Das deutsche Reichswaisenhaus in Lahr
Das deutsche Reichswaisenhaus in Lahr.
Das Städtchen Lahr in Baden ist wohl allen Lesern der „Gartenlaube“ – wenigstens dem Namen nach – bekannt, nicht sowohl wegen seiner geographischen Bedeutung und großen Einwohnerzahl, als vielmehr durch die hervorragenden Erzeugnisse seiner Industrie und seines Gewerbfleißes. Wer kennt z. B. nicht sein berühmtes Kind, den Kalender des „Lahrer Hinkenden Boten“, der in Hunderttausenden von Exemplaren alljährlich hinauswandert in alle Welt, soweit die deutsche Zunge klingt, und dem auch der Gedanke des deutschen Reichswaisenhauses seine Entstehung und seine Ausführung verdankt?
Daß der Wahlspruch des „Hinkenden“:
„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel!“
und seine Standreden für das Werk der Barmherzigkeit so überraschende Erfolge haben und es so bald dem Ziele nahe bringen würden, das konnte freilich Niemand ahnen, wenn auch der biedere Kalendermann in seinem Streben der Menschenliebe früher schon manch Gutes und Schönes vollbracht hatte.
Wir erinnern hier nur an seine Erzählung in dem Kalender von 1869: „Wie der liebe Gott heutzutage Wunder macht“, durch die er in seiner unvergleichlich volksthümlichen warmen Sprache die Herzen seiner Leser so ergriff, daß Tausende von Gulden zusammenflossen und der Noth einer armen zahlreichen Bahnwärterfamilie, die ihren braven Ernährer durch einen erschütternden Unglücksfall verloren hatte, ein Ende gemacht werden konnte.
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[434] Wir erinnern an seine Eisenbahngeschichten: „Bahnwart Martin“ im 1863er Kalender und „Ein Tag aus dem Leben eines Locomotivführers“ im 1868er Kalender, in welchen er den Eisenbahnbediensteten, denen vorzugsweise das Leben und die Gesundheit von Tausenden anvertraut ist, Bilder aufopfernder Pflichttreue zur Nacheiferung vorführt.
Doch nun zum Reichswaisenhause!
Es war im Sommer 1876, als Albert Bürklin seinem Verleger Schauenburg eine „Kalender-Standrede“ einsandte, worin zur Sammlung von Cigarrenspitzen aufgefordert wurde, aus deren Erlös armen Waisen Weihnachtsfreuden bereitet werden sollten. Der Verleger machte dazu den Vorschlag, außer Cigarrenspitzen auch Pfennige zu sammeln, beides nach Lahr zu senden und den Sammelertrag für ein Waisenhaus zu bestimmen. Darauf schrieb Bürklin für den 1877er „Hinkenden Boten“ seinen Ausatz „Viele Wenig machen ein Viel“ und gab damit die erste Anregung zur Gründung eines deutschen Reichswaisenhauses in Lahr. „Reichswaisenhaus“ nannte er es, weil dazu die Gaben aus ganz Deutschland stießen und auch Waisen aus dem ganzen deutschen Reiche darin Aufnahme finden sollten.
Der Grundgedanke war: „Das Waisenhaus soll eine Zufluchtsstätte werden für arme Waisen von allen Konfessionen, von allen Parteien. In ihm sollen verlassene unglückliche Kinder Liebe, Pflege und Erziehung finden. Fremd jedem Religions-, jedem Parteihader, kennt es nur Liebe und Barmherzigkeit.“
Auch in den weiteren Jahrgängen seines Kalenders hat der „Hinkende“ für diesen wohlthätigen Zweck gewirkt, indem er die Bildung von Vereinen empfahl und zur Sammlung von Flaschenkapseln, Patronenhülsen etc., überhaupt zur Sammlung von Dingen aufforderte, die bisher als werthlos betrachtet wurden, die aber in ihrer Masse einen großen Werth darstellen.
Der Gedanke des „Hinkenden“ begegnete einer überaus erfreulichen Theilnahme, und weit über die deutschen Grenzen, ja weit über die Grenzen Europas hinaus wurden Beiträge gesammelt und nach Lahr eingesendet. Im October 1880 beschloß eine Gesellschaft wackerer Männer in Magdeburg, genannt der „Stadtfelder Pfeifenclub“, durch Sammlung freiwilliger Beiträge aller Art, und zwar „nur aus Kreisen fröhlicher Leute“, das Unternehmen des „Hinkenden“ zu unterstützen, und nannte sich nach dem Muster der damals schon bestehenden Mannheimer und Ludwigshafener Fechtschulen „Deutsche Reichsoberfechtschule“ unter dem Vorsitz des Reichsoberfechtmeisters Heinrich Nadermann. Der erste Reichsfechtmeister aber, der sein Lebenlang in ähnlichem Sinne für die Errichtung wohlthätiger Anstalten gewirkt und gefochten, war der wackere Pastor und Senior Bödeker in Hannover, den die „Gartenlaube“ (1873, S. 790) zuerst mit diesem Titel beehrt und gefeiert hat. Es wurde nun ein Aufruf zur Gründung ähnlicher Vereine erlassen, und das Beispiel der Magdeburger fand begeisterten Anklang. In ganz Deutschland bildeten sich Schwestervereine: „Fechtschulen zum Zweck der Errichtung eines deutschen Reichswaisenhauses in Lahr“, und eifrig wurde gefochten.
Heute hat Deutschland über 13,000 Fechtschulen mit mehr als einer Viertelmillion Fechtschülern und Fechtschülerinnen, die in der kurzen Zeit die ansehnliche Summe von über 100,000 Mark erfochten haben, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß gerade die Heimathstadt der „Gartenlaube“, Leipzig, durch den dortigen wackeren Fechtschulverband in ganz hervorragendem Maße zu diesen bedeutenden Erfolgen beigetragen hat. Namhafte Beiträge gelangten auch unmittelbar an den „Hinkenden“, so namentlich aus der weiten Welt – wie kürzlich erst wieder 400 Mark aus Montevideo, 150 Mark aus Chefoo in China vom dortigen deutschen Whistelub – wackere Männer, die auch in fernen Landen der Heimath gedenken und die eine wahrhaft rührende Sympathie für das vaterländische Unternehmen bekunden.
Nach solchen Erfolgen konnte bald daran gedacht werden, und es bot sich Gelegenheit dazu, ein Besitzthum zu erwerben, das für den schönen Zweck wie geschaffen schien. Durch den Tod des Besitzers wurde das Gut „Altvater“ bei Lahr verkäuflich, und die Erben des verstorbenen Rentners Fallenstein traten dasselbe zu dieser wohlthätigen Bestimmung um so lieber ab, da sich auf dem Gute die letzte Ruhestätte ihrer Eltern befindet, die sie damit dem Schutze des Waisenhauses anvertrauten.
Das Anwesen, eine Viertelstunde nordöstlich von Lahr entfernt, am Abhange des Berges Altvater in reizender gesunder Lage, mit ausgedehnten Gebäulichkeiten, einem über 100 Fuß langen, massiv von Sandstein gebauten Heerenhause, 13 Morgen Park, Gärten, Wiesen, Ackerfeld und Weinbergen – ein Landsitz, wie weit und breit ein schönerer nicht zu erschauen, ist um die mäßige Summe von 40,000 Mark von der Verwaltung des Reichswaisenhausfonds erstanden.
Vor und längs dem Herrenhause, das unser Bild zeigt, dehnt sich eine 30 Fuß breite, von einer massiven, etwa 30 Fuß hohen Quadermauer gestützte Terrasse mit Blumenbeeten, Bassin und Springbrunnen aus, zu beiden Seiten mit prächtigen Kastanienbäumen bepflanzt; am Fuße der Terrasse liegt ein Gemüsegarten mit Rebenstöcken, Obstbäumen, Spargelbeet und Spalieranlagen.
Von hier aus bietet sich dem entzückten Auge ein großartiges Panorama dar: rechts der Abhang des Altvater, das Rheinthal, unterbrochen vom Schutterlindenberg, dahinter die gerade in dieser Gegend interessante Vogesenkette, in der Mitte die langgestreckte Stadt mit ihren drei Kirchen und vielen Gärten, die Schutter und waldgekrönte Schwarzwaldberge, links das Schutterthal mit der prächtigen Ruine Hohengeroldseck – ein Anblick, der jedem Besucher unvergeßlich bleibt.
Hinter dem Hofe beginnt, aufsteigend und nach rechts verlaufend, vom höhern Stadtwald durch eine Wand und einen Fahrweg geschieden, der Park mit seinen mannigfachen und zum Theil sehr seltenen Bäumen, von gut gepflegten schattigen Fußwegen, theils auch von Treppenaufgängen durchzogen, da ein lauschig-stilles Plätzchen mit Ruhebank, dort einen zur Erholung einladenden Pavillon mit Ausblick in die reizende Umgebung bietend. Eine gewölbte, die ziemlich breite Schlucht daselbst überdeckende Brücke führt an das Ende der freundlichen Anlagen. Rechts und links schließen sich an den Park die Wiesen an, auch ein Blumengarten mit Treibhaus, und an diese Aecker und Weinberge. Das ganze Gut ist terrassenförmig angelegt und wird, bis es seiner eigentlichen Bestimmung übergeben werden kann, von seinem bisherigen Verwalter in schönstem Stande erhalten.
Unser Bild zeigt, um die Ansicht des Reichswaisenhauses gruppirt, die Portraits der drei verdienstvollen Männer um das Werk: die Herausgeber des „Hinkenden Boten“, Albert Bürklin und Moritz Schauenburg, darunter das Bild des Reichsoberfechtmeisters Nadermann; die Druckerei des „Hinkenden“ - die bedeutendste Buchdruckerei und Verlagshandlung in Baden mit 20 Buchdruck- und lithographischen Schnellpressen und einem Personal von 200 Arbeitern; das altehrwürdige Rathaus in der Marktstraße, die auf hohem Bergkegel in der Ferne thronende Ruine Hohengeroldseck, und die Jamm’sche Villa im Stadtpark (Villa und Park sind ein Vermächtniß des vor mehreren Jahren verstorbenen Millionärs C. W. Jamm). Darunter der „Hinkende“ im Schatten einer mächtigen Eiche sitzend und neugierigen Landleuten das Ereigniß vom Ankauf des Gutes Altvater verkündend. In einer gegenüber befindlichen Kindergruppe hat der Künstler die Bestimmung des Unternehmens angedeutet. Wem geht die Bitte des allerliebsten Waisenknaben nicht zu Herzen:
„Einen Pfennig nur im Jahr
Für das Waisenhaus in Lahr!“
Trotz der schönen Erfolge, welche die Reichswaisenhaussache bis jetzt aufweisen kann, ist die Arbeit doch noch nicht einmal zur Hälfte gethan. Als das zunächst Erreichbare ist die Aufnahme von hundert Waisenknaben in Aussicht genommen, wofür die vorhandenen Räume ausreichen. Um aber das Lahrer Unternehmen in diesem Umfange gegen alle Stürme und Wechselfälle sicher zu stellen, ist zum Mindesten ein Capital von 500,000 Mark erforderlich, und davon ist bis heute kaum ein Viertel vorhanden.
Es muß also noch brav gefochten und gesammelt werden, bis man sagen darf: „Das Reichswaisenhaus ist fertig!“[1] Aber nur Mut und Ausdauer, das edle Werk wird mit Hülfe der wackeren Fechtbrüder vollendet werden, trotz mannigfacher Anfeindungen und Widerwärtigkeiten, denn
„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel!“
- ↑ Etwaige freundliche Spenden wollen unter der Adresse: „An den Reichswaisenhausfonds in Lahr in Baden“ eingesandt werden. Der Empfang wird öffentlich in der „Lahrer Zeitung“ und im „Kalender des Hinkenden Boten“ bescheinigt.