.“
Sie zog seinen Kopf sanft zu sich herunter. „Armer Junge!“ sprach sie ihm ins Ohr. „Es scheint, du bist schon wieder rettungslos verliebt!“
„Rettungslos!“ antwortete er.
Luise kam in geschwindem Schritt, ein eingewickeltes, großes und dickes Buch im Arm. Sie zog Hans von der Mutter fort, ein Stück Weges weiter. „Willst du mir einen Gefallen thun, Vetter?“ sagte sie leise, als niemand sie mehr hören konnte. „Schau, dieses Buch. Willst du das mitnehmen, und sobald du meinen Vater siehst – – Siehst ihn heute noch?“
„Ich denke.“
„Willst du’s ihm dann geben?“
„Natürlich! Mit Vergnügen!“
Sie legte es ihm auf die Hand. „Donnerwetter! Schwer!“ sagte er erschrocken.
„Ja, leicht ist es leider nicht –“
„Ach, das macht ja nichts. – Was ist denn drin?“
[604] „Nicht neugierig sein. – Ihm selber geben.“
„Sehr wohl! – Gute Nacht!“
Er drückte ihr die Hand, mit dem gemütlichen, leidenschaftslosen Vetterdruck. Als sie nun aber zur Laube zurückkamen und er noch einmal vor Fräulein Jeannette, vor dem „Prachtmädel“, stand, und sie ihm so fest, so unbegreiflich kräftig die warme Hand mit ihrer noch wärmeren drückte, da ward ihm anders zu Mut. „O mein Fräulein,“ fing er an; es kam aber fast kein Ton heraus. „Mein verehrtes –“
Er sah jetzt, daß all die andern ihn anschauten; ihm verging das Sprechen. Er machte seiner Dame nur noch eine verlegene, tiefe Verbeugung, wie vor einer Fürstin; dann ging er im Sturmschritt davon.
Clotilde sah ihm nach, heimlich mitleidig lächelnd. Was hat ihm Luise gegeben? dachte sie dann und suchte das Mädchen mit ihren zärtlichen Augen. Luise stand am Eingang der Laube; sie warf einen Blick hinein; darauf zeigte sich wieder ihr ernsthaftes, fast zu ernstes Gesicht. Sie blickte die Mutter, die sich näherte, wie auffordernd an. Sie winkte mit dem Kopf, zur Laube hin. Was wollte sie? Was meinte sie?
Schnell entschlossen ging Clotilde an ihr vorbei und in die Laube hinein. Dort saß Fanny noch am Tisch, bei den Papierlaternen; sie las leise vor, was sie geschrieben hatte, die beiden Männer lächelten. „Was habt ihr da?“ fragte Clotilde. „Was erheitert euch so?“
„Ach, nur ein kleiner Spaß!“ raunte Fanny, mit ausgelassen vergnügten Augen. „Wir wetten auf Ellenberger und Hänschen: wen wird sie erhören? wer siegt? Ich hab’ tausend Mark auf Hänschen gesetzt –“
Sie wollte weiterreden; nun stockte sie aber vor Clotildens empörtem Gesicht. „Das ist ein schlechter Spaß, meine teure Fanny!“ sagte Clotilde in der ersten Entrüstung zu laut; sie dämpfte dann die Stimme. Sie riß Fanny das Blatt aus der Hand und steckte es in ihre Tasche. „Ihr macht die Pferde zu Menschen, jetzt wollt ihr auch die Menschen zu Pferden machen; der Karneval wird mir doch zu toll!“
Fanny stand auf. Tiefverwundert, bestürzt guckte sie die Schwester an; ihre weltklugen Augen waren nun ganz dumm. Die Männer starrten nicht viel anders. „Was hast du?“ stammelte Fanny endlich. „Warum so empört?“
„Clotilde hat recht,“ murmelte Morland, der geschmeidige; er suchte seine Verlegenheit mit halb ernsthaftem Ausdruck wegzulächeln. „Es ist eine Frivolität!“
Jeannette und Ellenberger erschienen vor der Laube; mit ahnungsloser Neugier schauten sie hinein. Geschwind plauderte Morland weiter, mit einem süßen Blick auf Clotilde: „Also nun das lebende Bild? Meine teure Schwägerin, dürfen wir nun hoffen?“
In der Thür der Laube, hinter Jeannette, bemerkte Clotilde noch ein Gesicht; eigentlich nur die Stirn und die Augen; sie erkannte aber gleich ihr Kind. Sonderbar – und ganz mit des Vaters Blick – schauten die Augen sie an; als wollten sie sagen: thu’s nicht! – Clotilde wußte nicht, was sie wollte; es war ein wüstes Durcheinander in ihr. Die Entrüstung, die Weltrücksicht, die Spiellust; dazu das neue Gefühl für ihr Kind … „Ich bitt’ noch um ’ne kleine Weile Geduld,“ sagte sie, eine Hand am Kopf, als schmerze der noch. „Die Herren und Damen, denk ich, gehn wieder ins Haus; unterdessen erhol’ ich mich ganz und –“
„Das sei fern von uns, daß wir dich bedrängen,“ fiel ihr Morland ins Wort. „Wir sind immer in deiner Schuld!“
Schmeicheln schadet nie! dachte er.
„Mein Gatte hat recht!“ rief Fanny, die sich über seine diplomatische Gewandtheit freute. „Ich find’ übrigens, hier wird’s kühl. Erkält’ dich nur nicht, Tilde. Also Rückkehr in den Konzertsaal, wenn ich bitten darf! Wir machen noch Musik!“
„Gehorsam ist des Christen Schmuck,“ sagte Marwitz lächelnd, zu Fanny und dann zu Clotilden gewandt.
Die Gesellschaft ging; diesmal die drei Herren mit den Papierlaternen voran, die sie aus der Laube geholt hatten. Jeannette schlenderte hinterdrein. Sie that es wohl mit Absicht; denn sie kehrte noch wieder um und war mit ein paar raschen schritten bei Clotilde, die wieder auf ihrer Rasenbank saß. Ebenso geschwind sagte sie, mit halber Stimme: „Ich hab’ übrigens ein neues Verdienst an Ihnen entdeckt, angebetete Frau.“
„Nämlich?“
„Ihren Neffen Hans!“
Darauf lief sie den andern nach.
Clotilde folgte ihr mit den Augen; es war aber ein kriegerischer Ernst darin. Ja, dieser dumme Hans! dachte sie. Den werd’ ich doch vor dir zu schützen suchen, meine teure Jeannette!
Alle waren fort; Luise auch. Wo war die geblieben? – Doch nicht mit den andern ins Haus? – Clotilde schüttelte den Kopf. Das war doch unmöglich! – – Es ward ihr auf einmal so eng, so bang zu Mut; sie fühlte es stark; ihr Verstand stellte sich aber noch immer, als verständ’ er’s nicht. Was will ich denn Schlimmes thun? dachte sie. Ums Herz war ihr aber so schwer, als wollte sie ein Verbrechen begehn; oder als riefe sie eine mahnende Glocke und sie ginge nicht …
Vor Ueberraschung und Schreck stand sie auf. Luise kam von den Gewächshäusern her; sie hatte aus dem kleinen Lusthäuschen des Vaters Hut und Mantel genommen, den braunen Hut aufgesetzt und den braunen Mantel umgehängt. Im ersten Augenblick war Clotilden, als käme Julius selbst. Nun sah sie aber Luisens Lächeln, im Mondlicht. Das Kind blieb vor der Mutter stehn, mit einem militärischen Gruß.
„Wo hast du das her?“ fragte Clotilde. „Vater hat’s gesucht, als er fortging.“
Luise lächelte, wie eine sechzehnjährige Spitzbübin. Immer war aber heut ein gewisser Ernst hinter ihrem Lächeln; auch jetzt.
„Hattest du’s versteckt?“
Luise nickte.
„Warum?“
„Weil – – Ich wollt’ ihn nicht fortlassen. – Er ist aber doch fort!“
„Hm!“ sagte Clotilde bewegt.
Das Mädchen lächelte etwas erzwungen: „Jetzt machst du ,Hm!‘ Du!“
Clotilde sah sie eine Zeit lang schweigend an. „Kind, wie siehst du aus?“ warf sie dann möglichst harmlos hin; es klang aber doch viel hindurch. „Wie – merkwürdig diese Vermummung dir steht. Bist ihm wirklich ähnlich – dem Vater – als er jung war …“
Luise griff nach dem Mantel, um ihn abzulegen; Clotilde machte aber eine abwehrende Bewegung. „Nein, nein, bleib noch so! Ich muß dich noch ’ne Weile so anschauen; im Mondschein. Es hat so was – Märchenhaftes. – Geh, Kind, tritt einmal etwas zurück. Daß du etwas undeutlicher wirst – und ihm ähnlicher. So! – – Was für eine Idee, so zu mir zu kommen. Ich fang’ ja an zu träumen, zu phantasieren, wenn ich dich so sehe. Ich denke, jetzt –“
Ihr ward so beklommen, daß sie nicht weitersprach.
„Was denkst du?“ fragte Luise.
„Ich denke, jetzt wird sie das oder das thun, was der Vater that …“
Luise lächelte. Der Spielsinn in ihr war schnell geweckt; er hatte vielleicht nur auf so ein Wort gewartet. Einen Augenblick dachte sie nach; dann nahm sie eine denkende, sinnende Stellung an, eine Hand am Kopf.
„Richtig! Da thut sie’s schon. – Sehr gut. – Wie du ihm das abgelauscht hast, wenn er so dasteht und in seine Gedanken versinkt. – Sonderbares Kind! – Wo willst du hin?“
Luise trat zu einem der Gebüsche, wobei sie Julius’ Gang nachzuahmen suchte; unter dem Gebüsch blühten Spätsommerblumen. Sie sah auf die hinunter und auf den Busch, aufmerksam, liebevoll. „Weißt du, so steht er morgens im Garten, vor seinen Pflanzen. Stellt sich so hin, weißt du, um zu sehn, was über Nacht geworden und gewachsen ist – “
Clotilde lächelte: „Ja, ja.. Und pflegt sie.“
„Und nimmt hier ’ne Raupe ab – und da wieder eine …“
Das Kind that es ihm nach.
„Und dann bindet er mit furchtbar ernstem Gesicht diese Ranke fest, die so zwecklos in der Welt herumirrt. Und bricht die welken Blätter ab …“
[605]
[606] Luise spielte das alles. Mit kopfschüttelndem Staunen sah Clotilde zu.
„Ja, ja, ja. – Wie du das machst!“
„Das hab’ ich ja von meiner Mutter,“ sagte Luise kindlich drollig lächelnd; „das ist Künstlerblut. – Die Mutter in mir spielt den Vater in mir.“
„Meinst du!“
Clotildens heiteres Staunen verging; ein tiefer, befangener Ernst erfüllte ihre Züge. Auf ihrer Bank weit vorgebeugt starrte sie das Mädchen an; „ach, wie märchenhaft, wie wunderbar das ist,“ murmelte sie. – „Spiel’ ihn weiter, Kind! – Laß ihn auch einmal reden, Kind. Oder kannst du das nicht?“
Luise schüttelte den Kopf. Sie ward blaß; so erschreckte sie dieser Gedanke, der sie doch auch reizte. Ein scheuer, noch zaghafter Wunsch, es zu thun, flog ihr durch das junge Herz.
Clotilde bewegte sich, als wollte sie aufstehn; jetzt sagte Luise rasch, mit plötzlichem Entschluß: „Doch, Mutter, ich kann’s!“ Sie zerrte vor Erregung mit der einen Hand an der andern und wiegte den rechten Fuß auf den Zehen. „Jch möcht’s einmal versuchen, Mutter. – Er ist auf dem Lande, weißt du...“
Sie suchte noch ihren Gedanken, ihre Worte.
„Ja,“ murmelte Clotilde.
„Im Garten ist er; ganz allein. Er hat mit seinen Pflanzen geliebäugelt; jetzt – guckt er umher, als sucht’ er jemand. Er denkt – –“
Sie sagte nicht, was er denke; sie wagte auch nicht mehr, die Mutter anzusehn. Aber sie fing an zu seufzen, in Julius’ Art, so gut sie das konnte. Es gelang noch schlecht; ihr Herz schlug zu unruhig, sie fürchtete sich. Ach was, dachte sie, warum mich fürchten; Mutter sitzt ja so still, so gut. Ich muß es thun – ich muß was thun …
„Luise!“ rief sie dreist, wie mit des Vaters Stimme, den Kopf auf die Seite gedreht. – „Ja so. Luise ist nicht hier. Die ist in der Stadt. – Und hier ist’s so still. – Warum kommt denn meine Luise nicht zu ihrem Vater? Hat sie ihn denn nicht lieb? Sehnt sie sich nicht nach ihm? – Ach, was red’ ich da; wie kann ich das sagen. Gewiß hat sie ihn lieb. Sie sehnt sich auch nach ihm. Aber sie muß ja in Dresden bei der Mutter bleiben …“
Die Worte waren glücklich heraus; nun zitterte sie aber selbst. Zur Mutter hinschauen mochte sie nicht; mit dem Augenwinkel konnte sie jedoch sehen oder fühlen, daß sich die helle Gestalt auf der Rasenbank unruhig bewegte. Wird’s nun schlimm? dachte sie. Wird sie nun bös?
Es kam nichts. Es ward eine tiefe Stille. Die helle Gestalt regte sich auch nicht mehr. Endlich konnte Luise den Atem der Mutter hören, so laut ging er durch die schweigende Nacht. „Warum hast du schon aufgehört?“ sagte Clotilde nach einer Weile, so weich und so heimlich bewegt, daß es dem Kind über die Haut lief. „Spiel nur weiter, Kind. ,Sie muß bei der Mutter bleiben‘ … Sag nur alles, was er sich denkt!“
„Ja,“ antwortete Luise selig; obwohl ihr noch immer der Mut verging, nach der Bank zu blicken. „Also er steht da noch im Garten. Und – er denkt und denkt …“
Sie wühlte ein wenig mit der Hand in ihren Haaren, wie sie’s am Vater kannte. Ihr Blick bohrte sich in die Erde, es legte sich eine tiefe Schwermut auf das rührend junge Gesicht. „Wo mögen die nun wohl sein?“ fing sie wieder an, als wär’ sie der Vater; die Aehnlichkeit des Tons und der Stimme wuchs. „Im Saal, bei der Musik? Oder sind sie noch im Garten, im Mondschein – Mutter und Kind – und denken auch einmal an mich?“ – Leise begann ihr die Stimme zu zittern, aber ungewollt: „Ist ihnen doch ein wenig traurig zu Mute, daß sie nicht bei mir sind? Haben sie doch auch etwas Kummer, wie ich?“ – Jetzt hielt sie den Kopf und eine Hand so, als horchte sie. „Was ist das? Rollt da nicht ein Wagen auf den Hof? Ich hör’s ja, wie die Hufe stampfen. Mein Gott! Könnten sie das sein? Wenn sie plötzlich kämen, um mich zu überraschen. – Clotilde! Luise!“
Sie hob die Stimme, als riefe sie. Dann sank die aber ebenso geschwind, und mit ihr die Gestalt. „Nein, jetzt hör’ ich’s. Kein Wagen. Nur ein Reiter. Nur Hans. Niemand als mein guter dummer Hans …“
Sich nach rechts wendend, wie zu einem Eintretenden, sagte sie nur noch, so recht resigniert: „Guten Abend, Hans!“
Es ward wieder eine tiefe Stille. Nichts, gar nichts rührte sich auf der Bank. Luise sah noch immer nicht hin. Bei dem Schweigen ward ihr endlich bang zu Mut; sie grollt mir wohl so! dachte sie. Dann schämte sie sich aber ihrer Bangigkeit. Sie wandte das Gesicht der Mutter zu.
Jetzt wunderte sie sich: Clotilde saß in sich zusammengesunken, die Hände vors Gesicht gelegt. Luise hatte einmal ein Bild gesehn, auf dem war eine Griechin oder Römerin auch so abgebildet, wie in einen großen Kummer vertieft. Daran mußte sie denken, bei diesem antiken Gewand und dem Schleiertuch. Es schien nun sogar, als finge die Mutter leise an zu weinen … Eine andre Bangigkeit kam über das Kind. Sie fürchtete: ich hab’ ihr zu weh gethan …
„Verzeih, Mutter!“ flüsterte sie. „Es – es kam mir so. – Ich war kindisch. Ich will nicht wieder – – “
Sie nahm sich den Hut vom Kopf und warf ihn ins Gebüsch, wo er hängen blieb.
„Nein, nein, nein,“ sagte Clotilde, so still weiter weinend. „Laß nur. Es war gut. – Laß nur. O laß nur …“
Sie nahm die Hände vom Gesicht und stand auf. „Kind! Ach, komm zu mir!“
Immer noch zagend trat Luise zur Bank. Auf einmal fühlte sie sich umschlungen, rundum, so leidenschaftlich wie noch nie. Sie fühlte der Mutter nachtkühlen Mund auf dem ihren, und einen rollenden, warmen Tropfen. „Luise! Mein Kind!“ sagte die zitternde und thränende Stimme zwischen Kuß und Kuß. „Du mein einziges … Meiner Jugend Kind! Meiner Liebe Kind!“
Friedrich, der Diener, der von der Villa her kam, blieb in einiger Entfernung stehn; er wartete respektvoll, wie er’s gewohnt war, bis die Umarmungen von Mutter und Tochter ein Ende nahmen. Sie dauerten ihm allerdings unbegreiflich lange; das war aber ihre Sache; seine Sache war, geduldig auf seinen beiden Füßen zu stehn. Als Clotilde, das Kind noch in einem Arm haltend, den umschleierten Kopf endlich wandte, räusperte er sich, auch nach seiner Gewohnheit; darauf trat er heran. „Ach ne, keine Sorge, gnädige Frau,“ sagte er zur Beruhigung, „die Herrschaften schicken mich nicht; die machen noch Konzert. Ich wollt’ mir nur erlauben, zu fragen – da ich höre, gnädige Frau sind nicht so ganz wohl – ob Sie vielleicht meine Dienste wünschen. Wir haben ja unsre Hausapotheke.“
„Mein guter Friedrich,“ versetzte Clotilde langsam, als erwachte sie aus einem Traum. „Hausapotheke …“
Sie lächelte. Das Kind an sich drückend fragte sie: „Was hat er eigentlich gesagt?“
„Nichts, Mutter. Er fragte nur –“
„Wie es mir geht?“
Luise nickte.
„Ach, der gute Friedrich. – Ich hatt’ ihn ja doch zu Bett geschickt; oder hatt’ ich das nicht? – Er schüttelt den Kopf. – Wie’s mir geht? Besser, besser, Friedrich. Viel, viel, viel besser!“
Sie ließ Luise aus dem Arm; es war nun offenbar eine Unruhe über sie gekommen. Sie starrte in die Büsche; dann zum Himmel auf. Mehrere Male nickte sie, wie ein Mensch, der sich in seinem Willen klar wird, der an seinem Entschluß nun nicht mehr deutelt oder zweifelt. Danach lächelte sie, offenbar vor Freude; ihr blasses Gesicht verjüngte sich. Ein rosiger Hauch erschien auf den Wangen. „Wie spät ist es?“ fragte sie, sich langsam wieder zu den beiden wendend.
„Neun Uhr,“ erwiderte Friedrich.
„Neun Uhr …“
Sie sah an sich hinunter. „Die schlafende Ariadne … Ach, was thut das. Man hängt ihr was um. – Sagen Sie, Friedrich: ob die Gartenthür an der Landstraße wohl noch offen ist?“
„Gewiß, gnädige Frau.“
Sie wiederholte mechanisch: „Gewiß. – Kind, laß einmal mich den Mantel – –“
Sie nahm Luisen den braunen Mantel von den Schultern und hängte ihn sich selber um, bedeckte damit auch vorn ihr [607] gelbweißes Gewand. Dann trat sie an den Busch, in dem Julius’ Hut hing, warf ihren Schleier ab – sie mußte ihn erst aus dem Mantel lösen – und drückte sich den Hut auf das üppige Haar. „Braun,“ murmelte sie. „Man könnte darin aussehn wie ’ne Pilgerin; – das war ich noch nie. – Pilgerin auf der Bußfahrt –“
Sie flüsterte in sich hinein: „Die nicht ruht, bis sie ihr frommes Ziel – –“
Mit einer ihrer jugendlich raschen Bewegungen trat sie wieder vor Luise hin und legte ihr die Arme um die Hüften, indem sie die Hände hinter ihr zusammenschloß. „Willst du mitgehn?“ fragte sie. „Willst du mich begleiten?“
Das Mädchen wußte noch nicht: verstand sie die Mutter recht? Es war aber ein so eigener Glanz in deren Augen … „Gewiß!“ sagte sie für jeden Fall.
„Aber weit, weit!“ – Clotilde deutete auf den Mond. „Was thut das; die Nacht ist hell!“
„Mutter!“ flüsterte Luise; nun zweifelte sie nicht mehr. Sie hätte beinah gelacht vor Glück. Ihre Arme, ihre Hände zitterten vor Freude.
„Aber – wir zwei allein?“ sagte sie dann leise; es rührte sich die väterliche Bedächtigkeit. „Diesen weiten Weg? bei Nacht?“
„So hell.“
„Aber doch nur zwei Frauenzimmer. – Vater wär’s nicht lieb …“
Clotilde kämpfte ein wenig; das Absonderliche, Romantische hatte sie gelockt. „Friedrich!“ sagte sie dann.
„Gnädige Frau?“
„Sie sind nun wohl sehr müde, Friedrich?“
Er begriff, um was es sich handelte; ein Freudelächeln huschte über sein Gesicht. Gleich sah er aber wieder nach gar nichts aus. „Ach ne, gnädige Frau,“ antwortete er mit seinem trockenen, verschlossenen Ernst. „Ich hab’ mich ja auf Ihren Befehl ausgeruht.“
„Haben Sie das wirklich gethan?“
„O ja.“
„Lange?“
„Sehr lange nicht, das müßt’ ich lügen; aber doch lang’ genug.“
„Wenn Sie nun aber tüchtig marschieren sollten?“
„Wär’ mir grade recht. Nur im Stillsitzen schlaf’ ich ein. – Die Luft ist so gut.“
„Ich thu’ Ihnen auch einmal was zuliebe, Friedrich! – Sie gehn also ins Haus und holen Ihren Hut; und Hut und Mäntelchen für Luise; aber ohne daß man’s merkt. Und dann geben Sie diesen Zettel an Heinrich … Ja so, ich hab’ nichts bei mir.“
„Ich immer, gnädige Frau!“
Friedrich zog ein kleines Taschenbuch aus der Brusttasche und riß ein Blatt heraus. Clotilde nahm es und schrieb ein paar Worte, auf Luisens Rücken. „Hätten Sie auch ein kleines Couvert?“ fragte sie.
Er nickte, er hatte schon eins aus derselben Tasche hervorgeholt. Er führte Bindfaden bei sich, Oblaten, Briefmarken, Heftpflaster, alles. Das beschriebene Blatt übernehmend, faltete er es, steckte es in den Umschlag und leckte ihn zu. „Also an Heinrich geben!“ sagte Clotilde noch einmal. „Er soll das Billet eine halbe Stunde behalten; dann soll er es an Frau Morland geben. Es sei eine Ueberraschung.“
„Versteh’ schon. Werd’s schon machen.“
„Sie treffen uns dann bei der Gartenthür.“
Friedrich nickte und ging. – Clotilde legte sich eine Hand auf die Brust. Ihr war zu Mut, wie wohl noch nie.
„So, nun komm!“ sagte sie leise.
Luise trat zu ihr. „Die werden sich wohl wundern,“ sagte sie ebenso, nach dem Haus zu blickend.
„Die mögen dann weiter wetten. – Ich hab’ meinen Weg. Ich mit meinem Kind!“
(Schluß folgt.)
— Neue Gedichte von Anna Ritter. —
Meine Kinder.
Weit im Land, auf fremden Wegen,
Hallen meiner Kinder Schritte,
Und ich möchte lauter Rosen
Vor die kleinen Füße legen.
Nur im Herzen darf ich hegen,
Was mir Wonne schafft und Sorgen,
Doch ein Gruß ist all mein Denken,
Jeder Atemzug ein Segen.
Zwischen Erde und Himmel.
Nun steigt aus blauen Tiefen
Manch güldner Stern herauf,
Und die am Tage schliefen,
Die Wünsche, wachen auf.
In bangen Dunkelheiten
Uebt jedes seine Macht –
Ach, Erd’ und Himmel streiten
Sich um mein Herz zur Nacht.
Die Reichswaisenhäuser.
Sechzehn Jahre sind ins Land gegangen, seitdem die „Gartenlaube“ in einem Artikel „Das deutsche Reichswaisenhaus zu Lahr“ die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein noch in den Kinderschuhen steckendes Wohlthätigkeitsunternehmen lenkte und ihm eine gesegnete Entwicklung verhieß. Damals hat wohl kaum einer geahnt, daß aus jenen schwachen Anfängen die vielbewunderte und vielbespöttelte Vereinigung hervorgehen sollte, die sich heute eines Sammelergebnisses von 1½ Millionen Mark rühmen und vier reich ausgestattete Waisenhäuser ihr eigen nennen darf; wir meinen die „Deutsche Reichsfechtschule“ mit ihren zahlreichen Zweigverbänden wie Köln, München, Frankfurt a. M. („Waisenfreund“), Kassel („Waisenschutz“), Berlin („Waisenhort“), Charlottenburg („Waisenfreund“) u. a.
Tausendfältige Frucht hat das unscheinbare Samenkorn getragen, das Albert Bürklin in Gemeinschaft mit dem Herausgeber des Lahrer „Hinkenden Boten“, Moritz Schauenburg, in die Seele unseres Volkes senkte, als er im Jahre 1876 die Anregung gab, abgeschnittene Cigarrenspitzen zu sammeln und an Tabakfabriken zu verkaufen, um aus dem Erlös ein Waisenhaus zu erbauen. War es auch dem weitschauenden Blick und dem Organisationstalent eines anderen Menschenfreundes vorbehalten, dem Werke zur Vollendung zu verhelfen, so gebührt doch jenen beiden Männern ein ehrendes Gedenken schon um deswillen, weil sie zuerst das rechte Wort gefunden haben, um Herzen zu erwärmen und Hände willig zu machen für die deutschen Waisen. Das kleine Waisenmädchen, das seinen grausamen Pflegeeltern entläuft, und mit einigen kalten Kartoffeln in der Tasche den meilenweiten Weg nach Lahr zu Fuß zurücklegt, um den Mann aufzusuchen, der den Waisen ein Vater sein will, – der edle Greis, der das halberstarrte Kind vor der Thür seines Häuschens findet und es mit liebevoller Sorgfalt pflegt: das waren lebenswahre und für das Waisenelend typische Gestalten, die ihre Wirkung auf das Volksgemüt nicht verfehlen konnten. Die zwingende Gewalt jener schmucklosen Darstellung war es, die den elternlosen Kindern einen Helfer erweckte in der Person des Generalagenten Heinrich Radermann in Magdeburg.
Auf seine Anregung entstand 1881 zur Unterstützung des Lahrer Unternehmens ein Verein, der sich die Aufgabe stellte, unter dem Motto:
„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel“
in fröhlichem Kreise wacker zu fechten, d. h. zu betteln für die deutschen Waisen. Der praktische „Fechtvater“ hatte den glücklichen Einfall, die neue Vereinigung – ihr Anfangskapital betrug 9 Mark 82 Pfennig – auf humoristischer Grundlage aufzubauen. Für einen jährlichen Beitrag von 30 Pfennig konnte man die Mitgliedschaft der „Deutschen Reichsfechtschule“, wie er sie nannte, erwerben. Wer ihr 20 Mitglieder zugeführt hatte, durfte sich „Fechtmeister“ nennen und gründete damit [608] eine „Fechtschule“; wer aber 200 Jahreskarten untergebracht hatte, empfing die Würde eines „Oberfechtmeisters“, und so konnte er, je nach seinen Leistungen für den Verein, emporsteigen zum „Hauptfechtmeister“ und „Generalfechtmeister“, bis ihm endlich im „Fechtrat“ die höchste Würde erblühte – nicht zu reden von den geschmackvollen lustigen Orden und Ehrenzeichen, die dem eifrigen Fechter verlockend winkten. Mag mancher Unkundige sich eines Lächelns über solche Scherze nicht erwehren können – thatsächlich war bald ganz Deutschland übersät von Zweigverbänden der Deutschen Reichsfechtschule, und innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren konnten 46 000 Mark nach Lahr abgeliefert werden; die Gründung des ersten Waisenhauses war damit gesichert. Aber noch immer flossen, wie aus verborgenen Quellen, die Beiträge von allen Seiten so reichlich, daß man sich entschließen durfte, den beabsichtigten Zweck zu erweitern und noch zwei weitere Waisenhäuser zu errichten; auch hierzu genügte ein kurzer Zeitraum – schon im Jahre 1885 konnten die drei Reichswaisenhäuser in Lahr, Magdeburg und Schwabach eröffnet werden.
Da schwiegen die Zweifler, die vorher achselzuckend gefragt hatten, ob die Spielerei der Deutschen Reichsfechtschule wohl deutscher Männer würdig sei; da wurde es ihnen klar, daß sich eine nationale That vor ihren Augen vollzogen hatte, ja daß die Kräfte, die sich stark genug erwiesen hatten, so bedeutende Summen groschenweise zusammenzubringen und Cigarrenspitzen, Cigarrenbänder, Flaschenkapseln, Staniol und sonstige scheinbar wertlose Abfälle in Stein und Kalk umzusetzen, um daraus drei Denkmäler deutscher Liebesthätigkeit zu errichten, nicht einer Laune entsprungen sein konnten, sondern daß sich in solchen Erfolgen eine tiefgehende Volksbewegung offenbarte als Spiegelbild deutschnationalen Empfindens. Heute, nachdem am 16. Juli 1899 auch das vierte Reichswaisenhaus in Salzwedel feierlich eingeweiht worden ist, wird niemand mehr bezweifeln, daß die Deutsche Reichsfechtschule in ihrem Ursprung und Fortgang durchaus ernsthaft zu nehmen ist als eine Kraft im Volke, und daß sie nicht nur die humanitäre und sociale Bedeutung eines segensreich wirkenden Wohlthätigkeitsunternehmens beanspruchen kann, sondern auch als ein beachtenswerter Faktor im deutschnationalen Leben der Gegenwart und Zukunft gelten darf.
Würdig wie ihr Werden und Wachsen ist auch ihr Wirken in der Gegenwart. In Magdeburg, wo die Wiege des Vereins stand, laufen auch heute noch die Fäden zusammen, mit denen ein wohldurchdachtes System das weitverzweigte Gebilde umsponnen hat. Hier versammeln sich alljährlich die Abgesandten der über ganz Deutschland verbreiteten Zweigverbände, um für den verflossenen Zeitraum Rechenschaft zu fordern und in ernster Beratung den von der „Oberfechtschule“ aufgestellten Haushaltsplan für das nächste Jahr festzustellen, der beispielsweise für das Magdeburger Haus in Einnahme und Ausgabe mit 15000 Mark abschließt; das gesamte Sammelergebnis eines Jahres beträgt etwa 70000 Mark. Unter der Oberhoheit dieser Hauptversammlung vollzieht sich die dem staatlichen Organismus trefflich nachgebildete Verwaltung mit einer Sicherheit, daß man nicht weiß, was man mehr bewundern soll, die Geschicklichkeit, mit der so viele Köpfe unter einen Hut gebracht werden, oder die Uneigennützigkeit der Männer, die jahrein, jahraus in den zum Teil sehr umfangreichen Verbänden die Mühe und Last ihrer Aemter ohne jede Entschädigung und ohne Aussicht auf irgend eine äußere Anerkennung willig tragen. Die Worte, welche der Verfasser dieser Zeilen einstmals von dem Magdeburger Reichswaisenhause schrieb, gelten sinngemäß für das Gesamtgebiet der Deutschen Reichsfechtschule: Kein König hat es protegiert, kein Fürst die Schatulle zu seinen Gunsten geöffnet, kein Millionär den Säckel dazu aufgethan, kein Reiseprediger hat Beiträge dafür gesammelt – jeder Stein hat einen anderen Geber. Das Scherflein der Witwe, der Groschen des armen Mannes, die Beiträge derer, die nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet sind, haben jene Mauern errichtet, und nun klingt in des Hauses Festraum aus fröhlichen Kinderkehlen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.
Fröhliche Geber waren die Gründer der Deutschen Reichsfechtschule, in fröhlichen Kreisen hat sie ihre Förderer gefunden – Frohsinn und ungebundene Jugendlust sind auch das Kennzeichen der Kinderschar, die unter der treuen Obhut erprobter Hauseltern in den Reichswaisenhäusern aufwächst. Man kann diese Heimstätten mit Fug und Recht als Musteranstalten bezeichnen, nicht allein nach ihrer inneren Einrichtung, sondern vor allem nach der Art der in ihnen herrschenden Erziehungsmethode. Es sind Heimstätten, wo Verwaiste wohnen und erzogen werden, ohne sich als Almosenempfänger zu fühlen, ohne von der Welt abgeschlossen zu sein. Die Kinder besuchen mit ihren Altersgenossen die öffentlichen Schulen und Gottesdienste; unter Aufsicht eines geprüften Lehrers machen sie ihre Schularbeiten, in glücklichem Jugendübermut tummeln sie sich auf dem weiten Turn- und Spielplatze umher oder stärken den Körper bei gesunder Arbeit im Obstgarten und auf dem Ackerfelde. Die große Symphonie der Weltschöpfung mit dem Waldesrauschen und dem Säuseln im Korn, der helle Lerchenjubel und das stumme Mene Tekel der untergehenden Sonne, der Abendzauber und der Gruß des erwachenden Morgens, das alles sind Eindrücke, die schon frühe ihre kindliche Seele füllen und die sonst im gewöhnlichen Leben selbst bei zärtlichster Elternfürsorge den Kindern der Städte nur unter besonders günstigen Umständen geboten werden.
So wachsen die Zöglinge unter strenger, aber liebevoller Leitung heran zu geistig und körperlich gesunden Knaben und Mädchen, erfüllt mit Liebe zu den Menschen, die ihnen Gutes gethan haben, mit Achtung vor der Obrigkeit und mit Ehrfurcht vor der hohen Macht, die über ihnen waltet; denn daß ihnen neben dem „Heil Dir im Siegerkranz“ auch das „Lobe den Herrn“ kein fremder Klang ist, bedarf kaum der Erwähnung. Nach erfolgter Konfirmation aber werden sie tüchtigen Handwerksmeistern oder zuverlässigen Haushaltungen als Lehrlinge und Dienstboten übergeben, und die Erfahrung hat gezeigt, daß sie sich im Leben bewähren.
Nach der bisherigen Entwicklung der Deutschen Reichsfechtschule ist mit Sicherheit zu erwarten, daß sie unter fernerer Mitarbeit der weitesten Kreise unseres Volkes dereinst ihr Ziel erreichen wird: in allen Teilen des deutschen Vaterlandes, insbesondere auch in den östlichen Provinzen, ihre Heimstätten zu errichten als Stützpunkte deutscher Gesinnung und staatserhaltender Bürgertugend.
In Straßburg vor hundert Jahren.
Unlängst hat Graf Friedrich Schönborn, der frühere österreichische Justizminister, in einem lesenswerten Aufsatz das Loblied alter Baukunst gesungen und sehr richtig bemerkt, daß die kleinen Gegenstände heute vor Vernichtung weit besser gesichert sind als große Bauwerke älterer Zeit. „Alte Gläser, Hausschlüssel, Tische deshalb sammeln, weil sie alt sind, und die alten Häuser, aus denen diese Dinge stammen, zerstören, ebenfalls weil sie alt sind – das ist ein Vorgang, dessen Wiederholung wir täglich beobachten können. Werden unsere Nachkommen den Widerspruch verstehen?“
Ich glaube, sie werden ihn verstehen. Unsere Nachkommen werden noch weit mehr praktische, nüchtern denkende Leute sein als wir und es vollständig billigen, daß der Weg rastlosen Fortschrittes auch über die stolzesten Trümmer der Vergangenheit geht. Uns blutet ja doch wenigstens noch das Herz, wenn solch ein alter Bau dem Drachengebiß der Zeit zum Opfer fällt. Denn wir lieben die malerischen Reste städtischer Vergangenheit, die engen Gassen und stillen Plätze, wo die alte Physiognomie unserer Stadt uns mit all ihren liebgewordenen Runzeln ansieht. Wenn auch das Neue, das überall aus dem Boden emporwächst, stattlich und glänzend ist, so hat es sich doch noch nicht an unsere Herzen anwachsen können. Um so eher mag es freundlichem Interesse begegnen, wenn wir im folgenden in knappen Zügen ein Bild aus städtischer Vergangenheit – vor hundert Jahren – zu entwerfen versuchen.
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Manches war damals schon so wie heute oder richtiger: manches ist heute noch so wie damals. Kommunale Schmerzen scheinen noch älter als der Weltschmerz zu sein. Die tröstliche Gewißheit, daß die Durchführung städtischer Projekte in der guten alten Zeit doch noch etwas länger als heutigestages währte, giebt uns die Geschichte Straßburgs. Seit dem Jahre 1663 hat eine wohldenkende Bürgerschaft die nächtliche Straßenbeleuchtung geplant, aber erst 1779 kommt das große Werk zur Ausführung. Von nun an wird die genaue Stunde des Anzündens und Auslöschens als eine Thatsache von Bedeutung ständig im Wochenblatte bekannt gegeben, mit der Bitte: „Wann einige Laternen später angezunden würden oder früher auslöschten als hier angezeigt, oder auch etwas dunkel brennen sollten, so ersucht man diejenigen, welche solches wahrgenommen, Nachricht davon zu geben, nebst Anzeige der Nummer solcher vernachlässigter Laternen“. Aber das Unternehmen hat, da eine Mehrbelastung des Säckels die Folge ist, eine Partei gegen sich, welche, eine gemeinderätliche Opposition, ihr Mißvergnügen sogar in gebundener [609] Rede, nämlich in einem Scheltgedicht, äußert, das ans Rathaus angeschlagen wird und ergreifend anhebt:
„Als unsere Stadt im Wohlstand saß,
Da war es finster auf der Straß’,
Doch als das Unglück angefangen,
Hat man Laternen aufgehangen.“
Man sieht, Kommunalpolitik und Beleuchtungsfragen waren von jeher verschwistert. Die Polizei der Stadt leidet an dem prinzipiellen Mangel, daß ihr ein Viertel der Einwohner, die sogenannten „Bevorrechteten“, Adel, Geistlichkeit, Beamte und Besatzung, nicht unterstehen. Desto größer ist dafür auf der andern Seite die Zahl polizeilicher „Ordnungen“, welche das Dasein des Bürgers von seinem Eintritte in das mühenreiche Leben bis zum seligen Ende, ja selbst vor- und nachher regeln. Kindtaufe, Erziehung, Dienstbotenwesen, Kleider, Essen und Trinken, Hochzeiten, Almosen, Leichenbestattung, Fluchen, „wucherliche Handlungen“ – kurz jeder rechtliche und widerrechtliche Schritt unterliegt irgend einer polizeilichen Bestimmung. Sogar die ersten öffentlichen Luftschiffahrtsversuche, die unter fieberhafter Teilnahme des Publikums im Jahre 1784 stattfinden, haben, da die Montgolfiere beim Niederfallen ein Holzmagazin anzündet, eine „Polizeiordnung“ zur Folge, „wodurch künftighin verbotten, Luftkugeln, welche durch Feuer aufgetrieben werden, in die Höhe zu schicken“. Auch Goethe, der 1770 in Straßburg studierte, hat uns ein Beispiel davon überliefert; in „Wahrheit und Dichtung“ erwähnt er die strengen Bauverordnungen, welche den damals geplanten Umbau der Stadt hemmten. Im Vergleiche mit dieser Masse von Verordnungen erscheint die mit ihrer Durchführung betraute Macht sehr gering, denn sie zählt bloß zwölf Schutzleute (von denen 1787 kaum fünf ihren Pflichten nachkommen können) und einige Wächter. Trotzdem gilt die, nebenbei bemerkt, schon in einem Gedichte des 15. Jahrhunderts gerühmte „gute Policey“ Straßburgs anderen Städten als Muster.
Gleich der Polizei ist die Feuerordnung, welche auf dem Löschdienst der Zünfte beruht, ein Stolz der Stadt. Als Ergänzung erscheint jährlich eine Instruktion, wie die 40 Löschmänner „zu denen vorfallenden Feuersbrünsten, die Gott in Gnaden lange abwenden wolle, sich zu verhalten, und was jeder insonderheit darbei zu verrichten habe“.
Unter den Neuerungen, welche die Stadt am Ausgange des Jahrhunderts erlebt, figuriert auch die Aufstellung von numerierten „Fiacres“ an bestimmten Plätzen, deren Zahl, selbstverständlich durch eine polizeiliche „Ordnung“, auf zwölf festgesetzt ist und welche wie ihre heutigen Standesgenossen bereits einen Fahrtarif „ausschließlich Trinkgeld“ mit erhöhten Preisen für die Nachtzeit haben. Daneben vermitteln, nicht minder polizeilich geregelt, zwanzig Droschken den Verkehr; aber auch die Sattler und die vornehmsten Gastwirte dürfen ein Gefährt und bis zu drei Pferden „zum Behuf des Publici und zur Bequemlichkeit der bei ihnen logirenden Fremden“ halten. Dem Verkehr nach auswärts dient die teuere, aber bequeme Diligence, welche nach Paris dreimal wöchentlich abgeht, und die fürchterliche Landpostkutsche, die trotz acht Pferden Vorspann zu der Strecke von Straßburg nach Paris, die der Schnellzug heute in sechs Stunden zurücklegt, volle elf Tage braucht. Der deutschen „Postschnecke“, diesem echten Wahrzeichen der „guten alten Zeit“, hat Börne eine Satire gewidmet. Weniger bekannt dürfte sein, daß auch Rückert in der „Weisheit des Brahmanen“ leidvoll ihrer gedenkt:
„Weh’ aber dem, der, wenn Geld oder Kraft versiecht,
Um fortzukommen nur, in Postlandkutschen kriecht;
Wo mit viel andern er liegt schichtweis aufgestoppelt,
Und mit der Fracht ein Paar von dürren Mähren hoppelt.“
Wie zum Teil in den öffentlichen Einrichtungen regt sich im bürgerlichen Leben etwas von einem neuen Geiste, während gleichzeitig der französische Einfluß auf die Sitten der im Kerne, wie Jakob Grimm sagt, noch „recht teutschen“ Stadt wächst, um schließlich durch die Revolution den Sieg davonzutragen. Die Mode erscheint auch hier als Barometer des politischen Luftdrucks. Da ist neben einer französischen Mädchenpartei, welche immer mehr Proselyten macht, in der Stadt eine andere, welche die sogenannte deutsche Tracht trägt, in welcher auch Friederike Brion im Sesenheimer Pfarrhaus einherging: kurzen Rock, knappes, weißes Mieder, schwarzes Taffetschürzchen – sehr klug gewählte Toilettestücke, um die von gleichzeitigen deutschen und französischen Reisenden am meisten gerühmten Reize der hübschen Straßburgerinnen, feine Taillen und zierliche Füßchen, ins günstigste Licht zu setzen. Dazu schwere, dreiteilige Zöpfe bei den Mädchen, bei den Frauen die goldenen „Schneppenhauben“, über welche sich ein Wiener im Jahre 1781 in seinem Reiseberichte äußert: „Die Weiber tragen hier ein kleines Häubchen von Gold, das einer Krone ähnlich ist und nicht übel bildet. Als ich das erste Mal mit einigen schönen Frauen speiste, glaubte ich mich zwischen Kaiserinnen und Königinnen des 15. Jahrhunderts versetzt.“ Schließlich fällt die deutsche Tracht, über deren malerische Wirkung Goethe so Schönes gesagt hat, als Opfer des französischen Revolutionstribunales, das am 15. November 1793 das Edikt erläßt: „Die Bürgerinnen Straßburgs sind eingeladen, die deutsche Tracht abzulegen, da ihre Herzen fränkisch gesinnt sind.“ Die Frauen legen auf dem „Altar des Vaterlandes“ Hunderte von gold- und silbergestickten Schneppenhauben nieder, deren Verkauf der „Nation“ 2544 Livres einbringt.
Daß manche Uebel, die man als moderne betrachten möchte, schon in der „guten alten Zeit“ nicht fehlten, lehrt uns das Gezeter gegen stundenlanges Klavierklimpern, „ohne etwas dabey zu fühlen“, und die Romanleserei. Hört es sich nicht wie ein Klageruf von heute an, wenn ein Hagestolz in einem Blatte über die Gründe seiner Ehescheu sich vernehmen läßt: „Wie die Mademoisellen [610] jetzt sind, welch’ ehrlicher Mann würde es wagen, an eine eheliche Verbindung zu denken? Wie groß muß nicht sein Vermögen sein, bis er es für hinreichend halten darf, die Madame in dem Putz und der Kleiderpracht zu erhalten, welche die Mode eingeführt hat? Nur die Namen der Kleidungsstücke machen schon einen wackeren Hausvater in Gänsehaut ausgehen.“ Unter den geselligen Vergnügungen bevorzugt man den Tanz, an den, wie Goethe sagt, das Ohr, so wie das Auge an das Münster, jeden Tag, jede Stunde, in Straßburg erinnert wird. Goethe mußte ja sogar dieser Richtung Zugeständnisse machen und seine aus dem väterlichen Hause in Frankfurt mitgebrachte Kunst bei einem französischen Tanzmeister vervollkommnen. Neben Picknicks, Kränzchen und Kinderbällen, die durch Subskription unter Freunden und Bekannten veranstaltet werden, vergnügt man sich besonders mit häuslichen Theateraufführungen, zumal in den altväterischen Familien der Besuch des Schauspiels noch strenge verpönt ist, und bei Gesellschaftsspielen, die eine weit größere Verbreitung als heute hatten. Der junge Herzog Carl August verzeichnet während seines Aufenthaltes in Straßburg den ebenso harmlosen als nach heutiger Anschauung unfürstlichen Genuß: „Wir spielten einige Stunden Sprichwörter“. Bei solcher Gelegenheit, und vielleicht ist das die Hauptsache, findet sich auch, was sich liebt, zusammen, zum Aergernis der Sittenrichter, die in den öffentlichen Blättern gegen den „tobenden“ Walzer predigen und die moralischen Nachteile des „Küssens bei Pfänderspielen“ beleuchten. Zu den „Vergnügungen“ der wohlhabenden Bürger zählt bereits die Badereise. – Zwar schleppen sich die alternden Formen des Zunftwesens kraft des historischen Beharrungsvermögens wie eine „ewige Krankheit“ fort, aber die „Zunftstuben“ dienen hauptsächlich nur noch geselligen Zwecken, Theater und Liebhaberkonzerten; in einer verklingt im Jahre 1780 der letzte deutsche Meistersang. Hier auch wird im Kreise der Genossen beim Glase Wein Austausch der Meinung gepflogen, gemäß der „Neigung reichsstädtischer Bürger zu tadelnder Beurtheilung der Obrigkeit“, wie sie Goethe in dem klassischen: „Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister!“ so köstlich persifliert hat.
Aller Fortschritt hindert aber nicht, daß sich noch mancher Aberglaube, selbst im Schoße eines ehrenfesten Magistrates, erhält. Abergläubische Furcht in weiten Kreisen erregt die Vorhersagung eines Superintendenten über drohende Erderschütterungen, Während die vornehme Gesellschaft Mesmer mit seinen magnetischen Kuren und die „dritte Welt“ beschäftigen. Doch spukt nicht in unseren spiritistischen Tagen, bloß unter neuem Namen, der nämliche Irrgeist wie in der „guten alten Zeit“?
Graf Münster, Fürst von Derneburg. Der vielbewährte deutsche Botschafter in Paris, Graf Georg zu Münster, welcher das Deutsche Reich auf dem Friedenskongreß im Haag in hervorragender Stellung vertrat, ist vom Kaiser in den Fürstenstand, mit dem Titel eines Fürsten von Derneburg, erhoben worden. Seit mehr als zwanzig Jahren hat Graf Münster seine staatsmännische Begabung im Dienst des Deutschen
Reiches entfaltet, und schon vorher ragte er unter seinen hannoverschen Standesgenossen durch seine echt deutsche Gesinnnng hervor. Als Sohn des großbritannischen und hannoverschen Staatsministers Grafen Ernst zu Münster kam er am 23. Dezember 1820 in London zur Welt. In Bonn, Heidelberg und Göttingen studierte er die Rechte und Staatswissenschaften. 1856 bis 1864 war er hannoverscher Gesandter in Petersburg, 1867 bis 1873 vertrat er den Wahlkreis Goslar im Reichstag, wo er der Deutschen Reichspartei angehörte. 1873 wurde er Botschafter des Deutschen Reiches in London und zwölf Jahre später folgte er dem Fürsten Hohenlohe auf dem gleichen Posten in der französischen Hauptstadt. In der kritischen Zeit zwischen 1866 und 1870 hat er seine politischen Anschauungen in verschiedenen, von patriotischem Geist erfüllten Schriften zum Ausdruck gebracht. Graf Münster bat es sowohl in London als auch in Paris vortrefflich verstanden, die kraftvolle Friedenspolitik des Deutschen Reichs mit diplomatischem Geschick zu vertreten. Der neue Fürstentitel weist auf den Familiensitz Schloß und Gut Derneburg hin.
Hermann Rollett. In Innsbruck haben die Tiroler kürzlich den 80jährigen Dichter Adolf Pichler gefeiert. In Baden bei Wien beging am 20. August ein anderer deutsch-österreichischer Poet – Dr. Hermann Rollett – gleichfalls seinen 80. Geburtstag. Der wackere Mann hat sich um seine Vaterstadt so verdient gemacht, daß er schon vor geraumer Zeit zum Ehrenbürger von Baden gewählt wurde. In voller geistiger Regsamkeit waltet er bis zur Stünde ebenda als Vorstand des städtischen „Rollett-Museums“, das sein Vater, ein namhafter Badener Arzt, gegründet hat, und des Archives, das er selber ins Leben gerufen. Seine Schicksale, die nun so ruhig verfließen, begannen mit stürmischen Jugendtagen. 1842 widmete er als Student der Wiener Universität Justinus Kerner seine dichterischen Erstlinge: „Liederkränze“.
Der jugendliche Freiheitssänger gab seinen Gesinnungen auch publizistisch Ausdruck. Der drohenden Verfolgung zu entgehen, zog er 1845 nach Jena. Dort veröffentlichte er seine „Frühlingsboten aus Oesterreich“. Der Bundestag maßregelte ihn, und schon drohte ihm die Zwangsabschiebung nach Oesterreich, da glückte ihm die Flucht in die Schweiz, wo er seine „Heldenbilder und Sagen“ vollendete. 1854 kehrte er nach Oesterreich zurück, noch immer angefeindet von den Behörden, bis er endlich in seiner Vaterstadt als Archivar eine behagliche Zuflucht fand. Neben neuen lyrischen und dramatischen Gaben beschied er der Leserwelt auch ein schon durch die Wahl des Stoffes bedeutsames Werk „Die Goethe-Bildnisse“. Die deutschen Siege des Jahres Siebzig haben Rollett mit hoher Freude erfüllt; das geeinigte Reich war die Verwirklichung seiner Jugendsehnsucht.
Ein Veteran aus der Goethezeit. In Ilmenau ist am 6. August der Geheime Hof- und Justizrat Dr. Karl Gille gestorben, einer der Letzten von denen, die Goethe noch persönlich gekannt hatten und ihn bis in unsere Zeit überlebten. Gille war der Sohn eines weimarischen Staatsbeamten, der mit Goethes einzigem Sohn August in Freundschaft verbunden war. Durch diese Beziehung kam er als Knabe öfter in Goethes Haus und hatte sich dabei mancher freundlichen Ansprache von seiten des greisen Dichterfürsten zu erfreuen. Als Primaner gehörte er zu denen, die nach Goethes Tod die Ehrenwache an seiner Bahre übernahmen und der feierlichen Beisetzung in der Fürstengruft beiwohnten. Gille, der am 8. Oktober 1813 geboren war, ließ sich nach Abschluß seines juristischen Studiums dauernd in Jena nieder. Hier hat er sich um das Musikleben ganz besonders verdient gemacht.
Als Weimar durch Liszts Einfluß zum Mittelpunkt der Bestrebungen wurde, welche auf die Förderung Richard Wagners ausgingen, schloß er sich begeistert diesen Bestrebungen an. Nach Liszts Tode wirkte er für die Errichtung des Liszt-Museums in Weimar, dessen Einrichtung und Verwaltung er übernahm.
Vorbei! (Zu dem Bilde S. 589.) Das Ende vom Liede, wie es Tausende schon erlebt haben: Thränen und stummes Zurückerinnern an vergangene, selige Zeit! … In einer stillen Stunde hat die Verlassene alles hervorgeholt, was sie noch an Erinnerungen besitzt: Briefe, vertrocknete Blumen, beschriebene Blätter: sie war entschlossen, heute ein Ende zu machen mit dem fruchtlosen Trauern und Sehnen, sie wollte alles verbrennen, was an den Ungetreuen mahnt. Zwei, drei Briefe liegen bereits zerrissen am Boden, da ergreifen ihre Finger ein kleines Futteral, und ein Bild fällt ihr entgegen … Sie betrachtet es, bis Thränen den Blick verdunkeln, und schiebt es wieder ins Behältnis zurück. Nein – das kann sie nicht verbrennen! … Minuten vergehen und werden zu Viertelstunden, sie sitzt stumm in Gedanken und Erinnerung verloren, wie so oft, so oft schon vorher. Im tiefsten Herzen fühlt sie es: Liebe läßt sich nicht ausreißen! Und doch – ein so junges Menschenkind! Wer weiß, wie lange noch und es wird überwunden haben und neuem Glücke das Herz öffnen.
[611]
Verschiedenes Streben.
(Zu dem Bilde S. 581.)
Es strebt die Menschheit allezeit,
Ist auch ihr Ziel verschieden;
Und wer erreicht, was er erstrebt,
Ist glücklich und zufrieden.
Der Junge hier strebt nach der Frucht,
Der Alte nach den Ohren,
Und jeder hält – kommt er ans Ziel –
Die Zeit nicht für verloren.
Der Alte freut sich: „Wart’, du Tropf,
Dir komm’ ich anders noch!“
Der Junge reibt den Kopf und lacht:
„Die Aepfel hab ich doch!“ P. Auzinger.
Das „Heuscheuer-Kamel“ und der „Großvaterstuhl“ im Glatzer Gebirge. (Mit Abbildung.) An der Westgrenze der schlesischen Grafschaft Glatz, die durch ihre fünf Mineralbadeorte Reinerz, Cudowa, Landeck, Langenau und Altheide weit und breit bekannt ist, erhebt sich die 920 m hohe Heuscheuer. Sie ist der Hauptberg jenes reichgegliederten Quadersandsteingebirges, welches seine Ausläufer bis zu den Adersbach-Weckelsdorfer Felsen in Böhmen sendet, und zeichnet sich durch zahlreiche, teils groteske, teils gigantische Steingebilde aus, von denen wir das riesenhafte „Kamel“ und den auf einem bequemen Gerüst ersteigbaren „Großvaterstuhl“ hier abbilden. Die düsteren Schluchten und die interessante Formation des Berges mit dem weiten, zerklüfteten Plateau bieten dem Wanderer Abwechselung und reichen Genuß. Hier oben, sowohl vom Tafelsteine aus, auf welchem die Schweizerei steht, als vom „Großvaterstuhle“ aus genießt der Wanderer eine entzückende Aussicht in die Nähe wie in die Ferne.
Die Heuscheuer ruht auf dem Massiv des Leierberges, über welchen der Abstieg sowie eine Kunststraße nach dem regen Bergstadtchen Wünschelburg und nach dem Bahnhofe „Mittelsteine“ führen. Am Fuße dieses Leierberges rauschen und sprudeln inmitten wildromantischer Wald- und Felsenscenerie die vom Gebirgsvereine zusammengefaßten Quellbäche der Posna in Kaskaden und größeren Wasserfällen zu Thale. G. Nentwig.
Eppelein von Gailingens Flucht aus Nürnberg. (Zu dem Bilde S. 597.) Von Sage und Lied gefeiert, ist die Kunde von dem verwegenen Reiterstück des Ritters Eppelein von Gailingen auf die Nachwelt gekommen. Der Eppelein war einer der gefährlichsten jener in Franken ansässigen Raubritter, gegen deren gemeinschädliches Treiben das aufblühende Nürnberg sich im 14. Jahrhundert beständig zu wehren hatte. Er gehörte dem alten Geschlechte der Gailingen von Illesheim an, einem unweit von Windsheim gelegenen Rittersitze, und besaß verschiedene Raubburgen in der Gegend zwischen den damals rivalisierenden Handelsstädten Nürnberg und Rothenburg. Als es nun den Nürnbergern einstmals gelungen war, den gefurchtsten Wegelagerer festzunehmen, und er oben auf der Nürnberger Burg in dem Fünfeckigen Turm gefangen saß, soll es ihm gelungen sein, die ihn bewachenden Soldknechte mit List zu überreden, ihn auf die Freiung hinaus und sein Roß besteigen zu lassen. Kaum aber hatte er dasselbe ein wenig auf dem Platze getummelt, da setzte er mit kühnem Anlauf über den Stadtgraben und entkam so seinen entsetzten Wächtern. Noch heute zeigt man dem Besucher der Burg an der Brustwehr der Freiung die Eindrücke, welche der Hufschlag des Rosses zurückgelassen haben soll. Noch manch ähnliches Reiterstück rühmt die Sage dem Eppelein nach. Aber schließlich entging er doch nicht seinem Geschick. Wie Emil Reicke in seiner „Geschichte der Reichsstadt Nürnberg“ nach beglaubigten Quellen berichtet, wurde der Ritter Eppelein von Gailingen im Jahre 1381 mit zweien seiner Bundesgenossen und vier Knechten in dem Dorfe Postbauer bei Neumarkt niedergeworfen und gefangen genommen. Diesmal entkam er nicht; auf Anklagen der vier fränkischen Städte Nürnberg, Rothenburg, Weißenburg und Windsheim machte man ihm den Prozeß, und samt seinen Gefährten wurde er hingerichtet.
Gewitter in der Puszta. (Zu dem Bilde S. 600 und 601.) Auf der weiten Puszta glüht der Sonnenbrand. Kein Lüftchen regt sich in der großen Theißebene. Staubig und grau und verschmachtet stehen die Gräser. Die Pferde lassen die Köpfe hängen und knuppern nur gewohnheitsmäßig hier und da an den verdorrten Gräsern und wehren die zudringlichen Bremsen ab mit dem langhaarigen Wedel. Jáncsi, der Csikos (Roßhirt), sitzt müde und verträumt auf seiner scheckigen Stute. Er sieht im Geiste eine schmucke Tanya (Bauernhans) vor sich stehen, in dem sein braunes Mädel, die blitzäugige Ilona wohnt. Jetzt tritt sie heraus aus der Wohnstube unter das schnatternde, glucksende, girrende Federvolk und ein Ruf genügt, sie alle um sich zu versammeln. Sie lacht und ruft und lockt, während ihre Hand in die mit Kukuruz gefüllte Schürze fährt und den Segen nach allen Seiten verstreut. O wie er sie liebt – seine Heideblume, seine Braut! … Da fährt er aus seiner Träumerei empor. „Was ist das?“ Der braune Hengst reckt ängstlich seinen Hals und seine Nüstern weiten sich. Die ganze Herde wird unruhig. Dort unten beim Ziehbrunnen ein weißes Wölkchen: das Zittern in der Luft – da giebt es Arbeit! – Ein Windstoß und noch einer.
Eine undurchdringliche Staubwolke hüllt alles ein. Die Fohlen schmiegen sich an ihre Muttertiere und wiehern angstvoll. – Vergessen ist das liebliche Idyll. Der Jáncsi verzehnfacht seine Kräfte, um die Herde beisammenzuhalten. Jetzt hört er auch den Peitschenknall des Pál und des Jozsi, die von der anderen Seite sich bemühen, die Tiere zu beruhigen.
Eine schwarze Wolkenbank erhebt sich im Westen und die heulende Windsbraut fegt vor ihr her. Es ist schwül und dumpf zum Ersticken. Einzelne schwere Tropfen fallen. Da plötzlich flammt es auf, als ob aus der Erde Feuerfluten aufstiegen, um sich mit den züngelnden Flammen des Himmels zu vermählen. Der Csikos hält mechanisch die Hand vor sein Antlitz, um dem blendenden Glanz zu wehren. Zu gleicher Zeit tönt ein betäubender Krach, als ob die Erde aus ihren Fugen ginge. In wilder Flucht jagen die Rosse dahin. Der braune Hengst aber bleibt auf dem Boden liegen. Ihn bat der sengende Strahl gefällt. Sekundenlang steht die Stute, die Jáncsi reitet, wie erstarrt da. Dann löst sich plötzlich der Krampf des Entsetzens. Sie thut einen mächtigen Sprung und jagt dahin, und alle Künste des Reiters vermögen nicht sie aufzuhalten. V. Ch.
Im Aehrenfeld der Witwe. (Zu dem Bilde S. 585.) Ein schöner Brauch aus der Väter Zeit, den echte Menschenliebe ins Leben rief, hat sich in manchen Gegenden der Schweiz bis in unsere Tage erhalten. Den armen Witwen und Waisen, denen es zur Erntezeit an Kräften fehlt, um das reife Korn und Gras zu mähen und einzubringen, wird von den Gemeindegenossen die Arbeit abgenommen. Und zwar vollzieht sich dies Liebeswerk des Nachts, da die jungen Schnitter und Schnitterinnen, die sich ihm widmen, tagsüber von der Erntearbeit für die eigene Familie oder ihre Herrschaft in Anspruch genommen sind. Gottfried Keller, der für seine schweizer Heimat und sein Volk so warm empfindende Dichter, hat dieses Herkommen in dem Gedichte „Sommernacht“ gar anschaulich und ergreifend geschildert:
„In meiner Heimat grünen Talen,
Da herrscht ein alter schöner Brauch:
Wann hell die Sommersterne strahlen,
Der Glühwurm schimmert durch den Strauch,
Da geht ein Flüstern und ein Winken,
Das sich dem Aehrenfelde naht,
Da geht ein nächtlich Silberblinken
Von Sicheln durch die goldne Saat.
Das sind die Bursche jung und wacker,
Die sammeln sich im Feld zu Hauf
Und suchen den gereiften Acker
Der Witwe oder Waise auf,
Die keines Vaters, keiner Brüder
Und keines Knechtes Hülfe weiß –
Ihr schneiden sie den Segen nieder,
Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.“
Dieses Mähen und Garbenbinden des Nachts bei Mondschein, in dessen Glanze die Schneeberge auf die Gebreite des Thals niedergrüßen, [612] ist der malerische Vorwurf unseres Bildes. Der Künstler läßt auf dem zweiten Bildchen oben rechts die Strahlen des Monds auch in das Kämmerlein der Witwe fallen, für welche die Wackeren auf dem Kornfeld die Arbeit verrichten und in deren mütterlicher Hut das des Vaters beraubte Kindlein schlummert.
Das Schulze-Delitzsch-Denkmal in Berlin. (Mit Abbildung.) Der Begründer der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, Hermann Schulze, dem bereits in seiner Vaterstadt Delitzsch ein Denkmal errichtet wurde, hat nun auch in der Reichshauptstadt ein solches erhalten. Dasselbe erhebt sich auf dem Inselplatz inmitten eines der größten Industriebezirke Berlins; am 4. August hat die feierliche Enthüllung stattgefunden, wobei Rudolf Virchow die Verdienste des Mannes pries, dem die deutsche Industrie und Arbeiterwelt so große praktische Förderung zu danken gehabt hat. Die Uebernahme des Denkmals in den Schutz der Stadt erfolgte durch Bürgermeister Kirschner, und auch dieser feierte den tapferen und weitschauenden Volksmann, der vor fünfzig Jahren die erste Berufsgenossenschaft ins Leben rief und 1859 den Allgemeinen Verband der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften gründete. – Das Denkmal, dessen Schöpfer der Bildhauer Hans Arnoldt in Charlottenburg ist, trägt auf einem kräftigen Granitpostament das Standbild aus weißem carrarischen Marmor. Der Charakter Schulze-Delitzschs ist in Haltung und Gebärden ausgezeichnet wiedergegeben. Auf den Stufen des Postaments finden sich zur Rechten und Linken Gruppen aus Bronzeguß. Die eine zeigt einen sitzenden Landmann, der von einem ihm freundlich die Hand reichenden Handwerksmann über das Genossenschaftswesen aufgeklärt wird. An der anderen Seite sitzt auf den Stufen eine Frau aus dem Volke, die ein geöffnetes Buch auf dem Schoß hält und einen Knaben im Rechnen unterweist.
Bambusallee im Versuchsgarten zu Algier. (Zu dem Bilde S. 609.) Bald nach der Eroberung Algeriens durch Frankreich, bereits 1832, wurde in Algier auf Anregung der französischen Regierung der „Versuchsgarten“ angelegt mit dem Zwecke, die Kultur von allerhand Nutzpflanzen in dem Klima des nordafrikanischen Küstenlands zu erproben. Besonders die Versuche mit der südafrikanischen Flora erwiesen sich sehr fruchtbar und kamen der Kultivierung des algerischen Bodens zu gute. Aus kleinen Anfängen haben sich die Anlagen zu einem herrlichen Park entwickelt, welcher besonders von den Fremden gern aufgesucht wird als eine schattenreiche Zuflucht auch an den heißesten Tagen. Von der üppigen Vegetation, welche im Jardin d’Essay herrscht, zeigt unser Bild einer Bambusallee eine überzeugende Probe. Der Versuchsgarten liegt auf der Südseite der Stadt, zwischen dem Vorort Mustapha und dem Exerzierplatz. An dieser Stelle landete im Jahre 1541 das Invasionsheer, welches Karl V gegen den Korsarensultan Dschereddin Barbarossa führte.
Der Fünfmastklipper „Potosi“ bei Kap Horn. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die Annahme, daß die Dampfer das Segelschiff vollständig verdrängen, ist eine irrige. Seit die Technik im Schiffsbau es ermöglicht, äußerst schnelle Segler mit hohem Raumgehalt zu schaffen, hat die Zahl der Segelschiffe eher zu- als abgenommen. Ein Dampfer von 3- bis 4000 Tonnen verursacht außer den hohen Anschaffungskosten unvergleichlich höhere Betriebsausgaben als ein Segler. Die Maschine und die Kohlen nehmen viel Raum in Anspruch, während der Segler den ganzen Raum für die Ladung verwenden kann. An Personal verlangt der Dampfer die dreifache Anzahl bedienender Mannschaften wie der Segler. Dazu kommt vor allen Dingen, daß, günstige Umstände vorausgesetzt, die heutigen Schnellsegler ihre Reisen in nicht viel weniger Zeit ausführen als die Frachtdampfer.
Bis Mitte des Jahrhunderts waren fast alle Schiffe von der mehr oder weniger plumpen Bauart, die wir noch heute bei alten Seglern in unseren Häfen finden. Die Amerikaner bauten zuerst schnellsegelnde Fahrzeuge für den Dienst zwischen New York und San Francisco, „Clipper“ genannt, nach dem Umstande, daß sie bei vollständig leerem Raume umkippten (to clip). Die fortschreitende Technik vervollkommnete diese Fahrzeuge, und neuerdings sehen wir den Segelschiffsbau gerade in Deutschland zu hoher Blüte sich entfalten. Das moderne Segelschiff ist ein vollständig anderer Bau als das ehemalige. Rumpf, Masten, Rahen und Bugspriete von gehärtetem Stahl sind von äußerster Zähigkeit und dabei im Verhältnis zu den riesigen Dimensionen leicht. Die modernen Klipper halten etwa 2- bis 5000 Tonnen und sind je nach ihrer Größe Drei- bis Fünfmaster. Jeder Mast trägt 5 bis 7 Rahen, so daß die größten Schiffe, wenn alles beigesetzt ist, etwa 45 bis 50 Segel zu stehen haben.
Das größte, schnellste und prächtigste Segelschiff der Welt „Potosi“, der Reederei von F. Laeisz in Hamburg gehörig, trägt die deutsche Flagge und ist auf der deutschen Werft von Joh. C. Tecklenborg zu Geestemünde erbaut worden. Ein langer, schmaler, zierlich aussehender Rumpf trägt fünf hohe, schlanke Masten, an denen mächtige Rahen teils fest sind, teils auf und nieder fahren. Geführt wird die „Potosi“ von Kapitän Hilgendorf. Das Fahrzeug hat die schnellsten Reisen, die je ein Segler gemacht hat, ausgeführt; seine Hauptleistung bestand in der Fahrt von England nach Valparaiso in 57 Tagen. Es gewährt einen großartigen Anblick, das herrliche Fahrzeug mit 16 bis 17 Meilen Geschwindigkeit durch das Wasser rasen zu sehen. Bei Kap Horn warten der Schiffe schwere Tage der Prüfung. Was kümmert sich jedoch die „Potosi“ und ihr Führer um Sturm und Wogendrang! Fest ist das Schiff, und fest sind die Männer an Bord. Schlank und leicht gleitet die „Potosi“ über die hohen Wellenberge hinweg. H. B.
[Es folgt hier nicht wiedergegebene Werbung des Verlags Ernst Keil’s Nachfolger für die Werke „Goethes Jugend“ (J. Scherr) und „Brausejahre“ (A. von der Elbe).]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[612 a] Der Mittellandkanal. Durch den Mittellandkanal soll die so nötige Verbindung zwischen den Wasserstraßen des Ostens und Westens in Preußen hergestellt werden. Im besonderen soll der geplante Schifffahrtsweg den Dortmund-Ems-Kanal mit der Elbe verbinden. Nach dem Plan der Regierung würde der Kanal bei Bevergern nördlich von Münster beginnen und in östlicher Richtung über Bramsche, Lauenhagen, Hannover, Gifhorn, Oebisfelde, Neuhaldensleben und Wolmirstedt die Elbe östlich von Heinrichsberg, gegenüber dem Ihlekanal, erreichen. Um seine Verbindung mit dem Rhein zu erlangen, ist der Dortmund-Rhein-Kanal geplant, welcher in der Nähe von Herne aus dem Dortmund-Ems-Kanal abzweigen und bis zum Rhein in der Gegend von Laar unter dem Namen Emscherthalkanal geführt werden soll.
Der Mittellandkanal selbst würde nicht weniger als neun Seitenkanäle: von Bramsche nach Osnabrück, von dem Weserkreuzungspunkt nach Minden, von Lauenhagen nach Stadthagen, von Hannover nach Linden, von Misburg nach Hildesheim, von Großsteinwedel nach Lehrte, von Immensen nach Peine, von Gifhorn nach Braunschweig und von Heinrichsberg nach Magdeburg entsenden.
Die den Hauptkanal durchquerenden Flüsse beabsichtigt man in Brückenkanälen zu überschreiten, Eisenbahnen und andere Wege werden auf Brücken übergeführt. Da die Weser hauptsächlich den Kanal speisen soll, so wird bei Rintelen ein Zubringer abgeleitet werden, der, das Wesergebirge in Stollen durchschneidend, über Bückeburg den Kanal bei Frille erreicht. Die gesamte Länge des Mittellandkanals wird 325 km betragen, die Sohlbreite 18, die Spiegelbreite 33 und die Tiefe 2,50 m. Trotz der bedeutenden Länge des Kanals sind Steigungen und Gesälle nur unbedeutend. Von Bevergern an bleibt der Wasserspiegel auf 173 km Länge 49,80 m ü. M. und erreicht bei Misburg die Scheitelhöhe von 56,60 m, die er auf 92 km beibehält. Die Höhe von Misburg wird mit Hilfe einer Schleuse überwunden, während drei auf 48 km verteilte Schleusen den Abstieg bis Wolmirstedt bewerkstelligen. Dann folgen für den nördlichen Arm noch zwei Schleusen und eine Abschlußschleuse und für den Magdeburger Arm eine Abschlußschleuse. Alle diese Schleusen sollen eine Länge von 67, eine Thorweite von 8,60 m erhalten.
Die Baukosten der Hauptlinie sind auf 125, der genannten Seitenkanäle auf 42,7 Millionen Mark berechnet. Der jährliche Verkehr auf allen Linien wird auf 31/2 Millionen Tonnen geschätzt. Emil Jung.
Eckiges Tablettdeckchen. Weißes Leinen bildet die Grundlage des zierlichen, für ein kleines japanisches Tablettchen bestimmten Deckchens.
Es mißt 14 cm Breite bei 20 cm Länge. Der wirkungsvolle Rand zeigt Rokokoform und ist goldgelb gehalten. Nachdem man das Muster dem Stoff übertragen hat, wird der Außen- und Innenrand in der bekannten Art der Richelieustickerei gestickt, die derart gearbeitet wird, daß ein feines weißes Schnürchen, in unserem Falle starkes drelliertes Häkelgarn, die Konturen entlang geführt und mittels der gelben Seide anlanguettiert wird. An einigen aus der Abbildung ersichtlichen Stellen wird der Stoff zwischen der Stickerei fortgeschnitten. Das übrige Muster wird teils in Platt-, teils in Stielstich gestickt.
Ovales Tablettdeckchen Von schöner Wirkung ist das ovale Deckchen, dessen Rand von Epheublättern gebildet wird, die sich von dem weißen Leinen der Grundform wirkungsvoll abheben. Bei einer Länge von 20 cm ist es 16 cm hoch. Die Blätter werden dicht mit hellblauem Stickgarn languettiert, die Blattrippen in rotem Grätenstich gestickt. Der Innenrand und die Punkte sind gleichfalls rot gehalten.
Gemaltes „Thränenkrüglein“. Die Glaskrüge, in welchen der berühmte Tiroler Wein „St. Magdalenas Thränen“ verkauft wird, sind von so gefälliger Form, daß sie fast zur Bemalung herausfordern, um, gleich den gemalten Bocksbeuteln, zur Aufnahme von Liqueur zu dienen. Ein einfaches persisches Motiv wie das bei unserem Modell erfordert nicht viel zeichnerisches Können und ist in den frischen Tönen von Rot, Blau, Grün, sowie ein wenig Weiß mit einmaliger Uebermalung vollendet. Selbstverständlich kann man auch ein japanisches oder ein mehr naturalistisches Motiv wählen. Oelfarbe ist der Emailfarbe vorzuziehen, da sie feineres Ausarbeiten gestattet. L. v. Sp.
Helle Schürze zu Sommerkleidern. Der untere Teil dieser sehr hübsch und duftig aussehenden Schürze besteht aus dem jetzt so modernen geblümten Musselin. Etwa weiß mit lila. Man hat davon 90 cm nötig, näht unten ein Saum- und darüber drei oder mehr Querfältchen ab, bis die Schürze die gewünschte Länge hat. Der untere Rand des Saumes wird mit einer hübschen Spitze versehen. Statt eines Latzes schneidet man einen vorne 15 cm, hinten 6 cm hohen sogenannten Medicisgürtel. Rechts und links von der oberen Spitze desselben werden 4 cm breite und 60 cm lange Streifen angesetzt, die als Träger dienen und am Ende in spitzem Winkel verbunden werden. Gürtel und Träger bestehen aus Satin, der, da die Schürze lila gedacht, in dieser Farbe zu wählen wäre. Der obere und der untere Rand des Gürtels werden mit Spitze glatt überzogen, ebenso die Träger, jedoch wird hier die Spitze nur von einer Seite her aufgesetzt. In der vorderen Mitte des Gürtels wird ein Fischbein angebracht, der Gürtel dann rückwärts gefüttert und die Schürze, deren oberer Rand in Falten gelegt ist, dazwischen befestigt. Den Schluß des Gürtels schmückt ein zierliches Bandschleifchen.
Will man die Schürze nicht waschecht, sondern nur elegant machen, so fertigt man sie aus elfenbeinweißem Wollkrepp und seidenem Gürtel.
[612 b]
Allerlei Kurzweil.
Die Hinterhand gewinnt mit diesen Karten:
Tournee, gleichgültig, welches von den beiden Skatblättern sie aufhebt. – Vor- und Mittelhand haben gleichviel Augen in ihren Karten. Ferner gewinnt auch Vorhand, wenn sie das Blatt der höheren Farbe tourniert, verliert aber, wenn sie das Blatt der niederen Farbe tourniert. Dagegen verliert Mittelhand, wenn sie das Blatt der höheren Farbe tourniert, und gewinnt, wenn sie das Blatt der niederen Farbe tourniert.
Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist in den sechs verschiedenen Fällen der Gang des Spiels?
Rätsel.
„Er“ und „Sie“ seit Tag und Jahr
(Trennt sie auch oft Zeit und Ort)
Sind ein glücklich Ehepaar.
„Er“ dient bei dem Rätselwort,
Wie „Sie“ heißt, wirst du gewahr,
Nimmst du draus ein Zeichen fort.
Oscar Leede.
Kreuzrätsel.
Die Buchstaben der folgenden fünf geographischen Wörter:
sind so in die Fächer des nebenstehenden Kreuzes zu verteilen, daß der Querbalken eine bekannte Gestalt aus der Sagen- und Märchenwelt namhaft macht, während der Längsbalken die Heimat derselben angiebt. Die Buchstaben des Querbalkens sind von links nach rechts, die des Längsbalkens von oben nach unten zu lesen.
Ergänzungsrätsel.
Von einer Obstfrau Tisch mit Früchten nahm
Ein Knabe eine Frucht sich und entkam.
„ – – – du,“ so sprach im Zorn die Frau;
„Und dabei warst du schlimmer Dieb so schlau!
Just die – – – mußte dir gefallen,
Die ganz gewiß die schönste war vor allen.
(Die Striche in der dritten Zeile bedeuten dieselben Silben wie die in der fünften. Jene bilden ein einsilbiges und ein zweisilbiges Wort, diese ein dreisilbiges.)
Scherzrätsel.
Ob ihr die Ländermasse kennt,
Wenn man euch sie als Mitte nennt? E. S.
Auflösung des Kryptogramms auf dem Umschlag von Halbheft 18.
Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 18.
1. c5 – b6 D a5 x c7
2. d4 – e5 D f4 x d6
3. D e1 – c3 b2 x d4
4. D g1 x c5 x e7! Dd8 x f6 (g5)
5. D h4 x d8 x b6 und gewinnt.
Auflösung des Verwandlungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 18.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 18. Persien (P–er–sie–n).
Auflösung der Umstellungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 18.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 18. Wein, Wien.
Zur Zeit hier nicht dargestellt. ]