Gebannt und erlöst
Gebannt und erlöst.
Der Dampfer lag zur Abfahrt bereit. In einer Stunde sollte er den Hafen verlassen, um nach der nahen deutschen Küste zu steuern, die bei einer schnellen und günstigen Fahrt schon mit Tagesanbruch zu erreichen war.
Auf dem Meere draußen lag die tiefe, stille Ruhe der Mondnacht, im Hafen aber und am Ufer herrschte noch das regste Leben und Treiben. Blendender Lichtglanz strömte über die Piazzetta hin, und dichtes Menschengewoge erfüllte den weiten, beinahe tageshellen Raum. Das ganze Leben des Südens entfaltete sich an diesem Herbstabende, dessen weiche, beinahe schwüle Luft den heißen Sommerabenden des Nordens nichts nachgab. In immer neuen, wechselnden Bildern zog das bunte Gewühl vorüber, wie bewegt und getragen von den Klängen der Musik, und über diesem Meer von Licht, Glanz und Tönen ragten die mächtigen Kirchen und Paläste der Stadt empor, hell beschienen vom Mondlicht, das sie wie mit geisterhaftem Schimmer umfloß und jede Linie klar und deutlich hervortreten ließ gegen den sternfunkelnden Nachthimmel.
Die Zeit war schon ziemlich weit vorgerückt, als eine Gruppe von jungen Männern sich aus dem Gewühl löste und die Richtung nach dem Ufer einschlug. Sie gehörten offenbar verschiedenen Nationalitäten an; denn die sehr laute und lebhafte Unterhaltung wurde bald deutsch, bald italienisch geführt, verrieth aber die übermüthigste Stimmung. Die Neckereien flogen unaufhörlich hin und her, und jeder Einfall, jede Bemerkung wurde mit hellem Gelächter aufgenommen. Am Ufer, das die kleine Gesellschaft jetzt erreichte, harrte bereits eine Gondel mit verschiedenem Reisegepäck. Scharf und dunkel hoben sich die Umrisse des Dampfers ab, der in geringer Entfernung lag, während das Licht und die Musik von der Piazza her nur gedämpft herüberdrang.
„Jetzt heißt es, all dieser Schönheit Lebewohl sagen,“ rief einer der jungen Männer, indem er nach jenem Lichtkreise zurückblickte. „Wenn ich daran denke, daß ich fort muß, um für diese Sommertage und Mondesnächte die eisigen Herbstnebel und Winterstürme unserer deutschen Hochgebirge einzutauschen, dann möchte ich den Einfall meines Onkels verwünschen, der mich zurück ruft.“
Er war bei den letzten Worten stehen geblieben, und das Licht des Gascandelabers fiel hell auf seine Gestalt, eine schlanke elegante Gestalt im dunklen Reise-Anzuge. Die blonden Haare und blauen Augen des jungen Mannes verriethen den Nordländer, wenn auch seine ursprünglich helle Hautfarbe jetzt gebräunt erschien; seine Züge hätten nur etwas ausdrucksvoller sein müssen, um für wirklich schön zu gelten. Man suchte in diesen edel gezeichneten Linien unwillkürlich einen tieferen Ausdruck, der nicht vorhanden war, aber sie waren voll Jugend, Heiterkeit und Leben, dabei anziehend, wie die ganze Persönlichkeit.
„Warum gehst Du denn überhaupt?“ fragte einer der Begleiter, eine echt italienische Erscheinung mit südlichem Teint und dunklen, brennenden Augen. „Ich würde mich viel um die Einfälle eines alten Menschenfeindes kümmern, der auf seinem langweiligen Felsennest da oben mit sich und aller Welt im Kriege lebt. Ich würde ihm in aller Hochachtung melden, daß mir die Gesellschaft der Uhus und Fledermäuse nicht behagt – ich würde einfach hier bleiben. Ich habe Dir das schon vorgestern gerathen, Paul, als die Abberufungsordre eintraf, aber Du wolltest ja nichts davon hören.“
„Mein lieber Bernardo,“ sagte Paul lachend, „dieser weise Rathschlag beweist sonnenklar, daß Du nicht weißt, was es heißt, einen Verwandten zu besitzen, von dessen Wohlwollen Deine gegenwärtige Existenz und Deine ganze Zukunft abhängt – sonst würdest Du anders urtheilen.“
„Ich wollte, ich hätte ihn!“ rief Bernardo. „Solch ein alter Erbonkel, der mindestens eine Million hinterläßt, ist unter allen Umständen eine schätzenswerthe Sache, selbst wenn er mit verschiedenen Uhu-Eigenthümlichkeiten behaftet ist. Leider befindet sich in meiner ganzen Verwandtschaft kein derartiges kostbares Exemplar; Du hast eben darin Glück, wie in allen Dingen.“
„Was ist es denn eigentlich mit diesem Anverwandten, Herr von Werdenfels?“ mischte sich jetzt ein Dritter in das Gespräch. „Ich war, ehe ich Deutschland verließ, zufällig in seiner Heimath, wo die tollsten und abenteuerlichsten Gerüchte über ihn im Gange sind. Dieser Burgherr von Felseneck ist so recht eigentlich das Märchen der ganzen Umgegend. Ihnen gegenüber wird er doch seine sonstige Unzugänglichkeit und Unsichtbarkeit nicht festhalten.“
Der junge Werdenfels zuckte die Achseln.
„Ich kann Ihnen darüber keine Auskunft geben, lieber Osten; denn ich weiß nicht mehr als jeder Andere. Es ist ein Vetter meines verstorbenen Vaters, aber die Beiden standen sich stets fern, und ich selbst habe ihn überhaupt nur ein einziges Mal gesehen und gesprochen. Das war vor Jahren, als ich nach dem Tode des Vaters seiner Vormundschaft übergeben wurde. Seitdem beschränkt sich unser Verkehr auf die Briefe, in denen ich ihm regelmäßig von meinem Leben und Treiben Nachricht gebe, und auf die kurzen, flüchtigen Antworten, die er mir bisweilen zu Theil werden läßt. Ich habe übrigens kaum jemals erwartet, [2] ihm nahe treten zu müssen, und begreife nicht, weshalb er mich jetzt auf einmal zu sich ruft“.
„Wahrscheinlich will er sein Testament machen!“ rief ein junger Officier, der gleichfalls zu der Gesellschaft gehörte. „Das wäre wenigstens eine vernünftige Idee, und hoffentlich hast Du Aussicht, ihn bald zu beerben. Wir wollen Dir helfen, die Million etwas flüssiger zu machen; vorläufig laden wir uns allesammt bei Dir zur Gemsenjagd ein, wenn Du dort drüben erst Herr und Meister bist. Schlag’ ein, Paul, auf nächsten Sommer!“
Er hielt ihm übermüthig die Hand hin, aber Paul zog mit einer halb unwilligen Bewegung die seinige zurück.
„Nicht solche Scherze! Mein Onkel ist noch keineswegs so alt, wie Ihr glaubt, und trotz all seiner Sonderlingslaunen ist er doch gegen mich die Güte selbst gewesen. Er hatte immer eine offene Hand für mich und gewährte mir mit vollster Freigebigkeit Alles, was ich brauchte.“
„Und Du hast sehr viel gebraucht,“ warf Bernardo ein. „Dein Aufenthalt in Italien mag eine hübsche Summe gekostet haben.“
Paul warf ihm einen spöttischen Blick zu.
„Das mußt Du allerdings am besten wissen; denn Du hast mir redlich geholfen. Die Hälfte all meiner Ausgaben kommt auf Dein Conto, Bernardo.“
„Ja, ich habe mich Deiner nach Kräften angenommen,“ versicherte dieser. „Du verstandest überhaupt gar kein Geld auszugeben; Du hast das erst unter meiner vorzüglichen Leitung gelernt. Dein Herr Onkel scheint aber doch jetzt ernstlich für seine Casse besorgt zu werden und will sie vor weiteren Attentaten sicher stellen, wie es scheint.“
„Gleichviel aus welchem Grunde er mich zurückruft! Ich muß gehorchen, aber ich gehe mit schwerem Herzen.“
„Gilt dieser Seufzer dem schönen Venedig?“ neckte Osten, „oder gilt er der noch schöneren Landsmännin, die jetzt in unseren Mauern weilt? Leugnen Sie es nicht, Werdenfels! Sie sind ja der einzige Bevorzugte von uns Allen, dem es vergönnt war, ihr zu nahen.“
„Ja, das ist wieder Paul’s unerhörtes Glück!“ rief Bernardo dazwischen. „Was gäbe ich darum, dieses wundervolle goldbraune Haar und diese Augen auf der Leinwand festhalten zu dürfen! Es ist ja, als ob ein Bild eines unserer alten Meister aus dem Rahmen gestiegen wäre. Aber es war ja nicht möglich, die hartnäckige Zurückgezogenheit zu durchbrechen, in der diese stolze Schönheit sich gefällt. Konnte denn nicht ich die verlorene Brieftasche finden, die doch wohl von Werth gewesen sein muß; denn die ausgesetzte Belohnung war ziemlich hoch. Paul findet sie sofort; er überbringt natürlich den Fund persönlich, wird vorgelassen, bleibt eine volle Stunde dort und verliebt sich ebenso natürlich sterblich in seine schöne Landsmännin. Das Letztere finde ich übrigens durchaus begreiflich; denn ich habe nur fünf Minuten dazu gebraucht.“
„Ja, er kam ganz verklärt zurück,“ fiel der junge Officier ein. „Und seitdem schwebt er fortwährend in höheren Regionen und versteht es nicht einmal mehr, den Wein zu schätzen. Ich bin überzeugt, daß sich da Mondschein-Serenaden und allerlei sonstige zarte Beziehungen angesponnen haben, aus denen man uns leider ein Geheimniß macht.“
„Spottet nur!“ sagte Paul Werdenfels, halb belustigt, halb ärgerlich über die Neckereien. „Ihr wäret doch allesammt gern an meiner Stelle gewesen. Wenn mir aber Bernardo ein unerhörtes Glück zuspricht, so muß ich doch ernstlich dagegen protestiren. Nennt Ihr es vielleicht Glück, aus dem Bannkreise dieser Augen fortgerissen zu werden, wenn man nur ein einziges Mal hineingeschaut hat? Ich habe bei meinem heutigen Abschiedsbesuche Frau von Hertenstein nicht angetroffen; vielleicht ließ sie sich auch vor mir verleugnen; jedenfalls habe ich sie nicht wiedergesehen. Ich kenne kaum mehr von ihr als den Namen, weiß nur, daß sie Wittwe ist und noch Trauer um ihren Gatten trägt. Alles, was sonst ihre Person betrifft, ist mir fremd und geheimnißvoll – und so muß ich abreisen.“
Die letzten Worte wurden mit einer beinahe komischen Verzweiflung gesprochen, welche natürlich die Neckereien verdoppelte. Inzwischen aber war aus dem Dunkel, in welchem die Gondel lag, eine ziemlich kleine Gestalt aufgetaucht, ein alter Mann mit grauen Haaren, der einfach dunkle Livrée trug und jetzt in mahnendem Tone sagte:
„Herr Paul, jetzt ist es aber die höchste Zeit. Der Dampfer fährt in einer halben Stunde ab.“
„Wir sind noch mit den Abschiedsfeierlichkeiten beschäftigt,“ erklärte Bernardo. „Stören Sie uns nicht darin, Arnold! Sie danken ja doch Gott und allen Heiligen, daß Sie Ihren jungen Herrn unserer verderblichen Gesellschaft entführen und nach Deutschland in Sicherheit bringen können.“
Er hatte Deutsch gesprochen, um von dem alten Diener verstanden zu werden, aber dieser ließ sich durch den Spott nicht beirren; er erwiderte trocken und gleichfalls in deutscher Sprache:
„Ja, es thut auch noth, daß er endlich wieder zu vernünftigen Menschen kommt.“
Die jungen Männer schienen diesen Ausfall sehr amüsant zu finden; denn sie brachen sämmtlich in ein lautes Gelächter aus, in welches auch Paul Werdenfels einstimmte.
„Bedankt Euch doch für das Compliment!“ rief er. „Es ist vollkommen ernst gemeint. Aber Du nimmst Dir wirklich etwas viel heraus, Arnold!“
„Ich thue mur meine Pflicht,“ lautete die nachdrückliche Antwort. „Als die selige Frau Baronin auf dem Sterbebette lag, hat sie mir feierlich den Junker Paul übergeben. ‚Arnold!‘ sagte sie zu mir –“
„Um des Himmel willen hören Sie auf!“ unterbrach ihn Osten. „Sie haben uns die Geschichte mindestens schon zwanzig Mal erzählt. Wir wissen es ja längst, daß Sie bei Herrn von Werdenfels Vater- und Mutterstelle vertreten und daß er einen ganz heillosen Respect vor Ihnen hat, wie wir übrigens Alle.“
„Vor allen Dingen ich!“ ergänzte Bernardo, „denn ich war von Euch allen am häufigsten Gegenstand seiner Predigten und fühle mich am tiefsten dadurch getroffen.“
Die Blicke des alten Dieners überflogen mit einem nichts weniger als freundlichen Ausdrucke den ganzen Kreis und blieben zuletzt auf dem übermüthigen Maler haften.
„Signor Bernardo,“ sagte er feierlich. „Die Freunde meines jungen Herrn sind allesammt schlimm, aber Sie sind der Schlimmste!“
Diese Erklärung rief einen neuen stürmischen Ausbruch der Heiterkeit hervor, aber urplötzlich verstummte dieser, und ebenso plötzlich wichen die jungen Herren rechts und links zur Seite, um einer kleinen Reisegesellschaft Platz zu machen, die gleichfalls nach dem Ufer schritt. Es war eine Dame in tiefer Trauerkleidung; sie hatte den Schleier herabgelassen. Das reiche Haar drängte sich unter dem Hute hervor, und als es beim Vorüberschreiten einen Moment lang von dem Strahl der Gasflamme getroffen wurde, schimmerte es auf diesen anscheinend dunklen Flechten wie in goldigem Glanze. An der Seite der Fremden ging eine ältere sehr einfach gekleidete Frau, offenbar eine Untergebene, und ein Hôteldiener mit mehreren Reise-Effecten folgte den Beiden. Paul Werdenfels grüßte tief und ehrerbietig; die Uebrigen folgten seinem Beispiel. Die Dame neigte leicht das Haupt zur Erwiderung und nahm dann mit ihrer Begleiterin in einer seitwärts liegenden Gondel Platz, die gleich darauf abstieß.
„Jetzt leugne es noch, daß Du ein Glückskind bist!“ raunte Bernardo seinem Freunde zu. „Da fährt sie hin, zu demselben Dampfer, auf dem Du die Ueberfahrt nach Deutschland machst.“
Paul’s Augen hingen längst an dem kleinen Fahrzeug, das jetzt aus dem Schatten des Ufers in das helle Mondlicht hinausglitt und in der That die Richtung nach dem Dampfer nahm.
„Wahrhaftig, sie geht an Bord!“ sagte er mit aufleuchtenden Blicken. „Ich hatte keine Ahnung davon; denn sie deutete auch nicht mit einer Silbe auf ihre Abreise hin. Aber Arnold hat Recht – es ist die höchste Zeit, daß ich aufbreche; also Lebewohl Euch Allen!“
Er wollte den Abschied möglichst kurz und hastig abmachen, aber das gelang ihm nicht; denn die sämmtlichen Herren wurden von einer ebenso plötzlichen wie rührenden Zärtlichkeit für den scheidenden Freund ergriffen und fühlten das dringende Bedürfniß, sich bis zum letzten Momente seiner Gegenwart zu erfreuen.
„Wozu uns jetzt schon trennen!“ rief Bernardo. „Es ist noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt, und die können wir gemeinschaftlich verleben. Ich begleite Dich an Bord.“
[3] „Ich gleichfalls,“ fiel Osten ein. „Es wäre unverantwortlich, wenn wir Ihnen nicht bis zum Dampfer das Geleite gäben.“
„Wir gehen Alle mit an Bord,“ entschied der Officier, ein Vorschlag, der mit stürmischer Acclamation aufgenommen wurde, aber Der, dem er galt, zeigte sich nichts weniger als dankbar dafür. Paul protestirte anfangs lachend, dann ernster und verbat sich zuletzt entschieden die beabsichtigte Begleitung. Einige der Herren machten bereits Miene, das übel zu nehmen, als Bernardo sich in das Mittel legte.
„Laßt ihn gehen!“ sagte er. „Ihr seht es ja, er steuert mit vollen Segeln in das Abenteuer hinein und gönnt uns nicht den geringsten Antheil daran. Wir sind ihm lästig bei diesem Rendezvous auf dem Dampfer; denn man wird uns doch nicht einreden wollen, daß diese gemeinschaftliche Abreise eine zufällige ist.“
Paul zog die Stirn kraus, und seine Stimme klang sehr scharf und bestimmt, als er erwiderte:
„Ich begreife nicht, wie Du dazu kommst, an meinen Worten zu zweifeln. Es ist hier weder von einem Abenteuer noch von einem Rendezvous die Rede, und ich bitte Dich ernstlich, mich und Frau von Hertenstein mit solchen Voraussetzungen zu verschonen.“
„Ich lege Euch Beiden meine allertiefste Hochachtung zu Füßen,“ spottete der unverbesserliche Bernardo. „Du scheinst die Sache von der sentimentalen Seite zu nehmen und vorläufig noch aus der Ferne anzubeten. Jedenfalls ist der Mondscheinroman, der Dich da auf dem Meere erwartet, von einer beneidenswerthen Romantik. Ich wünsche Dir alles Glück dazu.“
Paul wandte sich in sichtbarer Verstimmung ab und zu den Anderen, welche ihn jetzt von allen Seiten umdrängten. Abschiedsworte und Händedrücke wurden gewechselt, Neckereien geflüstert,und man gab den Scheidenden nicht eher frei, als bis vom Dampfer das erste Glockenzeichen herübertönte. Jetzt endlich riß Paul sich los und sprang in die Gondel, von wo er den Zurückbleibenden noch einen letzten Gruß zuwinkte.
Er athmete unwillkürlich auf, als das Boot ihn hinaustrug und das ruhige Mondlicht ihn umfing. Um keinen Preis wäre er auf dem Dampfer in Begleitung der ausgelassenen Gesellschaft erschienen, in der er sich bisher so wohl befunden und die ihm heute zum ersten Male lästig geworden war. Er wußte, welcher Magnet sie dorthin zog, und empfand dieses Herandrängen als eine Tactlosigkeit, die er auf jeden Fall verhüten wollte.
Schon nach wenigen Minuten legte das Boot an der Schiffstreppe an, und der junge Mann stieg rasch und leicht hinauf, während der alte Diener langsamer folgte. Der größte Theil der Passagiere befand sich bereits an Bord, aber noch dachte Niemand daran, die heißen, dumpfigen Kajütenräume aufzusuchen; die herrliche Mondnacht hielt noch Alles auf dem Verdecke fest. Doch vergebens durchforschte Paul die plaudernden Gruppen, die einzelnen Gestalten, die sich hier und da niedergelassen hatten; vergebens stieg er selbst in den Salon der Kajüte hinab, der augenblicklich ganz leer war. Die eine Gestalt, welche er suchte, war und blieb unsichtbar; Frau von Hertenstein hatte sich jedenfalls schon zurückgezogen und kam vermuthlich erst morgen früh beim Landen wieder zum Vorschein.
Sehr verstimmt und mißmuthig begab sich der junge Mann endlich wieder auf das Verdeck und ließ sich dort auf einer Bank nieder. Soeben wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben; rasselnd lösten sich die Ketten; die Maschine begann zu arbeiten, und das Schiff glitt langsam an der Stadt vorüber. Noch einmal tauchte die Piazzetta auf mit ihrem strahlenden Lichtglanze und ihrem Menschengewoge; noch einmal grüßten die Thürme und Paläste im Mondenlichte herüber. Einige Minuten lang stand das Bild in voller Klarheit da; dann begann es allmählich zurückzuweichen, während der Dampfer zu schnellerer Fahrt einsetzte und seinen Cours nach Norden nahm.
Auf dem Verdecke wurde es nach und nach stiller und einsamer. Die Passagiere suchten, Einer nach dem Andern, die Schlafräume auf; auch Paul Werdenfels erhob sich jetzt in der gleichen Absicht, als er auf einmal dicht an der Kajütentreppe wie gefesselt stehen blieb. Nicht weit von ihm, im hinteren Theile des Schiffes, stand ganz allein eine Dame, die er auf den ersten Blick erkannte, obgleich sie ihm den Rücken zuwandte. Sie mußte erst im Momente der Abfahrt herauf gekommen sein und völlig unbemerkt jenen Platz aufgesucht haben. Der junge Mann machte eine rasche Bewegung dorthin, hielt aber plötzlich inne. So wenig die Schüchternheit sonst zu seinen Fehlern gehörte, hier empfand er doch eine gewisse Scheu, sich zu nahen. Es lag etwas Unnahbares in dieser hohen schwarzgekeideten Gestalt, die da so einsam an der Brüstung lehnte und in das Meer hinausblickte. Das Geräusch der Schritte hatte sie jedoch aufmerksam gemacht; sie wandte sich um, und das Mondlicht fiel voll und klar auf ihre Züge.
Es war ein Antlitz voll ungewöhnlicher Schönheit, das aus dem schwarzen, leicht um das Haupt geworfenen Schleier hervorblickte, aber es sprach ein eigenthümlicher, fast strenger Ernst daraus, der in dem Gesichte einer so jungen Frau wohl befremden konnte. Vielleicht war es der Nachhall jenes schweren Verlustes, von dem die Trauerkleider erzählten, vielleicht auch der gewöhnliche Ausdruck dieser Züge, die bei aller Zartheit der Linien doch keine Weichheit zeigten. Auf der weißen Stirn und um die rosigen Lippen lag im Gegentheil ein Zug energischer Willenskraft, und so schön die braunen Augen auch waren, die sich unter den langen Wimpern aufschlugen, sie blickten so kühl und ernst, als könnten sie niemals in Leidenschaft aufflammen. Das Haar verschwand fast ganz unter dem Schleier, welcher Kopf und Schultern bedeckte, aber Paul kannte dieses wundervolle, leuchtende Goldbraun, das sich in den dunklen Falten barg; er hatte es im hellen Tageslichte bewundert.
In dem Gesichte der jungen Frau zeigte sich eine leichte Ueberraschung, als sie den Reisegefährten erblickte.
„Sie hier, Herr von Werdenfels?“ fragte sie. „Sie sind gleichfalls auf der Rückreise nach Deutschland?“
Paul verneigte sich bejahend.
„Ich ahnte nicht, daß mir auf dieser Fahrt das Glück beschieden würde, Ihr Reisegefährte zu sein, gnädige Frau. Es war mir nicht vergönnt, Sie noch einmal zu sehen. Sie waren ausgegangen – wie man mir sagte.“
Es lag eine gewisse Empfindlichkeit in den letzten Worten, Frau von Hertenstein nahm jedoch keine Notiz davon. Sie ließ das „wie man mir sagte!“ unerörtert und erwiderte ruhig:
„Ich habe Ihre Abschiedskarte erhalten, nahm aber an, daß Sie nach Rom gehen würden. Es war ja wohl Ihre Absicht, den Winter dort zuzubringen?“
„Ich hoffte es wenigstens, aber ich erhielt vor einigen Tagen Nachrichten aus der Heimath, die mich unerwartet zurückrufen.“
Paul von Werdenfels war inzwischen näher getreten und stand jetzt neben der jungen Frau. Sie befanden sich allein auf dem Verdecke, welches die letzten Passagiere soeben verlassen hatten. Ruhig, mit kaum sichtbarer Bewegung, glitt der Dampfer dahin; kein Windhauch regte sich, und aus dem Meere, das in tiefer Ruhe dalag, spann die Mondnacht ihren geheimnißvollen Zauber. Der Vollmond erfüllte Alles ringsum mit seinem geisterhaften Glanze und tauchte Himmel und Meer in eine weiße träumerische Lichtfluth. In seinen Strahlen flossen die Wellen wie leuchtende Silberströme dahin, und in den Furchen, die das Schiff zog, sprühten und tanzten Millionen von Silberfunken. Weiter hinaus woben Nebel und Mondesstrahlen ihre leichten duftigen Schleier um die Ferne, aber an dem dunklen Horizont stand noch deutlich erkennbar die Stadt, wie eine leuchtende Fata Morgana, die auf den Wellen zu schweben schien und langsam immer weiter und weiter zurück wich. Allmählich begannen sich die Züge dieses strahlenden Nachtgemäldes zu verwischen; die Linien wurden undeutlicher und nebelhafter, und die Hunderte von Lichtern flossen in einen engen Kreis zusammen, der mit jeder Minute enger ward.
„Ein echtes Märchenbild!“ sagte Paul halblaut. „Und wie ein Märchen entschwindet es auch den Blicken.“
„Der Anblick hat in der That etwas Märchenhaftes,“ stimmte Frau von Hertenstein bei. „Ich kenne nichts Aehnliches in unseren deutschen Städten.“
„Sie leben also in Deutschland, gnädige Frau?“ fragte der junge Mann, hastig den gebotenen Anknüpfungspunkt ergreifend. „Ich wußte allerdings schon bei unserer ersten Begegnung, daß ich eine Landsmännin begrüßte, aber Sie sprachen das Italienische mit so vollkommener Reinheit, daß ich auf einen jahrelangen Aufenthalt in Italien schloß.“
[4] Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, und fuhr, als diese nicht erfolgte, rascher fort:
„Bei dieser ruhigen See werden wir voraussichtlich schon mit Sonnenaufgang landen und dann noch rechtzeitig den Courierzug nach W. erreichen. W. ist vermuthlich unser gemeinschaftliches Reiseziel.“
Er glaubte sehr geschickt zu manövriren, aber es glückte ihm trotzdem nicht, etwas über dieses gemeinschaftliche Reiseziel zu erfahren; denn statt der Antwort erfolgte die Gegenfrage:
„Sie reisen also dorthin, Herr von Werdenfels?“
„Nur auf einige Tage, dann kehre ich nach meinem eigentlichen Vaterlande zurück.“
Frau von Hertenstein schien eine Frage thun zu wollen, aber sie unterdrückte dieselbe. Ihre schon halb geöffneten Lippen preßten sich auf einmal mit einem beinahe herben Ausdrucke zusammen, während ihr Blick sich zugleich auf den jungen Reisegefährten richtete. Es war ein seltsamer langer Blick, der wie fragend und suchend wohl eine Minute lang auf seinen Zügen verweilte, und sich dann wieder in die Meeresweite verlor, aber Paul hatte ihn nur zu gut bemerkt, und seine Eitelkeit fühlte sich nicht wenig geschmeichelt durch diese Aufmerksamkeit der schönen Frau.
„Wir werden nur zu bald die sonnigen Küsten Italiens vermissen,“ hob er wieder an. „Zumal ich; denn mein Weg führt mich geradewegs in das Hochgebirge.“
Die junge Frau wendete sich mit einer jähen Bewegung um.
„In das Hochgebirge? Jetzt im Spätherbst?“
„Allerdings,“ entgegnete Paul, etwas befremdet über die Lebhaftigkeit der Frage. „Und vielleicht muß ich sogar einen Theil des Winters dort zubringen. Nicht wahr, es ist ein furchtbarer Gedanke, sich in solcher Jahreszeit in den Alpen zu vergraben, mitten unter Schnee und Eis? Es gehört eine Sonderlingsnatur wie die meines Onkels dazu, um daran Geschmack zu finden.“
Frau von Hertenstein hatte sich über die Brüstung gelehnt und verfolgte mit anscheinender Aufmerksamkeit die sprühenden Silberfunken im Kielwasser des Schiffes.
„Sie haben also Verwandte dort?“ fragte sie. „Verwandte – Ihres Namens?“
„Nur einen einzigen, meinen Onkel Raimund von Werdenfels, unter dessen Vormundschaft ich bis jetzt stand. Er ist gegenwärtig der alleinige Vertreter der älteren Linie unseres Hauses und Herr der sehr bedeutenden Güter, aber er hat sich längst von jedem Verkehr mit den Menschen zurückgezogen und ist nicht einmal zu bewegen, sein Stammschloß, das prachtvolle Werdenfels, zu bewohnen. Er lebt jahraus, jahrein mitten in dem Hochgebirge, auf seinem Lieblingsorte Felseneck, und dort soll ich ihn aufsuchen.“
Die junge Frau verfolgte noch immer das glitzernde Spiel der Wellen, das sie sehr zu fesseln schien; erst nach einer secundenlangen Pause sagte sie:
„Kennen Sie dieses Felseneck?“
„Nein, ich war niemals dort, aber der Beschreibung nach muß es ein düsteres unheimliches Felsennest sein, fast unzugänglich, abgeschieden von aller Welt, kurz ein echtes Spuk- und Gespensterschloß. Ich habe leider gar keinen Sinn für eine derartige Romantik und würde sie von Herzen gern mit den Salons unserer Residenz vertauschen, wenn ich denn doch einmal Italien verlassen muß.“
„Das scheint Ihnen schwer genug zu werden. Sie folgen wohl nur sehr ungern dem Rufe nach Deutschland?“
„O nein, jetzt nicht mehr!“ brach Paul mit leidenschaftlicher Wärme aus. Es war nicht schwer, dieses „jetzt“ zu deuten. Blick und Ton sprachen deutlich genug, aber Frau von Hertenstein verstand entweder nicht oder wollte nicht verstehen; denn sie erwiderte mit kühler Ruhe:
„Das läßt sich begreifen. Sobald man auf dem Wege nach dem Vaterlande ist, erwacht das Heimathsgefühl.“
So hatte es der junge Mann nun allerdings nicht gemeint, aber gegen diese Auffassung ließ sich schlechterdings nichts einwenden. Das Compliment über sein Heimathsgefühl verstimmte ihn aber doch einigermaßen, und es trat ein längeres Schweigen ein.
[21] Der Dampfer hatte jetzt die Küsten hinter sich gelassen und steuerte in die offene See hinaus. Es lag in der That etwas Märchenhaftes in dieser nächtlichen Meeresfahrt. Ringsum nichts als die schweigende mondbeglänzte Weite, die, leise wogend und schimmernd, sich endlos auszudehnen schien, darüber der Himmel mit seinen mattfunkelnden Sternbildern und beides überfluthet von dem bleichen klaren Lichte, das alle Formen und Farben in weichen Nebelduft auflöste und auch die ganze Wirklichkeit zu lösen schien in weiches, süßes Träumen. Nur dort drüben, in weiter Ferne, ruhte es noch wie ein großer flammender Stern auf den dunklen Wogen, aber auch dieser begann jetzt zu versinken; in wenigen Minuten mußte er erloschen sein.
„Da entschwindet uns Venedig!“ sagte Paul hinüberdeutend. „Wer weiß, wann ich es wiedersehe!“
„Lieben Sie den Ort so sehr?“ fragte Frau von Hertenstein.
„Unbeschreiblich! Ich sah Venedig zum ersten Male, wie überhaupt ganz Italien, und für mich sinkt dort vor uns ein Jahr voll Glück und Sonnenschein mit der herrlichen Dogenstadt hinab.“
„Ich war schon einmal dort – vor Jahren.“ sagte die junge Frau langsam. „Und auch damals tauchte es in die mondbestrahlten Wogen nieder, wie in diesem Augenblick.“
So ruhig die Worte auch gesprochen wurden, sie hatten einen eigenthümlich schweren Klang, und in dem Blick, der unverwandt auf jenem schwindenden Lichtkreise haftete, lag es wie ein düsterer Schatten. Vielleicht war auch Frau von Hertenstein damals ein Jahr voll Glück und Sonnenschein versunken!
Paul verstand jenen Ton nicht; er war überhaupt kein tieferer Beobachter, und seine heitere Natur hielt elegische Stimmungen nie lange fest; auch jetzt wußte er sie rasch abzuschütteln.
„Nun, wenigstens entschwindet es unseren Blicken als ein Stern,“ sagte er scherzend. „Ich will das als ein glückverkündendes Zeichen nehmen und hoffen, daß der Jugendtraum, den ich dort geträumt, dereinst zu Wahrheit wird. Seinen Sternen muß man vertrauen!“
Die Worte waren vielleicht nicht ohne eine gewisse Beziehung, aber nur im Tone leichten Scherzes gesprochen, dennoch schienen sie die junge Frau eigenthümlich zu berühren. Sie schauerte leise zusammen, wie von einem kühlen Nachthauch angeweht, und zog den Schleier dichter über die Schultern. Wieder traf jener räthselhafte Blick den Reisegefährten, jenes seltsame Forschen in seinen Zügen, obgleich diese heiteren offenen Züge nicht gemacht waren, irgend etwas zu verschleiern, und dann wandten die dunklen Augen sich hinüber zu jenem Lichtschein, der noch einen Moment lang aufzuflammen schien und dann verschwand, als sei er in der Fluth selbst erloschen.
„Sterne versinken!“ sagte die junge Frau leise, aber mit einem unendlich herben Ausdruck. „Und Jugendträume auch. Das Leben ist überhaupt nicht zum Träumen geschaffen; man muß ihm klar und voll in das Auge sehen und Niemand vertrauen als sich selbst. Gute Nacht, Herr von Werdenfels!“
Sie wandte sich um und schritt nach der Kajütentreppe, in der sie gleich darauf verschwand. Paul blickte ihr befremdet und bestürzt nach. Was sollte das heißen? Galten diese Worte ihm? Sein harmloser Scherz hatte diese herbe Zurückweisung sicher nicht herausgefordert oder verdient. So mächtig die Anziehungskraft auch war, welche die schöne Frau auf ihn ausübte, in diesem Augenblick fühlte er sich doch bis in das Innerste hinein erkältet; es legte sich wie ein Reiffrost auf seine jugendlich warme Empfindung.
„Eine räthselhafte Frau!“ sagte er halblaut. „Will sie vielleicht erkälten und abstoßen, um mich von ihrer Spur abzuschrecken? Es war entschieden Absicht, daß sie jedem Gespräch über ihre Heimath und ihr Reiseziel auswich, und dennoch, dieser seltsame Blick, der unzweifelhaft ein tieferes Interesse kundgiebt! Freilich, ich habe dabei ein Gefühl, als sei ich es gar nicht, den sie ansieht, als suche dieser Blick etwas ganz Anderes, das weit hinter mir liegt. Gleichviel - mag sie sich noch so sehr in Räthsel und Geheimniß hüllen, ich werde es erfahren, wohin sie sich wendet!“
Er erhob sich mit einer raschen Bewegung und verließ gleichfalls das Verdeck. Der Nachtwind, der sich jetzt erhob, strich mit leisem Wehen darüber hin; die See wogte stärker, und leise rauschten und flüsterten die Wellen am Kiel des Schiffes, das sie hinübertrug zu der deutschen Küste.
„Das ist ja ein halsbrechender Weg! Immer aufwärts und
immer am Abgrunde entlang, und dabei geht es fortwährend
durch Nebel und Wolken! Ich habe mir die Sache doch nicht so
schlimm gedacht, Herr Paul; ich will Gott danken, wenn wir erst
glücklich droben sind!“
Mit diesen Worten machte der alte Arnold all der Noth und Angst Luft, die er bei der ungewohnten Bergfahrt ausstand. Er saß seinem jungen Herrn gegenüber – hatte er doch ein- für allemal das Privilegium mit im Wagen sitzen zu dürfen – und blickte [22] entsetzt in die Tiefe, die sich zur Rechten des Weges aufthat, während zur Linken die Felswand emporstieg. Die Fahrstraße war zwar in einem vorzüglichen Zustande und die kleinen, aber kräftigen Bergpferde trabten munter und sicher dahin; trotzdem gehörte die Fahrt an diesem düsteren und nebelumschleierten Herbsttage nicht zu den angenehmen, und auch Paul Werdenfels, welcher in der Ecke des Wagens lehnte, schien sehr übler Laune zu sein.
„Wenn das so fort geht, werden wir wohl endlich bei den Schneegipfeln da oben anlangen,“ sagte er ärgerlich. „Hatte ich nicht Recht, mich gegen die Fahrt nach dem verwünschten Felseneck zu sträuben? Wir müssen in unmittelbarer Nähe sein, und noch sieht man nicht das Geringste davon; so dicht ist das Schloß von den Wolken umlagert.“
„Und der Herr Onkel sitzen immer da oben in den Wolken?“ fragte Arnold. „Ein curioser Geschmack!“
„Du fandest es ja so nothwendig, daß ich wieder zu vernünftigen Menschen käme,“ spottete Paul. „Hältst Du es für so sehr vernünftig, sich auf diesem Felsen anzusiedeln, wenn man das schöne Werdenfels und noch drei oder vier andere Schlösser zur Verfügung hat? Gieb Acht, Arnold, wenn Dir da oben erst die Fledermäuse um den Kopf schwirren und die alten Raubritter der ehemaligen Burg Nachts in voller Gespensterrüstung umgehen, dann wirst Du noch die ‚gottlose‘ italienische Zeit und sogar den Signor Bernardo zurückwünschen!“
„Den gewiß nicht!“ sagte Arnold feierlich. „Denn der ist ärger als der ärgste Raubritter. Aber wenn es da oben auch noch so schlimm aussieht, Herr Paul, hinauf müssen wir doch. Der gnädige Herr Onkel haben es befohlen, und wir müssen ihn bei guter Laune erhalten; denn wir haben trotz all seiner Geldsendungen so viel Schulden gemacht, daß ihm die Haare zu Berge stehen werden.“
Paul stieß einen Seufzer aus.
„Wenn ich nur wüßte, wo das Geld eigentlich geblieben ist! Ich habe nie geglaubt, daß die Summen so riesig anwachsen würden. Die verwünschten Wucherzinsen!“
„Und der Signor Bernardo!“ ergänzte Arnold. „Der hat uns allein auf dem Gewissen. Wie oft habe ich nicht gewarnt und gebeten, aber der gottlose Mensch lachte mir in’s Gesicht, und Sie waren sein gelehriger Schüler. Sie –“
„Um Gotteswillen, fange nicht schon wieder an zu predigen!“ unterbrach ihn Paul. „Du weißt, es hilft doch nichts.“
„Aus meinem Munde freilich nicht, aber der Herr Onkel wird hoffentlich eine Predigt halten, die man nicht so ohne Weiteres in den Wind schlägt, und wenn er mich fragt, so werde ich ihm reinen Wein einschenken über unsere italienische Reise und über unsere sogenannten Freunde. Dann giebt es sicher einen Sturm, aber das geschieht Ihnen recht, Herr Paul, ganz recht; vielleicht hilft es auf eine Weile.“
„Ich glaube, Du bist im Stande, Dich darüber zu freuen,“ rief der junge Mann ärgerlich. „Untersteh’ Dich nicht, den Onkel noch mehr gegen mich aufzubringen! Es ist übrigens sehr die Frage, ob Du ihn zu Gesichte bekommst. So viel ich weiß, liebt er nicht den Verkehr mit Fremden.“
Arnold sah aus, als traue er seinen Ohren nicht. Er, der seit vierzig Jahren in den Diensten des Werdenfels’schen Hauses war und sich vollständig als ein Mitglied desselben betrachtete, der den jungen Herrn „erzogen“ hatte und jetzt gewissermaßen Vaterstelle bei ihm vertrat, er sollte den eigentlichen Chef des Hauses gar nicht zu Gesichte bekommen, sollte nicht wegen seiner Fürsorge und Umsicht belobt und in seinen Privilegien feierlich bestätigt werden! Das war unerhört, unmöglich! Welch ein Sonderling der Freiherr von Werdenfels auch sein mochte, einer solchen Mißachtung aller Tradition konnte er sich unmöglich schuldig machen.
Paul hatte inzwischen das Wagenfenster niedergelassen und sah hinaus, er erblickte aber freilich nichts anderes, als was er bereits seit zwei Stunden sah, nämlich dunkle Tannen und wogenden Nebel; auf einmal zeigten sich jedoch mitten in diesem Nebel die Umrisse eines Schlosses, das freilich nur einen Moment lang sichtbar war und dann in der Biegung des Weges wieder verschwand.
„Da ist ja das alte Eulennest!“ sagte der junge Mann. „Ich glaubte schon, wir würden es nie erreichen. Wenn es nur wenigstens bewohnbar ist! Es ist keine angenehme Aussicht, bei solchem Wetter zwischen triefenden Mauern mit Moos und Grasbüscheln zu wohnen, und die freundschaftlichen Besuche der Molche und Kröten zu empfangen.“
„Um Gotteswillen, glauben Sie das wirklich?“ rief Arnold erschrocken. „Das wäre ja schrecklich!“
„Aber originell!“ versetzte Paul kaltblütig, „und mein Onkel liebt nun einmal die Originalität über Alles. Da er selbst als Einsiedler lebt, so wird er wohl auch seine geehrten Gäste zu einem solchen Leben verurtheilen. Ich wenigstens mache mich auf Alles gefaßt. Wenn wir da oben auf einem Lager von Tannenzapfen schlafen und zum Diner nur Waldbeeren und Gletscherwasser erhalten, so – Ah! Das ist also Felseneck!“
Der letzte Ausruf verrieth eine so lebhafte Ueberraschung, daß Arnold schleunigst dem Beispiel seines jungen Herrn folgte und den Kopf auf der anderen Seite hinaussteckte. Der Wagen hatte soeben die letzte Windung der Bergstraße hinter sich gelassen, und unmittelbar vor ihnen lag nun das Reiseziel, das allerdings den gehegten Befürchtungen nicht entsprach.
Aus dem Nebel tauchte eine mächtige Burg auf, in mittelalterlichem Stile erbaut, aber offenbar neueren Datums, mit Thürmen und Zinnen, mit blinkenden Fenstern und einem hochgewölbten Eingangsthor. Sie hob sich ungemein wirkungsvoll ab von dem Hintergrunde der Felsen und Tannen, ein einsamer, aber jedenfalls ein stolzer Wohnsitz.
„Gott sei Dank, das sieht ja ganz menschlich aus!“ sagte Arnold aufathmend.
„Ein prachtvolles Bauwerk!“ rief Paul enthusiastisch. „Was hat Raimund aus dieser alten, halbverfallenen Ruine geschaffen! Ich war einmal als Knabe mit meinem Vater hier oben und erinnere mich noch deutlich des öden alten Gemäuers. Aber welch eine Riesensumme muß ein derartiger Bau gekostet haben – das ist ja mehr als großartig!“
Im Schlosse mußte die Ankunft des Erwarteten bereits bemerkt worden sein; denn die schweren Thorflügel waren weit geöffnet. Der Wagen rollte in den Schloßhof, der mit seinen vorspringenden Pfeilern und Erkern, seinen steinernen Gallerien und Treppen einen nicht minder imposanten Eindruck machte. Auch die Empfangsanstalten erwiesen sich als „menschlich“, wie Arnold sich ausdrückte. Zwei Diener in voller Livrée warteten am Fuße der Treppe, und auf derselben erschien ein alter Herr mit weißen Haaren in tadellos schwarzem Anzuge, der sich als Haushofmeister vorstellte und respektvoll den jungen Verwandten seines Herrn empfing. Er führte ihn sofort nach den bereit gehaltenen Zimmern, die in der Hauptfront des Schlosses lagen. Es waren zwei große, reich ausgestattete Räume, denen sich ein kleines Gemach für Arnold anschloß. Es fehlte nichts darin, was zur Bequemlichkeit des Bewohners dienen konnte, aber man sah und fühlte es, daß sie überhaupt zum ersten Male bewohnt wurden. Die Diener, welche das Reisegepäck heraufbrachten, kamen und gingen fast lautlos, und der Haushofmeister sprach so leise und gedämpft, daß Paul Mühe hatte ihn zu verstehen, als er nach den Befehlen des Herrn Baron fragte.
„Ich will vor allen Dingen zu meinem Onkel,“ entgegnete der junge Mann. „Ich habe ihm Tag und Stunde meiner Ankunft angezeigt; er erwartet mich also jedenfalls. Führen Sie mich zu ihm!“
„Das ist für jetzt nicht möglich,“ war die leise, höfliche Antwort. „Der gnädige Herr schläft noch.“
„Jetzt um die Mittagszeit?“ Paul warf einen Blick auf die Kaminuhr, die gerade die zwölfte Stunde zeigte. „Er ist doch nicht etwa krank?“
„Das nicht! Der Herr schläft stets bis in die Nachmittagsstunden hinein, da er gewöhnlich die Nächte hindurch wacht.“
„Das wußte ich in der That nicht,“ sagte Paul, etwas erstaunt über diese Eröffnung. „So werde ich ihn also erst bei Tische sehen.“
„Ich bedaure sehr – der Herr pflegt stets allein zu speisen.“
„Auch jetzt, wo er einen Gast eingeladen hat?“
Der Hausmeister zuckte die Achseln.
„Ich habe Befehl, dem Herrn Baron allein zu serviren.“
„So? Nun, dann bitte ich wenigstens, meine Ankunft dem Freiherrn zu melden – wenn er erwacht.“
Es lag ein unverkennbarer Spott in den letzten Worten, aber in dem Gesicht des Haushofmeisters veränderte sich keine Miene.
[23] „Ich bitte um Verzeihung, aber die Meldung kann nicht eher gemacht werden, bis der Herr selbst sie verlangt. Es darf Niemand ungerufen sein Zimmer betreten.“
„Auch Sie nicht?“ fragte Paul, indem er den alten weißhaarigen Mann ansah, der mindestens so lange in den Diensten seines Onkels war, wie Arnold in den seinigen.
„Auch ich nicht, der Befehl gilt für Alle ohne Ausnahme. Darf ich jetzt das Frühstück serviren lassen?“
„Serviren Sie!“ sagte Paul resignirt, und der Haushofmeister verschwand. Kaum aber hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so warf sich der junge Mann in einen Sessel und brach in ein lautes Gelächter aus.
„Das wird ja recht unterhaltend werden! Ich bin also bei sämmtlichen Mahlzeiten ausschließlich auf meine eigene Gesellschaft angewiesen und bin bescheiden genug, das sehr langweilig zu finden. Arnold, was machst Du für ein Gesicht! Habe ich es Dir nicht gesagt, daß wir uns hier auf alles gefaßt machen müssen?“
Arnold stand noch immer da, mit einer Reisetasche in der Hand, jetzt aber kam er langsam näher und sagte mit sehr bedenklichem Kopfschütteln:
„Also der gnädige Herr Onkel schlafen den ganzen Tag hindurch?“
„Ja, und das werde ich in Zukunft auch thun,“ erklärte Paul. „Es ist jedenfalls das einzige Vergnügen, was Felseneck bietet. Man scheint hier vollständig zum Murmelthier zu werden.“
„Herr Paul, man spricht nicht in solchem Tone von dem Chef der Familie,“ ermahnte Arnold.
„Der Chef der Familie ist wirklich mit allen möglichen Uhu- Eigenthümlichkeiten behaftet!“ rief Paul, ganz unbekümmert um die Zurechtweisung. „Aber jetzt trage die Reisetasche in das Schlafzimmer und sieh zu, daß Du gleichfalls ein Frühstück erhältst! Auf Waldbeeren werden wir wohl nicht zu rechnen brauchen, aber es wird dennoch eine trübselige Mahlzeit werden.“
Die beiden Voraussetzungen erwiesen sich als richtig. Der Haushofmeister erschien auf’s Neue, lautlos, feierlich und ernst mit einem Diener, der das Frühstück servirte, und lautlos, feierlich und ernst ging der Act vorüber. Paul aß vorzüglich, langweilte sich entsetzlich und berechnete dabei, wie viel Stunden und Minuten diese Woche enthielt, die er anstandshalber hier zubringen mußte. Siebenundsechszig Minuten waren schon vorüber – Gott sei Dank!
Die nächsten Stunden vergingen mit der Orientirung in dem neuen Aufenthalt. Paul durchwanderte die sämmtlichen Räume des Schlosses, dessen Besichtigung der Haushofmeister zuvorkommend anbot, aber es wurde dem jungen Manne mit jeder Minute unheimlicher in der Oede und Einsamkeit all dieser Zimmer und Säle und bei diesem schweigsamen Führer, der jede Thür öffnete, jede Frage beantwortete, aber nicht ein Wort mehr sprach, als unbedingt nöthig war.
Da waren ganze Reihen von Gemächern, deren Einrichtung, streng im Stile des Schlosses gehalten, ebenso viel Pracht wie künstlerischen Geschmack verrieth. Sie schienen nur der Bewohner zu harren, aber sie wurden nicht bewohnt, und man merkte es ihnen an, daß sie monatelang gar nicht betreten wurden.
Da gab es einen vorzüglich ausgestatteten Marstall, mit den edelsten Pferden und ein halbes Dutzend Reitknechte, deren Aufgabe darin bestand, die edlen Thiere, welche nie benutzt wurden, spazieren zu führen. Da zeigte sich eine zahlreiche Dienerschaft, die Niemand bediente, sondern nur für das Schloß und dessen Räume da war – kurz, es war ein Haushalt in großem Stile und auf wahrhaft verschwenderischem Fuße zum Dienste eines Einzigen eingerichtet – aber dieser Einzige machte keinen Gebrauch davon.
Freiherr von Werdenfels wohnte drüben in dem alten noch erhaltenen Theile der ehemaligen Burg, den er hatte restauriren lassen, und betrat nie das neue Schloß. Wenn er überhaupt ausritt, so benutzte er stets ein und dasselbe Lieblingspferd, das zu seinem ausschließlichen Dienste bestimmt war. Seine Dienerschaft sah er gar nicht, da es ihr streng verboten war, seine Zimmer zu betreten, und er selbst blieb größtentheils unsichtbar für sie. Das erfuhr Paul nach und nach auf seine Fragen, und als er endlich in sein Zimmer zurückkehrte, war er zu dem Resultate gekommen, daß ganz Felseneck verhext sei, der unsichtbare Herr desselben gleichfalls, und daß man so schleunig wie möglich diesen verfänglichen Ort fliehen müsse, um nicht demselben Schicksal zu verfallen.
Die unbehagliche Stimmung des jungen Mannes steigerte sich mit jeder Minute. Jetzt, wo es darauf ankam, dem Onkel selbst gegenüber zu treten, wollte es ihm nicht mehr gelingen, dessen Eigenthümlichkeiten, wie bisher, von der komischen Seite zu nehmen, und eine peinliche Empfindung gewann in ihm immer mehr die Oberhand. Welch ein Empfang wartete seiner bei diesem offenbaren Menschenfeinde, der nicht einmal mit seiner nächsten Umgebung verkehrte! Er bemühte sich vergebens, in seiner Erinnerung ein klares Bild des Mannes herzustellen, den er nur ein einziges Mal gesehen hatte, und das war vor zehn Jahren gewesen, an der Leiche seines Vaters, als der Schmerz des Verlustes jede andere Empfindung in den Hintergrund drängte.
Damals war Raimund von Werdenfels allerdings erschienen, um die Vormundschaft über den verwaisten Sohn seines Verwandten zu übernehmen und der Wittwe, die ganz mittellos dastand, seinen Beistand zu sichern. Er hatte sein Versprechen auch in vollstem Maße gehalten, dabei aber jeden persönlichen Verkehr vermieden. Seine Vormundschaft über Paul existirte nur dem Namen nach; dieser wurde gänzlich von seiner Mutter erzogen, der Werdenfels eine sehr reiche Rente ausgesetzt hatte. Nach ihrem Tode ging diese Rente unverkürzt auf den Sohn über, nicht gerade zum Vortheil des jungen Mannes, der sich dadurch gewöhnte, über sehr bedeutende Mittel zu verfügen, während er selbst vermögenslos war und gänzlich von der Großmuth des Onkels abhing.
Er machte unbedenklich von dieser Großmuth Gebrauch, hatte sich aber bisher stets in den ihm gezogenen Grenzen gehalten. Erst der Aufenthalt in Italien und die lockere Gesellschaft dort verleiteten ihn zu einer Verschwendung, die er jetzt bitter bereute. Er erschrak selbst, wenn er an die Höhe der Summen dachte, die doch nothwendig gedeckt werden mußten, und in solchen Momenten war er sogar geneigt, seinen Freund Bernardo und dessen Einfluß auf ihn mit sehr kritischen Blicken zu betrachten. So leichtsinnig Paul auch sein mochte, er empfand doch tief das Peinliche eines derartigen Bekenntnisses vor dem Mann, dem er Alles verdankte, und er hätte viel darum gegeben, wenn die nächsten Stunden erst vorüber gewesen wären.
Endlich, gegen drei Uhr, kam die Botschaft, daß Freiherr von Werdenfels seinen jungen Anverwandten zu sehen wünsche. Diesmal war es der Kammerdiener des Freiherrn, der die Nachricht brachte, ein Mann gleichfalls in höheren Jahren, der dem Haushofmeister seine einsilbige Höflichkeit abgelernt zu haben schien. Er ersuchte den jungen Baron, ihm zu folgen, und ging voran, um den Weg zu zeigen, der ziemlich lang war. Sie schritten durch hallende Gänge, stiegen Treppen hinauf und hinunter und passirten endlich die Gallerie, die den neuerbauten Theil des Schlosses mit den noch erhaltenen Resten der alten Burg verband. Hier ging es wieder eine enge gewundene Treppe hinauf, dann durch ein kleineres Vorzimmer; endlich öffnete der Diener eine Thür und ließ den jungen Mann eintreten, während er selbst zurückblieb.
Paul sah sich mit einem Gemisch von Neugierde und Beklemmung in dem Raume um, wo er augenblicklich noch allein war; wenn er aber erwartet hatte, irgend etwas Ungewöhnliches zu finden, so täuschte er sich darin, wie in seinen übrigen Voraussetzungen. Es war ein ziemlich großes, halbrundes Gemach, dessen Fenster zu beiden Seiten den vollen Ausblick auf das Gebirge gewährten. während die Thür zwischen ihnen auf einen Altan führte, von dem aus man eine noch unbeschränktere Aussicht genoß. Die Einrichtung erschien auf den ersten Blick viel einfacher, als in den übrigen Zimmern des Schlosses, obgleich sie in Wirklichkeit einen weit höheren Werth hatte; denn hier bildete jeder Gegenstand ein Kunstwerk für sich. Erst bei näherer Betrachtung gewahrte man, welch eine Fülle der kostbarsten Schnitzereien an diesen Möbeln verschwendet war, wie reich und schwer die Gewebe all dieser Vorhänge, Decken und Teppiche waren. Die tiefdunklen Farben, die überall vorherrschten, ließen die Pracht der Ausstattung gar nicht zur Geltung kommen und liehen ihr den Charakter einer düsteren Einfachheit. Das Tageslicht vermochte nur gedämpft hereinzudringen; denn die Fenster wie die Thür lagen so tief in den Mauernischen, daß sie eigene kleine Räume für sich bildeten, und das schwere Eichengetäfel der Wände gab dem Raume vollends etwas Bedrückendes, den der trübe Nebeltag da draußen schon jetzt in dämmernde Schatten zu hüllen begann.
[24] Die Thür, durch welche Paul eingetreten war, hatte sich geräuschlos wieder hinter ihm geschlossen; jetzt öffnete sich ebenso geräuschlos eine andere Thür, welche in die inneren Gemächer führte, und der Herr des Schlosses trat ein. Der junge Mann ging ihm rasch, aber doch mit einer gewissen Befangenheit entgegen, und während er sich verneigte, haftete sein Blick mit verzeihlicher Neugierde auf dem Vielbesprochenen.
Vor ihm stand ein hoher, schlanker Mann, dessen Aeußeres in keiner Weise den Sonderling verrieth. Was an diesem Aeußeren zunächst auffiel, war eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem jungen Verwandten. Es waren offenbar Familienzüge, die sich bei Beiden wiederholten, aber sie hatten eben nur diese regelmäßigen edlen Linien gemein, während sich in allem Uebrigen die größte Verschiedenheit kundgab.
Bei dem Freiherrn waren Haar und Augen dunkler, und in seinem Antlitze lag jenes Etwas, das man bei Paul vermißte, ein tiefdurchgeistigter Ausdruck. Freilich gruben sich auch scharfe Linien in dieses Antlitz, das in seiner auffallenden, krankhaften Blässe den vollsten Gegensatz zu dem blühend heiteren Gesicht des jungen Mannes bildete. In das dunkelblonde Haar und den vollen Bart mischten sich schon hier und da einzelne Silberfäden, und die Augen waren von jener stahlgrauen Farbe, die bisweilen schwarz erscheint, während sie in anderen Augenblicken einen leuchtend hellen Schimmer zeigt. Es waren seltsame Augen: tief, träumerisch und räthselvoll, schienen sie das Innere eher zu verschleiern, als zu offenbaren. Sie mußten sehr schön gewesen sein, als sie einst in der Schwärmerei der Jugend aufflammten; jetzt lag nur tiefe Ermüdung darin, und wenn der Blick sich für einen Moment belebte, war es nur der Widerschein erloschener Gluthen.
„Ich freue mich, Dich zu sehen, Paul,“ sagte der Freiherr, indem er seinem Neffen die Hand reichte. „Sei willkommen!“
Der junge Mann hatte Mühe, seine Betroffenheit zu verbergen; er hatte sich die Persönlichkeit und den Empfang des Onkels so ganz anders gedacht. Diese einfach vornehme Erscheinung mit dem ruhigen Ernste in Haltung und Sprache paßte durchaus nicht zu dem excentrischen Bilde, welches seine Phantasie entworfen hatte. Er sprach etwas von seiner Freude, dem Onkel endlich persönlich nahen zu dürfen, und von dem längst gehegten sehnlichen Wunsche, ihm mündlich für all seine Großmuth zu danken, aber Werdenfels schien weder auf diese Freude noch auf die Dankbarkeit besonderes Gewicht zu legen. Er erwiderte keine Silbe darauf, sondern lud den jungen Mann[WS 1] nur mit einer Handbewegung zum Sitzen ein, während er sich gleichfalls niederließ.
„Du bist vermuthlich überrascht, Felseneck in dieser Gestalt wiederzusehen,“ begann er die Unterhaltung. „Du kennst es ja wohl nur als Ruine?“
„Ich bewundere immer von Neuem, was Du aus diesen alten Steintrümmern geschaffen hast,“ entgegnete Paul, diesmal mit voller Aufrichtigkeit. „Du hast ja die ehemalige Burg in ihrer ganzen Pracht wieder erstehen lassen.“
„So weit das nach den vorhandenen Plänen und Rissen möglich war, allerdings; der Bau hat freilich jahrelang gedauert; er ist erst im vergangenen Herbste vollendet worden.“
„Und trotzdem wohnst Du hier in dem alten Thurme, der allein noch von den früheren Resten erhalten ist?“
„Ja, und ich denke auch hier zu bleiben.“
„Aber weshalb bautest Du denn das Schloß, wenn weder Du noch Andere es bewohnen?“ fragte Paul verwundert.
„Weshalb?“ wiederholte der Freiherr ruhig. „Nun, zur Unterhaltung! Man muß doch irgend etwas zu thun haben. Es ist nur schade, daß mit der Vollendung eines solchen Baues auch das Interesse daran aufhört. Seit Felseneck fertig dasteht, ist es mir sehr gleichgültig geworden.“
Der junge Mann sah in sprachloser Ueberraschung auf seinen Verwandten, der nur „zur Unterhaltung“ Hunderttausende an ein derartiges Bauwerk verschwendete und dann jedes Interesse an seiner vollendeten Schöpfung verlor.
„Es ist jedenfalls ein stolzer Wohnsitz, den Du Dir mitten in der Einsamkeit des Hochgebirges geschaffen hast,“ sagte er nach einer Pause. „Du bist vermuthlich ein geübter Bergsteiger, Onkel Raimund?“
„Nein, meine Gesundheit verbietet mir gänzlich dergleichen Anstrengungen.“
„Dann treibst Du wohl die Jagd mit Leidenschaft in diesen Bergwäldern?“
„Ich jage nie.“
„Oder Du betreibst in ungestörtester Ruhe Deine wissenschaftlichen Studien? Das ist ja wohl von jeher Deine Lieblingsneigung gewesen?“
Werdenfels schüttelte den Kopf.
„Das war in früheren Jahren; jetzt studire ich sehr wenig. Für den Laien hat das auf die Dauer doch keinen Reiz.“
„Aber mein Gott, was fesselt Dich dann hier oben?“ rief Paul, „und was liebst Du eigentlich an diesem Aufenthalte, der Dich so weit von den Menschen entfernt?“
„Die Berge!“ sagte der Freiherr langsam. „Und die Einsamkeit!“
Er erhob sich und trat an die weit geöffnete Thür, die auf den Altan hinausführte.
„Willst Du die Aussicht einmal genießen? Deine Zimmer haben den Blick nach der Ebene hinaus; nur von hier aus sieht man das Hochgebirge.“
[41] Paul kam der Aufforderung nach und trat gleichfalls auf den Altan. Es war während der letzten Stunden klarer geworden; die Wolken jagten und zogen noch an den Bergwänden hin, aber der Nebel war gesunken, und die Gipfel zeigten sich unverhüllt. Man blickte von diesem Theile des Schlosses aus unmittelbar hinunter in die schwindelnde Tiefe eines öden Felsenthales, aus dem nur Klippen emporstarrten, während unten in dem nebelumhüllten Grunde der Bergstrom tobte, dessen Brausen bis hier herauf drang. Drüben flatterten die Wolken an den jähen Abstürzen einer Felswand, deren Fuß dunkle Wälder umsäumten, während die Höhe nackt und kahl aufragte, und ringsum lagerten die Häupter des Gebirges, die, zum Theil schon schneebedeckt, in schweigender Majestät niederblickten. Nirgends war eine menschliche Wohnung zu erblicken, nirgends ein milderer Zug in diesem Gemälde wilder Großartigkeit – ringsum nur Felsen, Tannen und Schneegefilde!
Dem Schlosse gerade gegenüber stieg ein einzelner, riesiger Gipfel empor, der, fast in Pyramidenform gestaltet, all die andern überragte. Auch er trug das leuchtende Schneegewand, aber er thronte einsam, wie ein Herrscher über der ganzen Bergwelt. Obgleich die Weite des Thales zwischen ihm und dem Schlosse lag, schien er doch in unmittelbarer Nähe zu sein, und es lag beinahe etwas Drohendes in dieser Nähe. Es war, als wolle der Berg mit seinen eisigen Wänden die Menschenwohnung erdrücken, die sich bis in sein Gebiet hinaufgewagt hatte.
„Wir werden Sturm bekommen,“ sagte Werdenfels, dort hinauf weisend. „Wenn die Geisterspitze sich so nahe zeigt, müssen wir ihn stets erwarten.“
„Ist das der Sturmprophet der Gegend?“ fragte Paul. „Er hat allerdings etwas Geisterhaftes. Mir wäre es unheimlich, wenn ich immer diese starre weiße Wand vor Augen hätte.“
„Mir ist sie vertraut, schon seit Jahren. Ich und die Geisterspitze, wir kennen einander – nur zu gut.“
Die Worte wollten anscheinend gar nichts Besonderes sagen; dennoch fiel ihr Klang dem jungen Manne auf, ebenso wie der Ausdruck in dem Gesicht seines Onkels. Er hatte die Regungslosigkeit dieser Züge anfangs für ruhigen Ernst gehalten, aber es war etwas Anderes. Allmählich trat immer deutlicher eine Starrheit und Leblosigkeit hervor, die etwas Unheimliches hatte. Jede leidenschaftliche Empfindung, jede warme menschliche Regung schien darin begraben zu sein, und der Blick, welcher unverwandt an jenem Schneegipfel hing, war wohl träumerisch aber auch in ihm lag dieselbe todte Ruhe.
Der Freiherr schien den beobachtenden Blick zu spüren; denn er wandte sich plötzlich um und fragte:
„Wie gefällt Dir die Aussicht?“
Paul zögerte mit der Antwort.
„Du vermagst ihr wohl keinen Geschmack abzugewinnen?“
„Wenn ich offen sein soll – nein!“ entgegnete der junge Mann. „Sie ist ja unendlich großartig und mag auch einen mächtigen Reiz ausüben – auf Stunden. Wenn ich aber verurtheilt wäre, Tag für Tag immer nur in diese Felsenöde zu schauen, so würde ich schon in der ersten Woche Selbstmordgedanken hegen und in der zweiten hinunterstürzen in das erste beste Dorf, um nur wieder Menschen zu sehen und zu fühlen, daß ich nicht allein auf der Welt bin.“
„Das wäre allerdings das Schwerste für Dich!“ sagte der Freiherr mit leisem Spott. „Ich würde es ertragen.“
Er trat wieder in das Zimmer zurück und gab Paul einen Wink ihm zu folgen.
„Vermuthest Du nicht, weshalb ich Dich nach Deutschland zurück rief?“ fragte er dann, seinen früheren Platz wieder einnehmend.
„Nein, aber ich gestehe offen, daß es mich überraschte. Du hattest bisher nie den Wunsch, mich zu sehen.“
„Ich hatte ihn auch jetzt nicht, aber es war doch wohl nothwendig, daß Dein Aufenthalt in Italien ein Ende nahm. Vielleicht fühlst Du das selbst.“
Paul sah betreten auf.
Der Onkel konnte doch unmöglich etwas Anderes von diesem italienischen Aufenthalt wissen, als was die Briefe des jungen Mannes ihm davon berichteten.
„Ich?“ fragte er ungewiß, „wie meinst Du das?“
„Du weißt, ich habe die Vormundschaft über Dich stets nur dem Namen nach geführt, sagte Werdenfels ruhig. „Du bist Dir seit dem Tode Deiner Mutter gänzlich allein überlassen gewesen. Ich liebe es nicht, den Mentor zu spielen, und ich greife auch jetzt nur sehr ungern ein, aber Du selbst hast meine Einmischung herausgefordert. Du bist mir doch nun einmal von Deinem sterbenden Vater übergeben worden, und ich kann mich der übernommenen Pflicht nicht entziehen. Du hast dafür gesorgt, daß sie unabweisbar an mich heran tritt.“
In dem Antlitz Pauls stieg eine dunkle Röthe auf. Er verstand nur zu gut, wohin diese Worte zielten, wenn es ihm auch unbegreiflich blieb, wie der Onkel in seiner weltverlorenen Einsamkeit zu der Kenntniß jenes Treibens gekommen war. Dennoch versuchte er sich zu vertheidigen.
[42] „Ich weiß nicht, was Du gehört haben magst, Onkel Raimund, aber ich versichere Dir –“
„Ich mache Dir ja keine Vorwürfe,“ unterbrach ihn Raimund. „Du bist jung, lebensfroh und fremdem Einfluß sehr zugänglich. Da geräth man leicht in den Strudel, aber nicht Jeder hat die Kraft, sich mit eigener Hand wieder daraus empor zu arbeiten, und Du hast sie vollends nicht, deshalb mußte ich die meinige herleihen. Es wäre doch schade, Paul, wenn Du mit vierundzwanzig Jahren schon in diesem Strudel zu Grunde gingest.“
Der junge Mann sah zu Boden, während die Röthe in seinem Gesicht noch tiefer wurde. Es waren nicht die Worte, welche ihn verletzten; es lag ja kaum ein Vorwurf darin, und er war sich bewußt, noch ganz andere Vorwürfe verdient zu haben, aber die kühle Ruhe und Theilnahmlosigkeit, mit der das alles ausgesprochen wurde, kränkte und reizte ihn zugleich. Er hatte die Empfindung, als ob es dem Onkel in Wirklichkeit ziemlich gleichgültig sei, ob sein junger Verwandter zu Grunde gehe oder nicht. Er erfüllte mit seinem Einschreiten nur eine Pflicht, welche ihm offenbar sehr lästig war; ein Interesse an der Sache selbst nahm er durchaus nicht.
„Du hast Recht,“ sagte Paul endlich mit einer Selbstüberwindung, die ihm schwer genug wurde. „Ich bin leichtsinnig gewesen und undankbar gegen Dich, dem ich so Vieles danke, aber Du darfst es mir glauben“ – hier schlug er die blauen Augen voll und offen zu dem Freiherrn auf – „ich habe das oft genug selbst gefühlt und mehr als einmal versucht, mich loszureißen, aber –“
„Deine sogenannten Freunde haben das nicht zugegeben,“ ergänzte Werdenfels. „Ich weiß es. Da war vor Allem ein gewisser Bernardo, der Dich zu all den Thorheiten verleitet hat.“
„Also auch das weißt Du?“ rief Paul auf’s Höchste betroffen. „Ich ahnte nicht, daß Du so genau über meine dortigen Bekanntschaften orientirt bist.“
Der Freiherr ließ die letzte Bemerkung unerörtert; er fuhr mit derselben kühlen Gelassenheit fort:
„Es war nothwendig, Dich aus diesen Umgebungen zu entfernen; deshalb rief ich Dich zurück. Ich hoffe und erwarte, daß jene Beziehungen nicht wieder aufgenommen werden; aber um Dich ganz davon zu lösen, müssen Deine Angelegenheiten vollständig geregelt werden. Du hast dort Verpflichtungen hinterlassen?“
„Ja,“ sagte der junge Mann leise.
Jetzt kam die gefürchtete Beichte; er hatte sie sich doch nicht so schwer und peinlich gedacht, und er wußte, daß die Gelassenheit des Onkels nicht Stand halten werde, wenn er die Summe erfuhr, um die es sich handelte. Der Freiherr zeigte jedoch gar keine Neugier in dieser Hinsicht.
„Wende Dich an meinen Rechtsanwalt, den Justizrath Freising, durch den Du bisher Deine Geldsendungen bezogst! Ich werde ihm die Weisung zugehen lassen, die Sache sofort zu erledigen. Er wohnt nur zwei Stunden von hier in M.; Du kannst also alles Nöthige mit ihm persönlich besprechen.“
„Wie Du befiehlst,“ sagte Paul zögernd, „aber die Summe ist bedeutend, sehr bedeutend sogar; ich –“
„Nenne sie dem Justizrath!“ unterbrach ihn der Freiherr abwehrend. „Zwischen uns Beiden braucht das nicht weiter erörtert zu werden. Ich fordere nur Dein Ehrenwort, daß Du in dieser Beziehung offen bist, damit jene Verpflichtungen ganz und voll gelöst werden. Alles Uebrige wird Freising besorgen.“
Paul stand wortlos da und wußte nicht, ob er sich erleichtert oder bedrückt fühlen sollte. Er hatte diese Auseinandersetzung sehr gefürchtet, und nun ging sie ohne jede Scene vorüber. Der Onkel fragte nicht einmal nach dem Betrag jener Summe, die immerhin ein kleines Vermögen repräsentirte; er gewährte, ohne auch nur einen Tadel auszusprechen; aber die kalte, halb verächtliche Art, in der dies geschah, beschämte den jungen Mann auf das Tiefste. Er hätte lieber Tadel und Vorwürfe hingenommen, als eine derartige Verzeihung, und das warme Dankeswort, das er so gern ausgesprochen hätte, wollte nicht über seine Lippen.
„Ich danke Dir,“ sagte er endlich etwas gezwungen. „Ich glaubte nicht, daß Du die Sache so aufnehmen würdest, aber ich werde mich bemühen, Deine Güte besser zu verdienen, als bisher.“
Das Auge des Freiherrn ruhte prüfend auf den Zügen seines jungen Verwandten, aber es lag kein Interesse in diesem Blick.
„Das wird mich freuen, um Deinetwillen. Und nun kein Wort mehr von der Angelegenheit! Sie ist besprochen und erledigt; übergeben wir sie der Vergessenheit! – Ich hoffe, daß Du mit Deinen Zimmern zufrieden bist. Du hast Deinen eigenen Diener mitgebracht?“
„Ja, den alten Arnold, der mich stets begleitet.“
„Er ist ja wohl schon lange in den Diensten Deiner Familie?“
„Schon seit länger als vierzig Jahren. Ich habe ihn von meinen Eltern übernommen.“
„Und Du bist vermutlich sehr vertraut mit ihm?“
„Allerdings,“ entgegnete Paul, mit geheimer Verwunderung, daß der sonst so gleichgültige Onkel sich so eingehend nach einem alten Diener erkundigte, der ihm gänzlich unbekannt war. „Arnold hat mich von meiner frühesten Kindheit an unter seiner ausschließlichen Obhut gehabt und, wie er stets behauptet, ‚erzogen‘. Wir sind zwar fortwährend im Kriegszustande; denn er nimmt sich bei jeder Gelegenheit heraus, den Hofmeister zu spielen, aber ich weiß doch, daß er mit Leib und Seele an mir hängt, und ich selbst kann ihn und seine ewigen Predigten gar nicht mehr entbehren.“
„Man muß diesen alten Dienern manche Eingriffe hingehen lassen,“ sagte Werdenfels. „Sie betrachten sich als zur Familie gehörig und haben gewissermaßen ein Recht dazu. Behalte immerhin Deinen Arnold.“
„Interessirst Du Dich für ihn?“ fragte Paul, dem eine gewisse Beziehung in diesen Worten zu liegen schien. „Er würde sehr glücklich sein, wenn es ihm erlaubt würde, sich Dir vorzustellen; Onkel Raimund.“
Der Freiherr machte eine abwehrende Bewegung.
„Nein, ich sehe nicht gern fremde Gesichter um mich. Aber noch Eins, Paul! Laß den ‚Onkel‘ aus unseren Gesprächen weg! Dein Vater und ich waren allerdings Vettern, der Altersunterschied zwischen Dir und mir ist aber nicht so groß, um diesen Titel zu rechtfertigen. Ich habe nur zehn Jahre vor Dir voraus. Nenne mich einfach Raimund!“
Paul blickte erstaunt auf seinen Onkel, der erst vierunddreißig Jahr alt sein sollte; er hatte ihn mindestens um zehn Jahre älter geschätzt. Die Züge des Freiherrn waren allerdings noch jugendlich, aber die tiefe Blässe dieser Züge und die noch tieferen Linien darin ließen den Irrthum verzeihlich erscheinen.
„Was nun Deinen nächsten Aufenthalt betrifft,“ fuhr Raimund fort, „so wirst Du vorläufig hier bleiben. Ich weiß, daß das nicht in Deinen Wünschen liegt, aber ich halte es doch für besser, Dich nicht sofort neuen Versuchungen auszusetzen, indem ich Dich nach der Residenz schicke. Du hast freie Disposition über die Ställe und kannst reiten und fahren, wohin es Dir beliebt; Du findest hier oben ein vorzügliches Terrain für die Jagd, und die Bibliothek des Schlosses steht ebenfalls zu Deiner Verfügung. Im Uebrigen mußt Du Dich mit der Einsamkeit und Langeweile von Felseneck abfinden, so gut Du es vermagst. Ich selbst werde Dich wenig sehen; denn ich liebe es nicht, mich in meinen Gewohnheiten stören zu lassen. Im Laufe des Winters wird sich ja wohl irgend eine Thätigkeit für Dich finden, die Dir in Zukunft einen festeren Halt im Leben giebt. Und nun leb’ wohl für heute!“
Im Laufe des Winters! Paul war so entsetzt über die Aussicht, den ganzen Winter hier zuzubringen, daß er zu antworten vergaß. Zwar stand es bei ihm fest, daß er auf keinen Fall in Felseneck bleiben werde, aber für den Augenblick war jede Opposition unmöglich. So ruhig die Worte auch klangen, sie enthielten doch einen ganz bestimmten Befehl, und nach der unbedingten Großmuth, die der Onkel ihm soeben gezeigt, konnte der junge Mann sich füglich nicht offen dessen Willen widersetzen. Er verneigte sich also und ging. Der Freiherr winkte ihm freundlich, gleichgültig mit der Hand und trat dann wieder auf den Altan hinaus, von wo er unverwandt zu der Geisterspitze hinaufblickte, die in ihrem leuchtenden Schneegewande in voller Klarheit dastand.
Es war in der That nicht zu viel gesagt, wenn man
behauptete, daß der Burgherr von Felseneck das Märchen der ganzen
Umgegend geworden. Je weniger er nach der Welt und den
Menschen zu fragen schien, desto mehr fragten sie nach ihm, und
die vollständige Zurückgezogenheit und Einsamkeit, in der er nun
schon seit Jahren lebte, gaben Anlaß zu den seltsamsten Gerüchten.
[43] Diese Gerüchte waren freilich meist so abenteuerlich, daß die Vernünftigen sie ohne Weiteres in das Reich der Fabel verwiesen und sich mit der Annahme begnügten, daß Raimund von Werdenfels ein ausgemachter Menschenfeind sei. Allerdings blieb kaum eine andere Erklärung übrig für die Hartnäckigkeit, mit der er sich jedem Umgange, ja sogar jeder zufälligen Begegnung entzog. Er war und blieb unsichtbar für die ganze Nachbarschaft, unzugänglich für seine Beamten, welche niemals direct mit ihm verkehrten; selbst seine eigene Dienerschaft, den Kammerdiener ausgenommen, bekam ihn nur höchst selten zu Gesicht. Er betrat niemals Werdenfels oder eines seiner anderen Güter und hatte um sein Felseneck einen förmlichen Bannkreis gezogen, der nicht zu durchbrechen war, so mancher Versuch auch in dieser Hinsicht gemacht wurde. Die Dienerschaft hatte strenge Befehle, die ebenso streng befolgt wurden. Das Schloß öffnete sich Keinem, der nicht durch den Schloßherrn selbst gerufen war.
Unter seinen Standesgenossen erregte diese Art zu leben ebenso viel Befremden wie Tadel. Man fand es unerhört, daß ein Mann, der durch seinen Namen und Reichthum, durch die Traditionen seiner Familie berufen war, eine der ersten Stellungen im Lande einzunehmen, auf jede Thätigkeit verzichtete und es sogar verschmähte, unter den Gutsbesitzern der Provinz, wo er weitaus der bedeutendste war, eine Rolle zu spielen. Man verzieh ihm nicht seine vollständige Gleichgültigkeit gegen alle Interessen und Vorgänge der Umgegend und empfand sein entschiedenes Abwenden davon als eine Art Beleidigung. Die Neugier beschäftigte sich allerdings viel mit ihm, aber er genoß auch nicht die geringste Sympathie in jenen Kreisen.
Noch schlimmer gestaltete sich das Verhältniß des Freiherrn zu dem Landvolk, das ihm geradezu feindselig gegenüberstand, und gerade seine eigenen Güter waren es, wo diese Feindseligkeit am schärfsten und nachdrücklichsten hervortrat. Selbst die zahlreichen Beamten, die auf den ausgedehnten Besitzungen und in den umfangreichen Bergwaldungen angestellt waren, traten selten oder nie für ihren Herrn ein, wenn ihre Stellung es ihnen auch verbot, offen gegen ihn Partei zu nehmen. In diesen Kreisen glaubte man unbedingt allen jenen Gerüchten, die über Raimund von Werdenfels im Umlaufe waren, und hielt um so hartnäckiger daran fest, je abenteuerlicher sie lauteten. Es war ein Gemisch von Furcht, Haß und Aberglauben, das schließlich einen förmlichen Sagenkreis um ihn wob.
Paul von Werdenfels war mit all diesen Verhältnissen nur sehr oberflächlich bekannt; er hatte nur durch gelegentliche Berichte und Schilderungen davon erfahren, aber es war genug, um im Verein mit dem, was er hier sah und hörte, ihm den Aufenthalt in Felseneck als unmöglich erscheinen zu lassen. Er kannte zwar jetzt den Grund dieser plötzlichen Berufung und mußte auch nothgedrungen die Fürsorge anerkennen, die darin lag, aber seit jener persönlichen Begegnung wußte er auch, daß es dem „gnädigen Herrn Onkel“, wie Arnold ihn nannte, sehr unbequem war, sich so eingehend mit seinem leichtsinnigen Neffen befassen zu müssen. Der Freiherr empfand diese Unterbrechung seiner gewohnten Einsamkeit offenbar als eine lästige Störung, hielt es aber doch für seine Pflicht, den jungen Mann, den er bisher so ganz sich selber überlassen, auf einige Zeit den Versuchungen der großen Welt zu entziehen. Eine derartige Buße aber war durchaus nicht nach Paul’s Geschmack, und er trat in sein Zimmer, wo Arnold soeben mit dem Auspacken der Garderobe beschäftigt war, mit einem Gesichte, das die übelste Laune verkündete.
„Du packst nur den kleinen Koffer aus, Arnold!“ befahl er. „Nur so viel, wie für etwa acht Tage nöthig ist; wir bleiben auf keinen Fall länger hier.“
„So?“ fragte Arnold indem er in seiner Beschäftigung innehielt und verwundert aufblickte. „Sind der Herr Onkel damit einverstanden?“
„O, der Onkel!“ rief Paul mit einem ärgerlichen Lachen. „Der hat die freundliche Absicht, mich den ganzen Winter hier oben zu behalten, damit ich Buße thue für meine Sünden und nebenbei bei ihm einen Cursus in der Menschenfeindlichkeit durchmache. Aber eine derartige Strafe lasse ich mir nicht zudictiren. Wir reisen in der nächsten Woche.“
„Nein, Herr Paul, das thun wir nicht!“ erklärte Arnold in voller Gemüthsruhe, während er schleunigst wieder auszupacken begann.
„Ich sage Dir, wir reisen! Soll ich etwa zum Trappisten werden in dieser Einsamkeit? Soll ich den ganzen Tag lang Gemsen schießen oder aus Verzweiflung die gelehrten Werke der Schloßbibliothek durchstudiren, die mir großmüthig zur Verfügung gestellt werden? Ich halte es nicht aus in diesem verwünschten Schlosse mit seiner öden unheimlichen Pracht! Ich komme mir wie verzaubert darin vor, und der Onkel hat auch etwas von einem Hexenmeister an sich, dem nichts verborgen bleibt. Er, der nie sein Schloß verläßt, der mit keinem Menschen Verkehr unterhält, ist trotzdem ganz genau über meinen Aufenthalt in Italien unterrichtet. Er weiß Alles, kennt Alles, sogar den Bernardo.“
„Sogar den Signor Bernardo!“ wiederholte Arnold mit einem ganz eigenthümlichen Seitenblicke. „Ja, woher mag er das erfahren haben?“
„Weiß ich es? Vielleicht hat es ihm seine weiße Geisterspitze da oben zugeflüstert. Mit natürlichen Dingen geht es nicht zu.“
„Der Herr Onkel waren wohl sehr wild von wegen unserer Schulden?“ fragte der alte Diener mit einer unverkennbaren Genugthuung.
„Nein,“ sagte Paul ernster. „Er war im Gegentheile die Güte selbst, aber ich wollte, er hätte mich gescholten. Ich hätte lieber die härtesten Vorwürfe ertragen, als diese eisige Gleichgültigkeit, mit der er Alles gewährte und Alles verzieh. Da ist auch nicht ein Funke von Wärme, von Interesse mehr vorhanden, weder für mich noch für sonst Etwas auf der Welt. Er scheint allen menschlichen Regungen abgestorben zu sein.“
Arnold pflegte sonst stets seinem jungen Herrn zu widersprechen; es war dies Grundsatz bei ihm, diesmal aber war er ausnahmsweise derselben Meinung. Er hatte in der Zwischenzeit die Diener ausgefragt und dabei so viel von den Sonderbarkeiten des alten Freiherrn gehört, daß es auch ihm in Felseneck nicht recht geheuer schien, aber er verstand es, mit den Verhältnissen zu rechnen.
„Ja, viel Vergnügen werden wir hier nicht haben,“ hob er an. „Der Herr Onkel scheinen – mit Erlaubniß zu sagen – etwas verrückt zu sein.“
„Ja, das ist er!“ stimmte Paul aus Herzensgrund bei. „Ein vernünftiger Mensch hat nicht solche Gewohnheiten.“
„Aber deshalb darf man ihm doch nicht den Respect versagen,“ fuhr Arnold mit Nachdruck fort. „Er ist und bleibt doch nun einmal der Chef der Familie, und außerdem unser Vormund.“
„Ich bin längst mündig.“ warf Paul heftig ein. „Schon seit drei Jahren.“
„Aber wir haben kein Geld,“ beharrte Arnold hartnäckig. „Der Herr Onkel kann uns enterben, und das thut er ohne Zweifel, wenn wir ungehorsam sind. Die Güter sind nicht Majorat – das wissen Sie ja, Herr Paul; es kommt alles auf das Testament an.“
„Meinetwegen, ich bin kein Erbschleicher!“ rief der junge Mann, indem er ungeduldig auf und abzuschreiten begann. „Kurz und gut, ich bleibe nicht in Felseneck. Die Luft hier bekommt mir nicht; in einigen Tagen werde ich krank werden, sehr krank. Der Onkel wird die Nothwendigkeit eines Luftwechsels einsehen und mein Leben nicht leichtsinnig auf das Spiel setzen – auf diese Weise geht es.“
Der alte Diener schüttelte in würdevoller Entrüstung sein graues Haupt.
„Sie sollten sich schämen, Herr Paul, eine solche Komödie zu spielen. Sie sehen ja so blühend aus, daß es eine Sünde ist, von Krankheit zu sprechen.“
„Ich bekomme das Fieber!“ erklärte Paul. „Dazu ist keine Blässe nothwendig, und übrigens werde ich es wirklich bekommen vor Aerger und Aufregung, wenn ich hier bleiben soll. Zu all seinen sonstigen Eigenschaften scheint der Onkel nun auch noch ein Weiberfeind zu sein. Die ganze Dienerschaft des Schlosses ist männlich; es existirt in diesen Mauern gar nichts Weibliches. Die einzige Vertreterin des schönen Geschlechts in der Nähe überhaupt ist die Frau des Försters, und die –“ Paul seufzte – „die ist über sechszig Jahr!“
Arnold erhob sich plötzlich von dem inzwischen ausgepackten Koffer und stellte sich mit voller Feierlichkeit vor seinem jungen Herrn hin.
[44] „Also darnach haben Sie sich schon erkundigt? Ja, das Weibliche, das hat wieder das ganze Unheil angerichtet! Denken Sie, ich weiß es nicht, warum Sie auf einmal so obstinat sind? Die Reisebekanntschaft aus Venedig steckt dahinter. Sie haben es ja nun glücklich herausgebracht, daß sie in W. geblieben ist, während wir abreisen mußten. Darum waren Sie so wüthend auf der ganzen Reise; darum wollten Sie Hals über Kopf wieder fort; darum riskren Sie sogar den Zorn des Herrn Onkels und die Erbschaft und die ganze Zukunft. O, ich weiß Bescheid!“
„Arnold, ich verbitte mir dergleichen Predigten!“ rief Paul gereizt. „Du vergißt vollständig, daß ich nicht mehr der Knabe bin, den Du hofmeistern durftest. Ich bin vierundzwanzig Jahre und fordere jetzt den Respect, die Ehrfurcht, die Du unter allen Umständen Deinem Herrn schuldig bist.“
„Da müssen Sie erst vernünftiger werden, Herr Paul,“ sagte Arnold trocken. „Viel vernünftiger! Bis jetzt sind Sie es noch nicht – das haben wir in Italien gesehen. Und Sie brauchen sich nicht den Kopf zu zerbrechen, woher der Onkel unsere dortigen Streiche erfahren hat. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt.“
„Du?“ dem jungen Manne blieb vor Erstaunen und Entrüstung das Wort im Munde stecken. „Du hast –?“
„Dem gnädigen Herrn geschrieben! Ja, das habe ich gethan, und ihm allerunterthänigst gemeldet, daß wir eben dabei sind, uns an Leib und Seele zu ruiniren, und daß der Wirthschaft schleunigst ein Ende gemacht werden müßte. Das hat auch geholfen; denn acht Tage darauf kam das Abberufungsschreiben. Ich habe bisher darüber geschwiegen, weil Sie sonst überhaupt nicht nach Felseneck gegangen wären, und der Herr Onkel hat auch geschwiegen, wie ich sehe. Er denkt vielleicht, ich könnte Unannehmlichkeiten davon haben. Er weiß ja nicht,“ hier hob Arnold mit großem Selbstgefühl den Kopf, „wie wir Beide mit einander stehen.“
Die gerühmte Stellung hatte aber jetzt eine schwere Probe zu bestehen; denn Paul gerieth außer sich über diese Enthüllung. Er sprach von unberechtigten Eingriffen, von Intriguen, von unerträglicher Bevormundung und schüttete die ganze Heftigkeit seines leicht erregbaren Temperamentes über den alten Diener aus, dieser aber nahm das alles in unerschütterlicher Ruhe hin.
„Ich habe meine Pflicht gethan und nichts weiter,“ erklärte er. „Ich habe es der seligen Frau Baronin auf dem Sterbebette versprochen. Sie hat mich eigens rufen lassen, um mir zu sagen –“
„Arnold, hör’ auf! Du könntest mir das Andenken meiner Mutter verleiden mit diesen ewigen Wiederholungen!“ rief Paul verzweiflungsvoll; denn er wußte, daß dieses Thema unerschöpflich war. „Ein für alle Mal: ich bleibe nicht in Felseneck, und wenn Du Dir etwa einfallen lassen solltest, neue Intriguen gegen mich zu spinnen, so reise ich allein ab und lasse Dich hier!“
Er stürmte fort. Arnold blickte ihm kopfschüttelnd nach.
„Und solch ein Brausekopf verlangt Respect und Ehrfurcht von Unsereinem!“ sagte er indignirt. „Aber diesmal hilft uns all das Aufbrausen nichts. Wir bleiben hier und müssen uns fügen lernen. Gott sei Dank, in diesem einen Punkte wenigstens scheinen der Herr Onkel vernünftig zu sein!“
Damit holte er einen Schlüssel hervor und begann, ganz unbekümmert um das Verbot seines jungen Herrn, den großen Koffer auszupacken.
Paul hatte in voller Aufregung das Zimmer verlassen und war auf die Terrasse hinausgegangen, die sich vor seinen Fenstern hinzog. Er war wüthend über den ihm gespielten Streich und noch wüthender über den Befehl des Onkels, in Felseneck zu bleiben, während er doch um jeden Preis fort wollte. Die scharfen Augen des alten Dieners hatten ganz recht gesehen: es war die schöne Reisegefährtin, welche das ganze Sinnen und Denken des jungen Mannes ausfüllte. Er war gleichzeitig mit ihr in W. eingetroffen und wußte, daß sie in einem dortigen Hôtel abgestiegen war, folglich stand es für ihn fest, daß er gleichfalls dorthin müsse. Weiter hatte er allerdings nichts erfahren; denn die Dienerin zeigte sich sehr unzugänglich und Arnold, den er als Kundschafter benutzen wollte, hatte ihm, anstatt zu gehorchen, eine nachdrückliche Predigt gehalten. Es galt daher, die glücklich gefundene Spur nicht zu verlieren, und es fragte sich nur, wie und unter welchem Vorwande die Abreise zu bewerkstelligen war. Eine plötzliche Erkrankung in der rauhen Luft von Felseneck erschien noch als das beste Mittel.
Rauh war die Luft hier oben allerdings, aber ihr herber, würziger Hauch berührte doch die Nerven des jungen Mannes unendlich erfrischend, die in der weichen, schwülen Luft Italiens erschlafft waren. Er stand auf der kleinen Burgterrasse, die, weit auf den Fels hinausgebaut, den vollen Anblick des Schlosses selbst gewährte, und erst hier, in unmittelbarer Nähe, kamen die mächtigen Verhältnisse desselben zur vollen Geltung. All diese Mauern, Thürme und Erker, die in scheinbarer Regellosigkeit und Willkür bald vorsprangen, bald zurücktraten, fügten sich doch zu einem einzigen malerischen Ganzen, das jedenfalls großartiger und bedeutender war als die ehemalige Burg, wenn auch die Pläne derselben maßgebend gewesen sein mochten. In mächtigen Pfeilern und Bogen, deren reich durchbrochene Arbeit allein ein Kunstwerk war, führte die breite steinerne Gallerie hinüber in den alten Theil des Schlosses. Auch hier hatte die Hand des Baumeisters theilweise eingegriffen, um den Verfall aufzuhalten, aber das Vorhandene war möglichst geschont und erhalten worden.
Dichter hundertjähriger Epheu umspann wie ein dunkles Gewand den halbrunden Thurm, in dem das Arbeitszimmer des Freiherrn lag. Die beinahe armdicken Wurzeln und Stämme waren tief in das Mauerwerk hineingewachsen und überzogen es mit einem undurchdringlichen Netz grüner Ranken. Auch der Seitenflügel, der sich an den Thurm anschloß, trug dieses Epheugewand; nur war es hier nicht so dicht und ließ an vielen Stellen die noch eisenfest gefügten Quadern der altersgrauen Mauern erblicken.
Schloß Felseneck führte seinen Namen mit Recht. Auf einem Felsengipfel gegründet, beherrschte es weithin das ganze Thal und ragte stolz und trotzig empor zu den Wolken, die oft genug zu ihm herniederstiegen und es von allen Seiten umflatterten.
Und ein derartiges Bauwerk ließ der Freiherr in dieser weltverlorenen Einsamkeit erstehen, wo Niemand es sah und bewunderte. nicht einmal der eigene Herr! Paul konnte nicht umhin, sich der Meinung Arnold’s anzuschließen, der im allertiefsten Respect meinte, daß der gnädige Herr Onkel doch einigermaßen verrückt sei.
[57] Der junge Mann war noch immer mit seinen Krankheits- und Reiseplänen beschäftigt, als der Haushofmeister auf der Terrasse erschien. Er kam im Namen seines Herrn, um sich zu erkundigen, ob der junge Baron mit seinen Zimmern zufrieden sei, und ob er noch irgend etwas vermisse oder wünsche.
„O durchaus nicht! Es ist alles ausgezeichnet, vortrefflich!“ sagte Paul, der Mühe hatte, seine üble Laune zu verbergen; ihn ärgerte hier alles, sogar die respectvolle Artigkeit des alten Mannes, der jetzt fortfuhr:
„Der Herr meinte, Sie würden den Blick in die Ebene vorziehen, Herr Baron! Er hat deshalb ausdrücklich diese Zimmer bestimmt.“
„Ich bin meinem Onkel sehr dankbar für seine Fürsorge,“ entgegnete Paul in der festen Absicht, sich dieser Fürsorge sobald wie möglich wieder zu entziehen. Eben deshalb aber fand er es nöthig, einiges Interesse an der Umgegend zu zeigen; er zog deshalb sein Fernglas hervor und fragte nach Diesem und Jenem.
Der Haushofmeister gab in seiner einsilbig höflichen Weise die nöthige Auskunft und nannte die einzelnen Berge und Ortschaften.
Die Aussicht von der Terrasse hatte allerdings nicht jene wilde, düstere Großartigkeit, welche der Blick aus den Zimmern des Freiherrn zeigte, aber großartig war sie immerhin. Dort schaute man nur auf die Schluchten und Schneefelder des Gebirges, hier auf der entgegengesetzten Seite sah man über die Windungen der Bergstraße hinweg den Ausgang des Thales, das sich dort hinten zu einem prachtvollen Halbrund öffnete und endlich von der Ebene begrenzt wurde. Die Felsen traten allmählich zurück, um grünen Vorbergen Platz zu machen, welche von einzelnen Gehöften Weilern und Kirchen belebt wurden. Der Bergstrom floß dort breiter und ruhiger dahin; man konnte seine Windungen weithin verfolgen, bis sie sich in der Ferne verloren. Diese Ferne freilich verschwand heute im Nebel, aber es war doch so klar geworden, daß man auf einige Stunden Entfernung alles deutlich zu unterscheiden vermochte.
„Das ist Werdenfels,“ sagte der Haushofmeister, auf eine größere Ortschaft deutend, die gerade in der Thalöffnung lag, „und unmittelbar darüber auf jenem Hügel liegt das Stammschloß Ihrer Familie, Herr Baron.“
„Ich weiß es; ich bin vor Jahren einmal mit meinem Vater dort gewesen,“ erwiderte Paul, indem er das Fernglas auf das umfangreiche Gebäude richtete, das in der Ferne sichtbar war. Es erhob sich nicht wie Felseneck aus starren Felsen und düsteren Tannen, sondern stand auf freier, lichter Höhe und blickte weit in die Ebene hinaus. Ringsum breiteten sich die reichen Werdenfels’schen Besitzungen aus, während zahlreiche Dörfer und Landsitze sich in der Nachbarschaft zeigten.
„Und dieser schöne Wohnsitz mit seiner herrlichen Lage, seinen weiten Gärten und Terrassen ist nun ganz verödet?“ fragte Paul, indem er das Glas wieder sinken ließ.
„Er wird sorgfältig vor dem Verfall geschützt,“ erklärte der Haushofmeister. „Der Herr weist jährlich bedeutende Summen an, um das Schloß und die Gärten im Stande zu erhalten.“
„Aber er hat es seit dem Tode seines Vaters ja wohl niemals wieder betreten?“
„Nein, niemals wieder!“
„Seltsam! Es hieß freilich, es sei damals etwas vorgefallen, was ihm den Aufenthalt verleidete.“
„Nicht, daß ich wüßte.“
„Nicht?“ fragte Paul, den alten Mann scharf fixirend. „Ich weiß aber doch, daß bei meinen Eltern oft davon die Rede war. Ich erinnere mich nur nicht mehr genau, um was es sich dabei handelte; man achtet als Knabe nicht viel auf solche Dinge. Sie aber waren damals jedenfalls schon im Dienste des Freiherrn. Wissen Sie wirklich nichts darüber?“
„Durchaus nichts, Herr Baron!“
„Ebenso gut könnte ich einen Stein zum Reden bringen wie dieses Mumiengesicht!“ dachte Paul ärgerlich, indem er seine Beobachtungen wieder aufnahm. „Und dieses weiße Schlößchen oder Landhaus dort drüben, gehört das auch zu den Werdenfels’schen Besitzungen?“ fragte er nach einer Pause.
„Nein, das ist Rosenberg, ein kleines Landgut, das einer verwittweten Dame gehört.“
„Eine Wittwe also – vermuthlich auch über Sechszig!“ sagte Paul; das heißt die letzten Worte dachte er nur, ohne sie auszusprechen. Im Grunde waren ihm alle diese Dinge herzlich gleichgültig; er fragte nur aus Langeweile weiter. „Und wie heißt die Besitzerin?“
„Frau von Hertenstein.“
Das Glas wäre beinahe zu Boden gefallen; so jäh und hastig wandte sich der junge Mann um.
„Wie nannten Sie die Dame?“
„Frau von Hertenstein,“ wiederholte der Haushofmeister, befremdet über die leidenschaftliche Frage und die helle Röthe, [58] welche plötzlich das Gesicht des jungen Barons überfluthete. Paul sah dieses Befremden und versuchte eine anscheinende Gleichgültigkeit zu erzwingen, was ihm aber durchaus nicht gelang.
„Ich lernte auf meiner Reise eine Dame dieses Namens kennen,“ sagte er. „Eine junge, sehr schöne Frau.“
„Ja – das ist sie allerdings,“ entgegnete der Haushofmeister mit einem langen Blick in das erregte Antlitz des jungen Mannes.
„Ist sie schon lange verwittwet? Sie lebt wohl für gewöhnlich nicht in Rosenberg? Besucht sie die Besitzung bisweilen?“
Die heftigen, beinahe ungestümen Fragen fanden eine sehr kühle und gemessene Antwort.
„Wir leben hier in Felseneck sehr abgeschlossen, Herr Baron, und haben gar keinen Verkehr mit der Umgegend, deren Verhältnisse mir größtentheils fremd sind. Ich weiß nur durch Zufall, daß Frau von Hertenstein in Rosenberg erwartet wird, schon in der nächsten Woche. Justizrath Freising, den ich gestern sprach, erwähnte es.“
Paul wäre im Uebermaß seines Entzückens am liebsten dem alten Manne, den er vorhin sehr respectwidrig eine „Mumie“ genannt hatte, um den Hals gefallen. Da sich dies nun nicht gut ausführen ließ, brach er in eine plötzliche Liebenswürdigkeit aus, die er bisher durchaus nicht entwickelt hatte. Er lobte die Aussicht, die Zimmer, das Schloß, alles, was überhaupt zu loben war ; er schwärmte für die Gemsenjagd, die er gleich morgen unternehmen wollte, und erkundigte sich angelegentlich nach der Schloßbibliothek, seiner „Studien“ wegen – kurz, er zeigte sich ganz entzückt von dem Aufenthalte in Felseneck. Um so zurückhaltender verhielt sich der alte Haushofmeister; vielleicht dämmerte ihm eine Ahnung der Wahrheit auf, aber er blieb höflich und gelassen wie vorhin und empfahl sich nach einigen Minuten. – –
Arnold war noch bei seiner früheren Beschäftigung, als sein junger Herr wieder eintrat, diesmal aber mit ganz verändertem Gesichtsausdruck.
„Bist Du noch nicht fertig?“ fragte er etwas ungeduldig.
„Nein; denn ich packe den großen Koffer aus, die ganze Garderobe,“ erklärte Arnold mit nachdrücklicher Betonung, indem er sich zugleich kriegsbereit emporrichtete, aber die Kriegsbereitschaft war diesmal nicht nothwendig; denn Paul zeigte eine ganz merkwürdige Sanftmuth bei dieser directen Mißachtung seines Befehles.
„Thue es immerhin!“ entgegnete er. „Ich habe mir die Sache überlegt und gefunden, daß Du eigentlich vollkommen Recht hast.“
Arnold ließ vor Schreck ein Dutzend Taschentücher, die er gerade in der Hand hielt, zu Boden fallen. Es war etwas so Unerhörtes, daß sein junger Herr ihm Recht gab, daß er sich gar nicht darein finden konnte.
„Es ist wahr, ich habe Rücksichten auf meinen Onkel zu nehmen,“ fuhr Paul fort. „Er ist der Chef der Familie; er ist mein Vormund und hat mich mit Güte überschüttet. Es wäre undankbar, wollte ich seinen Wünschen den Gehorsam versagen. Wie gesagt, Arnold, Du hast ganz Recht, und ich verzeihe Dir auch Deinen eigenmächtigen Schritt. Er war nicht in der Ordnung, aber Du hast es gut gemeint – ich sehe das jetzt ein. Wir bleiben jedenfalls in Felseneck“.
„Den ganzen Winter?“ fragte der alte Diener, der seinen Ohren nicht traute.
„Den ganzen Winter! Und auch noch den Sommer, wenn mein Onkel es verlangt. Packe sämmtliche Koffer aus, Arnold! Wir bleiben hier.“
Damit kehrte Paul in das Wohnzimmer zurück, wo er zu seiner großen Befriedigung bemerkte, daß man von den Fenstern aus Rosenberg ganz deutlich sehen konnte.
Arnold stand noch immer neben dem geöffneten Koffer, aber mit sehr kritischer Miene; er kannte seinen jungen Herrn viel zu gut, um an diese plötzliche Bekehrung zu glauben. Endlich bückte er sich nach den Taschentüchern und hob sie auf, während er halblaut sagte:
„Er muß hier irgend etwas unter sechszig Jahren entdeckt haben – ich kenne das!“
Die Werdenfels waren in alten Zeiten eines der mächtigsten Geschlechter gewesen, das beinahe absolut auf seinen Besitzungen herrschte und sich auch absolut dünke. Die neuere Zeit mit ihren Umwälzungen und Gesetzen hatte dem nun freilich ein Ende gemacht, aber es blieben dem jedesmaligen Herrn der Güter immer noch genug Rechte übrig, um ihm einen weittragenden Einfluß zu sichern, der je nach Umständen segensreich oder unheilvoll werden konnte. Segensreich freilich war das Regiment der Werdenfels für ihre Untergebenen niemals gewesen. Härte und Unterdrückung von der einen Seite, Furcht und mühsam verhaltener Haß von der anderen hatten seit Generationen geherrscht, und unter dem Vater des jetzigen Besitzers war jene lang verborgene Feindschaft sogar zum offenen Ausbruch gekommen.
Der alte Freiherr war seit Jahren todt, aber er hatte dafür gesorgt, daß er und sein Regiment nicht sobald vergessen wurden. Er war eine jener wilden, rücksichtslosen und gewaltthätigen Naturen gewesen, wie sie in seinem Geschlecht leider nicht zu den Seltenheiten gehörten. In einer Zeit geboren und erzogen, wo ein Mann seines Standes sich nahezu alles erlauben durfte, während der Niedriggeborene ihm fast rechtlos gegenüberstand, und durch die hohe militärische Stellung, die er jahrelang bekleidete, vollends an unbedingten Gehorsam seiner Untergebenen gewöhnt, kannte und wollte er es nicht begreifen, daß eine andere Zeit anbrach, die ihm eines seiner Privilegien nach dem anderen aus den Händen wand, die seiner Willkür Schranken auferlegte und ihn zwang, die Rechte Anderer zu achten. Seine Gewaltthätigkeit brach bei jeder Gelegenheit aus; die Insassen seiner Güter mußten sie ebenso schwer empfinden wie die Beamten und Diener, und nicht einmal seine nächsten Angehörigen waren sicher davor.
Seine Gemahlin gehörte einem Geschlechte an, das noch älter war als das der Werdenfels und eine Fürstenkrone im Wappen führte. Das allein hatte den Freiherrn bei seiner Wahl geleitet; die Neigung spielte keine Rolle dabei. Er war stolz auf die Abkunft seiner Frau, und er war auch stolz darauf, daß ihm ein Sohn geboren wurde; er hätte einen Erben seines Namens und Stammhalter seines Hauses sehr schwer vermißt, aber eine andere Bedeutung hatte dieser Sohn kaum für ihn. Wäre Raimund gleichfalls wild und zügellos gewesen, vielleicht hätte der Vater sein Ebenbild in ihm erkannt und geliebt, aber die ernste, etwas träumerische Natur des Knaben war ihm in tiefster Seele zuwider und forderte seinen herbsten Spott und Tadel heraus. Man hörte und sah wenig von dem jungen Freiherrn; er hatte früh seine Mutter verloren und wuchs ausschließlich in der strengen, beinahe sclavischen Zucht seines Vaters heran, der ihm nicht die geringste Selbstständigkeit gestattete. Den Gutsangehörigen, dem eigentlichen Volke, trat er niemals nahe; entweder durfte er es nicht oder er wollte es nicht. Jedenfalls geschah von seiner Seite nichts, um den Haß zu mildern, den der Vater überall gegen sich wachrief; man wußte freilich, daß er bei diesem keine Stimme hatte und sich ebenso wie jeder Andere seinem eisernen Willen beugen mußte, aber die allgemeine Abneigung ging doch allmählich auch auf ihn über.
Da kam jenes Jahr, dessen revolutionäre Bewegung, ursprünglich von den Städten ausgehend, bald auch die gesammte Landbevölkerung ergriff. Auch auf den Gütern gab es überall Widersetzlichkeit, Tumult und offenen Aufstand gegen die Gutsherren; wo nur ein Funke verborgen lag, brach er jetzt in heller Flamme aus. In Werdenfels lag der Zündstoff überreichlich aufgehäuft; dort kam all der jahrelang im Geheimen genährte Groll und Haß zum Ausbruch, und die Verhältnisse gestalteten sich daselbst drohender als an den anderen Orten, aber der Freiherr war trotzdem nicht zu der geringsten Nachgiebigkeit zu bewegen. Er verhöhnte seine Nachbarn wegen ihrer Furcht vor den Bauern und Tagelöhnern und trat den seinigen noch hochmüthiger und herausfordernder gegenüber als sonst.
Die Folgen konnten nicht ausbleiben; es gab eine Reihe der schlimmsten Scenen und Auftritte, aber trotzdem ging Werdenfels stets als Sieger daraus hervor. Er verstand es nun einmal, den Gebieter zu spielen, wie kein Anderer, und sein Stolz, seine Furchtlosigkeit imponirten den Leuten, die ringsum so viele Beispiele kläglicher Zaghaftigkeit sahen; sie lärmten und drohten, aber sie wagten sich nicht ernstlich an den so lange Gefürchteten.
Endlich aber kam es doch zum Aeußersten. Ein an sich geringfügiger Vorfall gab den Anlaß dazu, und der unbeugsame [59] Starrsinn, den der Freiherr auch bei dieser Gelegenheit zeigte, brachte die so lange schon gereizten Leidenschaften zum vollen Ausbruch. Die ganze Dorfschaft zog tobend und lärmend vor das Schloß und bedrohte den Gutsherrn. Dieser, weit entfernt nachzugeben, ließ die Thüren verrammeln, bewaffnete seine Dienerschaft und ließ es auf einen Kampf ankommen. Die Bauern ihrerseits wollten um jeden Preis den Eingang erzwingen; sie schritten zum Sturme, der auch gelungen wäre; denn die Vertheidigungsanstalten erwiesen sich als völlig unzureichend, und bei der furchtbaren Erbitterung der Leute war das Schlimmste zu befürchten, wenn das Schloß und dessen Herr in ihre Hände fielen.
Da auf einmal nahm der Kampf ein ebenso unerwartetes wie schreckliches Ende. Gerade im entscheidenden Augenblick, als die Thüren bereits begannen, dem wiederholten Ansturm zu weichen, schlugen urplötzlich unten im Dorfe helle Flammen empor. Es war eine Feuersbrunst entstanden – wie und woher, das wußte Niemand, aber eines der Gehöfte brannte lichterloh. Es war ein kalter, trockener Tag, und von der Geisterspitze wehte ein stürmischer Wind in das Thal hernieder.
Bei diesem Anblick, bei der furchtbaren Gefahr, welche ihrer Heimath drohte, vergaß die tobende Menge ihre Haß- und Rachepläne. Alles stürzte hinunter in das Dorf, um das eigene Hab und Gut zu retten, aber es war bereits zu spät. Das Feuer hatte schon zu reichliche Nahrung gefunden, und einmal entfesselt spottete das Element jeder menschlichen Anstrengung. Der Sturm trug die Flammen von Dach zu Dach, von Haus zu Haus; alle Rettungsversuche waren vergeblich, und einzelne Tollkühne, die sich in die brennenden Gebäude wagten, um ihre Habe oder ihr Vieh zu retten, wurden von den einstürzenden Balken erschlagen. In wenigen Stunden lag ganz Werdenfels in Schutt und Asche, und drei Menschenleben waren den Flammen zum Opfer gefallen.
Das Schloß auf seiner sicheren Höhe war natürlich unversehrt geblieben; der Ausbruch des Feuers gerade im Moment der Katastrophe hatte es gerettet, aber Haß und Erbitterung, die jetzt durch das hereingebrochene Elend um das Zehnfache gesteigert waren, suchten nach einem Zusammenhange zwischen den beiden Ereignissen. Es liefen dunkle, unheimliche Gerüchte um, jene Feuersbrunst sei nicht durch Zufall entstanden, der Freiherr selbst habe sie veranlaßt, um den Angriff von seinem Schlosse abzulenken und sich vor der Wuth der Anstürmenden zu retten. Es hieß sogar, der eigene Sohn sei es gewesen, der den Befehl des Vaters ausgeführt hatte. Es waren unsinnige, haltlose Gerüchte, die nicht die geringste Bestätigung fanden, aber sie wurden geglaubt und die Stimmung gegen den Gutsherrn wurde eine derartige, daß er seines Lebens nicht mehr sicher war.
Er schien das endlich selbst einzusehen; denn er verließ mit seinem Sohne Werdenfels auf längere Zeit. Als er nach Jahresfrist zurückkehrte, war jene politische Bewegung erloschen; die Behörden hatten die Zügel wieder fest in Händen und duldeten nicht die geringste Ausschreitung. Einen offenen Angriff hatte der Freiherr also nicht mehr zu fürchten, und dem dumpfen Groll und Haß, der ihn empfing, setzte er eine eiserne Stirn entgegen. Es standen ihm andere Güter und Schlösser zur Verfügung, aber sein Stolz erlaubte ihm nicht einen Wechsel des Aufenthaltes, den man hätte als Furcht auslegen können. Er blieb in Werdenfels, trotzig, hochmüthig und ungebeugt, wie er es von jeher gewesen war, und nahm sofort wieder seine frühere Stellung an der Spitze seiner dortigen Standesgenossen ein.
Der junge Freiherr war nicht mit zurückgekehrt. Das Verhältniß zwischen ihm und seinem Vater schien sich überhaupt geändert zu haben; denn während ihm früher nicht die geringste Selbstständigkeit gestattet war, lebte er jetzt fast immer auf Reisen und sah den Vater oft monatelang nicht. Nach Werdenfels kam er nur äußerst selten, immer nur auf ganz kurze Zeit, und es bedurfte jedesmal eines ausdrücklichen Befehls, um ihn zu einem derartigen Besuche zu veranlassen.
So vergingen Jahre, ohne daß Raimund Anstalt machte, sich zu vermählen, obgleich der Freiherr dies dringend wünschte und für eine unabweisbare Pflicht des einzigen Sohnes und Erben erklärte. Als seine Mahnungen in dieser Hinsicht nichts fruchteten, schritt er wie gewöhnlich zu einem Gewaltact. Er wählte eine standesgemäße Partie aus, warb im Namen seines Sohnes und rief diesen dann aus Italien zurück, um ihm anzukündigen, daß die Verbindung zwischen den beiden Familien eine beschlossene Sache sei und daß man nur noch den formellen Antrag erwarte. Diesmal aber gelang es ihm nicht, seinen Willen durchzusetzen; denn Raimund weigerte sich entschieden, zu gehorchen. Der Vater, der bereits zu weit gegangen war, um zurücktreten zu können, gerieth außer sich und drohte mit Fluch und Enterbung; der Sohn blieb bei seiner Weigerung. Es mochten bei dieser Gelegenheit wohl noch andere Dinge zur Sprache gekommen sein; denn sie endete mit einem vollständigem Bruche. Raimund verließ das väterliche Haus, um nicht mehr dorthin zurückzukehren, und der Freiherr war im Begriff, seine Drohung auszuführen und die Enterbung auszusprechen, als, wahrscheinlich in Folge der stattgehabten Aufregung, ein Schlagfluß ihn traf. Der Sohn, der sofort durch die Aerzte zurückgerufen wurde, kam zu spät – er fand nur noch die Leiche seines Vaters.
Werdenfels hatte nun einen neuen Herrn, und es schien anfangs, als solle damit auch eine bessere Zeit beginnen, aber es schien eben nur so. Dem alten Freiherrn war bei all seinen schlimmen Eigenschaften eine eiserne Consequenz nicht abzusprechen gewesen; sein Sohn zeigte sich dagegen seltsam launenhaft und unbeständig in all seinen Neigungen und Unternehmungen. Er hatte unmittelbar nach dem Leichenbegängnisse das Schloß verlassen und bewohnte ein keines Jagdhaus, das eine halbe Stunde davon entfernt lag, aber er, der seinen Besitzungen jahrelang fern geblieben war und die vollständigste Gleichgültigkeit dagegen gezeigt hatte, so lange sie unter dem Scepter seines Vaters standen, schien jetzt, wo er unumschränkter Herr war, sich ihnen ganz und gar widmen zu wollen. Er plante die großartigsten Anlagen und Verbesserungen, überschüttete die Gutsangehörigen mit Wohlthaten und versuchte es sogar, ihnen persönlich nahe zu treten.
Aber das Alles hörte ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Vielleicht entmuthigte es ihn, daß er statt der Dankbarkeit nur überall den alten Haß und das alte Mißtrauen wiederfand, vielleicht war es auch nur eine philanthropische Laune gewesen – genug, er schlug auf einmal in die vollste Menschenfeindlichkeit um, floh alle Beziehungen, die er vor Kurzem noch so eifrig gesucht hatte und zog sich in die Einsamkeit seines Felseneck zurück, das er aus einer Ruine zu einem prachtvollen Wohnsitze umschuf. Werdenfels und die übrigen Schlösser standen verödet; ihre Unterhaltung kostete jährlich eine Riesensumme, ohne daß sie jemals benutzt oder auch nur betreten wurden.
Zum Glücke befanden sich die Güter selbst unter tüchtiger und umsichtiger Leitung. Der alte Freiherr, der ein kluger Rechenmeister war, hatte dafür gesorgt, und da die Beamten sämmtlich im Dienste blieben und reich besoldet wurden, so wurde auch die Verwaltung ganz in der bisherigen Weise fortgeführt. Die Werdenfels’schen Besitzungen hoben sich immer mehr und brachten immer reichere Erträge, während der Herr derselben sich von Jahr zu Jahr tiefer in die Einsamkeit vergrub und sich endlich der Welt und dem Leben völlig abwendete. –
Es erregte natürlich in der Nachbarschaft nicht geringes Aufsehen, als man erfuhr, daß Felseneck einen Gast beherberge. Paul Werdenfels wurde zwar allgemein als der präsumtive Erbe seines Onkels angesehen, da er außer diesem der einzige nach lebende Vertreter des Geschlechtes war, aber man wußte ja, daß der Freiherr alle Beziehungen, soweit sie den persönlichen Verkehr betrafen, vollständig ignorirte. Er hatte dies ja auch bisher seinem jungen Verwandten gegenüber gethan, und es war jedenfalls wieder eine seiner unberechenbaren Launen, daß er diesen Verwandten jetzt urplötzlich zu sich rief. Man bedauerte allgemein den jungen Baron, der das schöne Italien und einen zahlreichen Freundeskreis verlassen mußte, um dem menschenfeindlichen Onkel auf seinem öden Felsenschlosse Gesellschaft zu leisten und dort in halber Gefangenschaft zu leben; denn es galt als selbstverständlich, daß auch ihm kein Verkehr mit der Nachbarschaft gestattet werden würde.
Paul selbst aber war im Gegentheil geneigt, das, was ihm anfangs als eine unerträgliche Strafe erschien, für einen jener Glücksfälle zu halten, um die sein Freund Bernardo ihn beneidete. Seit er wußte, daß die schöne Reisegefährtin, deren Spur er in weiter Ferne suchte, in seiner unmittelbaren Nähe weilte, hätte er den Aufenthalt in Felseneck mit keinem anderen in der ganzen Welt vertauschen mögen.
Er ließ aber vorlaufig sowohl die Gemsen wie die Schloßbibliothek in Ruhe, zeigte dagegen einen ungemeinen Eifer, die [60] Angelegenheit mit dem Justizrath Freising zu erledigen, an den sein Onkel ihn gewiesen hatte. Dieser rechtskundige Herr war von der bevorstehenden Ankunft der Frau von Hertenstein unterrichtet; er kannte sie also jedenfalls näher und war in Folge dessen eine höchst interessante Persönlichkeit für den jungen Baron, dessen Besuch er schon am zweiten Tage erhielt.
Der Justizrath, ein Mann von einigen vierzig Jahren, eine große, hagere Gestalt, mit nicht unangenehmen, aber etwas pedantischen Zügen, empfing den Clienten in seinem Arbeitszimmer und schien schon auf dessen Kommen vorbereitet. Die nächste, etwas peinliche Veranlassung des Besuches war, dank der Großmuth des Freiherrn, sehr schnell erledigt. Der Rechtsanwalt konnte zwar ein leises bedenkliches Kopfschütteln nicht unterdrücken, als ihm der Betrag genannt wurde, um den es sich handelte, da er aber bereits die Weisung erhalten hatte, die Verpflichtungen des Herrn von Werdenfels anstandslos zu regeln, so erbat er sich nur die nöthigen Namen und Adressen. Paul gab diese sehr bereitwillig, er empfing dagegen mit einem frohen Aufathmen die Versicherung, daß die betreffenden Summen sofort bezahlt werden würden, und damit war diese Angelegenheit abgemacht.
Jetzt aber bot der junge Mann seine ganze Liebenswürdigkeit auf, das Gespräch aus dem Geschäftlichen in das Vertrauliche hinüber zu leiten, was ihm auch ohne große Mühe gelang. Er war völlig fremd hier, gedachte aber längere Zeit bei seinem Onkel zu bleiben und wünschte sich natürlich einigermaßen in der Nachbarschaft zu orientiren. In Felseneck bot sich leider keine Gelegenheit dazu, da man dort sehr abgeschlossen lebte, aber der Herr Justizrath war jedenfalls in der Umgegend bekannt und zu einer freundlichen Auskunft bereit.
Der Herr Justizrath war das allerdings; er besaß zum Glück nicht die impertinente Schweigsamkeit des alten Haushofmeisters und nahm keinen Anstand, dem jungen Baron, der sich so lebhaft für seine Nachbarschaft interessirte, die erbetene Auskunft zu geben.
Paul fragte zunächst nach mehreren Gutsherrschaften, die ihm sehr gleichgültig, und hörte einige Antworten, die ihm sehr langweilig waren, bis er endlich zu dem kam, was ihm einzig und allein am Herzen lag.
„Da ist mir noch ein Schlößchen aufgefallen,“ warf er mit anscheinender Gleichgültigkeit hin. „Es liegt etwa eine Stunde von Werdenfels entfernt und gehört ja wohl einer verwittweten Dame?“
„Sie meinen Rosenberg?“ fragte der Justizrath, „Es ist gegenwärtig im Besitz der Frau von Hertenstein.“
„Ganz recht! Ich habe zufällig in Venedig die Dame kennen gelernt, allerdings nur sehr flüchtig, aber ich gedenke doch in Rosenberg einen Besuch zu machen. Sind Sie dort bekannt, Herr Justizrath?“
Der Justizrath hob mit unverkennbarem Selbstgefühl den Kopf.
„Sehr genau, Herr Baron! Ich habe die Ehre, der Geschäftsführer und Rechtsfreund der gnädigen Frau zu sein. Ich stehe überhaupt in freundschaftlichen Beziehungen zu ihr, da ich sie schon vor ihrer Vermählung gekannt habe.“
Paul fand den Justizrath ungemein liebenswürdig; er rückte schleunigst seinen Sessel einen Schritt näher.
[73] „Sie sind also ein Freund der Familie? Ist Frau von Hertenstein schon lange Wittwe?“ fragte Paul.
„Seit einem Jahre ungefähr,“ antwortete der Justizrath. „Präsident Hertenstein starb im vorletzten Sommer.“
„Präsident Hertenstein?“ wiederholte Paul befremdet. „Ich erinnere mich, die Anzeige seines Todes damals in den Zeitungen gelesen zu haben, aber – er starb ja wohl im dreiunddsiebenzigsten Lebensjahre?“
„Allerdings, der Altersunterschied zwischen ihm und seiner Frau war sehr bedeutend. Sie zählte kaum achtzehn Jahre, als sie ihm die Hand reichte.“
„Dem Greise? Aber mein Gott, was konnte sie denn zu einer derartigen Verbindung veranlassen?“
Freising lächelte mit überlegener Miene.
„Das ist nicht schwer zu errathen. Eine junge bürgerliche Waise, die mittellos ist und in abhängigen Verhältnissen lebt, schlägt selten eine derartige Partie aus. Der Präsident war von Adel; er galt für sehr reich und nahm eine hohe Lebensstellung ein. Er konnte seiner Gemahlin ein glänzendes Loos bieten.“
„So – also eine Convenienzheirath!“ sagte Paul langsam.
„Eine Vernunftheirath wenigstens! Die junge Dame ist eine nahe Verwandte des Pfarrers in Werdenfels, und dieser empfahl sie der damaligen Besitzerin von Rosenberg, einem Fräulein von Hertenstein. Der alten, sehr kränklichen Dame war ein Aufenthalt in Italien verordnet worden, und sie wünschte eine Begleiterin für die Reise. Als sie aus Venedig zurückkehrte, da machte ihr Bruder, der Präsident, der schon seit langen Jahren Wittwer war, einen mehrwöchentlichen Besuch auf dem Landgute. Er lernte dort die schöne Gesellschafterin kennen und wurde derartig von ihr gefesselt, daß er ihr seine Hand bot, die auch sofort angenommen wurde. Drei Monate später fand in Rosenberg die Vermählung statt.“
„Und diese ungleiche Ehe ist eine glückliche gewesen?“
„Eine sehr glückliche! Die junge Frau spielte eine äußerst glänzende Rolle in der Residenz, und ihr Gemahl, der ungemein stolz auf sie war, erfüllte mit verschwenderischer Freigebigkeit jeden ihrer Wünsche.“
„Freilich, was hätte sie in einer solchen Ehe denn auch anders wünschen sollen als Glanz und Reichthum!“ sagte Paul mit einem Anfluge von Bitterkeit. „Und seit dem Tode ihres Gemahls lebt sie wieder in Italien?“
„Nein, sie ist nach Rosenberg zurückgekehrt und war nur jetzt auf kurze Zeit abwesend. Sie wird übermorgen hier erwartet.“
„Dann werde ich meinen Besuch noch etwas aufschieben,“ erklärte der junge Mann, indem er sich erhob. „Doch ich habe Ihre Zeit schon allzu lange in Anspruch genommen.“
Der Justizrath lächelte.
„Bitte, Herr Baron! Ich freue mich sehr, einmal ein Mitglied des Hauses Werdenfels persönlich kennen zu lernen. Es ist das erste Mal, obgleich ich schon seit Jahren der juristische Beirath und Vertreter dieses Hauses bin.“
„Also auch Sie verkehren nicht persönlich mit meinem Onkel?“ fragte Paul, der wenigstens in diesem Falle eine Ausnahme vorausgesetzt hatte.
„Nein, ich habe noch nicht die Ehre gehabt, den Freiherrn von Angesicht zu sehen, obgleich er mir in allen geschäftlichen Angelegenheiten das unbedingteste Vertrauen schenkt. Er empfängt meine Berichte brieflich und läßt mir ebenso seine Weisungen zugehen. Ihr Herr Onkel ist etwas eigenthümlich in dieser Hinsicht.“
„Ja wohl, sehr eigenthümlich!“ stimmte der junge Mann mit einem Seufzer bei. „Was nun aber meine persönliche Angelegenheit betrifft –“
„So wird sie unverzüglich erledigt werden – verlassen Sie sich darauf, Herr Baron! In spätestens vierzehn Tagen lege ich Ihnen die Quittungen vor.“
Paul dankte und empfahl sich. Er hatte nun die so sehnlich gewünschte Auskunft erhalten und wollte es sich nicht eingestehen, daß sie ihn verstimmte; trotzdem konnte er dieser Verstimmung nicht Herr werden. Ein Mädchen von achtzehn Jahren, voll Schönheit und Anmuth, das freiwillig auf das schönste und heiligste Vorrecht der Jugend verzichtet, auf das Recht, zu lieben, um mit der Hand eines Greises Glanz und Reichthum zu erringen! Paul Werdenfels war leichtsinnig und ließ sich nur zu oft durch fremden Einfluß leiten, aber er trug doch ein jugendlich warmes Herz in der Brust und hätte sich für alle Güter seines Onkels nicht in dieser Weise verkauft. Er fühlte sich wieder so erkältend angeweht, wie damals auf dem Dampfer, als die schöne Frau so eisig die „Jugendträume“ verwarf. In seinen Ohren klang noch der unendlich herbe Ausdruck ihrer Worte: „Das Leben ist nicht zum Träumen geschaffen. Man muß ihm fest und klar in das Antlitz sehen und Niemand vertrauen als sich selbst.“
[74] Rosenberg gehörte nicht zu den eigentlichen Gütern der Umgegend, es war nur ein kleiner Landsitz, in reizender Lage, unmittelbar am Fuße des Gebirges, wie man ihn für einige Sommermonate auswählt. Die verstorbene Besitzerin freilich hatte jahraus jahrein dort gelebt, nach ihrem Tode stand das Haus einige Jahre lang unbewohnt, unter der Obhut der ehemaligen Gesellschafterin, die nach der Vermählung der Frau von Hertenstein deren Stelle eingenommen hatte und von der alten Dame testamentarisch mit einem Legat bedacht worden war. Der Präsident und seine Gemahlin, die in der Residenz lebten, kamen nie nach ihrem nunmehrigen Besitzthum – die junge Frau hatte sich erst, seit sie Wittwe war, wieder dorthin zurückgezogen.
Das einfache Landhaus, das inmitten eines ziemlich umfangreichen Gartens lag, konnte weder auf Vornehmheit noch auf Schönheit besonderen Anspruch erheben, aber es war freundlich, bequem und geräumig und machte mit seinen weißen Mauern und hellen Fenstern einen sehr anheimelnden Eindruck.
In dem keinen Salon, der wie die sämmtlichen Räume des Hauses, seine frühere, etwas alterthümliche, aber sehr behagliche Einrichtung behalten hatte, saß die jetzige Besitzerin von Rosenberg und hörte dem Justizrath Freising zu, der ihr gegenüber Platz genommen hatte. Vor ihm lagen mehrere Papiere, aus denen er etwas zu berichten schien, während em anderer Herr, in der Tracht eines Weltgeistlichen, einige Schritte entfernt am Fenster stand. Es war ein Mann von etwa vierzig Jahren mit scharfen ausdrucksvollen Zügen, die eine nicht gewöhnliche Intelligenz verriethen, aber es lag zugleich eine herbe Strenge darin. Das schlichte dunkle Haar umgab eine hohe Stirn, die schon einige Furchen zeigte, und die dunklen Augen hatten jenen durchdringenden Blick, der gewohnt ist, im Inneren der Menschen zu lesen, wie in einem Buche. Der Geistliche betheiligte sich nicht an der Unterhaltung, aber seine Spannung zeigte, daß er ihr mit der größten Aufmerksamkeit folgte und ebenso viel Interesse daran nahm, wie die Sprechenden selbst.
„Soweit also wäre alles geordnet,“ sagte der Justizrath, indem er die Papiere zusammenlegte. „Ich bin genau nach Ihren Anweisungen verfahren, gnädige Frau. und habe die sämmtlichen Posten gedeckt. Jetzt bleibt nur noch die eine größte Summe übrig. Ich bedaure sehr, daß es mir nicht möglich war, irgend eine gütliche Vereinbarung mit dem Gläubiger zu treffen. Sie haben in Folge dessen die Sache persönlich in die Hand genommen. Ist Ihre Reise von Erfolg gewesen?“
„Ja,“ antwortete Frau von Hertenstein, die dargebotenen Papiere an sich nehmend. „Ich traf allerdings den Gläubiger nicht in seinem Wohnorte und war genöthigt ihm nach Venedig zu folgen, dort aber habe ich in mündlicher Unterredung erreicht, was uns brieflich versagt wurde. Man wird sich einstweilen mit dem Pfandrecht auf Rosenberg begnügen und mir hinsichtlich der Zahlung Frist bis zum nächsten Jahre geben. Bis dahin wird es nur möglich sein, das Gut zu verkaufen.“
„Sie wollen Rosenberg verkaufen?“ fragte der Justizrath betroffen. „Es gehört ja nicht zum Nachlaß des Präsidenten, sondern ist Ihr persönliches Eigenthum. Fräulein von Hertenstein hat es Ihnen ausdrücklich im Testament vermacht, und Niemand hat das Recht, irgend einen Anspruch darauf zu erheben.“
„Das weiß ich,“ entgegnete die junge Frau, „aber ich fühle mich verpflichtet, mit allem, was ich besitze, für den Namen und für die Ehre meines Gatten einzutreten. Ich habe das Gut freiwillig angeboten.“
Freising schüttelte mißbilligend den Kopf.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau – das war unbedacht. Sie haben mich von Anfang an zum Vertrauten Ihrer Angelegenheit gemacht, also darf ich wohl offen sprechen und Ihnen sagen, daß Sie bereits Opfer genug gebracht haben, mehr als jede andere Frau in Ihrer Lage. Die Pension, die Sie vom Staate beziehen, ist so gering, daß sie kaum für die allereinfachsten Bedürfnisse ausreicht. Rosenberg ist Ihre letzte Zuflucht und Ihre letzte Hülfsquelle für die Zukunft.“
„Und ich decke damit die letzte Forderung. Ich will frei davon werden, koste es, was es wolle! Um unseren Namen rein zu erhalten, ist mir kein Opfer zu hoch.“
Der Justizrath wollte einen neuen Einwand erheben, als der Geistliche sich in das Gespräch einmischte.
„Meine Cousine hat Recht,“ sagte er in einem Tone, der keinen Widerspruch zuließ. „Sie thut nur ihre Pflicht, wenn sie voll und ganz für das Andenken ihres Gatten eintritt; wir haben hier einen anderen Standpunkt zu wahren als nur den geschäftlichen.“
„Ja, wenn Herr Pfarrer Vilmut auch noch gegen mich Partei nimmt, dann werde ich allerdings überstimmt,“ sagte Freising etwas empfindlich. „Ich kann trotzdem meine Rathschläge nicht zurücknehmen; sie haben einzig und allein das Wohl der gnädigen Frau im Auge.“
„Daran habe ich nie gezweifelt,“ erwiderte die junge Frau, indem sie ihm die Hand hinstreckte. „Ich habe ja von jeher einen treuen, zuverlässigen Freund in Ihnen gehabt.“
Der Justizrath führte ritterlich die schöne Hand an seine Lippen, und seine etwas trockenen pedantischen Züge erhielten dabei einen eigenthümlich belebten Ausdruck.
Um die schmalen Lippen des Pfarrers zuckte ein halb spöttisches, halb verächtliches Lächeln bei dieser Huldigung; er verließ seinen Platz und trat näher.
„Es handelt sich also darum, Rosenberg möglichst vortheilhaft zu verkaufen,“ nahm er den Faden des Gespräches wieder auf. „Wir rechnen auch in dieser Beziehung auf Ihren Beistand, und da die Frist bis zum nächsten Jahre währt, so wird der Verkauf hoffentlich keine Schwierigkeiten haben.“
„Ich werde thun, was in meinen Kräften steht – verlassen Sie sich darauf, Hochwürden,“ versicherte der Justizrath, indem er aufstand und seinen Hut nahm.
„Sie bleiben nicht zu Tische?“ fragte Frau von Hertenstein „Ich hatte wie gewöhnlich darauf gerechnet.“
„Für diesmal müssen Sie mich entschuldigen, gnädige Frau; ich habe dringende Geschäfte, die mich nach der Stadt zurückrufen,“ antwortete der Justizrath, dem es augenscheinlich schwer wurde, die Einladung auszuschlagen. Er schien geneigt zu sein, einen zweiten Handkuß zu probiren, aber die scharfen, spöttischen Augen des Geistlichen genirten ihn offenbar. Er begnügte sich daher mit einem bloßen Händedruck und empfahl sich dann.
Frau von Hertenstein hatte sich wieder niedergesetzt und blätterte schweigend in den zurückgelassenen Papieren; Vilmut war zu ihr getreten und nahm gleichfalls einige derselben auf.
„Das sind wahrlich nicht kleine Summen,“ bemerkte er nach einer Pause. „Ich begreife nicht, Alma, wie es Dir möglich gewesen ist, das Alles zu decken.“
„Mein Schmuck war sehr reich,“ entgegnete Anna ruhig, „und Brillanten behalten immer ihren Werth. Ich habe allerdings auch das letzte Stück hingegeben, aber es reichte doch wenigstens aus.“
„Jawohl, der Präsident überschüttete Dich ja mit dergleichen Kostbarkeiten, wie er sein Haus zu einem Tempel des Luxus für Dich machte. Er legte alles seiner vergötterten jungen Frau zu Füßen – mit fremdem Gelde! Und Du hast das ruhig hingenommen.“
Es lag ein herber Vorwurf in den letzten Worten, aber die junge Frau verteidigte sich mit ruhiger Gelassenheit.
„Ich habe Hertenstein’s Vermögensverhältnisse nie gekannt, und ich, die ich arm in sein Haus kam, konnte ihn auch füglich nicht darnach fragen. Er ließ mich stets in dem Glauben, daß er reich sei, und daß unsere Art zu leben seinen Mitteln entspräche. Ich ahnte nicht, daß das Vermögen, das er von seiner Schwester ererbte, seine einzige Hülfsquelle war. Aber dieses Vermögen hätte hingereicht, all jene Verpflichtungen zu decken; es war ein Unglück, daß er es verlor.“
„Durch Speculation! Freilich, das verschwendete Geld sollte ja wieder eingebracht werden, und da sank der Präsident von Hertenstein zum Speculanten herab, zum Börsenspieler!“
„Laß das Vergangene ruhen, Gregor!“ sagte Anna ernst. „Ich kann und will eine Anklage gegen den Mann hören, von dem ich fünf Jahre hindurch nur Güte empfangen habe. Wenn er schwach gewesen ist, so war er es um meinetwillen.“
„Vielleicht auch um seiner selbst willen,“ ergänzte Gregor. „Um seiner Eitelkeit zu genügen! Seine schöne Frau sollte überall die Erste, die Gefeiertste sein; er konnte sie nicht genug bewundern lassen. Du hast ein gefährliches Geschenk erhalten, Anna, in dieser Schönheit, die Alles zu Deinen Füßen führt. Sie konnte bisher nur Unheil stiften – glücklich hat sie noch Keinen gemacht.“
[75] „Hertenstein war glücklich!“ sagte Anna mit Nachdruck. „Und ich – habe mich wenigstens bemüht, es zu scheinen.“
„Ja, Ihr führtet eine Musterehe! Der Präsident konnte nicht genug sein Glück preisen, und Du wurdest allgemein bewundert – wegen Deiner Hingebung an den Greis. Vielleicht wäre die Welt weniger freigebig mit ihrem Lobe gewesen, wenn sie gewußt hätte, was Dich in seine Arme trieb.“
„Willst Du mir einen Vorwurf daraus machen?“ In der Stimme der jungen Frau klang eine leise Bitterkeit. „Du warst es ja, der mir rieth, den Antrag anzunehmen, der meinen wankenden Entschluß bestimmte.“
Gregor sah mit einem seltsamen Ausdruck aus sie nieder; es war ein Gemisch voll Düsterheit und stolzer, kalter Genugthuung.
„Ja, das that ich! Es galt, Dich schlimmeren Banden zu entreißen. Du glaubtest damals stark zu sein – Du warst es nicht; deshalb rieth ich Dir, eine Pflicht zwischen Dich und die Vergangenheit zu stellen. Ich wußte, Du würdest diese Pflicht ehren.“
Anna gab keine Antwort; sie stützte nur den Kopf in die Hand, während Vilmut fortfuhr:
„Ich glaubte Dich geborgen an der Seite des Mannes, dem sein Alter schon die ruhige Zurückgezogenheit zur Pflicht hätte machen sollen; statt dessen führte er Dich mitten hinein in den Strudel der großen Welt, mitten hinein in ihre Versuchungen und prahlte mit Deinen Triumphen in der Gesellschaft. Du bist auch nicht gleichgültig dagegen geblieben, oder wird es Dir leicht, von der früheren Höhe herabzusteigen in die Einfachheit beschränkter Verhältnisse?“
„Nein, denn jedes Herabsteigen schließt eine Demüthigung in sich. Aber ich werde mich in das Unvermeidliche fügen, ohne zu murren.“
„Ich dachte es mir! Euch Weltkindern wird Glanz und Pracht ja zu einem Lebensbedürfniß; Ihr könnt nicht wieder davon lassen. – Hast Du schon Deinen Zukunftsplan überlegt? Was wirst Du thun, wenn Rosenberg verkauft wird? Ich denke, Du überläßt es mir, Dir einen passenden Wohnort auszusuchen.“
„Ich danke Dir für das Anerbieten,“ sagte die junge Frau kühl, „aber es ist besser, ich bestimme das selbst. Wir könnten verschiedener Meinung sein, und Du forderst unbedingte Unterwerfung unter Deinen Willen; ich weiß das noch von der Zeit her, wo ich in Deinem Hause lebte.“
„Du hast gleichwohl diese Unterwerfung nie geübt,“ erwiderte Gregor scharf. „In Dir war immer ein Element des Widerstandes, das ich mit aller Strenge nicht brechen konnte, und was mir bei Anna Vilmut nicht gelang, werde ich bei der Präsidentin Hertenstein schwerlich erreichen. Du hast viel Selbstständigkeit gelernt bei dem Manne, der nur ein gehorsamer Diener Deiner Wünsche war. Doch gleichviel, wo Du Deinen künftigen Wohnort wählst! Du wirst es jedenfalls so einrichten, daß der Zufall keine unliebsame Begegnung herbeiführen kann, auf die Du hier in Rosenberg immer gefaßt sein mußtest. Die Nähe jenes –“
„Gregor!“
Es war ein halb zürnender, halb angstvoller Ausruf. Vilmut hielt inne, aber zwischen seinen Brauen erschien eine finstere Falte.
„Nun?“ fragte er nach einer Pause.
„Du hast es mir damals versprochen, daß der Punkt zwischen uns nie wieder berührt werden soll. Denke an Dein Versprechen!“
Die durchdringenden Augen des Priesters ruhten unverwandt auf dem schönen, tief erbleichten Antlitz; es war ein Blick, der bis in die innersten Tiefen der Seele zu dringen schien.
„Ist das noch nicht überwunden?“ fragte er endlich langsam. „Noch nicht?“
Ein tiefer Athemzug rang sich aus der Brust der jungen Frau empor. „Es ist zu Ende – Du weißt es ja! Ich habe mich Deinem Willen gebeugt, ich denke, Du kannst mit mir zufrieden sein.“
„Meinem Willen? Als ob Du Dich jemals einem fremden Willen gebeugt hättest! Du fügtest Dich einer unerbittlichen Wahrheit, die ich Dir enthüllte. Ich habe nichts weiter gethan, als Dir die Augen geöffnet, aber Du hast es dem Arzte nicht gedankt, der Dich rettete – Du wärst am liebsten blind geblieben.“
„Du irrst,“ sagte Anna tonlos. „Ich danke es Dir – noch heute.“
Vilmut wollte etwas erwidern, als die Thür ziemlich ungestüm geöffnet wurde und ein junges Mädchen hereinflog. Sie war in Hut und Mantel; ihre langen Flechten waren nicht aufgesteckt, sondern fielen lose herab, und das noch ganz kindliche Gesicht strahlte von Heiterkeit und Uebermuth.
„Da bin ich wieder!“ rief sie mit heller Stimme. „O, das war eine lustige Fahrt! Wir sind bis in das verzauberte Gebiet von Felseneck gerathen und hätten um ein Haar –" sie hielt, den Pfarrer gewahrend, plötzlich inne und fügte dann in einem ganz veränderten, ziemlich kleinlauten Tone hinzu: „Ah, Du bist hier, Vetter Gregor! Ich störe wohl?“
„Ja, Lily, Du störst!“ erwiderte er kalt. „Man stürmt überhaupt nicht so in’s Zimmer wie ein wilder Knabe. Wann endlich wirst Du lernen, Dich wie ein erwachsenes Mädchen zu benehmen?“
Lily hatte sich schleunigst an die Seite der jungen Frau geflüchtet und blickte von dort halb trotzig und halb scheu zu dem strengen Vetter hinüber, aber die Scheu behielt die Oberhand; denn sie wagte keine Erwiderung; statt ihrer nahm Anna das Wort.
„Lily ist ja kaum sechszehn Jahre alt. Laß ihr doch noch eine Weile den Frohsinn und den Uebermuth des Kindes! Der Ernst des Lebens wird früh genug an sie heran treten.“
„Du verwöhnst Deine Schwester,“ sagte Vilmut tadelnd. „Anstatt sie für diesen Lebensernst zu erziehen, duldest Du es, daß sie den ganzen Tag lang Kindereien treibt. Du solltest sie lieber unter meine Obhut geben – das würde ihr heilsam sein.“
Das junge Mädchen schrak förmlich zusammen bei den letzten Worten und blickte mit einer solchen Todesangst zu der Schwester empor, daß diese wie schützend den Arm um sie legte, während sie erwiderte:
„Nein, Gregor, ich trenne mich nicht von meiner kleinen Lily, wie die Verhältnisse sich auch gestalten mögen.“
Gregor zuckte die Achseln.
„Das wirst Du früher oder später doch thun müssen, wenn Rosenberg nicht ganz besonders günstig verkauft wird. Doch ich muß jetzt fort. Leb’ wohl, Anna!“
Er reichte ihr die Hand und ging, ohne anders als mit einem flüchtigen Kopfnicken von Lily Notiz zu nehmen. Diese schien sehr froh darüber zu sein, daß sie der ferneren Beachtung entging; sie legte sehr langsam und verständig Hut und Mantel ab. Kaum aber hatte sich die Thür hinter dem Gefürchteten geschlossen, so flog der Hut auf das Sopha, und Fräulein Lily nahm eine äußerst trotzige Miene an.
„Wenn ich gewußt hätte, daß Gregor bei Dir ist, wäre ich sicher nicht herein gekommen,“ versicherte sie. „Wenn ich ihn im Anzuge gegen Rosenberg sehe, ist es mir immer, als müsse ich bis auf die Geisterspitze hinauflaufen, um ihm nur zu entgehen.“
„Lily !“ mahnte die ältere Schwester in vorwurfsvollem Tone, aber die jüngere ließ sich dadurch keineswegs in ihrem zornigen Ausbruche stören; sie fuhr mit der gleichen Heftigkeit fort:
„Hast Du ihn denn etwa lieb? Du fürchtest ihn, wie alle Welt es thut, und doch bist Du die Einzige, der er überhaupt einen Willen und eine Meinung zugesteht. Er hat ja ganz Werdenfels unter seiner eisernen Zuchtruthe! Keiner von den Bauern wagt irgend etwas zu thun ohne seinen Beirath, und wenn er etwas befiehlt, so gehorchen sie blindlings. Wenn Du mich wirklich wieder unter seine Obhut geben wolltest – hu, schon bei dem bloßen Gedanken daran überläuft es mich eiskalt,“ sagte Lily schaudernd.
„Du bist ein thörichtes, undankbares Kind!“ verwies die junge Frau. „Hast Du vergessen, was Gregor für uns that, als wir verwaist dastanden und Niemand auf der Welt hatten, als ihn allein? Er besaß damals nur ein geringes Einkommen und hatte noch für seine Mutter zu sorgen, aber er zögerte nicht einen Augenblick, sich unser anzunehmen und uns eine Zuflucht in seinem Hause zu bieten. Du kanntest freilich damals die Verhältnisse noch nicht; Du zähltest ja erst sechs Jahre.“
„Deshalb habe ich es auch allein bei ihm ausgehalten,“ erklärte Lily. „Ich war ihm noch zu klein und unbedeutend, als daß er sich hätte mit mir abgeben sollen; er überließ mich ganz der Tante, und später, als diese starb und ich ein Erziehungsobject für ihn wurde, da vermähltest Du Dich glücklicher Weise und brachtest mich in das Institut. Aber Dich hat er von jeher [76] unter seine ganz besondere Obhut genommen. Wie Du das ausgehalten hast, begreife ich nicht – ich hätte es jedenfalls nicht gekonnt.“
„Nein, Du wärst zerbrochen unter dieser eisernen Hand,“ sagte Anna ernst. „Ich bin aus stärkerem Stoffe, und vielleicht hat auch diese Erziehung ihr Gutes gehabt; sie stählte mich für das Leben.“
„Ja, Du kannst auch bisweilen hart sein; das hast Du von Gregor gelernt, und am meisten warst Du es von jeher gegen Dich selbst.“
„Bin ich es gegen Dich?“
„Nein, meine Anna! O, so habe ich es nicht gemeint.“ rief das junge Mädchen, die Arme um den Hals der Schwester schlingend, die sie leise an sich zog.
Die beiden Schwestern glichen einander sehr und waren doch unendlich verschieden. Die kleine zierliche Lily reichte der hohen Gestalt der jungen Frau kaum bis zur Schulter; ihre weichen, braunen Flechten hatten dieselbe Farbe und Fülle, aber es fehlte ihnen jener wunderbare schimmernde Goldglanz, ebenso wie den Augen jener große, mächtige Aufschlag fehlte, der Anna’s Blick so schön machte. Lily’s braune Augen blickten schelmisch und kinderfroh in die Welt hinaus, und in ihrem rosigen Gesichtchen stand nichts von Energie und Willenskraft zu lesen. Die ältere Schwester war eine Schönheit, deren siegende Gewalt sich überall kundgab, die jüngere nur eine frische, anmuthige Mädchengestalt, sie glichen einander, wie sich Lilie und Jasmin gleichen.
„Was meinte denn Gregor, als er von dem Verkauf von Rosenberg sprach?“ begann Lily von Neuem. „Willst Du das Gut verkaufen? Ich glaubte, wir würden hier bleiben.“
„Das wäre auch mein Wunsch gewesen, aber es wird nicht möglich sein. Rosenberg erfordert einen herrschaftlichen Haushalt, und wir werden uns einfacher einrichten müssen.“
„Bist Du denn nicht reich?“ fragte das junge Mädchen mit naivem Erstaunen. „Ihr lebtet ja so prächtig in der Residenz.“
„Ich bin Wittwe,“ versetzte Anna ausweichend. „Hertenstein’s reiches Einkommen hörte mit seinem Tode auf, und wenn wir auch keine Armuth zu fürchten haben, so wird sich doch manches in unserem künftigen Leben anders gestalten.“
Lily nahm diese Eröffnung sehr gleichgültig hin. Ihr waren Reichthum und Armuth nach bloße Worte, deren eigentliche Bedeutung sie nie erfahren hatte. Für sie war von jeher gesorgt worden, und wenn ihr das Leben der Schwester, welche sie bisweilen in der Residenz besuchen durfte, wie ein prächtiges Feenmärchen erschien, so gefiel ihr die ungebundene Freiheit, die sie hier in Rosenberg genoß, nicht minder. Ein neuer Wechsel des Aufenthalts versprach ihr nur neues Vergnügen; sie war noch in dem Alter, wo man jede Veränderung willkommen heißt.
„Mir ist es gleich, wohin wir gehen, wenn es nur nicht zu Vetter Gregor ist,“ sagte sie unbestimmt. „Aber wann wirst Du endlich die tiefe Trauer ablegen, Anna? Du bist noch nicht vierundzwanzig Jahre alt und kannst doch nicht zeitlebens in schwarzem Flor und Krepp gehen, weil Du Wittwe bist. Im Sommer ist es ein volles Jahr gewesen, daß Dein Mann starb. Du kannst doch nicht ewig um ihn trauern, und er war auch schon so sehr alt, dreiundsiebenzig Jahre!“
„Man betrauert nicht das Alter, sondern den Verlust; glaubst Du, daß ich Hertenstein nicht lieb gehabt habe?“
„O ja,“ sagte die Kleine. „Man hat auch seinen Großvater lieb, und ich denke mir, so ungefähr von der Art muß Deine Liebe gewesen sein. Mir wenigstens ist der Präsident immer großväterlich erschienen und Dir wahrscheinlich auch – sonst hättest Du an Deinem Hochzeitstage nicht so verzweifelt geweint.“
„An meinem Hochzeitstage?“ fragte die junge Frau betreten. „Du irrst, Lily.“
„O, ich meine nicht vor dem Altar; da warst Du so ruhig und kalt wie ein Marmorbild, aber vorher, als Du Dich allein glaubtest. Der Präsident hatte mich schon am frühen Morgen in Dein Zimmer geschickt, damit ich Dir das prachtvolle Bouquet bringe, das er aus der Residenz hatte kommen lassen. Ich war sehr stolz auf meinen Auftrag und trat ganz leise ein, um Dich bei der Toilette zu überraschen, aber als ich die Thür öffnete, da lag das weiße Atlaskleid nach auf dem Sessel und darüber der Spitzenschleier, und daneben lagen die Brillanten, Du aber, Du lagst auf den Knieen und drücktest den Kopf in die Polster des Sophas und weintest, als ob Dir das Herz brechen sollte. Als ich Dich rief, da fuhrst Du freilich auf und trocknetest Deine Thränen und verbotest mir, darüber zu sprechen. Ich war noch sehr klein damals und sehr dumm, aber so viel wußte ich doch schon, daß man nicht so bitterlich weint, wenn man einen Mann heiraten soll, den man lieb hat. Ich weiß es recht gut, Gregor hat Dich gezwungen, diesen Schritt zu thun, und es hat ihm hernach selbst leid gethan; denn er war geisterbleich, als er Euch traute, und ich habe es ganz deutlich gesehen, daß seine Hand zitterte, als er sie zum Segen auf Dein Haupt legte.“
Das junge Mädchen sprudelte all diese Erinnerungen, die sie mit der scharfen Beobachtungsgabe des Kindes erfaßt und festgehalten hatte, unaufhaltsam hervor und hätte sich wahrscheinlich noch ausführlicher darüber verbreitet, wenn Anna sie jetzt nicht mit voller Entschiedenheit unterbrochen hätte.
„Schweig’ von Dingen, Lily, die Du noch gar nicht beurtheilen kannst. Du warst damals ein zehnjähriges Kind und hast Dir in Deiner kindischen Weise alles tägliche zusammengereimt, was nicht im Mindesten der Wahrheit entspricht. Gregor hat mich nicht gezwungen, und ich hatte mich auch nicht zwingen lassen; er rieth mir nur, wozu ich bereite entschlossen war. Ich habe freiwillig Hertenstein meine Hand gereicht und das nie auch nur einen Augenblick lang bereut. Ich verbiete Dir ein für alle Mal solche thörichten Voraussetzungen.“
Die Worte klangen streng, beinahe hart, und Lily, die ganz und gar nicht an eine derartige Strenge von Seiten der Schwester gewöhnt war und sich tief dadurch beleidigt fühlte, machte Miene zum Weinen, als die Thür von Neuem geöffnet wurde.
Die Dame, die jetzt eintrat, war älter als die beiden Schwestern; sie machte schon im Anfang der Dreißig stehen und war, ohne irgendwie auf Schönheit Anspruch machen zu können, doch eine ansprechende Erscheinung, eine kleine, etwas volle Gestalt, mit dunklen Haaren und lebhaften Augen. Sie trat mit freundlichem Gruße näher.
„Wir sind lange ausgeblieben, gnädige Frau, aber Lily hat Ihnen wohl schon gebeichtet, daß sie allein an der Verspätung schuld war.“
„Nein, ich habe noch nichts erfahren,“ sagte Anna, während ihre junge Schwester sich schmollend abwendete. „Aber ich glaubte, Fräulein Hofer, Sie hätten den Besuch bei Ihren Eltern etwas länger ausgedehnt.“
Fräulein Hofer, die ehemalige Gesellschafterin des Fräulein von Hertenstein, schüttelte den Kopf.
„Nein, wir haben die Försterei rechtzeitig verlassen, aber Fräulein Lily ruhte nicht, bis ich den Wagen vorausschickte und mit ihr den Waldweg einschlug, der bei Felseneck in die Bergstraße mündet. Es ist ein Umweg von einer Stunde.“
„O, ich wollte nur ein einziges Mal einen Blick auf das verwünschte Schloß werfen,“ rief Lily, die bei dem Worte Felseneck all ihr Schmollen vergaß. „Ich habe in den vier Wochen, daß ich hier bin, so viel davon gehört, und wenn auch kein Mensch hineindarf, sehen mußte ich es wenigstens! Es ist ein echtes Zauberschloß, so mächtig und prachtvoll wie in den Märchen, aber es herrscht eine Todtenstille ringsum, als wäre jedes Leben darin erstorben. Natürlich! Drinnen sitzt ja das verzauberte Ungeheuer, das Jedem den Hals umdreht, der unversehens hineingerät.“
„Nein, Lily, das ist Uebertreibung,“ sagte Fräulein Hofer in feierlichem Tone. „Was der Freiherr von Werdenfels auch da oben treiben mag – den Hals hat er noch Keinem umgedreht.“
„Nicht?“ fragte Lily mit offenbarer Enttäuschung. „Nun, ich war darauf gefaßt, wenn wir ihn wirklich zu Gesicht bekommen hätten. Ich erwartete jeden Augenblick, irgend etwas Entsetzliches aus dem dunklen Burgthor auftauchen zu sehen, aber merkwürdiger Weise erschien ein sehr hübscher junger Mann, der mit Flinte und Jagdtasche aus dem Schlosse kam und uns sehr artig grüßte. Wie mag der nur dorthin gerathen sein? Ich glaubte, ganz Felseneck sei nur mit Ungethümen bevölkert, da sein Herr sich ja doch mit Leib und Seele dem Gottseibeiuns verschrieben hat.“
[89] „Lily, scherzen Sie doch nicht in so gottloser Weise!“ rief Fräulein Hofer, indem sie sich bekreuzigte. „Sie ahnen gar nicht, was für dunkle, schreckliche Geheimnisse dieses Felseneck birgt. Wenn Sie es wüßten!“
Sie nahm eine äußerst geheimnißvolle Miene an, und Lily horchte hoch auf, als zu ihrem großen Leidwesen ihre Schwester diese interessanten Enthüllungen unterbrach. Die junge Frau schien sich nicht sehr für das Gespräch zu interessiren; sie war an die Balconthür getreten und blickte in den Garten hinaus, jetzt aber sagte sie, ohne sich umzuwenden:
„Füllen Sie Lily’s Phantasie doch nicht mit solchen Geschichten an. Wer wird derartige Märchen glauben!“
„Märchen?“ wiederholte das Fräulein empfindlich. „Es sind keine Märchen – das weiß ich am besten. Mein Vater ist ja lange Jahre hindurch Förster in Werdenfels gewesen, ehe er die großen Bergforsten übernahm, die zu Felseneck gehören. Er war es, der den jungen Freiherrn damals halb todt von der Geisterspitze herunter brachte. Sie kennen doch die Geisterspitze, Lily?“
„Ja, dort oben sitzt die Eisjungfrau!“ lachte Lily. „Das habe ich schon als Kind gewußt, als wir noch bei Vetter Gregor lebten. Ich hätte für mein Leben gern die weiße Majestät einmal gesehen, aber sie geruhte niemals zu uns herabzusteigen.“
„Der Himmel bewahre uns davor!“ fiel Fräulein Hofer ein. „Kennen Sie denn nicht das Sprüchwort hier zu Lande: ‚Wenn die Eisjungfrau in das Thal niedersteigt, dann bringt sie Verderben‘?“
„Das Sprüchwort hat sein gutes Recht,“ sagte Anna in einem eigenthümlich kalten Tone. „Von der Geisterspitze wehen im Herbste und Winter die eisigen Schneestürme nieder; von dort stürzen die Lawinen. In diesem Sinne hat Ihre Eisjungfrau dem Thale allerdings schon oftmals Unheil gebracht. Das Volk verkörpert sich eben die Elementargewalt in der Sage, aber die Gebildeten sollten sich von diesem Aberglauben frei halten.“
Damit öffnete sie die Glasthür, die auf den Balcon führte, und trat hinaus. Fräulein Hofer sah ihr mit etwas gereizter Miene nach.
„Die gnädige Frau ist ein Freigeist,“ bemerkte sie. „Freilich, in der Residenz ist man ja so sehr aufgeklärt und lacht über Alles, was sich nicht mit dem nüchternen Verstande begreifen läßt. Sie, Lily, haben das im Institute wohl auch gelernt.“
„Ach, ich höre noch gar zu gern Gespenstergeschichten!“ versicherte Lily. „Bitte, bitte, Fräulein Emma, erzählen Sie mir! Was ist das mit diesem Werdenfels und mit der Geisterspitze? Ich höre überall nur dunkle Andeutungen und sterbe fast vor Neugier, irgend etwas Näheres darüber zu erfahren. Bitte erzählen Sie!“
Fräulein Emma ließ sich nicht allzu lange bitten; sie erzählte offenbar sehr gern. Anfangs dämpfte sie noch, mit einem Blicke auf die offene Balconthür, ihre Stimme bis zum Flüstertone, aber schon nach wenigen Minuten vergaß sie diese Vorsicht und sprach ganz laut.
„Es ist schon sehr lange her –“ begann sie.
„Das wird interessant!“ unterbrach sie Lily. „So fangen gerade die schönsten Geschichten an. Also, es ist schon sehr lange her – wohl schon ein paar hundert Jahre?“
„Nein, das gerade nicht!“ sagte das Fräulein, etwas aus dem Concepte gebracht. „Im nächsten Frühlinge werden es gerade vierzehn Jahre, daß Werdenfels niederbrannte, und unmittelbar nach dem Brande verschwand der junge Freiherr.“
Lily hatte sich dicht neben die Erzählerin gesetzt und las ihr förmlich die Worte von den Lippen. Ihr konnte man augenscheinlich nicht den Vorwurf nüchterner Aufklärung machen; sie hatte noch das ganze gläubige Interesse des Kindes für die „Gespenstergeschichten“.
„Er war nirgends im ganzen Schlosse zu finden,“ fuhr das Fräulein fort. „Man fragte und suchte überall umsonst: endlich erfuhr man, daß er in die Berge geritten sei, aber als der Tag zu Ende ging und auch die Nacht verfloß, ohne daß er zurückkehrte, mußte man nothgedrungen ein Unglück annehmen. Der alte Freiherr, der sonst gar keine besondere Zärtlichkeit für seinen Sohn hegte und ihn im Gegentheile sehr streng behandelte, gerieth diesmal ganz außer sich und schien das Schlimmste zu fürchten. Es wurden Boten nach allen Richtungen hin ausgesandt, und als sie sämmtlich unverrichteter Sache zurückkehrten, nahm mein Vater mit seinen Jägerburschen die Nachforschungen auf. Sie kamen auch bald auf die rechte Spur; sie fanden das Pferd auf einer Bergwiese gerade am Fuße der Geisterspitze, herrenlos und fast zusammengebrochen vor Erschöpfung. Baron Raimund aber war, wie sich später ergab, weiter bergaufwärts gestiegen und hatte sich dort wahrscheinlich bei einbrechender Dunkelheit verirrt; denn er war bis in die Klüfte und Schneefelder der Geisterspitze gerathen. Dort wurde er denn auch gefunden, besinnungslos, erstarrt, ohne alle Lebenszeichen. Man glaubte anfangs, er würde überhaupt nicht wieder erwachen, und [90] er trug auch eine schwere Krankheit davon. Seitdem ist er gebannt.“
„Ah, gebannt?“ fragte Lily, der das Wort ungemein imponirte, da sie es durchaus nicht verstand. „Ist das etwas Grausiges?“
„Etwas sehr Grausiges!“ bestätigte das Fräulein. „Die Eisjungfrau hat ihn da oben geküßt, und wer einmal in ihren eisigen Armen geruht hat, der kann nie wieder zum Leben erwarmen, der ist in all seinen Empfindungen abgestorben. Seit jener Stunde war der junge Freiherr nicht wieder zu erkennen. Ich habe ihn ja früher oft gesehen und gesprochen, wenn er nach der Försterei kam. Er war wohl immer ernst und ein wenig träumerisch, aber er konnte doch auch lachen und heiter sein und hatte gar nichts von dem Hochmuthe seines Vaters. Seit seiner Krankheit aber war das Alles vorbei. Er blickte keinen Menschen mehr an, sprach auch mit Keinem mehr und sah aus, als hätte er im Grabe gelegen. Es war ja auch beinahe so gewesen - denn die Eisjungfrau läßt nicht wieder los, was ihr einmal verfallen ist!“
Lily hörte mit großen Augen und mit halb geöffneten Lippen zu; die Geschichte war augenscheinlich ganz nach ihrem Geschmacke.
„Deshalb hat er sich auch da oben in Felseneck angesiedelt,“ meinte sie. „Da hat er die Geisterspitze ganz in der Nähe. Die Bauern meinen, daß er da oben allerlei Hexenkünste treibt. Ist es denn wahr, daß er damals Werdenfels angezündet hat?“
„Lily , um Gotteswillen schweigen Sie!“ rief das Fräulein erschrocken. „Dergleichen sagt man nicht laut.“
„Aber im Geheimen erzählt es sich doch alle Welt. Mir hat es unser Gärtner, der alte Ignaz, anvertraut. Er behauptet steif und fest, es sei die Wahrheit. Wissen Sie etwas Näheres darüber?“
„Nein, es weiß überhaupt Niemand etwas Bestimmtes darüber. Es ist freilich wahr, daß Baron Raimund seit dem Brande Werdenfels förmlich geflohen hat und, wenn er wirklich einmal dorthin gekommen, das Schloß kaum verließ. Sein Vater allerdings ließ sich das Gerücht ebenso wenig anfechten, wie den Haß der Bauern. Er fuhr und ritt nach wie vor durch das Dorf, so hochmüthig wie immer, der Sohn aber setzte keinen Fuß wieder hinein. Später, als er selbst Herr auf den Gütern wurde, da versuchte er es freilich, in ein besseres Verhältniß mit den Leuten zu kommen, und er that alles Mögliche für sie, aber sie hatten ein Grauen vor ihm und seinen Wohltaten, und jetzt ist er ja schon seit Jahren förmlich verschollen da oben in seiner Felsenburg!“
„Es existiren aber doch wenigstens Menschen in Felseneck,“ sagte Lily, die diese Thatsache bisher ernstlich bezweifelt zu haben schien. „Wer mag nur der junge Jäger gewesen sein, der uns begegnete?“
„Wahrscheinlich Paul von Werdenfels, der Neffe des Freiherrn; er soll ja jetzt dort zum Besuche sein.“
„Hu, was muß das für ein Leben bei diesem schrecklichen Onkel sein! Der arme junge Mann, wenn ihm nur nichts zu Leide geschieht! Er sah so freundlich aus, und er grüßte mich so tief, ganz wie man es bei einer Dame thut. Der Justizrath nickt mir nur immer so obenhin zu, wie einem Kinde, und Gregor möchte mir noch am liebsten mit der Ruthe drohen. - Aber ist Anna denn noch immer draußen aus dem Balcon? Sie kommt ja gar nicht zurück.“
Mit diesen Worten sprang das junge Mädchen auf und eilte gleichfalls hinaus.
Anna stand in der That noch auf dem Balcon, obgleich es heute empfindlich kalt im Freien war. Sie blickte nach den Bergen hinüber, von denen ein schneidender Wind herwehte, und ihre Rechte griff dabei wie unbewußt in die schon halb entblätterten Rosengesträuche, die das Gitter umranken"
„Hier wird man ja beinahe fortgeweht!“ rief Lily, welche vergebens versuchte, sich gegen den Wind zu schützen. „Ist es Dir denn nicht zu kalt, Anna? Du hast ja nicht einmal ein Tuch umgeworfen.“
Anna wandte sich um, und wie zur Bestätigung der Worte schauerte sie zusammen.
„Ja, es ist kalt, Komm, laß uns hineingehen!“
Sie zog langsam die Hand zurück, die mit beinahe krampfhaftem Griff das Rosengebüsch umfaßt hielt, und auf der weißen Haut zeigten sich einige Blutstropfen.
„Mein Gott Du hast in die Dornen gegriffen.“ rief Lily. „Du blutest ja! Thut es sehr weh?“
Die junge Frau sah aus ihre Hand nieder, von der die einzelnen dunkelrothen Tropfen niederrannen.
„Ich weiß nicht - ich habe es nicht gefühlt.“
„Nicht gefühlt?“ wiederholte Lily, die nicht begriff, wie man sich an einem Dorn ritzen konnte, ohne einen Schmerzensschrei auszustoßen.
„Nein! Aber was Dir Fräulein Hofer da drinnen erzählt hat, ist ein Gemisch von Aberglauben und Kindermärchen, das Du auf keinen Fall für Wahrheit nehmen darfst. Wenn sie fortfährt, Dich mit solchen Dingen zu unterhalten, so werde ich Dich nicht mehr in ihrer Gesellschaft lassen. Und noch eins, Lilly Du wirst nie wieder den Umkreis von Felseneck betreten! Hörst Du, nie wieder!“
„Weshalb denn nicht?“ fragte Lily, halb verwundert, halb eingeschüchtert durch den ganz ungewohnten Ton.
„Ich will es nicht! Das muß Dir genug sein, und ich fordere unbedingten Gehorsam in diesem Punkte - richte Dich darnach!“
Sie schritt an der Schwester vorüber und kehrte in das Zimmer zurück.
Lily hatte Recht, die junge Frau konnte auch hart sein, sehr hart, und jetzt war sie es sogar gegen ihren sonstigen Liebling. Gregor's Erziehung trug ihre Früchte: in diesem Augenblick war seine Schülerin ebenso eifrig und mitleidslos wie er selbst.
Paul Werdenfels befand sich nun schon volle acht Tage in
Felseneck und hatte zu seiner eigenen höchsten Verwunderung bisher
noch nicht die mindeste Langeweile empfunden. Seine persönliche
Freiheit wurde allerdings in keiner Weise beschränkt; die
Wagen und Pferde standen den ganzen Tag lang zu seiner Disposition,
und es fragte Niemand, wohin er seine Ausflüge richtete.
Ueberdies war er ein ziemlich leidenschaftlicher Jäger, und die
Bergwälder boten in der That ein vorzügliches Jagdterrain.
Dies half dem jungen Manne einigermaßen über die Einsamkeit fort, zu der er hier verurtheilt war; denn den Freiherrn sah er nur wenig. Er betrat dessen Zimmer nur dann, wenn er eigens gerufen wurde, was oft tagelang nicht geschah, aber selbst diese Besuche dauerten immer nur kurze Zeit, und die eisige Ruhe und Gleichgültigkeit Raimunds blieb immer dieselbe. Er ließ seinem jungen Verwandten alle mögliche Freiheit; er stellte ihm alle Annehmlichkeiten seines Schlosses zur Verfügung, aber ein wärmeres Interesse verrieth er niemals, und es war unmöglich, ihm auch nur einen Schritt näher zu kommen, als bei der ersten Begegnung.
Trotzdem unterhielt sich Paul sehr gut; seine hauptsächliche Unterhaltung bestand allerdings darin, die Aussicht von seinem Fenster aus zu bewundern und Tag für Tag einen gewissen Punkt derselben mit dem Fernglase zu beobachten - zu Arnolds Verzweiflung, der durchaus nicht entdecken konnte, was sein junger Herr dort so eifrig suchte. Er hatte zwar jetzt alle Ursache, mit der Solidität desselben zufrieden zu sein, hatte aber seinen Argwohn hinsichtlich des bewußten Gegenstandes „unter sechszig“ noch keineswegs aufgegeben. Trotz aller Anspielungen aber erfuhr er nicht das Geringste, und diese ganz ungewohnte Verschwiegenheit brachte ihn schließlich zu dem Resultat, daß die Sache diesmal „bedenklich“ sei.
Paul hatte längst jene augenblickliche Verstimmung überwunden, welche die Mittheilung des Justizrathes bei ihm hervorgerufen. Er suchte und fand mehr als eine Erklärung und Entschuldigung für jene Vernunftheirath. Die Ueberredung der alten Dame, die jedenfalls für den Wunsch ihres Bruders eingetreten war, das Drängen, vielleicht sogar der Zwang von Seiten des geistlichen Verwandten, der für seine Pflegebefohlene diese glänzende Partie befürworten mußte - es war am Ende nur natürlich, wenn die arme abhängige Waise diesem Drängen ihrer Umgebung nachgab und sich drückenden Verhältnissen entzog.
Paul beklagte jetzt die Frau, die er im ersten Momente fast verurtheilt hatte, und interessirte sich, gerade in Folge dieser Heirath, noch mehr für sie. Wann wäre auch je eine jugendliche Leidenschaft solchen Rücksichten gewichen? Und es war wirklich die erste ernste Leidenschaft seines Lebens. Was er bisher an derartigen [91] Empfindungen gekannt hatte, waren Tändeleien gewesen, denen er selbst keinen tieferen Werth beigelegt hatte und die sich ebenso flüchtig knüpften wie lösten. Jetzt zum ersten Mal fühlte er sich tief und nachhaltig gefesselt, obgleich er Frau von Hertenstein kaum dreimal gesehen und gesprochen hatte, und eben weil sie gar keinen Werth auf seine Huldigung zu legen schien und ihm die Annäherung in jeder Weise erschwerte, suchte er diese um so eifriger.
Er wußte allerdings, daß diese Annäherung hier nur eine Bewerbung sein konnte und durfte, aber er war auch fest entschlossen, die schöne Wittwe zu erringen, koste es, was es wolle. Freilich bedurfte er dazu der Zustimmung des Freiherrn, von dem er nun einmal abhängig war, aber Paul rechnete auch in dieser Beziehung auf die Großmuth seines Onkels, dem es bei seinem Reichthume sicher nicht darauf ankam, die Zukunft seines Verwandten und einstigen Erben zu sichern. Die Hauptsache blieb die Bewerbung selbst, und der junge Mann zählte mit Ungeduld die Tage, die er nothgedrungen verstreichen lassen mußte, ehe er es wagen konnte, die Bekanntschaft zu erneuern und den lang ersehnten Besuch in Rosenberg zu machen.
Endlich war die Woche verstrichen, und schon am nächsten Vormittage ritt er nach Rosenberg, das von Felseneck ungefähr ebenso weit entfernt lag wie Werdenfels und in zwei Stunden zu erreichen war. Aber der Zufall schien ein boshaftes Spiel mit der Sehnsucht des jungen Mannes zu treiben! Frau von Hertenstein war ausgefahren und kehrte erst gegen Abend zurück. Der alte Gärtner, der das Gitterthor geöffnet hatte und die Auskunft gab, mußte wohl glauben, daß es sich um eine sehr wichtige Angelegenheit handele, weil der fremde Herr ein gar so verzweifeltes Gesicht machte, und fügte deshalb tröstend hinzu, die gnädige Frau sei in Werdenfels bei ihrem Verwandten, dem Herrn Pfarrer.
Paul dankte und wandte schleunigst sein Pferd nach der Richtung von Werdenfels. Er sagte sich zwar, daß es sich nicht schicke, die Dame, der er noch so fern stand, in einem fremden Hause aufzusuchen, aber wer hinderte ihn denn, dieses Zusammentreffen für einen Zufall auszugeben? Um die Sache recht unverfänglich zu gestalten, brauchte er nur vorher im Schlosse einen kurzen Besuch abzustatten. Es war am Ende natürlich, daß er den Stammsitz seiner Familie einmal zu sehen wünschte, und ebenso natürlich, daß er auf dem Rückwege durch das Dorf bei dem Pfarrer einsprach; sein Onkel hatte ja alle möglichen Patronats,- und sonstigen Rechte über Werdenfels. Der Neffe aber hegte doch eine gewisse Scheu vor dem ernst fragenden Blick seiner schönen Reisegefährtin, und so groß auch seine Sehnsucht war, sie wieder zu sehen, er hätte um keinen Preis der Welt als zudringlich erscheinen mögen.
Ein scharfer Ritt von einer halben Stunde brachte ihn nach Werdenfels, und der Castellan, dem er sich zu erkennen gab, beeilte sich, das Schloß und die Gärten zu zeigen. Paul fand auch hier dieselbe öde Pracht wie in Felseneck, die sorgfältig geschont und erhalten wurde, aber keinem Menschen diente und keinen erfreute; nur war hier alles freier, lichter und freundlicher. Auch Werdenfels war ein beinahe fürstlicher Wohnsitz, welcher der Stolz jedes anderen Besitzers gewesen wäre, und jetzt bekam es seinen Herrn nicht einmal zu Gesichte.
Paul hätte unter anderen Umständen wohl dem Orte, von dem sein Geschlecht den Namen führte, ein eingehenderes Interesse gewidmet, heute war er etwas zerstreut und eilig, aber er konnte doch einen Ausruf der Ueberraschung nicht unterdrücken, als der Castellan ihn auf die große Terrasse führte.
Das Schloß stand auf einer mäßigen Anhöhe; zu seinen Füßen lag auf der einen Seite das Dorf, ein großer, freundlicher Ort; auf der anderen erstreckten sich die Gärten, die es wie mit einem großen, blühenden Kranze umgaben und selbst jetzt im Spätherbste noch einen Theil ihres Schmuckes zeigten. An dem Dorfe und den Gärten vorüber aber schoß mächtig und brausend der Bergstrom, der oberhalb Felsenecks aus dem Gebirge hervorbrach. Er tobte hier allerdings nicht so wild, wie dort oben in dem engen Thale, aber er schien doch unter Umständen gefährlich werden zu können; denn der ganze Park war an jener Seite durch breite Stein- und Erdwälle geschützt. Man hatte sie zwar sehr geschickt in die Anlagen hineingezogen und sie ganz mit Hecken und Gesträuchen bedeckt, sodaß sie das Malerische des Parkes noch erhöhten, aber sie schienen doch nur der Nothwendigkeit ihr Dasein zu verdanken.
„Das ist herrlich!“ sagte Paul, dessen Blick von dem reichen Landschaftsbilde, das sich dort in der Ferne ausrollte, wieder zu den Rasenflächen und Baumgruppen des Parkes zurückkehrte, „solche Anlagen hat ja kaum ein Fürstenschloß aufzuweisen.“
„Ja, die Gärten von Werdenfels sind auch weit in der ganzen Umgegend berühmt,“ versetzte der Castellan mit Stolz. „Der Großvater unseres jetzigen Herrn hat sie mit ungeheuren Kosten angelegt. Der verstorbene Freiherr hatte freilich keine besondere Neigung für solche Dinge, aber er war doch sehr stolz auf diesen Schmuck seines Schlosses und wachte sorgfältig darüber, daß er in seinem vollen Umfange erhalten blieb. Nun, erhalten wird das alles ja auch jetzt noch, aber –“ Er brach ab und fügte dann in einem beinahe wehmüthigen Tone hinzu: „Es ist das erste Mal, daß wir wieder Jemand von der Herrschaft zu sehen bekommen, Herr Baron – das ist in Jahren nicht geschehen.“
Paul zuckte die Achseln.
„Mein Onkel liebt nun einmal Werdenfels nicht; er zieht den Aufenthalt in Felseneck vor. Aber die Unterhaltung dieser Anlagen muß ja jährlich eine Riesensumme kosten!“
„Das kostet sie auch,“ bestätigte der Castellan. „Es giebt nicht Viele im Lande, die dergleichen durchführen können; unser Herr kann es freilich. Sehen Sie, Herr Baron“ – er beschrieb mit der Hand eine weite Bogenlinie – „das alles ringsum gehört zu Werdenfels, und dort hinter den Wäldern liegen die anderen Güter des Herrn, und die großen Bergforsten von Felseneck sind ja auch sein Eigenthum.“
Der Blick des jungen Mannes folgte der bezeichneten Richtung. Jawohl, es war ein riesiger Besitz, und das alles lag in der Hand eines Mannes, der nicht das mindeste Interesse dafür zeigte und sich jahraus jahrein in seine Felseneinsamkeit vergrub. Paul unterdrückte einen Seufzer bei diesem Gedanken und fragte dann ablenkend:
„Aber was sind denn das für seltsame grüne Mauern, die den Park dort drüben abgrenzen? Es sieht ja aus, als wäre er auf jener Seite mit einem Festungswall umgeben.“
„Das geschieht des Flusses wegen,“ erklärte der Castellan. „Er kann bisweilen recht wild sein und hat früher regelmäßig im Frühjahr und Herbst dem Parke Schaden gebracht. Wenn das Wasser aber einmal ernstlich ausgebrochen wäre, dann hätte es mehr gekostet, als den Park allein. Die ganzen Werdenfels’schen Besitzungen liegen ja in der Thalsenkung, und die wären in solchem Falle verloren gewesen. Der verstorbene Freiherr hat deshalb die Schutzwälle aufführen lassen; da ist Stein an Stein gemauert, und die Erde und die Hecken halten sie nun vollends eisenfest zusammen. Das reißt kein Bergwasser fort, und wenn es noch so wild ist.“
„Aber das Dorf liegt ja auf derselben Seite,“ warf Paul ein, „und dort sehe ich nicht die mindeste Schutzvorrichtung.“
„Das ist den Leuten zu kostspielig gewesen,“ meinte der Castellan achselzuckend. „Die Gemeinde ist nicht reich; sie hat schon Noth und Mühe genug, nur das Nothwendigste zu schaffen, und solch ein Bau kostet Tausende. Man verläßt sich eben auf sein gutes Glück und auf den lieben Herrgott, und es ist ja auch seit Jahren nichts passirt. – Wollen Sie nicht noch einen Gang durch den Park machen, Herr Baron?“
„Nein, ich danke,“ sagte Paul zerstreut. „Meine Zeit ist heute sehr kurz, und ich will noch in das Dorf hinunter. Wo führt der nächste Weg dorthin?“
Der Castellan schien etwas verwundert, daß der junge Baron in das Dorf wollte ; er gab aber bereitwillig die geforderte Auskunft. Paul schlug den bezeichneten Weg ein, der an der Rückseite des Schloßberges hinabführte, aber der gewundene Fußpfad war ihm zu lang; er ging geradewegs den Abhang hinunter, der hier nur mit Rasen und wildem Gesträuch bewachsen war, bis er an eine etwas abschüssige Stelle gelangte, wo das Hinabkommen seine Schwierigkeiten hatte.
Da ertönte plötzlich dicht unter ihm die erste Strophe eines Volksliedes, das vielfach in der Gegend gesungen wurde. Es war eine helle, jugendliche Stimme, und sie klang so anmuthig, daß Paul unwillkürlich stehen blieb und lauschte. Er beugte sich weiter vor, um die zu der Stimme gehörige Person zu entdecken, und blickte in die Tiefe hinab. Durch die schon herbstlich gelichteten Gebüsche hindurch gewahrte er auch wirklich einen Arm [92] und eine kleine rosige Hand, die eben im Begriff war, die Haselgesträuche am Fuße des Schloßberges zu plündern; sie zupfte und riß sehr energisch daran. Allmählich kamen auch ein paar lange braune Flechten zum Vorschein, die bei den Bewegungen ihrer Trägerin bald rechts, bald links fielen, und endlich zeigten sich auch die Umrisse eines zierlichen Kopfes. Weiter aber war vorläufig nichts zu sehen, und Paul, dessen Neugierde geweckt war, trat bis an den äußersten Rand des Abhanges und schob vorsichtig einen Baumzweig zur Seite, der ihm die Aussicht nahm: dabei gab aber das lockere Erdreich nach; plötzlich schwand der Boden unter seinen Füßen, und er fuhr mitten durch brechende Gesträuche und stäubende Erdmassen in die Tiefe nieder.
Ein lauter Angstschrei von unten her begleitete seine Niederfahrt. Die junge Sängerin war schleunigst seitwärts gesprungen und blickte mit allen Zeichen des Entsetzens auf den unfreiwilligen Bergfahrer, während ihr Taschentuch zu Boden fiel und die darin gesammelten Nüsse nach allen Richtungen aus einander rollten.
„Mein Gott, was ist das?“ rief sie laut.
„Ein Bewunderer Ihres Gesanges, mein Fräulein!“ rief Paul, der mitten in die Haselsträuche gerathen war und krampfhafte, aber vergebliche Anstrengungen machte, sich wieder daraus zu befreien. „Ich konnte dem Wunsche nicht widerstehen – das sind ja ganz schändliche Haseln! – Entschuldigen Sie, daß ich auf diesem etwas ungewöhnlichen Wege zu Ihren Füßen – O du verwünschter Abhang!“
Er hatte allerdings Grund, den Abhang zu verwünschen; denn dieser sandte noch nachträglich eine große Erdscholle herunter, die den jungen Mann auf’s Neue mit einem Regen von Erde und Steinen überschüttete. Der Anblick war so komisch, daß die junge Dame in ein lautes Gelächter ausbrach.
Diese demüthigende Situation konnte Paul nicht ertragen; er schlug wüthend rechts und links in die Haseln, bis sie ihn endlich losließen, sprang dann empor und schüttelte sich die Erde ab.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein, daß ich meine Bewunderung in etwas ungestümer Weise kund gab!“ begann er, sich ihr nähernd, „aber Sie selbst tragen die Schuld daran. Ihre Töne lockten mich unwiderstehlich und da – verlor ich das Gleichgewicht.“
Sein Blick überflog während dessen rasch die Erscheinung des jungen Mädchens. Es lag für ihn etwas Bekanntes in diesen Zügen, aber er fand nicht Zeit, sich näher darauf zu besinnen; denn die jugendliche Sängerin blickte wehmüthig auf die verstreuten Haselnüsse nieder und schien zweifelhaft zu sein, ob sie dieselben wieder an sich nehmen dürfe.
„Es ist nicht das erste Mal, daß ich das Vergnügen habe,“ sagte Paul, indem er sich bückte und eifrig die einzelnen Nüsse zu sammeln begann. „Vor einigen Tagen in Felseneck –“
„Ja, Sie kamen gerade aus dem Schlosse, als wir vorübergingen –“ fiel die junge Dame ein, indem sie sich gleichfalls bückte und ihm beim Sammeln half.
„Ich bin als Gast dort,“ erklärte Paul, der es doch nun nöthig fand, sich vorzustellen, mit einer regelrechten Verbeugung. „Mein Name ist Paul von Werdenfels.“
„Und ich heiße Lily Vilmut,“ versetzte diese mit einem Knix, und darauf machten sie sich schleunigst Beide wieder an das Einsammeln und ruhten nicht, bis auch die letzte Nuß gefunden war.
„So, jetzt sind wir fertig!“ sagte Lily mit höchster Befriedigung, „Ich danke, Herr von Werdenfels.“
„O, ich bitte,“ entgegnete dieser. „Es war meine Schuld, daß Ihre Ernte verloren ging. Ich habe Sie wohl sehr erschreckt?“
„Ja, im ersten Augenblick war ich sehr erschrocken,“ gestand die junge Dame. „Ich glaubte nämlich, es sei Ihr Herr Onkel, der mit Donner und Blitz vom Berge heruntergefahren käme, weil ich seine Haselsträuche angerührt habe, aber sie wachsen doch ganz wild hier, und ich esse Haselnüsse gar zu gern.“
„Aber haben Sie denn eine so schreckliche Vorstellung von meinem Onkel?“ fragte Paul. „Ich bin überzeugt, er würde Ihnen mit Vergnügen sämmtliche Haselnüsse von Werdenfels zu Füßen legen, und überdies ist er ja in Felseneck.“
„Ich glaube, er kann überall sein!“ fuhr Lily heraus. „Sagen Sie, Herr von Werdenfels – geschieht Ihnen denn auch wirklich nichts da oben in Felseneck?“
„Was soll mir denn geschehen?“ fragte Paul verwundert.
[105] Lily begann sich jetzt ihres Aberglaubens zu schämen. Der junge Baron sah nicht aus, als ob er sich so ohne Weiteres der seltsamen Manie seines Onkels fügen werde, die bekanntlich darin bestand, den Leuten den Hals umzudrehen. Sie war einigermaßen beruhigt über sein Schicksal; deshalb faßte sie vorsichtig die Zipfel ihres Taschentuches zusammen, das die Nüsse barg, und erklärte, daß sie in das Dorf zurückkehren müsse.
„Ich gehe gleichfalls dorthin,“ sagte Paul. „Ich beabsichtige dem Herrn Pfarrer einen Besuch zu machen.“
„Meinem Vetter Gregor?“
„Ah, Sie sind eine Verwandte des geistlichen Herrn? Dann wohnen Sie vermuthlich auch im Pfarrhause?“
„Nein, ich wohne in Rosenberg; ich bin nur heute mit meiner Schwester zum Besuche in Werdenfels.“
Paul blieb plötzlich stehen, und sein Gesicht verklärte sich förmlich.
„Mit Ihrer Schwester, der Frau von Hertenstein?“
„Ja – Sie kennen ihren Namen?“
„Gewiß! Ich hatte das Glück, ihr Reisegefährte zu sein. Hat die gnädige Frau nichts davon gegen Sie erwähnt?“
„Keine Silbe!“ versicherte Lily, die nicht begriff, wie man eine derartige Bekanntschaft verschweigen konnte.
Paul sah etwas enttäuscht aus. Also nicht einmal sein Name war genannt worden, aber er wußte jetzt, was ihm in den Zügen des jungen Mädchens schon damals bei der ersten flüchtigen Begegnung aufgefallen war. Es war die Aehnlichkeit mit der Schwester gewesen; nur der Name Vilmut hatte ihm fremd geklungen. Aber Lily gewann jetzt, wo er entdeckte, daß sie dem Ideal seiner Träume so nahe stand, eine ganz andere Bedeutung für ihn.
Er erzählte ihr von dem Zusammentreffen in Venedig und fand es ungemein merkwürdig, daß der Zufall ihn hier mit der Frau von Hertenstein wieder zusammenführte. Lily, die nicht wissen konnte, daß er eine halbe Stunde im schärfsten Galopp geritten war, um diesen Zufall in Scene zu setzen, fand das gleichfalls merkwürdig und hatte nichts dagegen, daß er sich ihr anschloß, und so langten sie denn gemeinschaftlich und mit den Haselnüssen im Pfarrhause an.
Der Pfarrer und Anna befanden sich im Studirzimmer des Ersteren, und Lily führte ihre neue Bekanntschaft dort ein. Unter anderen Umständen hätte sie wohl eine Strafpredigt des gestrengen Vetters gefürchtet, der es sicher sehr unpassend fand, daß sie in Begleitung eines fremden jungen Mannes erschien. Da es sich aber hier um einen Bekannten ihrer Schwester handelte, so glaubte sie sich hinreichend entschuldigt und stellte den Herrn Baron von Werdenfels vor, der dem Pfarrer einen Besuch machen wollte und dem sie am Schloßberge begegnet sei. Die Geschichte mit den Nüssen wurde dabei selbstverständlich verschwiegen.
Paul trat näher; er bemerkte nicht das eisige Befremden des Geistlichen bei der Nennung seines Namens, bemerkte nicht einmal die peinliche Ueberraschung der Frau von Hertenstein bei seinem Erscheinen; er sah nur das Antlitz, das ihm in der letzten Zeit auch nicht einen Augenblick aus der Erinnerung gewichen war, und seine Augen strahlten bei diesem Wiedersehen in so unverkennbarer Glückseligkeit, daß die kleine Lily sehr verwundert dreinschaute und sich ihre eigenen Gedanken über diese Reisebekanntschaft zu machen begann.
Vilmut hatte sich erhoben und war dem Gaste einen Schritt entgegen gegangen, aber er sprach nicht ein einziges Wort der Begrüßung oder des Willkommens und überließ es dem jungen Manne, sich selbst einzuführen. Dieser wiederholte, was er schon Lily erzählt hatte, daß er im Schlosse gewesen sei und sich das Vergnügen nicht habe versagen wollen, bei dieser Gelegenheit auch den Herrn Pfarrer von Werdenfels kennen zu lernen, welchem er durch seine nahe Verwandtschaft mit dem Gutsherrn ja kein Fremder sei.
Vilmut hörte das alles an, ohne eine Miene zu verziehen; dann wiegte er das Haupt und sagte frostig:
„Gewiß, Herr Baron!“
Aber in seinem Gesicht stand deutlich die Frage, welche seine Lippen allerdings nicht aussprachen, was der Besuch denn eigentlich bei ihm wolle?
Paul achtete anfangs nicht auf diesen seltsamen Empfang, weil er ganz andere Dinge im Kopfe hatte. Er fand den geistlichen Herrn sehr steif und über alle Maßen unliebenswürdig, übrigens aber war ihm derselbe höchst gleichgültig. Er wandte sich daher ausschließlich an Frau von Hertenstein und sprach ihr seine Freude aus, sie wiederzusehen. Er hatte natürlich keine Ahnung von ihrem Hiersein gehabt, aber er hoffte, sie werde ihm erlauben, die nur allzu flüchtige Bekanntschaft zu erneuern, und damit war er im vollen Fahrwasser seiner Liebenswürdigkeit und zog alle Schleusen derselben auf, ohne sich weiter um den langweiligen Geistlichen zu kümmern.
Aber Gregor Vilmut war nicht der Mann, der sich so ohne Weiteres ignoriren ließ. Einige Minuten lang beobachtete er [106] scharf und schweigend den jungen Mann, dann unterbrach er dessen lebhafte Unterhaltung ebenso plötzlich wie rücksichtslos mit der Frage:
„Sie sind wohl erst sehr kurze Zeit in Felseneck, Herr Baron?“
„Erst seit acht Tagen,“ sagte Paul leicht hin und wandte sich wieder an die junge Frau. Jetzt aber trat Vilmut an den Stuhl derselben, stützte den Arm auf die Lehne und bemächtigte sich vollständig des Gespräches.
„Sie haben also wohl noch nicht Gelegenheit gehabt, sich mit den Verhältnissen der Umgegend vertraut zu machen?“ fragte er weiter.
„Nein, ich bin ja noch ganz fremd hier, aber eben deshalb suche ich mich einigermaßen zu orientiren.“
„Das ist sehr natürlich! – Weiß der Freiherr, daß Sie mir die Ehre Ihres Besuches zu Theil werden lassen?“
„Nein, er weiß nicht einmal, daß ich in Werdenfels bin,“ entgegnete der junge Mann, ungeduldig und ärgerlich, daß man ein förmliches Examen mit ihm anstellte.
„Das dachte ich mir!“ sagte Vilmut kalt.
Diese Bemerkung machte Paul doch stutzig; er begann endlich in der eisigen Zurückhaltung des Pfarrers eine Absicht zu fühlen und nahm nun auch seinerseits eine kalte Miene an.
„Mein Besuch scheint Sie zu befremden, Hochwürden,“ sagte er. „Ich glaubte eine Höflichkeit zu erfüllen, wenn ich Sie aufsuchte, da ja auch Schloß Werdenfels zu Ihrer Pfarre gehört, ich sehe aber, daß ich mich im Irrthum befunden habe, und bedaure sehr, ein unwillkommener Gast zu sein.“
„Bitte, Herr Baron, Sie sind mir willkommen!“ unterbrach ihn Vilmut mit scharfer Betonung. „Ich fragte nur Ihretwegen; denn ich fürchte, Sie werden diesen Besuch in Felseneck vertreten müssen.“
Paul sah erst den Pfarrer, dann Frau von Hertenstein an, als erwarte er von einer Seite wenigstens eine Aufkärung, aber das Gesicht Vilmut’s blieb unbeweglich, und Anna schwieg beharrlich, während ihre junge Schwester, die freilich auch erst seit wenigen Wochen in Rosenberg war, mit höchster Neugierde zuhörte, aber offenbar nicht das Geringste von der Sache begriff. Die Spannung hatte den höchsten Grad erreicht, als zum Glück gemeldet wurde, daß der Postbote dem Herrn Pfarrer einen wichtigen Brief persönlich zu übergeben wünsche. Vilmut entschuldigte sich für einige Minuten und ging hinaus. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, so wandte sich Paul an die junge Frau.
„Gnädige Frau, ich bitte Sie dringend, mir zu erklären, was dies Alles bedeutet.“
Anna warf einen Blick auf das Nebenzimmer: dann entgegnete sie rasch und leise:
„Die Frage gebe ich Ihnen zurück, Herr von Werdenfels. Was bedeutet Ihr Erscheinen in diesem Hause? Wie kommen Sie hierher?“
„Ich habe es Ihnen ja bereits mitgetheilt – auf die einfachste Weise in der Welt. Ich sehe jetzt freilich, daß hier ganz besondere Verhältnisse obwalten, die meinen Besuch seltsam erscheinen lassen, aber – mein Wort darauf! – ich hatte keine Ahnung davon. Was um Gotteswillen liegt denn zwischen meinem Onkel und Ihrem Verwandten?“
„Das werden Sie jedenfalls in Felseneck erfahren. Ich stehe all diesen Verhältnissen gänzlich fern.“
Das war wieder der kalte, zurückweisende Ton, den Paul nicht zum ersten Male von diesen Lippen hörte; diesmal aber ließ er sich dadurch nicht zurückschrecken; denn er glaubte jetzt zu wissen, daß diese Kälte nicht ihm galt, sondern dem Namen, den er trug.
„Sie zürnen mir, gnädige Frau?“ sagte er mit leiser, inniger Bitte.
„Ich? Nein. Weshalb sollte ich Ihnen zürnen?“
„Weil Sie mir nicht einmal ein Wiedersehen erlauben wollen! Sie kannten das Ziel meiner Reise und doch verrieth mir auch nicht eine Silbe, daß Sie in Rosenberg lebten. Es war ein Zufall, der mich vor einigen Tagen Ihre Nähe entdecken ließ. Wollten Sie mir wirklich ein Geheimniß daraus machen?“
„Nein, denn ich konnte mir sagen, daß Sie es früher oder später doch entdecken würden, aber –“
„Also darf ich nach Rosenberg kommen? Darf ich?“ unterbrach sie Paul mit leidenschaftlichem Aufflammen. Er kümmerte sich nicht darum, daß Lily dabei saß und mit großen Augen zuhörte; es fiel ihm überhaupt nicht ein, ein Geheimniß aus seinen Gefühlen zu machen. Die junge Frau dagegen schien peinlich dadurch berührt zu werden, ehe sie aber noch antworten konnte, trat Vilmut wieder ein.
Paul erhob sich sofort; er fühlte, daß er diesen improvisirten Besuch auch nicht eine Minute länger ausdehnen dürfe. Er verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung von Frau von Hertenstein, mit einer zweiten von Lily und ging dann. Vilmut machte nicht den geringsten Versuch, ihn zurückzuhalten; er begleitete und entließ ihn mit derselben frostigen Höflichkeit, wie beim Empfange. Dem jungen Manne ging es wie Lily; auch er athmete auf, als er nicht mehr unter dem Banne dieser kalten, strengen Augen war.
Drinnen im Zimmer machte Lily inzwischen ihrer Verwunderung Luft. Sie fand, daß der junge Baron ihre Schwester in ganz besonderer Weise angesehen habe und daß sein Ton ebenfalls ein ganz besonderer gewesen sei, als er um die Erlaubniß bat, nach Rosenberg kommen zu dürfen; kurz, sie fand, daß die Sache höchst verfänglich sei. Aber die arme Kleine hatte kein Glück mit ihren klugen Beobachtungen; sie wurde auch diesmal ernst zurückgewiesen und man erklärte ihr, daß sie solche Dinge noch gar nicht verstehe, also auch nicht darüber sprechen dürfe. Lily begriff durchaus nicht, warum ihr mit sechszehn Jahren noch jedes Verständniß für dergleichen fehlen sollte. Sie ergriff schmollend ihre Haselnüsse und lief damit in das Nebenzimmer, weil sie den Vetter Gregor zurückkehren sah, der in der nächsten Minute eintrat.
„Das war ein seltsamer Besuch!“ sagte er mit einem beinahe hohnvollen Ausdruck. „Was hältst Du eigentlich davon?“
„Ich glaube, daß die Sache sich wirklich so verhält, wie der junge Baron sie schildert,“ entgegnete Anna. „Er ist im Schlosse gewesen und hat nur eine Pflicht der Höflichkeit erfüllen wollen, als er Dich aufsuchte.“
Gregor’s Augen ruhten wieder durchdringend auf ihrem Antlitz.
„Möglich!“ entgegnete er herbe, „aber ich fürchte, daß diese Höflichkeit mir am wenigsten galt. Deine Augen haben wieder einmal Unheil angerichtet, Anna! Ich sah es gleich im ersten Moment. Doch ich brauche Dich wohl nicht erst zu warnen, um den jungen Menschen fern zu halten. Er ist ja ein Werdenfels – das schließt ihn von Deiner Nähe aus!“
Es waren keine sehr angenehmen Empfindungen, mit denen der junge Baron Werdenfels nach Felseneck zurückkehrte; denn er konnte sich nicht verhehlen, daß dieses so heiß ersehnte Wiedersehen sich einigermaßen peinlich gestaltet hatte, und daß sein Besuch im Pfarrhause eine Uebereilung gewesen war. So wenig er auch die Verhältnisse kannte, es war ihm doch klar geworden, daß zwischen seinem Onkel und diesem Pfarrer Vilmut irgend etwas Feindseliges lag. Er glaubte jetzt den Grund jener kalten Zurückhaltung entdeckt zu haben, welche die schöne Frau ihm gegenüber zeigte. Sie galt nicht ihm persönlich, sondern lediglich seinem Namen, aber darüber setzte er sich mit dem ganzen glücklichen Leichtsinn der Jugend hinweg – das war keine Schranke für seine Hoffnungen. Die Erlaubniß, nach Rosenberg zu kommen, war ihm zwar nicht ausdrücklich gewährt, aber auch nicht versagt worden; er nahm sie also ohne Weiteres als bestehend an und ließ sich in seinen Zukunftsträumen nicht im geringsten stören.
Bei seiner Ankunft in Felseneck empfing ihn Arnold mit der Nachricht, daß der „gnädige Herr Onkel“ ihn zu sehen wünsche. Paul liebte diese Audienzen nicht besonders, so kurz und flüchtig sie auch meistens waren. Seine warme Natur fühlte sich bei jedem solchen Zusammensein von der eisigen Gleichgültigkeit des Freiherrn mehr und mehr abgestoßen, aber ein Wunsch von dessen Seite war natürlich ein Befehl für ihn, dem er sofort nachkam. Er erkundigte sich daher nur, welche Zeit für den Besuch festgesetzt sei.
„Fünf Uhr!“ sagte Arnold mit großer Feierlichkeit. „Und ich werde Sie diesmal begleiten, Herr Paul.“
Paul sah ihn erstaunt an.
[107] „Was fällt Dir ein? Du weißt ja, daß Niemand dem Freiherrn nahen darf, der nicht eigens gerufen worden ist.“
„Ich bin aber gerufen worden,“ erklärte Arnold mit höchster Genugthuung. „Der gnädige Herr haben mir ausdrücklichen Befehl gesandt, mich heute vorzustellen.“
„Hat er das wirklich gethan?“ rief Paul. „Ich habe ihm allerdings bei dem letzten Zusammensein von Deiner Verzweiflung gesprochen, daß Du den Chef des Hauses noch nicht einmal zu Gesicht bekommen habest, ich glaubte aber nicht, daß es helfen würde; denn er schwieg darauf, und ich wagte natürlich keinen directen Wunsch zu äußern.“
„Sie wagen gar nichts, Herr Paul,“ sagte Arnold geringschätzig. „Sie verstehen überhaupt gar nicht, den Herrn Onkel zu behandeln, und doch sind Sie der Einzige, mit dem er bisweilen verkehrt. Es ist ja eine wahre Sünde, so dahinzuleben und wie ein Nachtgespenst vor den Menschen und dem Tage zu fliehen, wenn man so und so viele Güter und Schlösser besitzt und selbst nicht einmal weiß, wie reich man ist. Der Herr Onkel brauchen entschieden Jemand, der ihm in aller Unterthänigkeit den Kopf zurechtsetzt, und da Sie das nicht wagen –“
„So willst Du es thun,“ ergänzte Paul sehr belustigt. „Nimm Dich in Acht, Arnold! Die Sache könnte schlimm ablaufen, wenn der Freiherr zufällig übler Laune ist.“
„Er ist doch nicht etwa gefährlich?“ fragte Arnold, dessen alte Besorgniß sich wieder regte. „Kann man denn überhaupt vernünftig mit ihm sprechen, oder –“ er griff mit bezeichnender Geberde an seine Stirn.
Paul lachte laut auf.
„Nein, in dieser Beziehung brauchst Du keine Besorgniß zu hegen. Er ist ganz vernünftig, aber ich zweifle sehr, ob er für Deine Predigten zugänglich sein wird. Es ist nicht Jeder ein so geduldiges Opferlamm wie ich.“
Arnold schien über diese Lammesgeduld seines jungen Herrn durchaus anderer Meinung zu sein, im Uebrigen aber hatte er sich wirklich vorgenommen, dem Freiherrn von Werdenfels den Kopf zurechtzusetzen. Daß dies bisher noch Niemand gewagt hatte, war ihm ebenso unerklärlich, wie die tiefe, ehrfurchtsvolle Scheu, welche die gesammte Dienerschaft von Felseneck vor ihrem Herrn hegte; denn Arnold, der stets den allertiefsten Respect im Munde führte, besaß davon in Wirklichkeit nicht das Mindeste. Er hing mit Leib und Seele an seiner Herrschaft und hätte sich im Nothfall für dieselbe todtschlagen lassen, aber das hatte ihn nie gehindert, diese Herrschaft mit dem allertiefsten Respect zu tyrannisiren.
Schon der verstorbene Herr von Werdenfels hatte ihm auf seine Treue und Anhänglichkeit hin alles Mögliche hingehen lassen; die selige Frau Baronin stand nun vollends ganz unter seinem Scepter, und bei dem Junker Paul war er Kammerdiener und Mentor in einer Person.
Er fühlte sich deshalb tief beleidigt, daß der Chef der Familie so gar keine Notiz von seinem Dasein nahm, und hatte seinem jungen Herrn so lange zugesetzt, bis dieser ihm den Willen that, und im Gespräch mit dem Onkel jene Aeußerung fallen ließ. Jetzt war der große Moment der Vorstellung da, und der alte Diener schritt, ganz erfüllt davon, hinter Paul her und nach der Wohnung des Schloßherrn, wo er einstweilen im Vorgemach warten mußte.
Paul trat inzwischen in das Zimmer des Freiherrn, der an seinem Schreibtische saß und den Eintretenden, wie gewöhnlich, mit kühler Freundlichkeit begrüßte.
„Du hast studirt?“ fragte der junge Mann, dessen Blick über die Papiere und Bücher hinglitt und dabei den Titel eines der letzteren auffing. „Ah, Du treibst Naturwissenschaften, wie ich sehe.“
„Hexenkünste!“ sagte Werdenfels, indem er sich in den Sessel zurücklehnte. „So glauben wenigstens die Leute dort unten im Thale. Lächle nicht, Paul! Ich spreche im Ernste; es gilt ihnen für ausgemacht, daß ich mich mit der schwarzen Kunst abgebe, und selbst meine Dienerschaft ist fest davon überzeugt, daß meine Experimente Teufelswerk sind.“
„Ist man hier zu Lande wirklich noch so abergläubisch?“ fragte Paul erstaunt. „Mein Gott, wofür ist denn die Aufkärung, wofür sind die Schulen da?“
„Für die nächste Generation vielleicht! In der jetzigen ist der Priester noch allmächtig – bei uns wenigstens – und für den ist der Teufelsglaube ein zu nützliches Zucht- und Schreckmittel, als daß er ihn bannen sollte. Aber,“ hier schob Raimund mit dem Ausdruck des Widerwillens die Bücher und Manuscripte von sich, „ich finde auch kein Interesse mehr an diesen Studien, welche ich früher mit Vorliebe getrieben habe. Ich frage mich schließlich: Wozu das alles, da ich es ja doch nie verwerthe? Freilich – wozu das ganze Leben überhaupt?“
Die Frage klang nicht bitter, nur müde, aber Paul war gerade jetzt am wenigsten in der Stimmung, auf pessimistische Ideen einzugehen. Er hatte Kopf und Herz voll von rosigen Zukunftsträumen; deshalb überging er die letzte Bemerkung und sagte leichthin:
„Ich habe leider nie eine besondere Neigung für das Studiren gehabt. Ich und die Bücher, wir standen stets auf etwas gespanntem Fuße.“
„Das sehe ich – Du hast die Bibliothek noch nicht einmal betreten. Das soll kein Vorwurf für Dich sein,“ unterbrach sich der Freiherr, als der junge Mann antworten wollte. „In Deinem Alter zieht man andere Beschäftigungen vor, und es ist Deine Sache, wie Du Dir den Aufenthalt in Felseneck erträglich machst. Wie ich höre, jagst und reitest Du viel – das ist immerhin eine Unterhaltung.“
„Eine Unterhaltung, ja, aber keine Thätigkeit.“
„Vermissest Du diese?“ fragte Raimund mit leiser Ironie.
„Offen gestanden: ja! Ich meine überhaupt, daß es jetzt Zeit für mich ist, an einen bestimmten Beruf zu denken.“
„Das meine ich auch, aber ich glaubte kaum, daß Du darauf dringen würdest.“
„Doch, Raimund!“ sagte Paul lebhaft. Er hatte nach dem Wunsche des Freiherrn seit jener ersten Zusammenkunft den „Onkel“ fallen lassen. „Ich habe Dich schon längst fragen wollen, was Du über meine Zukunft beschlossen hast.“
Raimund streifte mit einem halb verwunderten Blick den jungen Mann, der auf einmal ein so dringendes Verlangen nach Thätigkeit kund gab.
„Das hängt von Deiner eigenen Neigung ab. Ich werde Dir darin nichts vorschreiben. Willst Du in den Staatsdienst treten?“
„Ich – ich würde das Landleben vorziehen,“ erklärte Paul nach einigem Zögern. „Ich kenne es zwar bis jetzt nur wenig, aber ich habe ja hier auf Deinen Besitzungen die beste Gelegenheit, mich damit vertraut zu machen, und ich gestehe, daß es mich ungemein anzieht.“
„Die Einsamkeit von Felseneck scheint ja Wunder gethan zu haben!“ sagte Raimund, diesmal mit unverhehltem Spott. „Ich habe von dem achttägigen Aufenthalt wirklich noch nicht ein derartiges Resultat erwartet. Du willst das Landleben erwählen? Ich habe nichts dagegen, aber ich fürchte, es wird Dir sehr bald einförmig und langweilig erscheinen.“
„O gewiß nicht!“ rief Paul und begann nun mit einer gewissen Feierlichkeit aus einander zu setzen, daß er den wilden Streichen ein für alle Mal den Abschied gegeben habe, daß er ein ganz neues Leben anfangen wolle, daß er sich nach einer Heimath, einer Häuslichkeit sehne, und floß förmlich über von den allervortrefflichsten Plänen und Vorsätzen. Er hatte sich während des zweistündigen Rittes das alles sehr ausführlich einstudirt, um es bei nächster Gelegenheit dem Onkel vorzutragen, und da es ihm wirklich Ernst damit war, so kam die Rede auch sehr überzeugend von seinen Lippen, aber der erwartete Effect blieb aus. Raimund hörte mit gewohnter Gleichgültigkeit zu, ohne ihn zu unterbrechen, und als der Vortrag zu Ende war, sagte er ruhig:
„Paul – Du bist wohl verliebt?“
Paul wurde dunkelroth bei dieser unerwarteten Frage. Er hatte vorläufig noch ein Geheimniß aus seiner Neigung machen wollen, aber der halb mitleidige, halb verächtliche Ton rief seinen ganzen Stolz wach, und ohne sich zu besinnen, antwortete er mit Nachdruck:
„Nein – ich liebe!“
„Machst Du einen so erheblichen Unterschied zwischen den beiden Worten?“
„Glaubst Du nicht, daß ein solcher Unterschied existirt?“
„Gewiß, aber ich bezweifle, daß Du ihn kennen gelernt hast im Kreise Deiner italienischen Freunde.“
[108] Der junge Mann verstand nur zu gut die Hindeutung und den Vorwurf, welcher darin lag, aber er antwortete mit voller Offenheit:
„Ich habe die Liebe damals noch nicht gekannt; sonst hätte sie mich sicher bewahrt vor jenem wilden Leben. Es war erst in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in Venedig, wo ich sie erblickte.“
Er hielt inne; denn er sah zum ersten Male eine Regung von Interesse in dem Gesichte Raimund’s, dessen Augen sich groß und fragend auf ihn richteten. In diesen dunklen, sonst immer verschleierten Augen schien etwas aufzublitzen, wie ein helles flüchtiges Leuchten, während er wiederholte:
„In Venedig? – Dort also?“
„Du kennst vermuthlich die Stadt?“
„Ob ich Venedig kenne – o ja!“
Die Worte klangen träumerisch, wie in Erinnerung verloren, und das nahm auch dem jungen Manne die Scheu, mit der er sonst in Gegenwart des Freiherrn jedes wärmere Gefühl zurückdrängte; er brach in leidenschaftlicher Empfindung aus:
„Mir wird Venedig unvergeßlich bleiben; denn dort ist mir der Stern meines Lebens aufgegangen.“
„Sterne versinken!“ sagte Raimund plötzlich in eiskaltem Tone. „Trau’ ihnen nicht, Paul! Sie lügen Dir nur mit ihrem verheißenden Schimmer und lassen Dich alsdann in der Nacht allein.“
[121] Paul stutzte; es war nicht die plötzliche Aenderung des Tones, die ihn so überraschte, sondern die Aeußerung selbst. „Sterne versinken!“ Dieselben Worte, die er damals auf dem Meere von anderen Lippen vernommen hatte, und derselbe bittere herbe Ausdruck! Es konnte natürlich nur ein Zufall sein; es war ja Niemand Zeuge jenes Gespräches gewesen, aber der Zufall berührte den jungen Mann doch seltsam, fast wie die Ahnung irgend eines Unheils.
Raimund faßte sein Schweigen anders auf. Er glaubte offenbar, ihn mit jenen Worten gekränkt zu haben; denn nach einer kurzen Pause setzte er milder hinzu:
„Du freilich hast noch ganz andere Ansichten von dem Leben und der Liebe, und ich will Dir nicht vorzeitig Deine Illusionen rauben. Die Täuschung ist ja auch ein Glück, und es giebt Menschen, die zeitlebens nicht daraus erwachen. Du liebst also – und wirst vermuthlich wieder geliebt.“
Paul sah zu Boden.
„Ich weiß es nicht,“ entgegnete er leise, „weiß nicht einmal, ob ich Hoffnung hegen darf; denn ich habe noch keine Erklärung gewagt. Du begreifst, Raimund – ich kann einer Frau überhaupt nichts bieten; ich muß abwarten, wie Du meine Zukunft gestaltest.“
Der Blick des Freiherrn ruhte forschend auf dem jungen Manne, der seine Abhängigkeit vielleicht noch nie so bitter empfunden hatte, wie in dieser Minute.
„Daher also Deine plötzliche Neigung für das Landleben!“ sagte er. „Ich dachte es mir; aber Du sollst Dich nicht über mich zu beklagen haben, Paul, vorausgesetzt, daß Deine Wahl eine vernünftige, eines Werdenfels würdige ist.“
„Du wirst nicht das Geringste dagegen einzuwenden haben,“ rief Paul mit aufflammender Lebhaftigkeit. „Auch gegen die äußeren Verhältnisse nicht, und was nun vollends die Persönlichkeit betrifft –“
„So ist Deine Erwählte natürlich ein Ideal!“ ergänzte Raimund. „Die Geliebte ist das immer, bis man sich eines Tages enttäuscht sieht. Doch gleichviel – ich will Deinem vermeinten Glücke nicht im Wege stehen, und Du hast Recht: mit dieser demüthigenden Abhängigkeit kannst Du nicht um eine Frau werben; ich werde Dich davon befreien. Buchdorf wird im nächsten Frühjahre pachtfrei; Du magst das Gut einstweilen übernehmen und sehen, ob Dir das Landleben wirklich zusagt. Ist das der Fall, so trete ich Dir Buchdorf als Eigenthum ab; die Einkünfte sind nicht unbedeutend, und der Gutsherr von Buchdorf kann überall mit seinem Antrage hervortreten.“
Paul glaubte nicht recht gehört zu haben. Er kannte Buchdorf zwar noch nicht, war aber doch hinlänglich über die Werdenfels’schen Besitzungen orientirt, um zu wissen, daß er damit ein Rittergut von ganz bedeutendem Werthe empfing, und dies fürstliche Geschenk wurde ihm so ganz beiläufig zugesprochen, ohne daß der Geber irgend einen besonderen Werth darauf zu legen schien.
„Du willst mir Buchdorf abtreten?“ fragte er in freudiger Bestürzung, „ich soll es als Eigenthum besitzen? O Raimund, wie kann ich Dir jemals –“
„Nur keinen Dank!“ unterbrach ihn Werdenfels mit einer abwehrenden Bewegung. „Du weißt, ich liebe das nicht. Du bist mein Erbe und empfängst damit nur einen Theil Deines dereinstigen Erbtheils; es ist nicht nöthig, daß Du auf meinen Tod wartest; aber brechen wir ab!“
Paul kannte den Onkel bereits genug, um zu wissen, daß er jetzt kein Wort weiter äußern dürfte, aber ihm war zu Muthe, als hätte man ihm mit den Dankesworten, die sich so warm und herzlich auf seine Lippen drängten, auch jedes Dankgefühl genommen; er sah ja, wie lästig es dem Freiherrn war, der wie gewöhnlich mit vollen Händen gab und sich dann gleichgültig abwendete. Es verletzte den jungen Mann tief, daß Raimund nicht einmal nach dem Namen seiner Erwählten fragte, nicht einmal zu wissen verlangte, ob sie eine Italienerin oder eine Deutsche sei. Er hatte die Versicherung empfangen, daß die Partie eine vernünftige, das heißt standesmäßige war, und damit war sein Interesse an der Sache erschöpft – er schob sie weit von sich.
„Du hattest die Güte, meinen Arnold rufen zu lassen,“ unterbrach Paul endlich das eingetretene Schweigen. „Er wartet draußen im Vorzimmer.“
„Ah richtig!“ sagte der Freiherr, der sich jetzt erst der Sache zu erinnern schien. „Laß ihn eintreten!“
Paul öffnete die Thür des Nebenzimmers, wo sich der Kammerdiener Raimunds befand, und gab ihm die nöthige Weisung. Gleich darauf erschien Arnold und näherte sich mit unendlichem Selbstgefühl und unendlicher Neugierde dem „Chef der Familie“, dem er in Anbetracht dieser Eigenschaft eine wirklich tiefe und respectvolle Verbeugung machte.
Die Augen des Freiherrn glitten flüchtig und theilnahmlos über den alten Diener hin; selbst die eigenthümliche Art, mit der sich dieser brieflich bei ihm eingeführt hatte, vermochte es nicht, [122] sein Interesse zu erregen; er empfing ihn augenscheinlich nur aus Rücksicht für Paul.
„Herr von Werdenfels hat Sie mir als einen langjährigen und treuen Diener seiner Eltern geschildert,“ begann er. „Es freut mich, daß Sie auch ihm in dieser Eigenschaft zur Seite geblieben sind.“
Das klang ganz vernünftig, und der Mann, der da so ruhig und vornehm in seinem Sessel lehnte, sah auch keineswegs gefährlich aus. Arnold geruhte, von dem Empfange befriedigt zu sein, und erwiderte in würdevollster Haltung:
„Ich habe mich nach Kräften bemüht, die Pflicht zu erfüllen, welche die selige Frau Baronin mir auferlegte, als sie auf dem Sterbebette den jungen Herrn meiner Obhut übergab.“
Paul hob verstohlen die Augen gen Himmel. Er war nahe daran, seiner Mutter einen Vorwurf aus dieser Uebergabe zu machen, die er bei jeder Gelegenheit zu hören bekam. Werdenfels aber, der die Unerschöpflichkeit dieses Themas noch nicht kannte, schien den Stolz des alten Dieners auf seine Vertrauensstellung natürlich zu finden; er fragte weiter:
„Sie haben Ihren Herrn auf die Universität und später auch nach Italien begleitet?“
„Ja, auch nach Italien!“ bestätigte Arnold, der nichts Geringeres erwartete, als eine Lobrede für seine Fürsorge und Umsicht und eine nachträgliche Strafpredigt für seinen jungen Herrn.
Der Freiherr aber schien nicht gewillt, Paul durch eine Erwähnung jenes Briefes in Verlegenheit zu setzen; er sagte nur mit leichter Betonung:
„Herr von Werdenfels weiß Ihre Anhänglichkeit zu schätzen. Er hat hinreichende Proben davon, und auch ich lege Werth auf ein solches Verhältniß zwischen Herrn und Diener.“
Arnold sandte einen triumphirenden Blick zu seinem jungen Herrn hinüber, der sich ganz schweigsam verhielt und es wahrscheinlich nicht wagte, in Gegenwart seines Onkels irgend eine Aeußerung laut werden zu lassen. Der Blick sagte deutlich: „Gieb Acht! Jetzt werde ich Dir zeigen, wie man ihn behandeln muß,“ und dann richtete der alte Diener sich empor und begann feierlich:
„Gnädiger Herr!“
„Nun?“ fragte Werdenfels.
Paul, den die Scene unendlich amüsirte, enthielt sich jeder Einmischung; denn er sah, daß die Zuversicht seines alten Mentors und Kammerdieners bereits im Wanken begriffen war. Dieses einfache „Nun?“ des Freiherrn hatte sie zum Wanken gebracht.
Arnold fing an zu begreifen, daß die kühle Vornehmheit doch etwas ganz Anderes war, als die Intimität, in der er mit seinem Junker Paul lebte.
„Gnädiger Herr!“ begann er noch einmal. „Ich hatte mir eigentlich vorgenommen – das heißt, ich wollte mir unterthänigst erlauben –“
„Nun, so sprechen Sie doch!“ sagte Raimund mit einigem Befremden, als die Rede von Neuem stockte.
Der Blick, den Arnold diesmal zu seinem jungen Herrn hinübersandte, war etwas kläglicher Art und gab das dringende Verlangen nach einer Einmischung Paul’s zu erkennen, als er aber sah, daß Jener sich auf die Lippen biß, um das Lachen zu verbergen, raffte er seinen ganzen Muth zusammen und nahm einen letzten, verzweifelten Anlauf.
„Ich wollte dem gnädigen Herrn nur mein tiefstes Bedauern aussprechen, daß Sie ganz abseits von der Welt leben und Niemand –“
Weiter kam er überhaupt nicht; denn Raimund hatte sich emporgerichtet und sah ihn von oben bis unten an. Es war nur ein einziger Blick, und es lag nicht einmal Zorn darin, aber Arnold knickte förmlich zusammen und wünschte sich weit weg, nach Rom oder Venedig. Selbst das Gesicht des Signor Bernardo wäre ihm in diesem Moment lieber gewesen, als das Auge dieses Freiherrn von Werdenfels, dem er den Kopf zurechtsetzen wollte und der, ohne auch nur die Lippen zu öffnen, mit einem bloßen Blick ihm seine Stellung klar machte.
„Sie meinten?“ fragte Raimund, vollkommen ruhig, aber mit dem Ausdruck eines so unnahbaren Stolzes, daß der alte Diener noch mehr zusammensank und in seiner Verwirrung eine Verbeugung nach der andern machte.
„O nichts, durchaus nichts!“ stotterte er. „Ich wollte nur sagen, daß es mir hier in Felseneck außerordentlich gefällt – und meinem jungen Herrn gleichfalls – und daß wir Beide –“
„Schon gut!“ unterbrach ihn Raimund. „Es freut mich, wenn mein Neffe sich in meinem Hause wohl fühlt. Ihre Ansichten darüber theilen Sie der Dienerschaft mit!“
Eine kurze Handbewegung zeigte Arnold, daß er entlassen sei. Er machte eine tiefe Verbeugung vor dem Schreibtische, eine zweite in der Mitte des Zimmers, eine dritte auf der Schwelle und verschwand dann. Erst draußen im Vorzimmer besann er sich, daß ja eigentlich gar nichts geschehen sei, und daß der Freiherr nicht einmal ungnädig gewesen war, aber er hatte dem alten Diener in zwei Minuten beigebracht, was dieser sein Lebelang nicht gekannt hatte, den unbedingten Respect vor dem Auge und dem Worte des Herrn.
Paul hatte sich alle mögliche Mühe gegeben, ernsthaft zu bleiben, dieser klägliche Rückzug seines alten Vertrauten aber erschien ihm so komisch, daß er laut auflachte. Werdenfels theilte seine Heiterkeit nicht; er sagte nur:
„Du scheinst Deinen Diener sehr verwöhnt zu haben, Paul.“
„Er ist ein altes Erbstück von den Eltern her,“ entschuldigte der junge Mann. „Seine Vertraulichkeit ist mir oft unbequem, aber er hat mich als Kind auf den Armen getragen und macht das so nachdrücklich geltend, daß ich ihn beim besten Willen nicht in Respect halten kann. Es thut mir freilich sehr leid, daß er wagte, auch Dir gegenüber –“
Raimund machte eine ruhig abwehrende Bewegung.
„Laß das! Ich verstehe es schon, meine Untergebenen in den nöthigen Schranken zu halten, und Du wirst das auch lernen müssen, wenn Du erst Herr in Buchdorf bist.“
Damit stand er auf und verließ den Schreibtisch. Draußen dämmerte es bereits, und das hohe, düstere Gemach lag schon halb im Dunkel; nur das Kaminfeuer warf seinen Schein auf den Boden und auf die zunächst befindlichen Gegenstände. Der Freiherr war an den Kamin getreten und legte mit eigener Hand noch einige Holzscheite in das schon niedersinkende Feuer, das hell aufflackerte, als es die neue Nahrung empfing.
„Ich sandte vorhin zu Dir hinüber,“ sagte er, „und hörte, daß Du ausgeritten seiest. Bist Du auf der Jagd gewesen?“
„Nein, ich hatte einen ziemlich weiten Ausflug unternommen,“ entgegnete Paul, indem er gleichfalls an den Kamin trat. „Ich habe unserem Stammschlosse einen Besuch abgestattet.“
„Ah, Du bist in Werdenfels gewesen? Gefällt es Dir?“
„Ungemein! Ich habe selten einen schöneren Wohnsitz gesehen. Schade nur, daß das Schloß und die Gärten so ganz verödet sind.“
„Hast Du irgend eine Vernachlässigung gefunden?“ fragte Raimund. „Ich habe doch ausdrücklichen Befehl gegeben, alles im besten Stande zu erhalten, und empfange regelmäßig die Berichte darüber.“
„Du mißverstehst mich: ich meinte nur jene Oede, die aus der Einsamkeit entspringt. Man sieht es dem Schlosse an, daß es seit Jahren leer und verlassen steht. Du selbst hast es ja wohl niemals bewohnt, seit Du Herr in Werdenfels bist?“
„Nein – niemals!“
„Da haben wir einen ganz verschiedenen Geschmack. Ich ziehe es unbedingt Deinem romantischen, aber düsteren Felseneck vor, und selbst wenn ich die Bergeseinsamkeit so leidenschaftlich liebte wie Du, würde ich doch wenigstens einige Monate des Jahres in Werdenfels zubringen.“
Raimund gab keine Antwort. Er lehnte sich an den Kamin und sah schweigend zu, wie das Feuer die mächtigen Scheite verzehrte. Das sprühte und knisterte; das wand sich wie feurige Schlangen um das Holz, zuckte hier auf und sank dort zusammen und züngelte immer höher, immer gieriger empor, bis endlich all die Brände aufflammten in lodernder Gluth. Dieses Spiel der Flammen in dem halbdunklen Raume hatte etwas Unheimliches, Ruheloses, und der scharfe Luftzug im Kamin fachte es noch wilder an.
„Der Blick von der Terrasse aus über die Gärten ist wirklich einzig in seiner Art,“ fuhr Paul fort, „und auch die Lage des Dorfes ist höchst malerisch. Mir ist nur aufgefallen, daß es gar nicht den anderen Gebirgsdörfern gleicht, wo die uralten Häuser so eng an und durch einander gebaut sind, daß man sich oft in dem Gewirre gar nicht zurecht findet. In Werdenfels dagegen [123] ist Alles so weit ausgedehnt, so frei und licht. Der Castellan sagte mir freilich, daß der Ort vor einiger Zeit niedergebrannt und dann ganz neu wieder aufgebaut worden sei.“
„Ja, er brannte nieder – bis auf den Grund,“ sagte Raimund, der noch immer unverwandt in das Flammenspiel blickte. Er schien die seltsamen Gebilde zu verfolgen, die dort in einem Momente entstanden und verwehten, zuckend und flüchtig wie die Flammen selbst, und immer neue Bilder und Gestalten zeigten, wenn einer der glühenden Brände nach dem andern zusammenbrach.
„Ich erinnere mich,“ sagte Paul, dem in der That jetzt die Erinnerung an jene Katastrophe aufdämmerte, von der er als Knabe gehört hatte. „Es muß ein schreckliches Unglück gewesen sein. Die armen Leute haben wohl damals all ihr Hab’ und Gut verloren, und wenn ich nicht irre, hat es auch Menschenleben gekostet.“
„Mehr als eins – drei Menschen sind in den Flammen umgekommen.“
„Schrecklich!“ rief Paul, dem es unerklärlich war, wie man mit einer solchen Ruhe von einem derartigen Unglücke sprechen konnte. Die Worte des Freiherrn klangen in der That völlig ausdruckslos; er veränderte seine Stellung nicht, regte sich nicht, aber es war dem jungen Manne, als habe er das Antlitz des Onkels noch nie so starr, so todtenhaft gesehen, wie in dieser Minute, wo es grell und scharf von den Flammen beleuchtet wurde, und die Augen, die sich nicht losreißen zu können schienen von jener Gluth, waren dunkel wie die Nacht und unheimlich wie diese.
Da fuhr ein Windstoß in den Kamin nieder und mitten hinein in die Gluth. Die Flammen schlugen plötzlich mit voller Gewalt seitwärts; sie griffen mit ihren heißen Armen nach dem Manne, der so unbeweglich dort lehnte, nur einen Augenblick lang; dann sanken sie wieder zusammen, aber ihr versengender Athem mußte die Hand gestreift haben, die auf dem Flammengitter lag; denn der Freiherr fuhr mit einem dumpfen, halb gebrochenen Laute empor.
„Hat es Dich getroffen?“ fragte Paul, besorgt hinzutretend. „Das hätte ein Unglück geben können! Du bist doch nicht ernstlich verletzt?“
Statt aller Antwort wandte sich Raimund ab und drückte mit voller Heftigkeit auf die Klingel, deren Ton scharf und laut durch das Gemach schallte.
„Licht!“ herrschte er dem eintretenden Kammerdiener zu, in einem Tone, wie dieser ihn wohl selten von den Lippen seines Gebieters hören mochte: denn er verschwand in höchster Eile. Raimund aber trat mit einer ungestümen Bewegung an das Fenster, riß es auf und lehnte sich weit hinaus, als sei die Luft im Zimmer erstickend geworden.
Schon nach wenigen Minuten kehrte der Diener mit der Lampe zurück, und das Zimmer begann sich zu erhellen. Paul stand befremdet da; er begriff nicht, wie ein jedenfalls nur leichter körperlicher Schmerz Jemanden so erregen konnte; die Flamme konnte den Arm ja kaum gestreift haben. Die Verletzung mußte aber doch empfindlicher sein, als es den Anschein hatte; denn als Werdenfels endlich das Fenster schloß und in das Zimmer zurückkehrte, war er noch bleicher als sonst, und in seinem Gesichte stand ein Zug verbissenen Schmerzes, aber er wies die besorgten Fragen des jungen Mannes kurz, beinahe schroff zurück.
„Es ist nichts, es ist bereits vorüber! Kümmere Dich nicht weiter darum, laß uns von anderen Dingen sprechen!“
Er sprach indessen nicht, sondern begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Paul fühlte instinctmäßig, daß hier etwas vorlag, woran er nicht rühren dürfte, wenn ihm auch der Zusammenhang dunkel blieb. Er kannte bereits diese langen Pausen im Gespräche mit dem Onkel und pflegte sie sonst mit ziemlichem Gleichmuthe zu ertragen, heute aber hatte das immer wieder eintretende Schweigen etwas Bedrückendes für ihn, und er griff rasch zu einem anderen Thema.
„Ich habe Dir eigentlich noch eine Beichte abzulegen, Raimund,“ begann er wieder. „Ich fürchte, ich habe mich in meiner Unkenntniß der hiesigen Verhältnisse zu einem Schritte hinreißen lassen, den Du nicht billigen wirst. Ich bin bei dem Pfarrer von Werdenfels gewesen.“
Der Freiherr blieb stehen und blickte überrascht und finster zu dem jungen Manne hinüber.
„Bei Gregor Vilmut? Wie kamst Du dazu?“
„Es war ein bloßer Einfall. Ich meinte, es sei schicklich und freundlich, dem geistlichen Herrn einen Besuch abzustatten, da unser Stammschloß doch zu seinem Pfarrbezirk gehört. Ich ahnte nicht, daß hier ganz besondere Beziehungen existiren, die meinen Besuch befremdlich erscheinen ließen.“
„Hat man Dich bereits darüber aufgeklärt?“
„Nein, man wies mich wegen der Aufklärung an Dich.“
Raimund’s Stirn umwölkte sich noch finsterer, aber seine Stimme klang unbewegt, als er antwortete:
„Ich hätte Dich in diese Verhältnisse einweihen sollen, die Dir doch früher oder später nahe treten mußten. Es wäre auch geschehen, wenn Du jenen Ausflug gegen mich erwähnt hättest. Du darfst das Pfarrhaus nicht wieder betreten, und es ist am besten, wenn Du Dich überhaupt nicht im Dorfe zeigst.“
„Im Dorfe Werdenfels?“ wiederholte Paul auf’s Aeußerste erstaunt. „In Deinem Dorfe?“
„Ja! Du trägst meinen Namen, und der Name wird dort gehaßt. Wenn Du wieder nach dem Schlosse reitest, so wähle den directen Weg über den Schloßberg!“
Er nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder auf und schien das Gespräch fallen lassen zu wollen, aber Paul, der sich nur neuen Räthseln gegenüber sah, wo er eine Aufklärung erwartet hatte, hielt diesmal den Gegenstand der Conversation fest.
„Verzeih, daß ich noch eine Frage an Dich richte! Es ist nicht Neugier, aber ich muß mich doch einigermaßen orientiren: Dieser Pfarrer Vilmut ist Dir feindlich gesinnt?“
„Ja!“ sagte Raimund kalt. „Wir sind Feinde.“
„Und er hat vermuthlich seine Stellung benutzt, um auch die Gemeinde gegen Dich aufzuhetzen?“
„Das war kaum mehr nöthig! Indessen er hat redlich das Seinige gethan, um einen Haß, der noch von alten Zeiten her bestand, unauslöschlich zu machen.“
„Aber mein Gott!“ rief Paul. „Was giebt denn diesem einfachen Dorfpfarrer das Recht, dem Freiherrn von Werdenfels in solcher Weise gegenüberzutreten?“
Raimund zuckte die Achseln.
„Was ist einem Priester der Freiherr von Werdenfels! Er hat sich unter der geistlichen Zuchtruthe zu beugen, wie jeder Andere, und thut er es nicht, so läßt man ihn diese Zuchtruthe fühlen. Du weißt nicht, was ein Priester sich hier zu Lande dünkt und welche Rolle er auch in Wirklichkeit bei dem Volke spielt. Vilmut’s Einfluß zumal ist ein unbeschränkter und reicht weit über seine Gemeinde hinaus. Wie hat er Dich empfangen?“
„Sehr kühl, aber doch mit allen Formen der Höflichkeit. Ich traf ihn allerdings nicht allein; er hatte Besuch von Verwandten aus der Nachbarschaft.“
Der Fuß des Freiherrn schien auf einmal am Boden zu wurzeln; so jäh hemmte er seinen Schritt.
„Von Verwandten – aus Rosenberg?“
„Ganz recht! Es waren zwei Damen, eine junge Frau mit ihrer Schwester.“
„Ich weiß – Anna Vilmut!“
„Anna von Hertenstein, meinst Du?“
„Ja so – die Frau Präsidentin von Hertenstein! Ich vergesse das immer wieder!“
Die Worte klangen eisig, aber es wehte wie Hohn daraus hervor. Paul erschrak; denn er sah seine Befürchtungen bestätigt: auch Frau von Hertenstein war in jene Feindschaft eingeschlossen, die sich auf die ganze Vilmut’sche Familie zu erstrecken schien.
„Ich glaubte nicht, daß Du so genau über die Verhältnisse der Nachbarschaft unterrichtet seist,“ sagte er mit einiger Befangenheit. „Du hast Dich ja schon seit Jahren von allem Verkehr zurückgezogen.“
Um Raimund’s Lippen zuckte ein Ausdruck unendlicher Bitterkeit.
„Gewiß, aber das habe ich doch noch erfahren! Die Heirath machte damals Aufsehen; ein achtzehnjähriges Mädchen, das einem Greise die Hand reicht, ist immerhin etwas Ungewöhnliches. Man verdachte es der jungen Dame doch einigermaßen, daß sie diese ‚glänzende Partie‘ machte.“
„Man thut ihr Unrecht!“ rief Paul in leidenschaftlicher Aufwallung. „Sie mag überredet, gezwungen worden sein; sie hat sich vielleicht für arme Eltern oder Geschwister aufgeopfert. Ich [124] kenne den Zusammenhang nicht, aber ich will mich dafür verbürgen, daß es keine niedrige Berechnung war, welche sie geleitet hat. Man braucht nur einmal in diese Augen zu blicken, um zu wissen, daß alles Niedrige und Gemeine ihnen unendlich fern liegt.“
Raimund hatte schon bei den ersten Worten langsam das Haupt gewendet und blickte mit einem seltsamen Ausdruck den jungen Mann an, der in seiner erregten Parteinahme alle Vorsicht und Zurückhaltung vergaß. Seine Stimme hatte nicht mehr die leidenschaftslose Ruhe von vorhin; sie klang dumpf und beinahe drohend, als er fragte:
„Hast Du so tief in diese Augen geschaut – tief genug, um schon bei der ersten Begegnung dergleichen darin lesen zu können? Was soll das heißen? Vor zehn Minuten sprichst Du mir von einer Liebe, die Dein ganzes Sinnen und Denken ausfüllt, und jetzt flammst Du auf in solcher Schwärmerei für eine Fremde? Du scheinst sehr schnell in Deinen Neigungen zu wechseln.“
Einen Moment schwankte Paul in der Furcht vor dem Onkel, der mit seiner Einwilligung vielleicht auch sein großmüthiges Geschenk zurücknahm, wenn er erfuhr, daß es sich um ein Glied der gehaßten Familie handele. Dann aber siegte die offene Natur des jungen Mannes, und er beschloß, seine Liebe nicht zu verleugnen, koste es was es wolle.
„Du bist im Irrthum,“ entgegnete er. „Anna von Hertenstein ist mir keine Fremde. Ich sah sie zum ersten Mal in Venedig und ich sprach von ihr, als ich Dir jenes Geständniß machte.“
Die Wirkung dieser Worte war noch schlimmer, als Paul fürchtete. Raimund schwieg, aber seine Augen flammten auf, diese träumerischen, räthselhaften Augen, die das Innere immer nur verschleierten, anstatt es zu enthüllen. In diesem Augenblick zerriß der Schleier, und aus der dunklen Tiefe zuckte ein Blitz auf, wie eine Flamme emporzuckt aus halb erloschenen Gluthen, aber es war ein Blick sprühenden Hasses, der den ahnungslosen Paul traf.
„Also auch Du bist dem Zauber erlegen!“ sagte Werdenfels endlich mit eigenthümlich vibrirender Stimme. „Nimm Dich in Acht, Paul, vor dieser Frau, die so berückend erscheint! Sie ist in der Schule Gregor Vilmut’s erzogen; die Beiden sind von einem Stamme, hart und erbarmungslos gegen Andere, wie gegen sich selbst. Wo Du ein warmes Menschenherz suchst, starrt Dir nur Eis entgegen – Du wirst es erfahren!“
Paul hörte betroffen zu; in seinem Inneren erhob sich etwas, was diesen Worten Recht gab. Er hatte ja selbst schon den eisigen Hauch empfunden, der von der schönen Frau ausging, aber eben weil er die Wahrheit des Vorwurfes fühlte, bekämpfte er ihn mit leidenschaftlicher Heftigkeit.
„Du kennst Anna von Hertenstein nicht; Du läßt Dich einzig von Deinem Vorurtheil leiten. Ich habe das gefürchtet, als ich die Feindschaft entdeckte, die Dich mit diesem Vilmut entzweit, aber was hat meine Liebe denn mit Eurer Feindseligkeit zu thun? Du liebst nicht, Raimund, hast vielleicht niemals geliebt, sonst –“
„Schweig!“ unterbrach ihn Werdenfels in ausbrechender Gereiztheit. „Wie kannst Du es wagen, mir von dieser unsinnigen, strafwürdigen Leidenschaft zu sprechen! Jene Frau ist vermählt.“
„Jetzt nicht mehr. Sie ist Wittwe, schon seit länger als einem Jahre.“
Raimund zuckte zusammen; seine drohend erhobene Hand sank nieder und griff nach der Lehne des Sessels, als suche sie dort eine Stütze.
„Wittwe – so?“
„Du wußtest das nicht?“
„Nein, ich habe seit Jahren nichts von – dem Präsidenten Hertenstein gehört.“
„Du zürnst mir?“ fragte Paul in einem Tone, der zwischen Trotz und Bitte schwankte. „Vielleicht hätte ich besser gethan, zu schweigen, aber ich glaubte Dir volle Offenheit schuldig zu sein.“
Raimund wandte sich ab.
„Laß mich allein!“ sagte er kurz und herrisch. „Es thut nicht gut, wenn wir heute noch länger bei einander sind. Geh!“
„Wie Du befiehlst!“ entgegnete Paul, tief verletzt durch den Ton, den er zum ersten Male hörte. „Ich bedaure es, wenn mein Geständniß Dich erzürnt, aber ich kann es nicht zurücknehmen. Gute Nacht!“
Er schritt nach der Thür; jetzt endlich schien das Gerechtigkeisgefühl des Freiherrn zu siegen; denn er rief ihn zurück:
„Paul!“
Der junge Mann blieb stehen und wandte sich um. Raimund hatte augenscheinlich eine mildere Aeußerung auf den Lippen, als er aber im vollen Lampenschein die schlanke Gestalt vor sich sah, das Antlitz, das seine Züge trug, aber so viel jugendlicher, so viel glücklicher erschien, die hellen blauen Augen, denen die leidenschaftliche Erregung einen erhöhten Ausdruck lieh, da sprühte wieder jener unbegreifliche Haß in seinem Blicke auf und statt des versöhnenden Wortes sprach er mit schneidendem Hohne:
„Ich wünsche Dir Glück zu Deiner Bewerbung um die Frau Präsidentin von Hertenstein!“
Paul erwiderte keine Silbe; er verneigte sich und ging, aber der Zorn über diese unverdiente Behandlung wallte heiß in ihm empor. Er hatte heute zum ersten Male etwas von jenem räthselhaften, unheimlichen Wesen gespürt, welches das Gerücht dem Freiherrn lieh und das sich bisher unter anscheinender Empfindungslosigkeit barg. Es gab also doch einen Punkt, wo die starre Ruhe, die todte Gleichgültigkeit dieses Mannes nicht Stand hielt, eine Regung, die ihn aus seiner Abgestorbenheit zurückriß in das Leben, und diese Regung war der Haß. Es mußte eine jahrelange, tiefgewurzelte Feindschaft zwischen ihm und Gregor Vilmut sein, der jetzt auch die Liebe des jungen Verwandten geopfert wurde, aber mit dem bitteren Gefühl seiner Abhängigkeit erwachte auch der Trotz Paul’s; er war entschlossen, den Kampf aufzunehmen.
Raimund war allein zurückgeblieben. Er hatte sich in den Sessel geworfen, der vor dem Kamin stand, und starrte wie vorhin in die Gluth. Die Erregung schien vorüber zu sein; es war wieder die gewohnte müde Haltung, der alte träumende und ausdruckslose Blick; nur um die Lippen zuckte noch etwas von jenem herben Ausdruck, mit dem die letzten Worte gesprochen wurden.
Das Feuer im Kamin war erstorben und mit ihm all die seltsamen Flammengebilde, welche dort aufzuckten und versanken. Die Brände waren zerfallen, und jetzt erlosch langsam auch die rothe Gluth. Eine Weile leuchtete sie noch; dann wurde ihr Schein matter und matter; endlich irrten nur noch einzelne Funken wie verloren auf und nieder, und zuletzt verschwanden auch sie – nur todte, dunkle Asche blieb zurück.
[137] Der Winter hielt diesmal frühzeitig seinen Einzug in die Berge. Er kam mit Sturm und Schneetreiben, mit jagenden Wolken und eisigen Nebeln, und Paul Werdenfels lernte zum ersten Male die ganze Rauhheit und Unwirthlichkeit dieser Natur kennen. Er kam sich in Felseneck wie ein Gefangener vor und wollte fast verzweifeln in der Oede und Einsamkeit, die ihn umgab; nicht einmal die Aussicht nach Rosenberg war ihm geblieben; denn er blickte von seinen Fenstern aus nur in ein wogendes Nebelmeer.
Ueberdies konnte der junge Mann sich nicht verhehlen, daß er bei seinem Onkel vollständig in Ungnade gefallen; er hatte diesen seit jener Unterredung noch nicht wiedergesehen; denn die kurzen, aber ziemlich regelmäßigen Besuche waren vollständig unterblieben; der Freiherr hatte ihn noch nicht wieder rufen lassen; er blieb in seinen Gemächern, unzugänglich für Jeden; schien er doch auch Paul vergessen zu haben.
Endlich begann das Wetter sich zu ändern; es hörte auf zu stürmen; die Nebel sanken, und die aufsteigende Sonne des nächsten Tages zeigte das ganze Gebirge mit all seinen Gipfeln und Wäldern in blendendem Schneegewande.
Paul war schon mit den ersten Sonnenstrahlen hinausgeeilt in das Freie und streifte jetzt mit Flinte und Jagdtasche durch die Forsten, aber die Jagd war ihm heute nur Vorwand. Er wollte vor allen Dingen hinweg aus den Mauern von Felseneck, wollte endlich etwas Anderes sehen, als diese prachtvollen, leeren Räume und diese schweigende, ehrfurchtsvolle Dienerschaft. Dort unten lag Werdenfels; dort waren Menschen; dort war Leben und Glück, aber was fragte Raimund von Werdenfels nach all diesen Dingen; er hatte nur den Haß mit sich hinaufgenommen in seine Einsamkeit, als er sich von der Welt und den Menschen abwandte. Es war wohl verzeihlich, wenn dem jungen Manne bittere Gedanken aufstiegen, als er sich ausmalte, wie er als Herr hier schalten und walten würde, sich und Anderen zur Freude und zum Segen. Was half es ihm, daß er der dereinstige Erbe der Güter war? Die Erbschaft lag noch in weiter Ferne, und wenn er bisher auf die Güte des Freiherrn angewiesen gewesen war, so fühlte er jetzt, was es hieß, von dessen Launen abhängig zu sein.
Der Wald war nicht so unwegsam, wie es den Anschein hatte; der Schnee lag nicht allzu hoch und war überall festgefroren, und der helle Sonnenschein lockte den jungen Mann immer weiter hinaus. Er war bereits über eine Stunde von Felseneck entfernt und erreichte jetzt einen Fahrweg, der, in steiler Windung aus dem Thale aufsteigend, nach der Försterei und von da weiter hinauf in die Berge führte. Paul überlegte eben, ob er den Weg verfolgen und der Försterei einen Besuch abstatten sollte, als er einen alten Bauer gewahrte, der soeben die Höhe erstiegen hatte.
Der Alte sprach beim Erblicken des Fremden das übliche „Grüß’ Gott!“, aber der frohe helle Gruß der Bergbewohner kam müde und gepreßt von seinen Lippen, während er selbst sich schwerathmend und erschöpft auf seinem Bergstock lehnte.
„Es will wohl mit dem Steigen nicht mehr recht gehen in Ihren Jahren?“ fragte Paul, indem er den Gruß erwiderte.
„Die Jahre sind ’s nicht,“ war die kurze, fast unfreundliche Antwort. „Mit denen nehm’ ich es schon noch auf. An dem Fuß da liegt es, daß ich nicht vorwärts kann.“
Paul sah erst jetzt, daß der Mann lahm war und daß ihm das Gehen sehr beschwerlich fiel. Es war eine kräftige, untersetzte Gestalt, aber gebeugt von Alter und Arbeit. Dichtes graues Haar kam unter dem Hute zum Vorschein, und in die braunen verwitterten Züge grub sich Furche an Furche. Es lag nicht die gleichgültige apathische Ruhe darin, die sich nur zu oft dort findet, wo schwere körperliche Arbeit das geistige Element ganz in den Hintergrund drängt; dieses Gesicht hatte etwas Hartes, Verschlossenes, aber zugleich auch Entschlossenes, und der Blick, der den jungen Fremden streifte, war finster und mißtrauisch.
„Sie sind lahm?“ fragte Paul mitleidig. „Da mag Ihnen der Weg schwer genug geworden sein. Sie wollen vermuthlich nach der Försterei?“
Der Alte schüttelte den Kopf und wies nach einem Gehöfte, das einsam hoch oben am Bergeshange lag.
„Nein, ich will weiter hinauf – nach dem Mattenhofe da oben.“
„So hoch hinauf? Das schaffen Sie ja gar nicht mit dem kranken Fuße.“
„Man schafft es schon, wenn man eine Tochter hat, die da oben auf den Tod liegt. Oft komm’ ich freilich nicht hinauf, und vielleicht ist es heute das letzte Mal; denn sie macht es nimmer lange, wie der Doctor sagt.“
Der gramvolle Ausdruck in den Zügen des alten Mannes erregte Paul’s Theilnahme. Er hatte zuerst nur flüchtig, wie im Vorbeigehen gesprochen; jetzt trat er näher heran.
„Die Matten-Bäuerin ist Ihre Tochter? Da begreife ich es allerdings, daß Sie den schweren Weg machen. Am Ende ist es gar Ihr einziges Kind?“
[138] „Das letzte von vieren! Die beiden Schwestern sind gestorben, und dann hatte ich noch einen Buben – einen einzigen – der ist umgekommen bei dem Brande von Werdenfels!“
Die Worte klangen dumpf und eintönig, aber die Spitze des Bergstockes bohrte sich tief in den Schnee; so schwer lehnte sich der Mann darauf, dessen Augen sich gleichfalls einzubohren schienen in die Erde.
„Dieser unglückselige Brand!“ rief Paul. „Ich habe erst kürzlich davon gehört und von all dem Elend, das er angerichtet hat. Also Sie haben Ihren Sohn dabei verloren?“
Der Bauer sah auf, wieder mit jenem finsteren argwöhnischen Blicke, welcher der Theilnahme eines Fremden mißtraut, die offenen freundlichen Züge desselben schienen ihm aber Vertrauen einzuflößen.
„Alles hab’ ich verloren!“ sagte er bitter. „Haus und Hof, Glück und Gesundheit und meinen Buben dazu, meinen Toni! – Er war fast so alt wie Sie, der bravste und stattlichste Bursche im ganzen Dorfe, und mir war er an’s Herz gewachsen, vielleicht zu sehr. Da kam das Feuer, und mein Hof brannte zuerst. Wir wollten wenigstens das Vieh retten; es brannte schon lichterloh über unseren Köpfen, aber wir versuchten es doch. Da schwankten mit einem Male die Balken – der Toni riß mich zu Boden, warf sich über mich, und um uns krachte alles zusammen. Ich kam mit dem gebrochenen Fuße davon, aber mein armer Bube, der mich mit seinem Leibe gedeckt hatte – den zogen sie mit zerschmettertem Kopfe hervor.“
Er nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch das eisgraue Haar. Es lag etwas Wildes, Krampfhaftes in der Bewegung, und in den verwitterten Zügen zuckte es unheimlich, während er fortfuhr:
„Seit dem Tage war kein Segen mehr im Hause. Es war nur wenig versichert, und das reichte nicht hin, den Schaden zu bessern. Ich lag ein Jahr lang nieder an dem gebrochenen Fuße, und als ich wieder zu Kräften kam, war die Wirthschaft halb zu Grunde gegangen. Der Toni fehlte; ich konnte nicht zugreifen wie sonst; wie ich auch arbeitete und schaffte, es ging doch zurück. Der Hof wurde mir verkauft – dann starb mir mein Weib, dann die beiden Kinder und jetzt – verdien’ ich mein Brod im Tagelohn bei den Bauern, und es ist ein schweres Brod!“
Der Alte holte tief Athem und drückte den Hut wieder in die Stirn. Es lag etwas Ergreifendes in dieser schlichten Erzählung, die in wenigen Worten das zerstörte Leben einer ganzen Familie aufrollte, zerstört durch das Unglück eines einzigen Tages.
„Das ist allerdings eine traurige Geschichte,“ sagte Paul, der mit aufrichtiger Theilnahme zugehört hatte. „Ich glaubte, jenes Brandunglück sei im Laufe der Jahre vergessen und überwunden worden. Für Sie und die Ihrigen ist es aber doch eine allzu schwere Schickung gewesen.“
„Schickung?“ lachte der Bauer höhnisch auf. „Nun, unser Herrgott hat den Brand nicht geschickt – das wissen wir besser!“
Der junge Mann stutzte.
„Wie soll er denn sonst entstanden sein? Was meinen Sie?“
„Das können Sie freilich nicht wissen. Sie sind ja fremd hier – das sieht man. Sie gehören wohl in die Försterei?“
„Nein, ich gehöre anderswo hin,“ versetzte Paul, lächelnd über den Irrthum, den seine einfache Jagdkleidung hervorrief. Er faßte in seine Tasche, besann sich aber und hielt inne. Der Mann dort sah wohl dürftig aus, aber es lag etwas in seinem Wesen, was ein Almosen entschieden verbot, und dennoch hätte ihm Paul so gern eine Unterstützung zu Theil werden lassen, indessen er wußte sich zu helfen.
„Wenn Sie im Dorfe wohnen, so kann ich Ihnen vielleicht von Nutzen sein,“ sagte er freundlich. „Ich werde mit dem Castellan des Schlosses sprechen, damit er Ihnen leichtere und lohnendere Arbeit giebt, als Sie bei den Bauern finden. In den Schloßgärten werden ja immer Leute gebraucht. Berufen Sie sich nur auf den jungen Baron Werdenfels!“
Die Augen des alten Mannes öffneten sich plötzlich weit, und seine Hände umklammerten den Bergstock, als wollten sie ihn zerbrechen.
„Auf den jungen Baron?“ wiederholte er. „Sie gehören also zu ihm – zu dem Werdenfels?“
„Gewiß,“ entgegnete Paul unbefangen. „Ich führe den gleichen Namen: der Freiherr ist mein Verwandter – aber was ist Ihnen denn?“
„Fort!“ stieß der Bauer rauh und wild hervor. „Kommen Sie mir nicht nahe! Ich will nichts von ihm und seiner Sippschaft, und wenn ich am Verhungern wäre – ich nähme kein Stück Brod von Euch. Er ist auch bei mir gewesen, damals, als er Herr auf Werdenfels wurde, und hat mir Geld geboten – vor die Füße habe ich es ihm geworfen, und wenn er nicht zur rechten Zeit gegangen wäre, ich hätte ihn niedergeschlagen, sammt seinem verdammten Almosen!“
Dieser plötzliche, unbegreifliche Ausbruch und die wuthverzerrten Züge des Mannes brachten Paul zu dem Glauben, er habe es mit einem Irrsinnigen zu thun; er griff unwillkürlich zur Flinte, sagte aber zugleich in beschwichtigendem Tone:
„Es ist ja kein Almosen, was ich Ihnen biete, nur Arbeit und Verdienst. So besinnen Sie sich doch! Wir sind uns ja ganz fremd, und ich habe Ihnen nichts zu Leide gethan.“
„Sie sind ein Werdenfels – das ist genug!“ knirschte der Bauer, dessen Wuth sich nur noch zu steigern schien. „Sagen Sie ihm – dem Freiherrn – der Eckfried ließ ihn grüßen, und er soll sich wahren, daß ihm sein Schloß nicht auch einmal lichterloh über dem Kopf brennt, wie mir mein Hof! Er soll sich nicht herauswagen aus seinem Felseneck; sonst – sonst könnte es ihm gehen, wie meinem armen Buben!“
Er schüttelte drohend die Faust, wandte sich dann um und ging, so schnell der gelähmte Fuß es ihm gestattete. Paul stand regungslos und sah ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwand. So räthselhaft jene Worte auch klangen, sinnlos waren sie nicht. Der Mann war kein Irrsinniger; er wußte offenbar ganz genau, was er sprach. Paul dachte an den seltsamen Empfang, der ihm bei dem Pfarrer Vilmut zu Theil geworden war, an die Warnung seines Onkels, sich nicht im Dorfe zu zeigen, und der geheime, furchtbare Sinn jener Drohung begann ihm langsam aufzudämmern. Aber in demselben Augenblicke, wo er den Gedanken faßte, warf er ihn auch schon weit von sich.
„Sind die Leute denn toll da unten im Dorfe?“ rief er unmuthig. „Raimund von Werdenfels, der erste Grundherr der Provinz, der Freiherr aus dem ältesten Geschlecht – und solch ein hirnloser Verdacht! Aber das kommt von den Sonderlingslaunen; das kommt davon, wenn man förmlich etwas darin sucht, den Leuten unheimlich und unbegreiflich zu erscheinen! Er hat es mir ja selbst gesagt, daß sie ihn für eine Art Hexenmeister halten; jetzt bilden sie sich im vollen Ernste ein, er habe ihnen das Unglück herangehext, und Hochwürden der Herr Pfarrer duldet und nährt vielleicht noch gar diesen Aberglauben, anstatt ihn zu bekämpfen. Sollte man glauben, daß dergleichen in unserer Zeit und in unserem Lande noch möglich ist?“
Der junge Mann machte seinem Aerger über die mangelnde Volksaufklärung nachdrücklichst Luft, während er tiefer in den Wald hineinschritt. Da gewahrte er in einiger Entfernung einen Reiter und erkannte zu seiner Ueberraschung Raimund von Werdenfels. Er wußte, daß dieser überhaupt nur sehr selten das Schloß verließ, und hatte im Marstall mit heimlicher Verwunderung den Tigerschimmel gesehen, den man ihm als das Lieblingspferd des Freiherrn bezeichnete. Das schöne, aber sehr feurige und ungeduldige Thier erforderte unbedingt einen kraftvollen, unerschrockenen Reiter, und der krankhaft müde Raimund, mit seinen weißen durchsichtigen Händen, an denen die blauen Adern so scharf hervortraten, vermochte es doch sicher nicht, den wilden Emir zu bändigen.
Emir schien indessen an seinen Herrn gewöhnt zu sein, so selten er ihn auch trug; denn er trabte ruhig dahin. Der Freiherr hatte nicht einmal einen Reitknecht bei sich; er war ganz allein, aber er saß im Sattel mit derselben müden und theilnahmlosen Haltung, mit der er daheim in seinem Sessel lehnte, und hielt die Zügel so nachlässig in der Hand, als gelte es, das frömmste Thier zu leiten. Die prächtige Winterlandschaft schien ihn nicht im Geringsten zu fesseln; er warf keinen Blick darauf und war so tief in Gedanken versunken, daß er seinen jungen Verwandten erst bemerke, als dieser dicht vor ihm stand.
„Sieh da, Paul! Bist Du auch unterwegs?“ fragte er mit flüchtigem Gruße, aber das Zusammentreffen schien ihm nicht angenehm zu sein.
„Die Sonne hat mich herausgelockt,“ entgegnete Paul. „Man war ja in den letzten Tagen wie gefangen im Schlosse bei diesem Sturm und Schneetreiben – und Du zogst Dich auch so vollständig zurück.“
[139] „Ich bin nicht wohl gewesen, bin es noch nicht,“ erklärte Raimund, indem er sein Pferd zu langsamerer Gangart anhielt, sodaß Paul nebenher schreiten konnte.
Die Worte schienen kein bloßer Vorwand zu sein; denn Werdenfels hatte sich in den wenigen Tagen auffallend verändert. Die tiefen Linien auf der Stirn und in den Zügen traten schärfer hervor; die Augen, um welche sich dunkle Ringe zogen, sahen überwacht und fieberhaft aus, und um den Mund lag wieder jener Zug verbissenen Schmerzes, wie bei der letzten Zusammenkunft.
„Du bist krank gewesen?“ rief Paul, der jetzt in der That sah, daß nicht blos die vermeinte Ungnade ihn von den Gemächern des Onkels fern gehalten hatte. „Ich habe nicht das Geringste davon gehört; sonst hätte ich –“
„Es war nicht von Bedeutung,“ unterbrach ihn Raimund. „Mein altes Uebel, ein dumpfer Kopfschmerz, der mich oft wochenlang peinigt! Das muß ertragen werden.“
Paul fühlte die Kälte in dem Tone, der jedes Bedauern verbat. So sagte er nun auch seinerseits etwas kühl und gemessen:
„Du solltest Dir mehr Bewegung machen. Deine Gesundheit muß ja darunter leiden, wenn Du Dich so einschließest.“
Werdenfels erwiderte nichts, sondern ritt im Schritt weiter bis zum Ausgange des Waldes, den eine breite tiefe Schlucht begrenzte. Es war der Wildbach, der sich hier in das Thal hinabstürzte; jetzt war er freilich erstarrt, und dichter Schnee lag auf den Baumwurzeln und Felstrümmern, über die er sonst hinweg schäumte. Drüben auf der anderen Seite streckte sich, gleichfalls schneebedeckt, eine freie Bergwiese hin, und dort wurde auch wieder die Windung des Fahrwegs sichtbar, der weiter oberhalb durch den Wald führte.
Der Freiherr hielt sein Pferd an und blickte hinüber.
„Kennst Du den Punkt?“ fragte Paul, welcher der Richtung jenes Blickes folgte. „Man hat von dort die Aussicht über das ganze Thal; ich habe sie neulich entdeckt, aber ich kam von der anderen Seite. Schade, daß die Wiese von hier aus unzugänglich ist!“
„Unzugänglich – weshalb?“
„Nun, man müßte doch nothgedrungen in die Schlucht hinein- und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern. Ich brächte das im Nothfall zu Stande, aber Du – oder willst Du vielleicht über das Hinderniß wegsetzen?“
Die Frage klang scherzhaft, aber es spielte doch ein leises Spottlächeln um die Lippen des jungen Mannes, als er sich seinen Onkel in dieser Situation vergegenwärtigte.
Werdenfels mußte das bemerkt haben; denn er richtete sich plötzlich empor. Der müde, halb gebrochene Mann saß auf einmal fest und sicher im Sattel, und seine Hand faßte energisch die Zügel. Dabei brach wieder jenes seltsame blitzähnliche Aufflammen aus seinen Augen, während er, ohne ein Wort zu sprechen, dem Pferde die Sporen in die Seiten setzte und im nächsten Augenblicke flogen Roß und Reiter in mächtigem Satze über die Schlucht, und drüben gruben sich die Hufe des Thieres tief in den Schnee ein.
Paul stand wie gelähmt vor Ueberraschung bei diesem Wagstück, das weder Roß noch Herrn besonders anzustrengen schien; denn Emir stand ganz ruhig auf der Wiese, und der Freiherr rief mit voller Gelassenheit hinüber:
„Nun, Paul, willst Du nicht auch herüberkommen?“
Der junge Mann gehorchte; er kletterte in die Schlucht und stieg auf der anderen Seite wieder empor, aber die Sache war doch schwieriger, als er geglaubt hatte, und er kam ganz erhitzt drüben an.
„Raimund, um Gottes willen, wie konntest Du meinen Scherz so ernst nehmen!“ rief er vorwurfsvoll. „Das war ja eine Tollkühnheit sonder Gleichen! Was veranlaßte Dich – – ?“
„Dein Lächeln!“ sagte Raimund scharf. „Du wußtest vielleicht selbst nicht, wie mitleidig es war. Du siehst – es giebt doch wenigstens einen Punkt, in dem ich es noch mit Dir aufnehme.“
„Nein, darin bist Du mir überlegen,“ versetzte Paul ehrlich. „Ich thue mir auf meine Reitkunst etwas zu Gute, aber diese Schlucht hätte ich denn doch nicht so ohne Weiteres genommen, und ein anderes Pferd als Emir hätte auch den Sprung versagt. Gott sei Dank, daß das Wagstück noch so glücklich ablief! Es hätte Dir das Leben kosten können.“
Raimund zuckte die Achseln.
„Vielleicht! Um so besser für Dich!“
„Wie meinst Du?“
„Ich meine, daß Du Dich über einen solchen Fall nicht gerade zu beklagen hättest – oder hast Du wirklich noch niemals daran gedacht, daß mein Tod Dich zum Herrn von Werdenfels macht?“
Der junge Mann erröthete heftig. Er hatte vorhin erst ein glänzendes Luftschloß gebaut, in dem er sich als Herr und Gebieter von Werdenfels erblickte, und das drückte ihn jetzt wie eine Schuld, obgleich er dabei mit keiner Silbe an den Tod seines Onkels gedacht hatte. Der Freiherr sah dieses Erröthen und lächelte, aber es war ein schlimmes Lächeln.
„Ich mache Dir durchaus keinen Vorwurf daraus,“ fuhr er fort. „Es ist das Schicksal jedes Erblassers, daß die Erben auf seinen Tod warten, und uns knüpfen ja nur rein äußerliche Verwandtschaftsbande an einander. Fasse Dich in Geduld! Vielleicht ist das Ziel Deiner Wünsche nicht mehr weit entfernt.“
Die herben Worte schienen eigens darauf berechnet zu sein, den jungen Mann zu stacheln und zu beleidigen, und sie erreichten das auch; er fuhr empört auf:
„Raimund, was denkst Du von mir! Womit habe ich es verdient, von Dir als ein Erbschleicher angesehen zu werden, der jeden Athemzug berechnet, der ihn noch von seinem Erbe trennt? Du weißt am besten, daß Du frei über Deine Besitzungen verfügst, daß ich keinen anderen Anspruch darauf habe, als den Du selbst mir zugestehst, und ich weiß es jetzt, daß das Geständniß meiner Liebe mir Dein Wohlwollen gekostet hat. Ich bin darauf gefaßt, die Folgen zu tragen.“
„Und wenn ich Dir nun in der That die Wahl stellte zwischen dieser Liebe und dem dereinstigen Besitz von Werdenfels,“ sagte Raimund langsam und jede Silbe betonend, „würdest Du trotz alledem an Deiner Neigung festhalten?“
Paul erbleichte und zögerte mit der Antwort; so schroff und rücksichtslos hatte er sich die Frage doch noch niemals gestellt, aber sein Schwanken dauerte nur einige Secunden; dann erwiderte er fest:
„Trotz alledem!“
„Wirklich? Ich hätte Dir diese Romantik gar nicht zugetraut. Die Augen, die Dir ‚wie glückverheißende Sterne aufgingen‘, scheinen ja im Handumdrehen aus dem Leichtsinn einen idealen Schwärmer gemacht zu haben.“
Paul hörte nicht die furchtbare, mühsam verhaltene Gereiztheit, die sich hinter den Worten barg; er hörte nur den Hohn darin, und das raubte ihm jede Ueberlegung, von der er ohnehin nicht allzuviel besaß.
„Ich hoffe Dir zu beweisen, daß ich noch mehr kann als nur schwärmen,“ brach er heftig aus. „Du magst meine Liebe mißbilligen – verspotten lasse ich sie nicht, auch von Dir nicht! Du begreifst es wohl, wenn ich Dich jetzt um die Erlaubniß bitte, Felseneck verlassen zu dürfen.“
Er hätte sich von dem Vorwurf, daß es ihm um die Erbschaft zu thun sei, nicht nachdrücklicher reinigen können, als durch dieses trotzige Aufflammen, das unfehlbar zu einem Bruche führen mußte, aber der Freiherr war nun einmal unberechenbar; anstatt in Zorn zu geraten, sah er den jungen Mann fest und prüfend an; dann sagte er mit vollkommener Ruhe:
„Willst Du jetzt schon nach Buchdorf übersiedeln? Ich rathe Dir nicht dazu; denn der Pächter hat es bis zum Frühjahr noch contractlich in Händen. Du würdest da als Gutsherr einstweilen noch eine unbequeme Stellung haben.“
„Ich als Gutsherr?“
„Nun, ich habe Dir Buchdorf doch als Eigenthum zugesagt. Denkst Du, ich werde mein Wort nicht halten? Justizrath Freising hat das Document bereits ausfertigen lassen, und ich habe es unterschrieben. Du wirst es zu Hause auf Deinem Schreibtische finden.“
Paul war so bestürzt über diesen jähen Wechsel von Ungerechtigkeit und Güte, daß er keine Worte fand. Die eiskalte Art freilich, in der das Geschenk geboten wurde, schien die Güte auszuschließen.
„Du willst ja keinen Dank,“ sagte er endlich. „Du hast ihn neulich so schroff zurückgewiesen, daß ich mich scheue, auch nur ein Wort davon zu sprechen. Raimund – warum nimmst Du mir denn jede Freude an Deinem überreichen Geschenk, indem Du es mir so bietest?“
Der Vorwurf blieb nicht ohne Wirkung; zwar wich der herbe Ausdruck nicht aus Raimund’s Zügen, aber seine Stimme klang doch milder, als er erwiderte:
[140] „Laß das, Paul! Vielleicht bin ich ungerecht gegen Dich – ich kann es nicht ändern. Du siehst wenigstens, daß ich Dich mit keinem Zwange binden will. Von heute an bist Du Dein eigener Herr und hast weder nach meinem Wohlwollen noch nach meinem Mißfallen mehr zu fragen.“
Er war während des Gesprächs langsam über die Bergwiese geritten, und sie erreichten soeben jenseits wieder den Saum des Waldes, als Emir sich plötzlich wild aufbäumte. Paul sah es nicht, daß der Reiter die Schuld trug, der auf einmal jäh und heftig in die Zügel griff; er glaubte, das Thier scheue vor der fremden Gestalt, die soeben zwischen den Bäumen hervortrat. In der nächsten Secunde erkannte er aber diese Gestalt und rief in lebhaftester Ueberraschung:
„Frau von Hertenstein!“
Es war in der That Anna von Hertenstein, die dort stand. Der Sprung des Pferdes mußte sie wohl erschreckt haben; denn sie war sehr bleich und ihre Augen hafteten starr und unverwandt auf Roß und Reiter, während sie zugleich eine Bewegung machte, als wolle sie wieder in den Wald zurückweichen, aber Paul war bereits an ihrer Seite.
„Fürchten Sie nichts, gnädige Frau!“ sagte er beruhigend. „Das Pferd scheute nur einen Augenblick; hat es Sie erschreckt?“
„Nein, ich bin nicht schreckhaft!“ erwiderte die junge Frau, aber ihre bebenden Lippen widerlegten die Worte. Sie mochte das fühlen; denn sie trat rasch aus den Bäumen hervor in das Freie; es lag etwas Entschiedenes, beinahe Trotziges in diesem Hervortreten, aber Paul glaubte sie noch nie so schön gesehen zu haben, wie jetzt, wo sie in dem hellen Sonnenschein dastand. Ihr Anzug zeigte auch heute tiefes Schwarz, aber die enganschließende pelzbesetzte Winterkleidung machte nicht mehr so ausschließlich den Eindruck der Trauer, und das kleine Pelzbarett ließ die ganze Fülle der schweren braunen Flechten sehen, die hier in der kalten Wintersonne des Hochgebirges ebenso warm und goldig schimmerten, wie dort im Lichte des Südens.
„Ich bin in Begleitung meines Onkels – der Freiherr von Werdenfels ist Ihnen bekannt, wie ich glaube,“ sagte Paul, nicht ohne Verlegenheit; denn er fühlte, daß bei der nun einmal herrschenden Feindschaft dieses Zusammentreffen ein peinliches sein müsse. Die Begrüßung entsprach denn auch seiner Erwartung; der Freiherr zog den Hut, und die Dame neigte das Haupt, Beide gleich fremd und eisig. Dann wandte sich Frau von Hertenstein ausschließlich zu dem jungen Manne.
„Sie sind sicher überrascht, Herr von Werdenfels, mich hier zu sehen.“
„Allerdings, gnädige Frau! Sie sind allein und zu Fuß, wie ich sehe –“
„Wir haben einen Unfall mit dem Schlitten gehabt,“ sagte Anna hastig, als gelte es, ihr Hiersein zu entschuldigen. „Unser Pferd stürzte auf der glatten Bahn und muß wohl ernstlich Schaden genommen haben; denn es war nicht wieder empor zu bringen. Mein Vetter Vilmut ist bei dem Gefährt zurückgeblieben, und ich will nach der Försterei, um dort Beistand zu erbitten. Hoffentlich bin ich auf dem rechten Wege; Gregor konnte mir nur die Richtung angeben.“
„Nein, der Weg führt dort oben durch den Wald, er ist aber ganz verschneit, Sie können ihn unmöglich zu Fuß zurücklegen. Ich stelle mich indessen ganz zu Ihrer Verfügung und will selbst nach der Försterei eilen, wenn Sie glauben, daß meine Hülfe nicht ausreicht.“
„Ich fürchte, sie wird nicht ausreichen – wir werden die Leute des Försters brauchen. Wenn Sie die Botschaft übernehmen wollen, Herr von Werdenfels, so werde ich Ihnen dankbar sein. Weisen Sie die Leute nur an, den Fahrweg thalabwärts zu verfolgen; ich kehre inzwischen zu meinem Vetter zurück.“
Paul wäre nun allerdings am liebsten mit umgekehrt, selbst auf die Gefahr hin, dem Herrn Pfarrer Vilmut Beistand leisten zu müssen. Sein Eifer, der jungen Frau einen Dienst zu leisten, war aber viel zu groß, als daß er ihrer Weisung nicht hätte folgen sollen, und überdies nahm er sich natürlich vor, die Hülfsmannschaften zu begleiten.
„Ich eile sogleich nach der Försterei,“ versicherte er. „Du entschuldigst mich mohl, Raimund. – Auf Wiedersehen, gnädige Frau!“
Er zog grüßend den Hut und eilte davon, und schon in der nächsten Minute entzogen ihn die Tannen den Blicken der Zurückbleibenden.
Werdenfels hielt noch immer auf seinem Roß, und Anna von Hertenstein stand noch auf derselben Stelle, wo Paul sie verlassen hatte, jetzt aber grüßte sie, ebenso fremd und kalt wie das erste Mal, und wandte sich zum Gehen.
„Anna!“ sagte der Freiherr leise.
Sie bebte zusammen bei dem Klange, der kaum vernehmbar zu ihr hinüberwehte, und blieb wie gefesselt stehen, aber ihre Stimme klang unbewegt.
„Herr von Werdenfels?“
„Willst Du mir nicht auch noch den Freiherrntitel geben ?“ fragte er bitter. „Anna, es ist das erste Mal seit Jahren, daß wir uns wiedersehen, und da glaubte ich doch nicht, daß Du so an mir vorübergehen würdest.“
Anna stand noch immer halb abgewendet, und sie hob den Blick nicht vom Boden empor, als sie antwortete:
„Wozu dieses Wiedersehen verlängern? Es ist uns Beiden peinlich – leben Sie wohl, Herr von Werdenfels.“
„Wenn Du wirklich gehen willst, ohne mir auch nur ein Wort zu gönnen – ich halte Sie nicht, gnädige Frau!“
Es lag ein ruhiger, aber schwerer Vorwurf in diesen Worten. Die junge Frau erwiderte nichts darauf, aber sie blieb. Raimund schwang sich aus dem Sattel und trat zu ihr, doch seine Nähe schien die alte Feindschaft wieder wach zu rufen. Anna richtete sich empor, und ihr ganzes Wesen war starre, eisige Abwehr, als sie sagte:
„Es ist ein Zufall, der mich heute in die Berge führt. Droben im Mattenhof liegt eine Schwerkranke; sie hat früher in Rosenberg im Dienst gestanden und verlangte mich noch einmal zu sehen. Deshalb entschloß ich mich, Gregor zu begleiten, sonst –“
„Hättest Du den Umkreis von Felseneck nicht betreten,“ ergänzte Raimund. „Ich weiß es, aber wir sind Beide unschuldig an dieser Begegnung. Du bist über eine Stunde von dem Schlosse entfernt, und ich bin seit Wochen zum ersten Male wieder im Freien.“
Anna sah auf, zum ersten Male während der ganzen Begegnung streifte ihr Blick die Züge des Freiherrn, und sie mußten ihr wohl anders erscheinen, als das Bild, das sie davon in der Erinnerung trug; denn sie fragte mit verhaltener Stimme:
„Bist Du – krank gewesen?“
„Nein! Du willst sagen, ich habe mich in den letzten sechs Jahren sehr verändert? Ich gebe Dir das zurück. Es ist auch nicht mehr Anna Vilmut, das eben erblühende Mädchen, das jetzt vor mir steht. Du freilich hast seitdem andere Tage und Stunden erlebt als ich; das sieht man – ich begreife vollkommen die Triumphe, welche Frau von Hertenstein in den Salons der Residenz gefeiert hat.“
Er hatte Recht, die Schönheit, die damals noch in der Knospe schlief, hatte sich jetzt zur vollsten Blüthe entfaltet; selbst der einfach dunkle Anzug vermochte nicht, sie zu beeinträchtigen; sie leuchtete nur sieghafter hervor aus der unscheinbaren Hülle. Die junge Frau stand wie die Verkörperung des reichen blühenden Lebens neben dem bleichen düsteren Manne, aber sie schien seine Worte wie einen Vorwurf zu empfinden.
„Der Präsident führte mich in die große Welt ein,“ erwiderte sie rasch. „Es war sein Wunsch, sein ausdrücklicher Wille, daß wir dort lebten, nicht meine eigene Wahl.“
„Der Präsident! Wie fremd das klingt! Er ist ja doch Dein Gatte gewesen, der Mann, dem Du am Altare die Hand reichtest. Freilich, das war Vilmut’s Werk! Es war ihm nicht genug, Dich von mir zu reißen; er wollte noch eine unübersteigliche Schranke zwischen uns aufrichten, und dazu war ihm jedes Mittel recht. Mich hat er ja von jeher gehaßt, und nach Deinem Glücke fragte er nicht, als er Dich in die Arme des Greises warf.“
Anna hatte ihrer jungen Schwester gegenüber geleugnet, daß bei ihrer Vermählung fremder Einfluß thätig gewesen war. Hier widersprach sie nicht. Sie ging schweigend über diesen Punkt hinweg und entgegnete nur:
„Du irrst. Ich bin an Hertenstein’s Seite nicht unglücklich gewesen und jetzt –“
„Bist Du Wittwe.“
„Ja!“
[153] Es klang hart und kalt, dieses „Ja“. Raimund verstand es, und der matte verschleierte Ton, in dem er bisher gesprochen hatte, gewann eine herbe Beimischung, als er fortfuhr:
„Du brauchst mich nicht an die Kluft zu erinnern, die uns trennt. Ich kenne sie hinreichend, aber es giebt Andere, die Hoffnungen darauf bauen, daß Du wieder frei geworden bist. Vielleicht stößest Du den nächsten Herrn von Werdenfels nicht zurück, wenn er Dir Herz und Hand bietet. Seine Hand ist ja rein, und ich –“ seine Lippen zuckten – „ich darf vielleicht den Freiwerber meines Neffen bei Dir machen.“
In dem Antlitze der jungen Frau gab sich eine peinliche Ueberraschung kund.
„Deines Neffen? Du meinst wohl den jungen Baron von Werdenfels?“
„Gewiß, er hat Dich in Italien kennen gelernt. Solltest Du wirklich seine Huldigungen nicht bemerkt haben?“
„Ich habe nicht das mindeste Gewicht darauf gelegt. Solch eine flüchtige Jugendschwärmerei ist schwerlich ernst zu nehmen.“
„Du täuschest Dich; Paul nimmt es so ernst mit seiner Liebe, daß er sich nicht einen Augenblick bedachte, zwischen Dir und dem Besitze von Werdenfels zu wählen. Ich bin überzeugt, er wird schon in den nächsten Tagen mit seiner Werbung vor Dich hintreten.“
„Das ahnte ich nicht,“ sagte Anna gepreßt. „Ich hoffte, es würde mir erspart bleiben, ihm wehe zu thun.“
„Du liebst ihn also nicht?“
„Ich – Paul Werdenfels?“
Das mitleidige Erstaunen, das in der Frage lag, sprach dem armen Paul das Urtheil. Man sah es deutlich: er hatte nie auch nur die geringste Regung in dem Herzen der jungen Frau erweckt. Auch Raimund sah das, und unwillkürlich entrang sich ein tiefer Athemzug seiner Brust.
„So verzeih’ die Frage!“ sagte er leise. „Ich glaubte es einen Augenblick lang.“
Emir war inzwischen sehr unruhig geworden. Dem feurigen Thiere behagte das lange Stillstehen nicht, und es gab deutlich sein Mißfallen darüber zu erkennen; es schnaubte und stampfte ungeduldig den Schnee. Raimund trat zu ihm und strich mit flüchtiger Liebkosung über den schlanken Hals, während er die Zügel um den Arm schlang. Das Pferd wurde augenblicklich ruhig unter der Hand seines Herrn, den es sehr zu lieben schien, aber es wendete den Kopf und blickte mit seinen klugen Augen zu der jungen Frau hinüber, die dort unter den Tannen stand und jetzt schweigend in die Ferne hinaussah.
Die Bergwiese lag ziemlich hoch am freien Abhange und bot einen weiten Ausblick über das schneebedeckte Gebirg. Die Eisjungfrau hatte ringsum ihre weißen Schleier gebreitet; in jenem wilden Schneesturme, mit dem sich der Winter ankündigte, war sie in das Thal herabgestiegen, und unter ihrem eisigen Hauche erstarrte das Leben, das sich noch in den Spätherbst hinüber gerettet hatte. Aber auf ihren Wink war eine neue Welt voll märchenhafter Schönheit erstanden, eins jener Zauberreiche aus funkelndem Krystalle, von dem die Sagen erzählen. In geisterhafter Schönheit ragten die weißen Berggipfel empor in das kalte klare Blau des Himmels, und scharfe tiefblaue Schatten lagerten in den Schluchten und Klüften, wohin die Sonne nicht drang. Die Wasserfälle, die sonst brausend in das Thal niederschäumten, hingen erstarrt an den Felswänden. Im Sturze hatte sie der Frost aufgefangen und seltsam zackige Gebilde daraus geschaffen, die wie blinkende Geschmeide an dem Schneegewande niederhingen. Auch die schroffen Klippen, die dunklen Wälder standen in krystallener Pracht da, und überall funkelte und glänzte es, als hätten unsichtbare Hände all die Sagenschätze des Gebirges darüber ausgestreut.
Ueber dem allem aber thronte die sagenhafte Geisterspitze so klar, daß man deutlich ihre Schneefelder und das bläuliche Eis ihres Gipfels unterscheiden konnte; sie schien förmlich zu schwimmen im Sonnenlicht.
Aber es war eine kalte Wintersonne, und sie leuchtete einer erstorbenen Welt. Kein Rauschen und Flüstern wehte mehr aus dem Walde; die Tannen standen unbeweglich, und ihre Zweige senkten sich schwer unter der Schneelast, die sie trugen. Keine Quellen rieselten mehr über den Boden; der helle Strahl war versiegt, gefangen. Es herrschte eine gespenstige Oede in dieser funkelnden Märchenwelt; alles Leben darin schien gebannt zu sein – ringsum nur Todesruhe und Todesschweigen.
Da strich ein Windhauch über die verschneite Bergwiese und trug wie aus weiter Ferne einen Ton herüber. Es war ein Wallen und Rauschen, das aus der Tiefe emporzusteigen schien, das jetzt halb verwehte und dann wieder deutlicher heraufklang. Dort unten, wo das Thal sich schloß, brach aus Höhlen und Klüften, die noch keines Menschen Fuß je betreten hatte, der Bergstrom hervor, diese mächtige Lebensader des Gebirges, die allein nicht zu ertödten war. Bis in die geheimnißvollen Tiefen, wo [154] seine Quellen ruhten, drang nicht die Macht der Eisjungfrau, die sonst alles niederzwang. Sie versuchte es vergebens, seinen Lauf zu hemmen, ihn mit ihren eisigen Armen festzuhalten und zu ersticken. Er rang sich immer wieder empor zum Lichte, entwand sich immer wieder den Banden, welche ihn bedrohten, und durch eisumstarrte Schluchten, über schneebedecktes Felsgeröll eilte er nur stürmischer dahin – das einzige unbezwungene Leben in dieser todten Natur.
Das Rauschen drang nur dumpf zu der einsamen Bergeshöhe empor, wo die Beiden standen, die sich jetzt so fern waren und sich doch einst so nahe gestanden hatten, aber es klang etwas darin, wie eine Erinnerung an das todte Frühlingsleben, das auch ihnen geblüht hatte und nun versunken war auf Nimmerwiederkehr.
So leise und träumerisch wallte das Meer, damals als sie zum ersten Male einander begegneten. Ein Zufall hatte die deutschen Landsleute am Lido zusammengeführt, und jetzt trug sie das Schiff gemeinsam zurück nach Venedig. Die Fluth erglänzte in purpurnem Abendschein; fern und still zogen die Segel der Fischerboote dahin, roth angestrahlt von dem sinkenden Lichte, und dort drüben lag die alte Meeresstadt mit ihren marmornen Palästen und Kirchen, wie verklärt in der Gluth und Glorie des Sonnenunterganges.
Aber der junge Fremde sah nichts von alledem; sein Auge haftete unverwandt auf dem schönen ernsten Mädchen, das ihm gegenüber an der Seite der alten Dame saß; er konnte den Blick nicht losreißen von diesem Antlitz.
Dann kam jene Mondnacht, wo der Dampfer die Reisenden wieder zurückführte nach den deutschen Küsten, wo die Marmorstadt wie eine leuchtende Fata Morgana weiter und weiter zurückwich und endlich wie ein großer flammender Stern in den Wogen versank, aber es war kein Stern des Glückes gewesen. Und dann nahte jener Frühlingstag in den heimischen Bergen, der endlich das ersehnte Alleinsein brachte, und mit ihm das Geständniß, das die Lippen bisher noch nicht ausgesprochen. Da strömte die Empfindung voll und heiß aus der Brust des Mannes, und der Ernst des jungen Mädchens schmolz in weiche glückselige Hingebung. Damals blühte und duftete alles ringsum; die Wälder rauschten im Frühlingswinde; die Bäche schäumten von den Felsen; das Gebirg lag in Duft und Sonnengold, und die Beiden, deren Herzen sich gefunden, hatten sich gelobt, an einander fest zu halten in allen Lebensstürmen.
Der Sturm war gekommen und hatte jenen Schwur zerbrochen und vernichtet, als er die Beiden aus einander riß. Den Einen trieb er in die öde, weltverlorene Einsamkeit, wo es keine Liebe und kein Glück mehr gab, und die Andere führte er mitten hinein in das glänzende Treiben der Welt und des Lebens, das ihr vielleicht ebenso öde war. Jetzt, nach Jahren, standen sie zum ersten Male wieder bei einander – und zwischen ihnen starrte Schnee und Eis!
Anna’s Augen ruhten wieder forschend auf den Zügen des Freiherrn, als wolle sie enträthseln, was in jenen tiefen Linien geschrieben stand, und sie mußte wohl Schweres darin lesen; denn sie brach das minutenlange Schweigen.
„Raimund!“
Er wandte sich um, einen Moment lang zog ein flüchtiges Aufleuchten über sein Antlitz, als er seinen Namen von diesen Lippen hörte, dann aber legte sich wieder die alte Starrheit über die bleichen Züge. Er trat zu ihr, und das Pferd, dessen Zügel er noch immer hielt, folgte ihm geduldig; es zeigte keine Spur seiner sonstigen Wildheit; es senkte schmeichelnd den schönen Kopf zu seinem Herrn nieder und ließ ein leises Wiehern hören.
„Das Thier scheint Dich sehr zu lieben,“ sagte Anna.
„Ja, ich sehe meinen Emir auch täglich, so selten ich ihn reite. Er ist das Einzige auf der Welt, was mich noch liebt.“
„Und wohl auch das Einzige, was Du liebst! Du fliehst ja Welt und Menschen und zeigst ihnen deutlich genug, daß Du sie verachtest.“
„Glaubst Du, daß es die Liebe der Menschen gewesen ist, die mich hinaufgetrieben hat in meine Einsamkeit?“ fragte Raimund mit schwerer Betonung. „Frage Dienen Vetter Vilmut danach! Er kann Dir Auskunft geben; denn er hat den Riß, der mich von denen dort unten im Thal trennte, zur endlosen Kluft erweitert.“
„Gregor hat Dir den Weg zur Versöhnung gezeigt – Du wolltest ihn nicht gehen.“
„Nein! Ich weiß, was ich der Vergangenheit abzutragen habe – vor dem Hochmuth des Priesters, der mich und den Namen meines Geschlechtes in den Staub ziehen will, beuge ich mich nicht.“
Es lag eine ungewohnte Energie in den Worten; auch der jungen Frau schien das aufzufallen; denn sie streifte den Sprechenden mit einem halb verwunderten Blick, dann aber sagte sie ernst:
„Gregor ist nicht hochmüthig. Was er auch thun und fordern mag, er hat immer nur seine Priesterpflicht vor Augen, aber er kann erbarmungslos sein im Dienste dieser Pflicht.“
„Das habe ich erfahren! Er hat mich in den Bann gethan, und seine getreue Heerde folgte dem Befehl ihres Hirten. Ich bin geächtet auf meinem eigenen Grund und Boden.“
„Und wer trägt die Schuld daran? Gregor oder Deine seltsame Art zu leben, die weit und breit das Märchen der Gegend ist? Da läßt Du in öder Felseneinsamkeit ein Schloß voll fürstlicher Pracht entstehen und vergräbst Dich darin vor jedem menschlichen Auge. Du wirfst Unsummen hin für Werdenfels und seine Gärten und läßt sie veröden, ohne daß sie der Fuß eines Fremden auch nur betreten darf. Du ziehst einen Bannkreis um Deine Person, den Niemand überschreiten, Niemand durchbrechen darf, und nährst mit eigener Hand alle jene unheimlichen Gerüchte über Dich. Du hast keinen Blick, keinen Gedanken für die Menschen, die dort auf Deinen Gütern arbeiten und darben und Tag für Tag mit der Noth des Lebens ringen. Was fragst Du denn auch nach ihrem Elend oder ihrem Glücke? Du stehst unzugänglich und unnahbar auf Deiner Felsenhöhle!“
„Am Abgrund!“ ergänzte Werdenfels. „Du weißt nicht, was für Tage und Stunden ich da oben verlebt habe; Du kennst nicht die Versuchungen des Abgrundes. Er hat mich mehr als einmal gelockt, in seiner Tiefe Vergessenheit zu suchen, und mit der Vergangenheit auch den alten Fluch zu begraben.“
Ein tiefes Erschrecken zeigte sich in dem Antlitz der jungen Frau, dann aber nahm es den Ausdruck jener unbeugsamen Härte an, der ihr bisweilen eigen war, und dieselbe Härte klang aus ihrer Stimme, als sie antwortete:
„Das ist die letzte Zuflucht der Schwäche – Männer sühnen ihre Schuld!“
Raimund richtete sich empor; in seinem Auge begann etwas aufzuglühen, wie Funken unter der Asche, aber noch verschleierte sich die Tiefe dieses Blickes.
„Also bin ich nur ein Schwächling in Deinen Augen?“
„Ein Träumer bist Du, der es nicht wagt, in den hellen Sonnenschein zu schauen, weil er ihm weh thut nach der langen Nacht, weil er nicht ungestört darin weiter träumen kann. Wach’ auf, Raimund! Entreiß’ Dich diesem Hinbrüten, das Deine letzte Kraft verzehrt! Ich habe nicht geglaubt, daß unsere Trennung das aus Dir machen würde.“
Raimund ließ mit einer heftigen Bewegung die Zügel fallen. Man sah es, wie der halb verächtliche Ton ihn verwundete, und hörte es, wie seine Stimme mehr und mehr die dumpfe Ruhe verlor.
„Nicht solche Worte, Anna!“ sagte er finster. „Haß kann ich ertragen, und ich habe viel davon erfahren mein Leben lang. Verachtung trage ich nicht.“
„So zeige, daß Du sie nicht verdienst!“ sagte Anna in steigender Erregung. „Es ist viel in Deine Hände gegeben, und die Menschen dort unten haben ein Leben von Dir zu fordern. Du bist es ihnen schuldig. Versuche es, tritt mitten unter sie und wirb um Versöhnung und Du wirst sie finden!“
„Meinst Du?“ fragte Werdenfels schneidend. „Es wäre nicht das erste Mal, daß ich es versuchte! Ich habe es damals nach dem Tode meines Vaters gethan. Weißt Du, wie der alte Eckfried mir antwortete, als ich in seine Hütte trat? Er riß den Stutzen von der Wand und drohte, mich niederzuschießen, wenn ich noch einmal den Fuß über seine Schwelle setzte. Und so ging es weiter; wohin ich mich auch wandte, überall trat mir der alte Haß, die alte Feindschaft entgegen. Sie stießen mich Alle zurück, Alle – sogar meine Braut!“
Das stolze zürnende Auge der jungen Frau senkte sich; sie hatte keine Erwiderung auf den letzten Vorwurf.
[155] „Von dem Augenblicke an, wo Vilmut das Geheimniß unserer Liebe entdeckte, war ihr Urtheil gesprochen,“ fuhr Raimund fort. „Du folgtest ihm blindlings, und ich wurde ungehört verdammt.“
„Ungehört? Ich hätte keinem anderen Zeugniß auf der Welt geglaubt, als Deinem eigenen. Ich selbst habe Dich in das Pfarrhaus gerufen, wo unsere letzte Unterredung stattfand.“
„In Vilmut’s Gegenwart! Er stand zwischen uns mit seinem Eisesblick und wehrte jede Verständigung. Wäre ich nur eine Minute lang mit Dir allein gewesen, ich hätte den Weg zu Deinem Herzen gefunden, trotz alledem, was geschehen war. Aber Du verweigertest mir das Alleinsein.“
„Weil es nutzlos gewesen wäre. Ich hatte nur eine einzige Frage an Dich, und ein einziges ‚Nein‘ aus Deinem Munde hätte alles wieder gut gemacht. Du hast dieses Nein nicht gesprochen; Du schlugst das Auge zu Boden. Dein Schweigen war es, was uns trennte, nicht eine fremde Macht.“
„Und was hätte ich Dir denn sagen sollen?“ fragte Raimund langsam. „Ich wußte ja, es war alles vergebens, so lange dieser Priester an Deiner Seite stand, der nur verurtheilen und verdammen kann, dem das Wort Verzeihung fremd ist. Ich habe es ja noch einmal versucht, Dir zu schreiben, trotz Deines Verbotes, und Dir rückhaltlos alles enthüllt. Nach drei Tagen kam die Antwort, aber sie war von der Hand Deines Vetters und lautete: ‚Anna Vilmut ist seit gestern die Braut des Präsidenten Hertenstein!‘ – Bis dahin hatte ich all dem Haß noch Stand gehalten; jetzt gab ich den Kampf auf – für immer – und floh in die Einsamkeit.“
Es folgte eine lange schwere Pause, die junge Frau stand unbeweglich da, aber sie war sehr bleich geworden, und es schien, als ringe sie nach Athem.
„Was – was stand in jenem Briefe?“ fragte sie endlich leise.
Raimund richtete das Auge voll und finster auf sie; wieder zeigte sich jener seltsame Funke darin, jene Gluth unter der Asche.
„Das weißt Du ja,“ erwiderte er; „oder – hast Du den Brief nicht gelesen?“
„Nein.“
„Er wurde aber doch in Deine eigenen Hände gelegt. Ich weiß, daß es geschah, und Du hast ihn nicht gelesen?“
Das Drohende, das in dieser Frage lag, rief Anna’s Trotz wach. „Nein,“ wiederholte sie. „Ich hatte bereits dem Präsidenten mein Wort gegeben, als ich jenes Schreiben empfing, und damit war das Loos über mein Schicksal geworfen – der Brief wurde uneröffnet verbrannt.“
Werdenfels fuhr auf; seine Hand ballte sich, und in seinem Auge loderte wieder jene Flamme empor, die wie ein zuckender Blitz die dunklen Tiefen enthüllte. Ein stürmisches leidenschaftliches Wort schien sich auf seine Lippen zu drängen, aber er bezwang sich.
„Verzeih!“ sagte er nach einer secundenlangen Pause mit erzwungener Kälte. „Dann allerdings hatte ich mich an eine falsche Adresse gewandt.“
„Was stand in dem Briefe?“ fragte Anna noch einmal unruhig und dringend.
„Was Du auch verworfen hättest; denn es war ja ein Schuldbekenntniß!“ brach Raimund in grenzenloser Bitterkeit aus. „Ich wandte mich an die Liebe der Frau, die mir gelobt hatte, die Meine zu werden. Die Liebe verzeiht ja Alles, und sie hätte verziehen; Du aber, die Du meine letzte verzweifelnde Bitte ungelesen den Flammen preisgabst, Du hast mich nie geliebt. Gregor Vilmut und Du, Ihr seid einander gleich; Ihr steht so fest und sicher auf Eurer Tugendhöhe und blickt mitleidslos herab auf den Träumer, den Schuldigen. Ihr wißt ja nicht, was es heißt, wenn auf ein junges Leben ein Fluch geworfen wird und das ganze fernere Dasein hinfort nur ein Kampf, ein Ringen mit diesem Fluche ist. Ich habe das erfahren – leb’ wohl!“
Er wandte sich von ihr, schwang sich in den Sattel und gab dem Pferde die Zügel, das, froh der endlich gewonnenen Freiheit, über die Wiese hinjagte. Es nahm einen mächtigen Anlauf und setzte wieder über die Schlucht. Zum zweiten Male wurde das Wagestück unternommen, und zum zweiten Male gelang es. Der Reiter hörte nicht den halb erstickten Angstruf, der ihm nachhallte; er wandte sich nicht um, sondern sprengte hinein in die Waldlichtung.
Anna stand allein unter den Tannen; ihre Lippen waren zusammengepreßt wie im Zorn oder Schmerz, aber ihr Auge hing noch immer an jener Lichtung. Starr und schwer senkten sich die Zweige des Baumes über ihr unter der Schneelast, und starr und weiß war Alles ringsum. Aber aus der Tiefe drang wieder jenes Hallen und Rauschen empor, fern und geheimnißvoll, als flüsterten darin all die Stimmen jenes tausendfachen Lebens, das in der eisigen Hülle gefangen lag. Es war gebannt und versunken – erstorben war es nicht.
Buchdorf, das Gut, welches der Freiherr seinem jungen Verwandten zum Geschenk gemacht hatte, lag nur einige Stunden von Werdenfels entfernt. Es war nicht so groß und prächtig als dieses, aber doch ein schönes Rittergut mit stattlichem Herrenhause und schattigem Park. Paul hatte in der That die Schenkungsurkunde mit der Unterschrift Raimund’s auf seinem Schreibtische gefunden und sein neues Eigenthum auch bereits in Augenschein genommen. Das Gut befand sich allerdings vorläufig noch in den Händen des Pächters, der es bisher bewirthschaftet hatte und mit seiner Familie sogar das Herrenhaus bewohnte. Der neue Gutsherr sah ein, daß er mit der Uebersiedelung bis zum Frühjahr warten müsse, wo der Pachtcontract ablief, und überdies fühlte er sich gerade jetzt verpflichtet, den Wünschen des Freiherrn nachzukommen und vorläufig in Felseneck zu bleiben.
Augenblicklich befand sich Paul in seinem Schlafzimmer und war mit der Toilette beschäftigt, die ihn heute sehr in Anspruch nahm. Er musterte sich wiederholt im Spiegel und schwankte minutenlang zwischen der Entscheidung, ob er eine dunkle oder eine helle Halsbinde wählen solle.
Arnold, der ihm beim Ankleiden half, verrieth gleichfalls ein gesteigertes Selbstgefühl; denn „wir wären ja nun Gutsherr“. Er hatte es natürlich durchgesetzt, daß sein junger Herr ihn mit nach Buchdorf nahm, hatte dort alles beaugenscheinigt und gefunden, daß ein Onkel, der so großartige Geschenke mache, des höchsten Respectes werth sei. Der Freiherr war überhaupt seit jener verunglückten Audienz sehr in der Hochachtung des alten Dieners gestiegen. Dieser hatte nicht allein die empfangene Lehre ganz ruhig hingenommen, sondern schien sogar eine Art Hochgefühl darüber zu empfinden, daß ihm endlich einmal Jemand imponirte. Er sprach seitdem nur in den Ausdrücken tiefster Bewunderung von dem Schloßherrn, und es fiel ihm nicht mehr ein, zu behaupten, daß dieser etwas verrückt sei. Werdenfels hatte ihm in nachdrücklichster Weise seine Vernünftigkeit klar gemacht.
„Die dunklen Handschuhe, Arnold!“ sagte Paul, was zur Folge hatte, daß Arnold ein Paar helle Handschuhe brachte und sie demonstrativ auf den Toilettentisch legte.
„Nehmen Sie diese, Herr Paul,“ sagte er. „Helle Handschuhe passen besser zu Ihrem Anzuge und sind überhaupt in der Ordnung, wenn man einen Antrag macht.“
Paul wandte sich um und sah ihn verwundert an.
„Ich? Woher weißt Du denn das? Ich habe Dir doch kein Wort davon gesagt.“
„Als ob man mir dergleichen zu sagen brauchte!“ meinte Arnold. „Sie nehmen ja das Ankleiden heute als eine Haupt- und Staatsaction. Sie haben den Wagen zur Fahrt nach Rosenberg bestellt, weil der lange Ritt Ihrem Anzuge schaden könnte; Sie sind überhaupt so merkwürdig aufgeregt – Ihnen sieht man es ja schon auf zehn Schritte an, daß Sie auf Freiersfüßen gehen.“
„So – das wußte ich nicht!“ sagte Paul etwas ärgerlich, aber ohne zu widersprechen, während der alte Diener fortfuhr:
„Ich habe die Geschichte kommen sehen von dem Augenblicke an, wo ich erfuhr, daß unsere Reisebekanntschaft aus Venedig hier in der Nachbarschaft wohnt. Sie waren ja ganz unglaublich verliebt, und ich bin auch im Ganzen dafür, daß Sie heirathen.“
„Wirklich, giebst Du mir die Erlaubniß dazu?“ rief der junge Mann lachend. „Ich hatte allerdings vergessen, Dich darnach zu fragen.“
Arnold zuckte die Achseln.
„Sie fragen mich ja leider niemals, aber Sie haben keinen schlechten Geschmack – das muß man sagen. Frau von Hertenstein ist eine sehr schöne Dame, und nach Allem, was man hört, auch eine sehr vernünftige Dame, und das können wir gebrauchen; denn [156] wenn wir jetzt auch Gutsherr von Buchdorf sind, vernünftig sind wir nach lange nicht.“
„Arnold, ich bitte mir jetzt ernstlich einen größeren Respect aus!“ fuhr Paul auf, der in seiner neuen Würde als Gutsherr das Unpassende dieser Predigten doppelt empfand, und da er sich der Scene bei seinem Onkel erinnerte, so nahm er gleichfalls eine vornehme Haltung an, wie dieser, und richtete einen niederschmetternden Blick auf seinen alten Vertrauten, aber da kam er bei diesem übel an.
„Blicken Sie nicht so, Herr Paul!“ sagte Arnold geringschätzig. „Sie können das dem gnädigen Onkel doch nicht nachmachen. Der blickt ganz anders; es wird Einem heiß und kalt dabei, wenn er auch kein Wort spricht, und man kann eigentlich gar nichts Anderes thun, als eine Verbeugung machen. Sie dagegen –“
„Ich verstehe das nicht, meinst Du?“ rief Paul hitzig. „Arnold, jetzt ist meine Geduld zu Ende! Ich werde in Zukunft mit Strenge darauf halten, daß Du in Deinen Schranken bleibst – merke Dir das! Und jetzt geh! Ich werde mich allein ankleiden!“
Anstatt zu gehorchen, stellte sich Arnold dicht vor seinen jungen Herrn hin und musterte dessen Anzug.
„Aergern Sie sich nicht, Herr Paul!“ sagte er wohlwollend. „Dann steigt Ihnen das Blut in das Gesicht, und dann sehen Sie gar nicht gut aus. – Warum haben Sie denn die dunkle Halsbinde genommen? Sie steht Ihnen nicht – die gnädige Frau wird das auch finden, und überdies sitzt die Schleife schief.“
Damit begann er ruhig die dunkle Halsbinde abzunehmen und durch eine helle zu ersetzen, und Paul hielt geduldig still. Der Gedanke, in Rosenberg zu mißfallen, hatte ihm einen heilsamen Schreck eingejagt.
„Meinst Du das?“ fragte er noch grollend, aber mit besorgter Miene.
„Jetzt sehen Sie einmal in den Spiegel!“ sagte Arnold triumphirend. „Die helle Seide giebt Ihrem Gesicht einen ganz anderen Schein. Ja, wenn Sie mich nicht hätten, Herr Paul!“
Paul warf einen Blick in den Spiegel und schien der gleichen Meinung zu sein; denn er nahm gehorsam die hellen Handschuhe, die Arnold ihm präsentirte. Da der letztere nun „im Ganzen“ mit der projectirten Heirath einverstanden war, so geruhte er seinem jungen Herrn auch noch Hut und Ueberzieher zu bringen und begleitete ihn sogar bis zur Treppe, wo die Beiden sich ganz freundschaftlich trennten.
Die zweistündige Fahrt nach Rosenberg kam dem jungen Manne trotz seiner Ungeduld nicht allzulang vor; denn er wiegte sich in goldenen Zukunftsträumen. Als Gutsherr von Buchdorf durfte er ohne jedes Bedenken vor die schöne Wittwe hintreten und ihre Hand erbitten. Er wußte freilich, daß er bei ihr ein altes Vorurtheil überwinden müsse, das sich an den Namen Werdenfels knüpfte, aber das war kein ernstliches Hinderniß in seinen Augen. So zurückhaltend die junge Frau ihm gegenüber auch gewesen war, ihr Blick, der so oft und so lange auf seinen Zügen weilte, sagte ihm doch, daß sie ein tieferes Interesse für ihn hegte. Paul ahnte ja nicht, daß dieser Blick in seinem Antlitz nur die Züge eines Anderen gesucht hatte, die den seinigen so sehr glichen.
In Rosenberg war inzwischen alles seinen gewohnten Gang gegangen. Frau von Hertenstein lebte nach wie vor in vollständiger Zurückgezogenheit zur großen Enttäuschung der Nachbarschaft, welche gehofft hatte, nach vollendetem Trauerjahr die schöne Wittwe wieder in ihren Cirkeln zu sehen. Da außer dem Justizrath Freising und dem Pfarrer Vilmut Niemand ihre näheren Verhältnisse kannte, so hielt man sie für reich und erwartete, sie werde früher oder später das glänzende Leben wieder aufnehmen, das sie an der Seite ihres Gatten geführt hatte. Einstweilen hatte Anna in der tiefen Trauer, die sie noch immer trug, einen hinreichenden Vorwand, alle Einladungen abzulehnen, was denn auch unbedingt geschah.
An demselben Vormittage, wo Paul Werdenfels sich auf dem Wege nach Rosenberg befand, fuhr auch der Justizrath dort vor. Er traf nur Fräulein Hofer in dem kleinen Salon an und war genöthigt, einstweilen mit ihrer Gesellschaft vorlieb zu nehmen. Die Beiden waren keine besonderen Freunde und standen gewöhnlich auf dem Kriegsfuße mit einander; das Fräulein nannte den rechtsgelehrten Herrn bisweilen einen trocknen Actenmenschen, dem jede Poesie abging, und er spottete bei jeder Gelegenheit über ihren Aberglauben. Fräulein Hofer war in der That ein echtes Kind ihrer Heimath, das trotz aller Erziehung und Aufklärung noch fest an den Sagen derselben hing. Sie machte auch kein Geheimniß daraus, und das gab Gelegenheit zu fortwährenden Plänkeleien zwischen ihr und dem Justizrath. Heute aber erschien der Letztere in einem besonders feierlichen Aufzuge; er war im Fracke, trug sehr enge Glacéhandschuhe und hatte ein sehr prachtvolles Bouquet in der Hand.
„O, die schönen Rosen!“ sagte Fräulein Hofer bewundernd. „Das ist ja eine Seltenheit in dieser Jahreszeit.“
„Frau von Hertenstein liebt die Rosen sehr,“ versetzte der Justizrath, indem er das Bouquet vorsichtig auf den Tisch legte, „ich hoffe ihr eine Freude damit zu machen.“
[169] Er sprach mit möglichster Unbefangenheit; denn er sah, daß die scharfen Augen der Dame seine Gala musterten, und ärgerte sich unbeschreiblich über das leise, aber verständnißvolle Lächeln, das dabei um ihre Lippen spielte. Er nahm indessen Platz, und nach zwei Minuten waren die Beiden auch schon wieder im Streit begriffen. Fräulein Hofer hatte die ebenso einfache wie unbestreitbare Behauptung aufgestellt, daß heute Freitag sei, und das gab dem Justizrath sofort Veranlassung zu einem Ausfall.
„Das ist ja wohl ein Unglückstag in Ihren Augen?“ fragte er. „Soviel ich weiß, steht der Tag im Codex des Aberglaubens mit dieser Eigenschaft verzeichnet.“
„Wenigstens würde ich an solchem Tage nichts Wichtiges unternehmen oder beginnen,“ erwiderte das Fräulein mit einem anzüglichen Blick auf das Bouquet.
„Ich denke anders darin,“ sagte Freising mit Nachdruck. „Ich wähle mit Vorliebe gerade diesen Tag, um meine freisinnige Stellung damit zu documentiren. Das ist bisweilen nothwendig, um der hiesigen Bevölkerung ein Beispiel zu geben, die noch auf ihre Geisterspitze, ihre Eisjungfrau und allerlei Hexenzeug schwört.“
Fräulein Hofer wußte recht gut, wer mit der „Bevölkerung“ gemeint war; sie antwortete daher in gereiztem Tone:
„In Ihren Proceßacten steht allerdings nichts davon geschrieben, und ich erlaube mir, sie etwas nüchtern und prosaisch zu finden – die Acten nämlich!“
„Und ich nehme mir die Freiheit, sie etwas überspannt zu finden – die Sagen nämlich!“ gab der Justizrath schlagfertig zurück.
Das Fräulein wurde roth vor Aerger.
„Natürlich, Sie sind ja ein Mann der reinen Vernunft und sympathisiren in dieser Beziehung mit Frau von Hertenstein. Die gnädige Frau ist gleichfalls ein Freigeist in solchen Dingen.“
„Zu meiner großen Befriedigung,“ bestätigte der Justizrath, dessen Zufriedenheit in diesem Augenblicke noch erhöht wurde, da Anna in Begleitung ihrer Schwester eintrat. Die Letztere ließ ihm aber kaum Zeit zur Begrüßung; sie hüpfte ihm entgegen und fragte neugierig:
„Onkel Justizrath, weshalb erscheinen Sie denn heute so feierlich im Frack?“
Die vertrauliche Anrede datirte noch aus Lily’s Kinderzeit, wo Freising, der die gesammte Rechtspraxis der Umgegend in Händen hatte, bisweilen in das Pfarrhaus von Werdenfels kam. Lily hatte in aller Unbefangenheit die alte Vertraulichkeit wieder aufgenommen, und der Justizrath hatte auch nichts dagegen, sich von einem jungen hübschen Mädchen „Onkel“ nennen zu lassen. Heute aber schien ihn diese Bezeichnung etwas in Verlegenheit zu setzen, ebenso wie die Frage, aber er faßte sich rasch und antwortete :
„Ich habe bei einer festlichen Gelegenheit die Verhandlungen zu leiten, möchte aber vorher noch mit der gnädigen Frau eine wichtige geschäftliche Angelegenheit besprechen.“
„Dann wollen wir gehen, Lily,“ sagte Fräulein Hofer, den Arm des jungen Mädchens ergreifend. „Bei Geschäften sind wir überflüssig. Kommen Sie!“
Lily fand das auch und folgte ohne Widerspruch in das Nebenzimmer, konnte aber doch nicht umhin, sich zu erkundigen, ob der Justizrath das schöne Bouquet gebracht habe, das auf dem Tische lag.
„Jawohl, er probirt sein Glück am Freitag – ich hoffe, die Bedeutung des Tages wird ihm diesmal klar gemacht,“ sagte Fräulein Hofer nachdrücklich, indem sie aus dem Zimmer ging.
Lily versank ob dieser orakelhaften Worte in tiefes Nachdenken. Der Frack des Onkel Justizrath war ihr von vornherein verdächtig vorgekommen; sie blieb also im Zimmer, um die weitere Entwickelung der Sache abzuwarten. Leider hatte Fräulein Hofer die Thür nach dem Salon geschlossen; zu sehen war also nichts, aber wenn man das Ohr an die Thürspalte legte, konnte man hören, was drinnen gesprochen wurde, und die junge Dame that das denn auch ohne alle Gewissensbisse.
Drinnen im Salon begann der Justizrath soeben die Verhandlungen einzuleiten, indem er das Bouquet nahm und der jungen Frau überreichte.
„Die Rosen – der Rose!“ sagte er mit steifer Galanterie, aber offenbar sehr zufrieden mit dem Complimente, an dem er lange studirt haben mochte. Anna nahm die Blumen mit freundlichem, aber etwas kühlem Danke; sie war an diese kleinen Huldigungen und Aufmerksamkeiten von Seiten Freising’s zu sehr gewöhnt, als daß ihr die heutige hätte besonders auffallen sollen.
„Sie haben Wichtiges mit mir zu besprechen?“ fragte sie, ihm gegenüber Platz nehmend. „Es betrifft vermuthlich den Verkauf von Rosenberg.“
„Das nicht,“ versetzte der Justizrath mit vielsagendem Lächeln. „Ich hoffe im Gegentheil, daß es möglich sein wird, Ihnen den Landsitz zu erhalten, wenigstens als Sommeraufenthalt, wenn Sie auch für gewöhnlich in der Stadt wohnen.“
[170] „Das wäre mir allerdings sehr erwünscht, ich sehe aber diese Möglichkeit nicht ein bei den jetzigen Verhältnissen, indessen lassen Sie hören!“
„Gnädige Frau,“ begann Freising mit großer Feierlichkeit. „Sie sind Wittwe!“
„Allerdings,“ sagte Anna, etwas befremdet über diese Einleitung.
„Und ich bin Junggesell!“ fuhr der Justizrath fort.
Die junge Frau sah ihn verwundert an.
„Auch das ist mir bekannt.“
„Es ist aber etwas Trauriges um solch ein Junggesellenleben. Ich fühle mit jedem Jahre mehr meine Vereinsamung, ich sehne mich unendlich nach einer Lebensgefährtin –“
„Herr Justizrath!“ unterbrach ihn Anna erschrocken; denn jetzt wurde ihr die Bedeutung der Rosen klar, aber der Herr Justizrath ließ sich nicht unterbrechen, sondern sprach so geläufig weiter, als stelle er einen Antrag vor Gericht. Er berief sich auf die langjährige Bekanntschaft, erwähnte seine ausgebreitete Praxis, sein nicht unbedeutendes Vermögen, betonte seine Uneigennützigkeit, die ihm bei der genauen Kenntniß aller Verhältnisse allerdings zugegeben werden mußte, und hielt endlich in aller Form um die Hand der jungen Frau an.
In Anna’s Zügen malte sich eine peinliche Empfindung; sie hatte die Blumen bei Seite gelegt und sagte jetzt mit leisem Vorwurf:
„Herr Justizrath, diese Stunde hätten Sie sich und mir ersparen sollen. Ich ahnte nicht, daß unser freundschaftlicher Umgang derartige Gefühle in Ihnen erweckte – sonst hätte ich es nicht so weit kommen lassen.“
„Sie weisen mich ab?“ rief Freising in bitterer Enttäuschung.
„Ich hege die höchste Achtung, die aufrichtigste Freundschaft für Sie und werde Ihnen stets die Dankbarkeit bewahren, die ich Ihrem treuen Rath und Beistand schulde.“
„Ja, gnädige Frau, damit kann ich nichts anfangen,“ sagte der Justizrath wehmüthig. „Das haben mir all die Damen angeboten, denen ich meinen Antrag machte.“
„Haben Sie denn das schon öfter gethan?“
„Schon dreimal! Und immer habe ich nur Hochachtung und Freundschaft bekommen statt des Jawortes.“
Das eigenthümliche Geständniß kam so schmerzlich heraus, daß Anna ihr Lächeln unterdrückte und tröstend sagte:
„Das ist aber unbegreiflich bei einem Manne von Ihrer Stellung und Ihren Verdiensten. Bei mir walten eben ganz besondere Verhältnisse ob.“
„Ja, es ist eben mein Unglück, immer auf diese ganz besonderen Verhältnisse zu stoßen,“ seufzte Freising. „Die erste Dame, an die ich mich wandte, erklärte mir, sie könne nur einen Künstler lieben; ein Jurist habe höchstens Anspruch auf ihre Achtung; sie verlobte sich denn auch gleich darauf mit einem jungen Maler. Die zweite gab mir ihre Absicht kund, in ein Kloster zu gehen, aber sie ließ mir ihre Freundschaft zurück. Die dritte gestand mir, daß sie bereits einen Anderen liebe, und nahm meine Hülfe bei ihren Eltern in Anspruch, die gegen diese Partie waren, wofür sie mich ihrer ewigen Dankbarkeit versicherte – und jetzt weisen auch Sie mich ab!“
„Soll ich deshalb einen treuen, bewährten Freund verlieren?“ fragte die junge Frau, ihm die Hand hinstreckend.
„Nein, das sollen Sie nicht,“ sagte der Justizrath mit Selbstüberwindung, indem er die dargebotene Hand ergriff, und nun erfolgte zum vierten Male der übliche Austausch von Hochachtung und Freundschaft, der ihm trotzalledem wohlzuthun schien; denn er sah einigermaßen getröstet aus, und als Anna die Rücksicht so weit trieb, ihren Shawl umzuwerfen und den abgewiesenen Freier bis zu dem Gitterthor zu begleiten, wo sein Wagen hielt, schien das alte freundschaftliche Verhältniß wieder hergestellt zu sein.
Inzwischen hatte Lily im Nebenzimmer Mühe gehabt, sich nicht zu verrathen; denn sie war mehr als einmal in Versuchung gewesen, laut aufzulachen. Als aber jetzt der Wagen fortfuhr und gleichzeitig Fräulein Hofer wieder eintrat, flog das junge Mädchen ihr entgegen und rief mit einem Ausbruch stürmischer Heiterkeit:
„Der Freitag hat doch Recht behalten! Der Onkel Justizrath hat sich einen Korb geholt, und denken Sie nur, es ist schon der vierte, den er erhält!“
„Sie haben gehorcht, Lily?“ fragte das Fräulein in vorwurfsvollem Tone.
„Natürlich!“ bestätigte Lily, die gar nichts Unrechtes darin fand, und begann nun die Scene, die sie erlauscht hatte, in sehr komischer Weise zu schildern. Aber das machte nicht den beabsichtigten Effect – Fräulein Hofer zog die Stirn kraus und verwies dem jungen Mädchen ernstlich die Spöttereien über diesen „höchst achtungswerthen Mann“.
„Aber Sie können ihn ja nicht leiden,“ warf Lily ein, sehr erstaunt über diese Parteinahme. „Er ist ja auch bei jeder Gelegenheit Ihr Widersacher.“
Fräulein Hofer gerieth einen Augenblick in Verlegenheit, faßte sich aber sofort wieder und sagte salbungsvoll:
„Das ist er, aber man darf auch seinen Feinden nichts Böses wünschen!“
Anna war nicht wieder in das Haus zurückgekehrt, sondern machte einen Gang durch den Garten; Lily bemerkte das und stürmte ihr nach. Sie hatte gleichfalls nur ein leichtes Mäntelchen übergeworfen und war gerade bis zu dem Gewächshaus gekommen, als sie einen zweiten Wagen vorfahren und zu ihrer Ueberraschung den jungen Baron Werdenfels aussteigen sah. Das junge Mädchen wußte oder errieth doch wenigstens, daß dieser Besuch einzig ihrer Schwester galt; Paul’s Augen hatten damals im Pfarrhause deutlich genug gesprochen, aber einen Gruß hatten er sicher für seine kleine Bekannte vom Schloßberge übrig, und sie blieb unwillkürlich stehen, um diesen Gruß zu erwarten.
Aber Paul bemerkte sie nicht einmal, obgleich er in geringer Entfernung vorüberging. Er hatte sofort beim Aussteigen die hohe dunkle Gestalt dort am anderen Ende des Gartens entdeckt, und nun hing sein Auge so fest an diesem einen Punkte, daß alles Andere für ihn nicht existirte. Er trat nicht in das Haus, sondern suchte sofort die junge Frau auf, und dabei strahlte sein ganzes Antlitz, als sei dieses Alleinsein, in dem er sie traf, ein langersehntes Glück.
Lily senkte das Köpfchen; sie hatte keine Lust mehr, zu der Schwester zu gehen und an der Unterhaltung Theil zu nehmen, bei der sie so gänzlich überflüssig war; man sah sie ja nicht einmal. Leise trat sie hinter einen Pfeiler des Gewächshauses zurück; sie wollte diesmal nicht lauschen, was bei der weiten Entfernung auch gar nicht möglich war, aber sehen durfte[WS 2] sie doch die Beiden, die jetzt dort drüben in der blätterlosen Allee auf und nieder gingen und keine Ahnung davon hatten, daß sie beobachtet wurden.
Die Unterredung dauerte sehr lange und schien im Gegensatz zu jener Scene mit dem Justizrath sehr ernst zu sein. Anfangs sprach Paul viel und lebhaft, aber die Antworten der jungen Frau mußten wohl seine stürmische Beredsamkeit dämpfen; denn er wurde immer stiller, bis endlich Anna selbst das Wort nahm. Auch sie sprach lange und eindringlich und schien einzelne leidenschaftliche Bemerkungen ihres Begleiters zurück zu weisen; denn dieser verstummte endlich ganz und stand regungslos da, das Auge auf den Boden geheftet.
Es folgte eine kurze Pause; dann reichte Anna ihm die Hand, die Paul, ohne aufzublicken, an seine Lippen zog, und nun wandte die junge Frau sich ab und kehrte in das Haus zurück.
Lily hatte eine Ahnung von dem, was sich dort begeben hatte, obgleich der junge Baron keinen Frack und kein Bouquet trug; sie wollte sich natürlich nicht zeigen und blieb deshalb an ihrem Platze, aber Paul, der nach einigen Minuten auch zurückkehrte, nahm diesmal den nächsten Weg, der ihn dicht am Gewächshause vorbeiführte.
Er ging sehr langsam, und sein hübsches Gesicht, das vorhin so glückselig strahlte, war jetzt so bleich und trug den Ausdruck eines so bitteren Schmerzes, daß Lily all ihre Vorsätze vergaß. Sie war in diesem Augenblicke noch ganz Kind und wußte nicht einmal, daß sie eine Tactlosigkeit beging, als sie plötzlich hervortrat und mit angstvoller Miene fragte:
„Herr von Werdenfels, was ist Ihnen denn?“
Paul schrak zusammen bei der unerwarteten Anrede und fuhr rasch mit der Hand über die Augen.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein!“ sagte er gepreßt. „Ich sah Sie nicht, aber – mein Wagen wartet – empfehlen Sie mich der gnädigen Frau!“
[171] Er war im Begriffe zu gehen, aber die hellen braunen Kinderaugen, die zu ihm empor blickten, sahen ihn so mitleidig, so traurig an, daß er zu lächeln versuchte, was ihm freilich nicht gelang.
„Verzeihen Sie die flüchtige Begrüßung!“ fuhr er fort, „aber ich kann wirklich nicht länger bleiben.“
„Hat Ihnen meine Schwester wehe gethan?“ fragte Lily schüchtern.
Die Lippen des jungen Mannes zuckten schmerzlich.
„Ja wohl, sehr weh! Sie weiß es wohl selbst nicht einmal, wie sehr.“
„O ja, Anna kann bisweilen hart sein,“ bemerkte Lily leise, aber Paul schüttelte heftig den Kopf.
„Sagen Sie das nicht, sie war unendlich gütig gegen mich. Es ist ja nicht ihre Schuld, daß ich mich täuschte, aber,“ hier brach er plötzlich in leidenschaftlichen Schmerz aus, „ich ertrage es nicht, wenn mir jede Hoffnung genommen wird! Ich nehme mir das Leben!“
„Um Gottes willen!“ schrie Lily entsetzt auf. „Thun Sie das nicht, Herr von Werdenfels! Anna würde ja keine ruhige Stunde mehr im Leben haben, wenn sie an Ihrem Tode schuld wäre, und ich – ich auch nicht!“
So treuherzig die letzte Versicherung auch klang, sie machte gar keinen Eindruck auf Paul, dessen Schmerz nur noch stürmischer ausbrach.
„Was soll mir denn ein Dasein ohne Glück, ohne Hoffnung?“ rief er. „Mein Fräulein, weshalb soll ich Ihnen die Wahrheit verhehlen, die Sie ja doch schon errathen haben? Ja, ich liebe Ihre Schwester, liebe sie mit ganzer Seele, und ich kann nicht leben ohne ihren Besitz – ich erschieße mich!“
Es war gut, daß die Beiden im Schutze des Gewächshauses standen, wo sie nicht gesehen werden konnten; denn Lily begann jetzt bitterlich zu weinen und beschwor den jungen Baron in den rührendsten Ausdrücken, doch nicht so schreckliche Gedanken zu hegen. Vielleicht habe es Anna gar nicht so ernstlich gemeint; sie habe es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Wittwe zu bleiben – aber vielleicht, ja wahrscheinlich sei sie noch umzustimmen.
„Halten Sie das in der That für möglich?“ fragte Paul, dem schon wieder ein Hoffnungsschimmer aufblitzte.
„O gewiß!“ versicherte Lily, welche in ihrer Herzensangst alles nur Mögliche zugab. „Ich werde mit meiner Schwester sprechen; ich werde Ihre Verzweiflung schildern; ich werde all meinen Einfluß aufbieten – geben Sie nur diese furchtbaren Selbstmordgedanken auf!“
Paul schien vorläufig noch gar nicht geneigt dazu; er sah noch immer sehr verzweifelt aus, aber seine Stimme klang doch ruhiger, als er erwiderte:
„Ich danke Ihnen, mein Fräulein! O gewiß, Sie haben Einfluß bei Ihrer Schwester, und sie hat es mir ja selbst gesagt, daß sie keine persönliche Abneigung gegen mich hegt, daß sie sich nur nicht wieder vermählen will. Vielleicht ist dieser Entschluß noch zu erschüttern, und wenn ich auf Ihre Fürsprache, auf Ihren Beistand rechnen darf –“
„Sie dürfen es!“ versicherte Lily, indem sie ihm feierlich die Hand reichte. „Ich werde mit all meinen Kräften für Sie und Ihre Liebe eintreten.“
Der junge Mann drückte dankbar die kleine Hand, die in der seinigen lag, aber es fiel ihm nicht ein, sie an seine Lippen zu ziehen.
„Doch wie erfahre ich das Resultat Ihrer Bemühungen?“ fragte er. „Ich kann selbstverständlich nicht wieder nach Rosenberg kommen, ehe ich nicht wenigstens einen Hoffnungsschimmer habe.“
Lily dachte einige Secunden nach.
„Am nächsten Sonntag besuchen wir den Vetter Gregor in Werdenfels; können Sie nicht wieder in das Pfarrhaus kommen?“
„Nein,“ sagte Paul ernst. „Seit ich die Stellung kenne, die der Pfarrer Vilmut meinem Onkel gegenüber einnimmt, muß auch ich ihm fern bleiben. Aber Sie machen doch jedenfalls wieder einen Spaziergang in der Umgebung des Dorfes – könnten wir uns nicht wie damals am Schloßberge treffen?“
„Bei den Haselnüssen!“ fiel Lily erfreut ein. „Das ist eine sehr gute Idee! Um die Mittagsstunde bin ich dort – versprechen Sie mir nur, sich bis dahin nicht zu erschießen!“
„Ich werde noch etwas damit warten,“ erklärte Paul. „Vielleicht ist noch nicht alles verloren.“
Er drückte noch einmal die Hand seiner neuen Bundesgenossin und ging dann zu seinem Wagen. Als er fortgefahren war, kehrte Lily in das Haus zurück, ganz erhoben und erfüllt von ihrer Mission. Sie kam sich auf einmal so wichtig vor, als eine Person, auf deren Einfluß man rechnete und deren energisches Eingreifen einen Menschen vom Selbstmord zurückgehalten hatte. Sie zweifelte auch nicht mehr, daß ihre Schwester sich erweichen lassen werde; der junge Baron wollte sich ja erschießen, wenn sie bei ihrem Nein blieb; aber es war doch seltsam, welch eine zauberhafte Macht Anna über die Männer ausübte, daß sie sich alle ohne Ausnahme in sie verliebten. Zwei Heirathsanträge hatte sie an einem Vormittage erhalten und wußte nichts Anderes damit anzufangen, als sie beide abzulehnen. Lily fand, daß ebenso wie die Güter der Erde auch die Heirathsanträge ungleich vertheilt seien; einer davon hätte ihr, der jüngeren Schwester, doch auch zufallen können – „natürlich der zweite!“ setzte sie in Gedanken hinzu.
Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages, als Raimund von Werdenfels an dem Fenster seines Arbeitszimmers stand. Der Wintertag war soeben erst angebrochen, aber ohne Sonnenschein; der „Sturmprophet“, die Geisterspitze, zeigte sich trotz des düsteren Himmels in klaren, scharfen Umrissen und in unheimlicher Nähe; auch das Gewölk ringsum verkündete Sturm. Werdenfels sah wieder zu jenem weißen Gipfel empor, aber nicht mit der gewohnten müden Träumerei; in seinem Blicke lag heute etwas Finsteres, Unruhiges, und dieselbe Unruhe verrieth sich in seinen Bewegungen, als er jetzt mit verschränkten Armen einen Gang durch das Zimmer machte, dann an den Tisch trat und auf die Klingel drückte.
„Ich lasse Herrn von Werdenfels bitten, zu mir zu kommen,“ rief er dem eintretenden Kammerdiener zu; dieser wollte sich entfernen, um den Auftrag auszurichten, und war schon an der Thür, als der Freiherr die Frage hinwarf:
„Mein Neffe war ja wohl gestern in Buchdorf?“
„Nein, gnädiger Herr. So viel ich weiß, ist der junge Herr Baron nach Rosenberg gefahren. Wenigstens wurde der Wagen dorthin beordert.“
Raimund erwiderte nichts, sondern gab dem Diener einen Wink, sich zu entfernen.
„Ich dachte es mir!“ murmelte er. „Er hat keinen Tag verlieren wollen!“
Schon nach zehn Minuten trat Paul in das Zimmer. Er mochte in der Nacht nicht viel geschlafen haben; denn er sah blaß und überwacht aus und bemühte sich vergebens, in Ton und Haltung die alte Unbefangenheit zu zeigen. Es lag wie ein trüber, schwerer Druck auf seinem ganzen Wesen. Man sah es deutlich, das Nein, das er gestern erhalten, war dem jungen Manne tief zu Herzen gegangen.
Auch Raimund sah diese Veränderung, aber er bedurfte keine Erklärung dafür, und seine Stimme klang ungewöhnlich milde, als er fragte:
„Hat mein Ruf Dich gestört, Paul? Es ist noch früh am Tage.“
„O nein, ich war schon angekleidet,“ entgegnete Paul, „aber ich war überrascht, zu hören, daß Du bereits wach seist. Du pflegst ja sonst in den Vormittagsstunden den Schlaf nachzuholen, den Du in der Nacht versäumst.“
„Ja, diese Nachtwachen sind eine leidige Gewohnheit meiner Einsamkeit,“ sagte Werdenfels. „Ich fühle doch, daß sie auf die Dauer entnerven, und habe in den letzten Tagen versucht, dagegen anzukämpfen.“
Paul sah seinen Onkel verwundert an; es war das erste Mal, daß dieser die Absicht kundgab, gegen irgend etwas anzukämpfen. Bisher hatte er sich nur passiv seinen Launen und Träumereien überlassen. Aber der junge Mann fühlte schon nach den ersten Worten, daß jene seltsame Gereiztheit des Freiherrn gegen ihn vollständig geschwunden war. Raimund zeigte wieder die alte Güte, nur war er nicht ganz so kalt und gleichgültig wie sonst, und es lag sogar ein Anschein von Interesse in der Art, mit der er sich nach Buchdorf erkundigte und nach dem Eindruck, den es auf seinen nunmehrigen Herrn gemacht hatte.
[172] Paul gab sich Mühe, eine lebhafte Freude zu zeigen, die einzige Art des Dankes, die ihm erlaubt war, aber das helle Glück, mit dem er noch gestern früh an seine neue Heimath gedacht hatte, war dahin zugleich mit der Hoffnung, eine junge Herrin dort einzuführen. Er berichtete indessen ausführlich über seinen Besuch auf dem Gute und über die Rücksprache, die er mit dem Pächter genommen hatte.
„Du hattest vollkommen Recht hinsichtlich der Uebersiedlung,“ sagte Paul endlich, „ich werde also bis zum Frühjahr in Felseneck bleiben, wenn Du es nicht anders bestimmst.“
Raimund blickte ihn prüfend an.
„Und Du willst den ganzen Winter hier in dieser Einsamkeit aushalten? Das ist ein tapferer Entschluß für eine Natur wie die Deinige, aber vielleicht kann ich ihn Dir erleichtern. Ich habe Dir einen Vorschlag zu machen. Paul – willst Du mich nach Werdenfels begleiten?“
Paul glaubte nicht recht gehört zu haben.
„Nach Werdenfels?“ wiederholte er, starr vor Erstaunen. „Du willst dorthin?“
„Ja, vorläufig nur auf einige Tage.“
„Aber Du hast das Schloß ja seit dem Tode Deines Vaters nicht betreten! Du hast überhaupt seit sechs Jahren Dein Felseneck nicht verlassen und jetzt –“
„Jetzt ändere ich das,“ fiel Raimund ein, in einem Tone, der das Erstaunen ebenso wie den Widerspruch verbat. „Wenn Du übrigens keine Lust hast, mich zu begleiten, so steht es Dir ja frei, hier zu bleiben.“
„Durchaus nicht – ich ziehe es unbedingt vor, Dich zu begleiten,“ rief Paul, der sofort berechnete, daß sich dort unten im Schlosse die Wiederanknüpfungspunkte mit Rosenberg viel leichter finden würden.
„Gut, so fahren wir um zwei Uhr. Ich habe bereits gestern dem Castellan die Weisung gesandt, die Zimmer in Bereitschaft setzen zu lassen. Wir nehmen nur die nothwendigste Dienerschaft mit, in die Dein Arnold natürlich eingeschlossen ist; also richte Dich für den Ausflug ein! Ich erwarte Dich zur festgesetzten Stunde.“
[185] Der junge Mann stand noch immer wie aus den Wolken gefallen, aber er sah, daß es dem Onkel Ernst war mit seinem Entschlusse und daß jede Frage und jedes Erstaunen darüber ihn peinlich berührte. Er verabschiedete sich also und ging, um seinen Arnold in Schrecken zu jagen mit der Nachricht, daß der Koffer schleunigst gepackt werden müsse.
Als Werdenfels allein war, öffnete er die Glasthür, welche nach dem Altan führte, und trat hinaus. Die Mauern des Thurms waren hier dicht an den Rand des Felsens gebaut, und der kleine Altan hing unmittelbar über der schwindelnden Tiefe. Der scharfe Bergwind wühlte in den lang niederhängenden Epheuranken, welche das Gitter umflochten, und umwehte die bleiche Stirn des Mannes, der dort stand und so unverwandt hinunterblickte in den Abgrund, der sich drohend und winkend zugleich zu seinen Füßen aufthat. Er kannte längst die Versuchung dieses Abgrundes, und er kannte auch das Brausen des Stromes da unten, es hatte ihn oft genug gelockt und ihm gewinkt mit dämonischer Gewalt. Aber seit jener Stunde auf der Bergwiese klang etwas Anderes in diesem Rauschen. Es hatte jene ernste zürnende Mahnung aufgefangen und trug sie immer und immer wieder empor zu dem einsamen Träumer, und sie mußte wohl gesiegt haben. Raimund richtete sich plötzlich auf, finster, aber entschlossen, und als antworte er der mahnenden Stimme da unten, sagte er halblaut:
„Die letzte Zuflucht der Schwäche! – Ich will kein Feigling sein in ihren Augen!“ –
Im Schlosse gab es eine förmliche Revolte, als bald darauf die Dienerschaft von dem Haushofmeister erfuhr, der Herr wolle nach Werdenfels. Die Sache war so unerhört, so unglaublich, daß sie anfangs in der That nicht geglaubt wurde, und dabei kam der Entschluß des Freiherrn so plötzlich und blitzähnlich; selbst der Haushofmeister hatte ihn erst heute Morgen erfahren, denn die Weisung an den Castellan war brieflich abgegangen. Indessen die Thatsache stand fest, und es wurden in aller Eile die nöthigen Anstalten getroffen. Ein Theil der Dienerschaft ging mit den Wagen und den Reitpferden voraus nach Werdenfels, der Haushofmeister mit dem Kammerdiener und Arnold wollte später nachfolgen. Das Ganze sah nicht aus wie ein Ausflug von wenigen Tagen, sondern wie eine wirkliche Uebersiedlung.
Es war in später Nachmittagsstunde, als der Wagen, in welchem sich Raimund und Paul von Werdenfels befanden, das [186] Thal erreichte. Der Wind, der den ganzen Tag über geweht hatte, war nun in der That zum Sturme geworden, er brach jetzt mit voller Heftigkeit los und scheuchte Alles, was sich noch im Freien befand, unter irgend ein schützendes Obdach. Auch der Kutscher trieb die Pferde zu schnellerem Laufe an, um sobald wie möglich das Schloß zu erreichen, und nahm den nächsten Weg, der durch das Dorf führte.
„Ich werde dem Kutscher zurufen, über den Schloßberg zu fahren,“ sagte Paul, der sich der Warnung des Freiherrn erinnerte, sich nicht im Dorfe zu zeigen, aber Raimund legte verbietend die Hand auf seinen Arm.
„Laß ihn! Ich habe ihm befohlen, durch das Dorf zu fahren.“
Der junge Mann wußte nicht, was er denken sollte, der Onkel war ihm heute ganz und gar unbegreiflich.
„So laß wenigstens das Verdeck schließen,“ bat er. „Der Sturm reißt uns ja fast Hut und Mantel fort, und Du vollends erträgst eine solche Witterung nicht im Freien.“
Raimund schien in der That unter der Witterung zu leiden, an die er so gar nicht gewöhnt war; denn er hüllte sich fröstelnd in seinen Pelzmantel, aber seine Stimme klang in voller Bestimmtheit, als er antwortete:
„Nein, das Verdeck bleibt offen! Wir sind ja bald im Schlosse.“
Er lehnte sich in den Sitz zurück, war aber in der offenen Halbchaise Jedermann sichtbar. Er sah aber weder rechts noch links, sondern gerade vor sich hin, und seine Lippen waren zusammen gepreßt, als sei diese Fahrt eine Tortur für ihn.
Der Wagen rollte in das Dorf, wie gejagt vom Sturme, der Schnee stäubte unter den Hufen der Rosse, und das Ganze flog wie eine Vision vorüber. An den Fenstern der Häuser erschien hier und da ein neugieriges Gesicht, das erschrocken zurückfuhr, und dann drängten sich drei, vier andere hervor, die dem Wagen nachstarrten, obwohl er längst verschwunden war. Dann öffneten sich die Thüren und man lief trotz des Sturmes zu dem Nachbar, um zu fragen und zu hören, ob es denn keine Täuschung gewesen sei, ob es denn wirklich der Herr von Schloß Werdenfels war, der da mitten durch das Dorf fuhr.
Bei den letzten Häusern überholte der Wagen einen alten Mann, der gleichfalls irgend einem Obdache zustrebte, aber nur langsam vorwärts kam, weil er lahm war. Paul erkannte sofort jenen Bauer wieder, den er damals auf dem Wege nach der Försterei getroffen hatte. Der Alte war im Begriffe, dem Gefährte auszuweichen, als er auf einmal mitten im Wege stehen blieb; seine Augen richteten sich auf den Freiherrn, starr und schreckensvoll, als sehe er ein Gespenst vor sich. Dabei stand er wie an den Boden gewachsen und wich und wankte nicht, obgleich die Pferde immer näher kamen. Der Kutscher mußte sie zur Seite reißen, um ein Unglück zu verhüten.
Raimund, durch diese Bewegung aufmerksam gemacht, blickte gleichfalls dorthin. Seine Augen und die des Bauern begegneten sich nur einen Moment lang, dann lag schon wieder eine Entfernung zwischen ihnen, aber die erste Begegnung in der Welt, die er so lange geflohen, mußte wohl eine unheilvolle für den Freiherrn gewesen sein, Paul sah es, wie er zusammenzuckte und mit einer krampfhaften Bewegung den Mantel zusammenzog. Er sprach kein Wort, aber er athmete erleichtert auf, als der Wagen jetzt das Dorf hinter sich ließ und in die Allee des Schloßberges einbog.
Im Pfarrhause hatte man nichts von der Ankunft des Gutsherrn bemerkt; denn das Studirzimmer Vilmut’s lag nach dem Garten hinaus. Es war ein großes niedriges Gemach, dessen Ausstattung die höchste Einfachheit zeigte. An den weiß getünchten Wänden standen Bücherschränke mit ziemlich reichem Inhalte, aber sie enthielten nur Bücher geistlicher Art, und den alten dunklen Möbeln sah man es an, daß sie schon lange Jahre ihren Dienst gethan hatten. Ueber dem alterthümlichen Schreibtische hing ein großes, kostbar in Elfenbein geschnitztes Crucifix, ein wirkliches Kunstwerk von hohem Werthe. Es war ein Geschenk des Präsidenten Hertenstein an den Verwandten seiner Frau, als dieser die Ehe eingesegnet hatte. Das war aber auch der einzige Schmuck der Wände wie des Zimmers überhaupt. Alles, was den Anschein von Annehmlichkeit oder auch nur Bequemlichkeit erwecken konnte, war streng vermieden. Die puritanische Strenge und Einfachheit des Bewohners spiegelte sich in dieser Umgebung wieder, das ganze Pfarrhaus war in dieser Art eingerichtet.
In dem Lehnstuhle am Fenster saß Anna von Hertenstein. Sie war in der Stadt gewesen und hatte, da sie auf der Rückfahrt Werdenfels passiren mußte, im Pfarrhause angehalten. Gegenwärtig aber war sie eine schweigende Zuhörerin bei dem Gespräche, das im Studirzimmer stattfand.
Vilmut saß an seinem Schreibtische und vor ihm standen zwei Bauern, denen er augenscheinlich eine Strafrede gehalten hatte; denn der Eine sah ganz zerknirscht aus, während der Andere noch etwas finster und trotzig zu Boden blickte, Beide aber schwiegen und hörten respectvoll zu.
„Und nun vertragt Euch!“ sagte Vilmut jetzt mit Nachdruck. „Ihr processirt Euch sonst noch um Hab und Gut, und Ruhe und Frieden geht dabei in Eurem Hause zu Grunde. Wenn Ihr kein Einsehen habt, so muß ich dazwischen treten, und ich sage es Euch jetzt ernstlich, vergleicht Euch mit einander.“
Die Bauern, welche in dieser Art abgekanzelt wurden, gehörten zu den wohlhabendsten des Dorfes und hätten Niemand, selbst dem Landrichter nicht erlaubt, sich in so dictatorischer Weise in ihre Angelegenheiten zu mischen, von ihrem Pfarrer aber nahmen sie das ganz ruhig hin, und der Eine erwiderte zögernd:
„Wenn Sie meinen, Hochwürden – aber es ist ein hartes Ding, Ja zu sagen, denn ich bin im Recht.“
„Das sagt Jeder,“ unterbrach ihn Vilmut. „Ihr seid Beide im Rechte und im Unrechte zugleich, also müßt Ihr Beide nachgeben. Nun, und Ihr, Rainer?“
Der Genannte kämpfte noch mit seinem Trotze.
„Ich will’s mir überlegen, Hochwürden,“ murrte er.
„Um schließlich Nein zu sagen! Ihr sollt Euch hier und auf der Stelle entscheiden. Der Gemeindevorsteher bietet Euch die Hand, soll die Sache an Eurer Hartnäckigkeit scheitern? Reicht Euch die Hände!“
Es lag keine Aufforderung, sondern ein ganz bestimmter Befehl in den letzten Worten, aber der Herr Pfarrer hatte seine Bauern trefflich in Zucht. Der Gemeindevorsteher streckte die Hand aus, und Rainer legte die seinige hinein. Der Händedruck, den sie wechselten, war nicht besonders freundschaftlich, aber er bewies doch, daß es ihnen mit der Versöhnung Ernst war.
„Das ist recht!“ sagte Vilmut. „Und nun meldet dem Justizrath Freising unverzüglich, daß Ihr den vorgeschlagenen Vergleich annehmt. Aber noch Eins, Rainer! Weshalb wollt Ihr den alten Eckfried nicht mehr im Tagelohn behalten? Seid Ihr unzufrieden mit ihm?“
In dem Gesichte des Bauers zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei der Frage, und er erwiderte achselzuckend:
„Der Alte schafft ja nichts mehr! Er kann nicht mehr fort mit der Arbeit, und ich brauche tüchtige Arme.“
„Der Eckfried ist aber lahm und ohne sein Verschulden in’s Elend gekommen,“ warf der Pfarrer ein. „Was soll aus ihm werden, wenn ihm das Brod genommen wird, das er sich sauer genug verdient?“
„Nun, dann muß ihn eben die Gemeinde verpflegen,“ meinte der Vorsteher. „Wir sind ja, Gott sei’s geklagt, nicht reich, aber verhungern lassen wir unsere Armen nicht.“
„Aber Ihr macht sie zu einer Last für die Gemeinde, wo etwas guter Wille noch helfen könnte. Ich kenne den Eckfried! Der erträgt es nicht, wie ein Bettler von Almosen zu leben, so lange er noch einen Arm rühren kann. Wenn Ihr ihn wirklich nicht mehr brauchen könnt, so soll er zu mir in das Pfarrhaus, und da muß sich irgend eine Arbeit für ihn finden.“
Rainer sah betroffen den Pfarrer an, und der Gemeindevorsteher rief eifrig:
„Nein, Hochwürden, das geht nimmermehr! Sie nehmen ja eine Last nach der anderen auf sich und thun schon genug an den Armen und Kranken im Dorf. Wir müßten uns ja schämen!“
„Ihr seht doch, Rainer schämt sich nicht,“ sagte Vilmut scharf. „Er hat auf seinem großen Hofe keinen Platz für den alten Mann, er überläßt mir die Sorge.“
„Nein, Hochwürden, das thu’ ich nicht!“ erklärte Rainer mit einem plötzlichen Entschluß. „Ich behalte den Eckfried, und ich werde sorgen, daß er es aushält mit der Arbeit.“
Vilmut reichte ihm die Hand, aber nicht mit dem Ausdruck [187] des Dankes, sondern in der Art, wie man einem Menschen verzeiht, der seine Pflicht verletzt und sich nun wieder darauf besonnen hat. Der Bauer schien das auch ganz in der Ordnung zu finden; denn er küßte demüthig die Hand des geistlichen Herrn und ging dann mit seinem Gefährten. Vorher grüßten sie Beide noch die Dame am Fenster, aber die Ehrfurcht dieses Grußes galt nicht der gnädigen Frau von Hertenstein, sondern der Verwandten des Herrn Pfarrers, die in dessen Hause erzogen und dadurch eine unbedingte Respectsperson für das ganze Dorf war und blieb.
„Man muß den Bauern ernstlich in das Gewissen reden, sonst trägt ihre Geldliebe über jede Menschlichkeitsrücksicht den Sieg davon,“ bemerkte Vilmut. „Sie unterbrachen uns vorhin in unserem Gespräch, Anna, und Du bist mir noch die Antwort auf meine Frage schuldig, warum Du heute in der Stadt nicht bei dem Justizrath gewesen bist. Er ist doch Dein Vertreter und kann Dir am besten die geschäftliche Auskunft geben, die Du von mir verlangst.“
Anna schien nicht sogleich die Antwort zu finden, sie schwieg einige Secunden, und Vilmut bemerke sofort ihr Zögern.
„Ist etwas vorgefallen?“ fragte er. „Und willst Du etwa ein Geheimniß daraus machen?“
„Nein, Gregor; denn Du würdest es doch erfahren,“ entgegnete die junge Frau ruhig. „Ich habe gestern eine ebenso unerwartete wie peinliche Auseinandersetzung mit Freising gehabt. Wir sind zwar ohne jede Bitterkeit geschieden, und ich hoffe, daß er mir die alte Freundschaft bewahren wird, aber ich kann ihn vorläufig nicht aufsuchen und muß abwarten, ob er aus freien Stücken sich mir wieder nähert.“
„Das heißt also, er hat Dir einen Antrag gemacht, und Du hast ihn zurückgewiesen?“
„Ja.“
„Ich habe mir längst so etwas gedacht,“ sagte Vilmut verächtlich. „Der alte Thor! Meint er etwa, Du würdest in Deiner gegenwärtigen Lage die ‚gute Versorgung‘ annehmen, oder bildet er sich im Ernste ein, Du hegtest irgend eine Zuneigung für ihn?“
„Ich weiß es nicht, jedenfalls täuschte er sich in beiden Voraussetzungen. Du begreifst aber doch, daß ich mich heute nicht an ihn wenden konnte.“
„Nein, ich werde an Deiner Statt schreiben und mir die nöthige Auskunft erbitten. Also Freising ist gestern in Rosenberg gewesen? Du hattest noch einen zweiten Besuch – Paul von Werdenfels.“
„Das weißt Du?“ fragte Anna überrascht.
„Durch Zufall! Doch gleichviel, Du hast Dich jedenfalls verleugnen lassen.“
„Nein, ich habe den jungen Baron gesprochen.“
Vilmut trat mit einer beinahe drohenden Bewegung dicht vor seine Cousine hin.
„Was soll das heißen? Du hast diesen Besuch empfangen? Hast Du vergessen, daß er aus Felseneck kommt?“
„Beruhige Dich!“ entgegnete die junge Frau kühl. „Es ist das erste Mal, daß er nach Rosenberg kam, und es wird auch das letzte Mal sein. Ich mußte ihn sprechen, um gewisse Illusionen zu zerstören, in denen er sich wiegte, aber die Sache war bereits weiter gediehen, als ich glaubte – er bot mir seine Hand.“
Vilmut lachte kurz und spöttisch auf.
„Also auch der! Es wird Dir schwer gemacht, Deine Wittwenschaft zu behaupten. Das Trauerjahr ist kaum zu Ende, und schon stürmen zwei Bewerber auf Dich ein, und Beide machst Du mit Deinem Nein unglücklich.“
„Ist das meine Schuld?“ fragte Anna vorwurfsvoll.
„Nein, aber Dein Schicksal! Und es ist kein beneidenswerthes Schicksal, wenn man dazu bestimmt ist, nur Bitterkeit in die Seele der Männer zu werfen.“
Die Worte klangen selbst in eigenthümlicher Bitterkeit, und der Blick, der dabei auf die junge Frau fiel, hatte etwas Feindseliges. Anna schwieg, sie beugte sich auch jetzt noch der Autorität des ehemaligen Lehrers, der so lange Vaterstelle bei ihr vertreten hatte und der es nicht lassen konnte, ihr immer wieder zu Gemüth zu führen, daß ihre Schönheit eine unheilvolle Gabe sei.
Der Sturm draußen war während des Gespräches immer heftiger geworden. Er fuhr sausend über das Pfarrhaus hin und fegte die Schneelasten vom Dache. Im Garten ächzten und brachen die dürren Zweige der Obstbäume, und die beiden Flügel des Hofthores, die man vergessen hatte zu schließen, fielen krachend zusammen.
„Das wird ja ein förmliches Unwetter!“ sagte Vilmut. „Du kannst jetzt unmöglich fahren; warte noch eine Stunde, vielleicht zieht der Sturm vorüber.“
„Ich fürchte, er wird anhalten,“ erwiderte Anna bedenklich. „Die Anzeichen deuten auf eine Sturmnacht.“
Die Dämmerung hatte inzwischen überhand genommen, und jetzt trat die Haushälterin des Pfarrers ein, eine alte, aber noch rüstige Frau, mit weißen Haaren und freundlichen Zügen. Sie trug eine brennende Lampe in der Hand, die sie auf den Tisch niedersetzte, aber ihr Gesicht verkündete, daß sie etwas ganz Außerordentliches zu melden habe.
„Hochwürden, es ist etwas Seltsames passirt!“ hob sie an. „Das ganze Dorf ist voll davon. Ich wollte es anfangs gar nicht glauben, aber er ist wirklich vorbeigefahren, es haben ihn so Viele gesehen.“
„Gesehen – wen?“ fragte Vilmut.
„Den Felsenecker, den Herrn von Werdenfels! Er saß im offenen Wagen und sein Neffe, der junge Baron, neben ihm. Sie fuhren nach dem Schlosse.“
Anna wandte sich mit einer jähen Bewegung um, ihr Gesicht verrieth eine athemlose Spannung. Der Pfarrer dagegen sah die Frau an, als glaube er, sie sei nicht recht bei Sinnen.
„Was fällt denn den Leuten ein? Sehen sie Gespenster am hellen Tage?“
„Es ist wirklich wahr, Hochwürden,“ betheuerte die Haushälterin. „Sehen Sie nur, droben im Schlosse sind die Herrschaftszimmer erleuchtet, zum ersten Male wieder seit dem Tode des alten Herrn, und heute Mittag sind ja auch die Diener mit den Pferden von Felseneck gekommen. Jetzt weiß man, was das Alles bedeutet – der Freiherr ist da.“
Es war gut, daß Anna tief im Schatten saß; denn bei den letzten Worten überfluthete eine glühende Röthe ihr Antlitz, und während sich ein tiefer Athemzug aus ihrer Brust emporrang, flüsterte sie kaum hörbar:
„Also doch!“
Vilmut achtete augenblicklich nicht auf sie, die Nachricht schien ihn gleichfalls auf’s Höchste zu überraschen, aber er zweifelte offenbar noch daran. Er trat rasch an das zweite Fenster, von wo der Schloßberg und die Hauptfront des Schlosses sichtbar waren. Trotz der Entfernung schimmerten die Lichter deutlich herüber, es waren die Fenster jener Zimmer, die Raimund von Werdenfels bei Lebzeiten seines Vaters bewohnt hatte.
Die Haushälterin war im Begriffe, sich sehr ausführlich über ihre und des ganzen Dorfes Verwunderung zu verbreiten, aber der Pfarrer schnitt ihr kurz das Wort ab:
„Es wird sich ja zeigen, ob die Sache sich bestätigt, jedenfalls erfahren wir es morgen. – Sagen Sie dem Kutscher der gnädigen Frau, er soll einstweilen noch nicht anspannen, der Sturm ist zu heftig.“
Die Frau entfernte sich, und im Zimmer herrschte einige Minuten lang noch Schweigen. Anna’s Augen hingen an jenen Lichtern, die vom Schloßberge herflimmerten. Vilmut ging einige Male im Zimmer auf und ab, ohne zu sprechen, endlich blieb er stehen und fragte:
„Hältst Du es für möglich, daß Werdenfels wirklich gekommen ist? Nach sechs Jahren, nachdem er vollständig mit der Welt und den Menschen gebrochen hat – was kann er hier noch suchen?“
„Vielleicht gerade die Menschen, die er so lange geflohen hat,“ sagte Anna leise.
„Nun, ähnlich sähe ihm das schon. Er war von jeher ein haltloser Träumer, der immer nur den Eingebungen seiner Laune folgte. Vielleicht ist er der Einsamkeit und Menschenfeindlichkeit müde geworden und will zur Abwechselung einmal wieder den Herren auf seinen Gütern spielen.“
„Gregor, sei nicht ungerecht!“ die Stimme der jungen Frau bebte, trotz ihres Versuches, sie zu beherrschen. „Du weißt, daß es keine Laune gewesen ist, die ihn in die Einsamkeit getrieben hat, sondern der allgemeine Haß, welchen Du entfesselt und genährt hast.“
„Oder vielmehr, es war Deine Vermählung mit Hertenstein, der er nicht Stand hielt. Das trieb ihn fort!“
[188] Ein Klopfen an der Thür unterbrach das Gespräch, und auf das „Herein!“ des Pfarrers trat der alte Eckfried ein. Seine grauen Haare waren zerwühlt vom Sturme, und er schien erschöpft und athemlos, sodaß er kaum den Gruß hervorbringen konnte.
„Ihr seid es, Eckfried?“ sagte Vilmut mit einem Blick auf den Alpenstock, den der Bauer in den Händen trug. „Kommt Ihr denn aus den Bergen?“
„Ja, Hochwürden, und ich nicht allein!“ antwortete der Alte, während es feindselig in seinem Auge aufblitzte. „Es ist noch Einer aus den Bergen gekommen. Wissen Sie es schon – der Werdenfels ist da!“
Vilmut’s Stirn zog sich finster zusammen.
„Also ist die Nachricht doch wahr? Ich zweifelte noch immer daran!“
„Er war’s!“ bestätigte Eckfried. „Ich kenne ihn, meinem Auge dürfen Sie trauen! Er fuhr an mir vorbei wie der leibhaftige Böse, mitten in dem Sturm und Unwetter, das er uns von der Geisterspitze mit herunterbringt. Geben Sie Acht, Hochwürden, der Sturm wird Unglück anrichten irgendwo in Werdenfels.“
„Setzt Euch!“ sagte Vilmut, auf einen Stuhl deutend. „Ihr seid ja ganz außer Athem, und dann sagt mir, was Euch zu mir führt.“
Der Alte ließ sich nieder; er rang in der That nach Athem und schien mit einem Anfall von Schwindel zu kämpfen. Anna trat rasch zu ihm.
„Was ist Euch, Eckfried? Erholt Euch! Kann ich Euch irgend etwas helfen?“
Er schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, gnädige Frau, es ist nur der weite Weg – und die Angst – ich komme vom Mattenhof!“
„Von Eurer Tochter? Aber Ihr könnt ja gar nicht so oft den beschwerlichen Weg machen, mit Eurem kranken Fuße!“
„Ich werd’ ihn nicht mehr oft machen,“ sagte Eckfried dumpf. „Vielleicht noch einmal zum Begräbniß – denn die Stasi ist jetzt im Sterben!“
„Das habe ich gefürchtet, seit ich mit meinem Vetter dort war,“ sagte Anna mitleidig. „Wir sahen es schon damals, daß die arme Frau nur noch Tage zu leben hatte. Aber unser Arzt versprach ja auf meine Bitte, ihr noch einen Besuch zu machen; hat er nicht Wort gehalten?“
„Doch, er war heute Morgen da, und er meinte – sie würde die Nacht nicht überleben.“
Die Stimme des Alten bebte in bitterem Schmerze, die junge Frau war im Begriff, einige tröstende Worte zu sprechen, als Vilmut sie unterbrach:
„Diese Nacht noch? Hat die Kranke die heiligen Sacramente empfangen?“
„Nein, Hochwürden, deswegen komme ich ja eben zu Ihnen,“ sagte Eckfried. „Der Herr Pfarrer von Hochdorf ist krank und kann nicht kommen, und die Stasi ist ja auch Ihr Beichtkind gewesen, bis zu ihrer Heirath. Sie verlangt nur nach Ihnen und hat mich von ihrem Sterbebette fortgeschickt, um Sie zu holen. Ich weiß ja auch, Sie wären gekommen, trotz des weiten Weges, aber da fing der Sturm an, und jetzt können Sie ja nicht hinaus!“
Wie zur Bestätigung dieser Worte schwoll das Brausen und Heulen draußen so furchtbar an, daß das Dach des Hauses erbebte. Vilmut erwiderte nichts, er trat wieder an das Fenster; es war jetzt vollständig dunkel geworden, aber wenn man auch nichts mehr sah, man hörte nur um so mehr das Toben in den Lüften. Gregor kannte die Stürme dieser Winternächte, die oft genug selbst im Thale verhängnißvoll wurden und oben in den Bergen Jedem Gefahr brachten, der sich hinauswagte, aber er schwieg nur einige Secunden lang, dann sprach er ruhig:
„Ich werde kommen, Eckfried!“
„Gregor, um Gotteswillen! Du willst nach dem Mattenhofe in diesem Sturme?“ rief Anna erschrocken. „Das ist unmöglich, Du wagst Dein Leben dabei! Warte bis morgen früh!“
„Dann ist es zu spät, Du hörst es ja! Wie ist der Weg, Eckfried? Werde ich bis zur Försterei mit dem Schlitten gelangen?“
„Ja, Hochwürden, bis dahin kommen Sie, aber von da müssen Sie zu Fuß weiter. Der Weg ist zu gehen, ich habe ihn ja erst gemacht, aber das war bei Tage. In der Nacht und in dem Sturme – die gnädige Frau hat Recht – Sie riskiren das Leben.“
„Und Dein Leben gehört nicht Dir allein,“ fiel Anna ein. „Denke an Dein Amt, an Deine Gemeinde, der Du so nothwendig bist! Keine Pflicht kann Dich zwingen, Dich selbst zu opfern für ein schon verlorenes Leben.“
Gregor richtete sich hoch und fest auf.
„Wenn man den Priester ruft, so wird er kommen! Das ist seine erste, höchste Pflicht, alles Andere muß davor zurückstehen! Ich bin in der Hand des Herrn, und die Sterbende soll nicht umsonst nach seinem Troste verlangen.“
Er öffnete die Thür und rief die Haushälterin herbei.
„Lassen Sie sofort den Schlitten anspannen und legen Sie das geistliche Gewand bereit. Der Ambros soll die Laterne und den Bergstock mitnehmen!“
Die Frau schlug entsetzt die Hände zusammen.
„Um aller Heiligen willen, Hochwürden, Sie wollen doch nicht bei diesem Unwetter in die Berge?“
„Zu einer Sterbenden!“ ergänzte Vilmut, in einem Tone, welcher jede Einwendung niederschlug. „Schnell! Es thut Eile noth!“
Er wandte sich dann zu der jungen Frau und bot ihr die Hand.
„Leb wohl, Anna – für alle Fälle!“
Anna sah zu ihm auf, mit einem Gemisch von Angst und unwillkürlicher Bewunderung.
„Mußt Du gehen, Gregor?“
„Ja, ich muß! Faßt Muth, Eckfried, ich komme zu Eurer Tochter!“
Eckfried war aufgestanden und hob die gefalteten Hände empor, während er gebrochen sagte:
„Hochwürden, das vergeß ich Ihnen mein Lebtag nicht! – Und unser ganzes Dorf wird es Ihnen nicht vergessen. – Der Herrgott im Himmel wird doch ein Einsehen haben und uns unsern Pfarrer nicht nehmen, denn einen zweiten wie Sie bekommen wir nicht wieder!“
Eine Viertelstunde später fuhr der Schlitten fort, und das kleine, aber kraftvolle Bergpferd, an rauhe Witterung gewöhnt, trabte muthig vorwärts. Bis zur Försterei war der Weg noch verhältnißmäßig erträglich, aber dort begann die eigentliche Gefahr. Von dort galt es, sich Schritt für Schritt durch den Sturm zu kämpfen, mitten durch den Wald mit seinen brechenden Aesten und über schneebedeckte Halden, wo es keinen Schutz gab gegen dies furchtbare Wehen.
Es war eine Nacht, wo selbst jedes Thier sich angstvoll verkroch in seine Höhle.
Aber der Priester war gerufen und der Priester kam! Das eigene Leben nicht achtend folgte er ohne Zögern dem Rufe der Pflicht. Dem kühnen und unerschrockenen Streiter im Sturme der Natur, wie in dem des Menschenherzens, fehlte nur eins zum echten Diener des Herrn – die Liebe und das Erbarmen!
[201] Ganz Werdenfels und die gesammte Nachbarschaft befand sich in Aufregung; denn die Thatsache, daß der Freiherr da war, stand nun unumstößlich fest. Durch die Dienerschaft, welche doch immerhin einigen Verkehr mit dem Dorfe aufrecht hielt, erfuhr man freilich, daß er auch hier seinen menschenfeindlichen Gewohnheiten treu blieb. Er verließ seine Gemächer nicht, ließ Niemand zu sich und sah selbst seinen jungen Verwandten täglich kaum auf eine halbe Stunde. Ihn selbst hatte noch Niemand wieder gesehen, [202] seit er damals mitten im Sturme durch das Dorf gefahren war, aber dieser Zufall gab dem Aberglauben, der sich an seine Person knüpfte, neue Nahrung.
Jenes Unwetter war schwer und verhängnißvoll gewesen, es hatte in der Umgebung des Dorfes viel Schaden angerichtet, und gerade in diesem Sturme war Werdenfels gekommen. Er hätte keine schlimmere Zeit zu seiner Ankunft wählen können; die Leute schworen darauf, er habe ihnen das Unheil gebracht.
Inzwischen war der Sonntag herangekommen, der nach trüben, stürmischen Tagen endlich wieder helleres Wetter brachte. Der Gottesdienst war soeben zu Ende und auf dem Platze vor der Kirche stand noch die ganze Gemeinde in einzelncn Gruppen beisammen. Bei dieser Gelegenheit wurden gewöhnlich die Ereignisse der Woche besprochen, und diesmal lagen zwei Dinge von höchster Wichtigkeit vor: die Ankunft des Freiherrn von Werdenfels und das Heldenstück des Herrn Pfarrers.
Das ganze Dorf wußte, daß Gregor Vilmut in jener Sturmnacht im Mattenhofe gewesen war, um der Tochter des alten Eckfried die Sterbesacramente zu reichen. Die Bauern kannten hinreichend den Weg, wo man in solchem Wetter bei jedem Schritt bergaufwärts sein Leben wagte. Von ihnen hätte es kein Einziger gewagt, aber eben deshalb rechneten sie ihrem Pfarrer seinen Muth um so höher an. Es war nur eine Stimme ehrfurchtsvoller Bewunderung, wenn man von ihm sprach.
Frau von Hertenstein war mit ihrer Schwester und Fräulein Hofer zu dem versprochenen Besuche im Pfarrhause eingetroffen. Sie hatten gleichfalls dem Gottesdienste beigewohnt, und Anna sprach soeben mit dem alten Eckfried, der an der Kirchthür stand. Er trug heute sein Sonntagsgewand, das freilich auch dürftig genug war, und hielt einen Knaben von etwa vier Jahren an der Hand. Es war ein hübsches Kind, mit einem frischen, rosigen Gesicht, blondem Kraushaar und klaren blauen Augen, und es sah ohne jede Schüchternheit zu der jungen Frau empor.
„Also Ihr habt den kleinen Toni mitgebracht,“ sagte diese. „Er gleicht sehr seiner verstorbenen Mutter, er hat ganz die Züge Eurer Tochter.“
„Seinem seligen Ohm gleicht er noch mehr,“ versetzte Eckfried mit einem langen, düsteren Blick in das Gesicht des Kindes. „Er ist meinem armen Toni wie aus den Augen geschnitten. Man sollte meinen, es wär’ sein eigener Sohn, und er heißt ja auch nach ihm.“
„Und Ihr wollt Euren Enkel wirklich bei Euch behalten?“ fragte Anna, indem sie sich mitleidig zu der kleinen Waise niederbeugte.
Der Alte nickte.
„Ja, gnädige Frau, er bleibt bei mir. Der Herr Pfarrer meint freilich, daß ich mir eine Last auflade mit dem Buben, aber ich kann’s nicht ändern.“
Er brach ab und zog eilig den Hut, denn soeben trat der Pfarrer, der inzwischen in der Sacristei die priesterlichen Gewänder abgelegt hatte, aus der Kirchthür, und jetzt sah man es deutlich, welche Stellung Gregor Vilmut in seiner Gemeinde einnahm. Man hätte den Landesherrn nicht ehrfurchtsvoller begrüßen können, Alles drängte heran, um noch einmal den Segen des hochwürdigen Herrn zu empfangen, und Jeder war glücklich, wenn er eines besonderen Grußes oder einer Anrede gewürdigt wurde.
Eckfried war unter diesen Glücklichen; der Pfarrer trat eigens heran, als er den Knaben gewahrte.
„Ihr bleibt also bei Eurem Entschluß?“ fragte er. „Ihr werdet Mühe haben, den Buben durchzubringen, Ihr habt ja kaum das Brod für Euch selbst.“
„Es geht nicht anders, Hochwürden!“ versetzte der Alte. „Sie wissen ja, wie es im Mattenhof steht; der Hof ist über und über verschuldet und soll jetzt verkauft werden. Mein Schwiegersohn – nun, Sie kennen ihn ja – viel Gutes ist nicht an ihm, und die Stasi hat eine schwere Zeit bei ihm durchgemacht. Jetzt will er nach Amerika, da ist ihm der Bube nur eine Last, und er ist froh, daß er ihn los wird. Er würde ihn schlecht halten, und wenn er drüben wieder freit, wär’s vollends aus. Da habe ich mir den Toni genommen. Wo ich mein Brod finde, kommt er auch noch durch, und er ist ja das Letzte, was ich noch habe, sonst ist mir ja nichts übrig geblieben.“
Er strich mit seiner schwieligen Hand leise über das Haar des Kindes; es lag eine eigenthümliche Zartheit in dieser Bewegung, und in seinen verwitterten, durchfurchten Zügen zuckte es seltsam.
Auch Vilmut sah auf den verwaisten Kleinen nieder, aber es lag weder Güte noch Freundlichkeit in diesem Blick, nur scharfes, prüfendes Forschen.
„Haltet den Buben streng, Eckfried,“ sagte er. „Bei dem Vater hat er nichts Gutes gesehen und die Mutter hat ihn verzärtelt, macht Euch nicht der gleichen Schwäche schuldig. Kinder muß man in strenger Zucht halten, wenn etwas aus ihnen werden soll. Laßt es nicht daran fehlen!“
Der kleine Toni mochte wohl fühlen, daß die Worte des geistlichen Herrn nicht viel Wohlwollen enthielten; denn er schmiegte sich ängstlich an den Großvater.
Vilmut sprach noch mit Diesem und Jenem und verließ dann mit Frau von Hertenstein den Kirchplatz, während die beiden anderen Damen folgten. Als man bei dem Pfarrhause angelangt war, ergriff Lily die Gelegenheit und erklärte, sie wolle noch vor Tische einen Spaziergang machen.
„Wozu das?“ fragte Vilmut tadelnd. „Du bist kein Kind mehr, und für ein junges Mädchen schickt sich dieses einsame Herumstreifen nicht. Geh’ in den Garten, da hast Du Luft und Bewegung genug.“
Lily erschrak; denn sie dachte an das Rendez-vous bei den Haselnüssen. Was sollte aus dem armen jungen Baron werden, der dort so sehnsüchtig auf die versprochene Nachricht harrte? Zum Glück legte sich Anna in das Mittel und bat für ihre Schwester. Gregor machte ein finsteres Gesicht, ließ sich aber doch schließlich erbitten, und Lily, froh der erhaltenen Erlaubniß, eilte davon.
„Ich werde Dich auch noch auf eine halbe Stunde verlassen müssen,“ sagte Vilmut zu der jungen Frau, als er mit ihr in das Haus trat. „Ich muß bei dem Bachmüller einen Krankenbesuch abstatten, werde aber jedenfalls zu Mittag zurück sein, und Du bist ja keine Fremde im Pfarrhause.“
Lily war inzwischen durch das Dorf gegangen, aber am Ende desselben bog sie schleunigst vom Wege ab und nahm die Richtung nach dem Schloßberg. Sie befand sich eigentlich in einiger Verlegenheit, denn ihre Mission, welche sie mit ebenso viel Begeisterung als Zuversicht übernommen hatte, war vollständig mißglückt.
Anna hatte ihre Bitten und Vorstellungen gar nicht angehört, ihr vielmehr sehr ernstlich jene unpassende Vertraulichkeit mit dem jungen Baron verwiesen. Die arme Kleine hatte es wieder einmal anhören müssen, daß sie in ihrem Alter noch gar nichts von solchen Dingen verstehe und sich wie ein unverständiges Kind benommen habe. Seitdem war es ihr nicht geglückt, daß Gespräch wieder auf diesen Gegenstand zu bringen, die Schwester zeigte sich völlig unzugänglich, sobald nur der Name Werdenfels genannt wurde.
Das durfte man nun freilich dem armen Paul nicht sagen. Er war im Stande, gleich auf der Stelle die Pistole zu laden, wenn ihm der letzte Trost genommen wurde. Lily sah ein, daß sie sehr vorsichtig zu Werke gehen müsse, wenn sie ein Menschenleben retten wollte, und das wollte sie unter allen Umständen. Sie machte sich deshalb auch gar keine Gewissensbisse über diese geheime Zusammenkunft, denn sie war sich bewußt, nur aus rein menschenfreundlichen und schwesterlichen Rücksichten darein gewilligt zu haben. Sie selbst kam ja dabei gar nicht in das Spiel.
Paul stand verabredetermaßen bei den Haselsträuchen, wo er bereits seit einer halben Stunde wartete. Er war im Jagdanzuge und trug die Flinte über der Schulter, denn er hatte es aus Rücksicht für das junge Mädchen doch nöthig gefunden, seinem Hiersein das Ansehen einer ganz zufälligen Jagdstreiferei zu geben. Zum Glücke war das Gehölz am Fuße des Schloßberges, wenn auch blätterlos, doch dicht genug, um die Beiden vor unberufenen Augen zu verbergen. Sie begrüßten sich und schüttelten sich freundschaftlich die Hände, wie das bei nahen Verbündeten Sitte ist.
„Ich bin so froh, daß Sie noch am Leben sind!“ sagte Lily aus Herzensgrunde.
„Ich wäre viel lieber todt!“ versicherte Paul melancholisch.
Lily sah ihn an, er war in der That noch recht blaß, aber er sah in dieser Blässe so hübsch und interessant aus, viel hübscher [203] als sonst in seiner übermüthigen Heiterkeit, und jetzt blitzte auch schon wieder ein Hoffnungsstrahl in seinem Auge, als er eindringlich fragte:
„Nun, mein Fräulein, haben Sie Ihr Versprechen gehalten? Bringen Sie mir irgend eine Hoffnung, irgend ein gütiges Wort von Ihrer Schwester?“
Das junge Mädchen schüttelte weise das Köpfchen:
„Aber, Herr von Werdenfels, das geht doch nicht so schnell! Anna hat einen sehr festen Charakter, sie ist nicht so leicht umzustimmen. Ich habe allerdings mit ihr gesprochen.“
„Haben Sie das wirklich gethan? O, Sie sind ein Engel an Güte!“ rief Paul enthusiastisch.
Lily war sehr angenehm berührt durch das Compliment. Das klang ganz anders, als wenn sie hören mußte: „Kind, das verstehst Du nicht!“ Sie hätte jetzt um keinen Preis ihre Niederlage eingestanden und war entschlossen, die Rolle des Schutzengels auf alle Fälle durchzuführen. Sie begann daher, dem jungen Manne aus einander zu setzen, daß er Geduld haben müsse, daß noch keineswegs alles verloren sei, und glaubte dabei sehr klug zu Werke zu gehen, aber Paul ließ sich nicht täuschen. Er that einige rasche Fragen, die Lily in der Ueberraschung ganz aufrichtig beantwortete, und diese Antworten verriethen ihm die Wahrheit. Sein eben noch so hoffnungsfreudiges Gesicht verdüsterte sich von Neuem.
„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu schonen, mein Fräulein,“ sagte er bitter. „Ich sehe deutlich, was Sie mir verbergen wollen. Frau von Hertenstein bleibt unerbittlich bei ihrem Nein, und ich – bin der Verzweiflung preisgegeben.“
Er faßte heftig den Kolben seiner Flinte, es war eine ganz unwillkürliche Bewegung, aber Lily schrie entsetzt auf und ergriff seinen Arm.
„Thun Sie das nicht, Herr von Werdenfels! Um Gotteswillen, thun Sie das nicht!“
„Was denn?“ fragte Paul betroffen. „Was soll ich nicht thun?“
„Sich erschießen!“ schluchzte das junge Mädchen. „Und das wollen Sie hier vor meinen Augen vollführen? O, es ist schrecklich!“
Paul entsann sich jetzt erst jener Aeußerung, die er damals in der ersten Aufwallung des Schmerzes gethan hatte. Er sah, daß sie für Ernst genommen wurde, und die Angst um sein Leben rührte ihn. Er versuchte daher, die Erschrockene zu beruhigen, aber vergebens, sie traute seinen Versicherungen nicht.
„Sie werden es im Schlosse thun, wenn ich Sie jetzt daran verhindere!“ sagte sie. „Geben Sie mir die Flinte.“
„Aber mein Fräulein!“ warf Paul ein.
„Geben Sie mir die Flinte!“ wiederholte Lily befehlend, und als er nun wirklich dem Befehl nachkam, faßte sie einen heroischen Entschluß. Sie ergriff mit beiden Händen das Mordgewehr, trug es vorsichtig einige Schritte weit, bis zu dem Graben, der sich am Fuße des Schloßberges hinzog, und warf es mit voller Gewalt hinein. Die dünne Eisdecke des Wassers zerbrach, und Lily sah mit großer Befriedigung, wie das Gewehr untersank. Jetzt war ihrer Meinung nach das ganze Unheil beseitigt, es fiel ihr gar nicht ein, daß der junge Baron noch andere Schußwaffen haben könnte, und im Gefühl dieser Sicherheit stellte sie sich vor ihn hin und begann ihm eine nachdrückliche Rede zu halten. Sie führte ihm die Gottlosigkeit seines Beginnens zu Gemüthe, sprach von der zeitlichen und ewigen Verdammniß eines Selbstmörders und drohte ihm schließlich mit den Höllenstrafen.
Paul stand vor ihr und hörte mit immer steigender Verwunderung zu. Er begriff gar nicht, wie das junge Mädchen zu all diesen salbungsvollen Worten kam, denn er konnte natürlich nicht wissen, daß es eine Predigt Gregor Vilmut’s war, die dieser kürzlich über ein ähnliches Thema gehalten hatte, und die Lily frei aus dem Gedächtniß hersagte. Da die Höllenstrafen aber keinen sonderlichen Eindruck auf ihn machten, so unterhielt er sich damit, die jugendliche Predigerin anzusehen und Vergleichungen zwischen ihr und ihrer Schwester anzustellen.
Das frische, rosige Gesichtchen sah in der dunklen Pelzumhüllung allerliebst aus, und bei jenem heftigen Wurfe war eine der langen Flechten über die Schulter gefallen. Es waren reiche Flechten, von schöner hellbrauner Farbe, aber wo blieb der wunderbare Glanz, der wie ein zarter Goldschimmer auf jenem anderen Haar ruhte! Und was waren diese hellen Kinderaugen gegen die großen strahlenden Sterne, welche sich unter jenen langen Wimpern entschleierten! Gerade diese Vergleichung zeigte dem jungen Manne, was er verlor, und sein Schmerz erwachte aufs Neue. Er seufzte tief auf, als die Predigt zu Ende war, und sagte:
„Sie kennen die Liebe nicht, mein Fräulein! Sie wissen nicht, was es heißt, am Rande der Verzweiflung zu stehen!“
Das wußte Lily nun allerdings nicht, aber sie konnte sich denken, daß es etwas sehr Trauriges sei, und ging deshalb schleunigst vom Predigen zum Trösten über. Paul zeigte sich nicht ganz unzugänglich dafür, er ließ sich trösten und die Beiden waren im eifrigsten Gespräch begriffen, als ein Herr in dunkem Mantel zwischen den Bäumen sichtbar wurde.
„Mein Onkel!“ sagte Paul überrascht, denn es war das erste Mal, daß der Freiherr hier das Schloß verließ. Lily erschrak, sie kämpfte zwischen Furcht und Neugier, den Vielgenannten, das „Ungethüm von Felseneck“, endlich einmal von Angesicht zu sehen; während sie schwankte, ob sie fortlaufen oder Stand halten solle, war Werdenfels bereits hervorgetreten. Auch er schien überrascht, seinen Neffen in Gesellschaft einer jungen Dame zu erblicken, aber man sah es, daß ihm die Begegnung mit einer Fremden unangenehm war.
„Du hier, Paul?“ sagte er mit kühlem Gruße.
„Ich traf ganz zufällig mit Fräulein Vilmut zusammen,“ versetzte Paul, dem daran lag, das junge Mädchen vor Mißdeutungen zu schützen. „Sie ist heute zum Besuch im Pfarrhause von Werdenfels.“
Raimund wurde aufmerksam, es gab nur eine Familie dieses Namens in der Umgegend, und er wußte, daß Anna eine jüngere Schwester hatte. Er richtete einen forschenden Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens und trat rasch auf sie zu.
Dieser Blick aber und diese Annäherung waren zu viel für den Aberglauben Lily’s. All jene schrecklichen Geschichten von dem Teufelswerk und dem Halsumdrehen, womit sich der Freiherr bekanntlich abgab, wurden wieder lebendig. Sie schien für ihren eigenen Hals zu fürchten, denn sie flüchtete eiligst hinter Paul’s Rücken und blickte mit einer solchen Herzensangst zu Werdenfels hinüber, daß der junge Mann in die peinlichste Verlegenheit gerieth.
Raimund blieb stehen, und ein Ausdruck tiefster Bitterkeit zuckte um seine Lippen bei dieser so deutlich kund gegebenen Furcht.
„Fürchten Sie nichts, mein Fräulein,“ sagte er kalt. „Sie brauchen nicht so angstvoll bei meinem Neffen Schutz zu suchen. Ich werde Sie sofort von meiner Nähe befreien!“ Damit wandte er sich um und schritt tiefer in das Gehölz hinein.
Als er eine Strecke entfernt war, kam auch Lily wieder hinter ihrem Beschützer zum Vorschein. Sie sah noch etwas zaghaft aus und fragte kleinlaut:
„Ich habe mich wohl sehr dumm benommen?“
Paul war im Grunde derselben Meinung, aber er sprach das natürlich nicht aus, sondern fragte nur:
„Aber weshalb fürchten Sie denn meinen Onkel so sehr? Sie taten schon einmal eine derartige Aeußerung, die ich mir nicht erklären konnte.“
„Ich habe ihn mir eigentlich weit schrecklicher gedacht,“ meinte Lily. „Er sieht ganz aus wie ein Mensch, bis auf die Blässe in seinem Gesicht.“
„Aber wie soll er denn aussehen?“ rief Paul beinahe ärgerlich. „Wofür halten Sie denn eigentlich den Freiherrn?“
Lily sah zu Boden; der junge Baron wußte offenbar nichts von all jenen unheimlichen Gerüchten, und sie konnte ihn doch unmöglich darüber aufklären. Sie brach deshalb ab und sprach ihre Absicht aus, zu gehen.
„Und Sie wollen wirklich gehen, ohne mir auch nur einen Hoffnungsschimmer zurückzulassen?“ fragte Paul, wieder ganz verzweiflungsvoll.
„Was kann ich denn thun?“ sagte das junge Mädchen betrübt. „Sie sind ja selbst der Meinung, daß meine Schwester bei ihrem Nein bleiben wird.“
„Ich brauche aber Trost in meinem Unglück,“ erklärte Paul mit großer Bestimmtheit, „und Ihre Tröstungen haben mir so unendlich wohl gethan. Wenn ich Sie für’s Erste nicht wiedersehen soll, darf ich Ihnen doch wenigstens schreiben?“
[204] „Ja, das dürfen Sie!“ versicherte Lily, die es grausam fand, dem Unglücklichen diesen Trost zu versagen. Sie reichte ihm die Hand und bemerkte mit großer Befriedigung, daß er sie diesmal auch an seine Lippen zog.
„Haben Sie Dank!“ sagte er herzlich, „und leben Sie wohl!“
„Leben Sie wohl!“ wiederholte Lily, der der Handkuß ebenso wohl gethan hatte, wie dem jungen Mann ihre Tröstungen, und darauf trennten sie sich.
Werdenfels war inzwischen weiter gegangen. Jener bittere Ausdruck lag noch in seinem Gesichte; er mochte wohl ahnen, wie man ihn dem jungen Mädchen geschildert hatte, daß es so in Angst gerieth bei seiner bloßen Annäherung. An einem Seitenpfade, dessen Windungen nach dem Schlosse zurückführten, blieb er finster stehen und schien zu überlegen, ob er umkehren solle, dann aber fuhr er mit der Hand über die Stirn und sagte halblaut:
„Das Einschließen nützt nichts! Habe ich es begonnen, so muß ich es auch durchführen, also weiter!“
Er ging in der That vorwärts und erreichte den Ausgang des Gehölzes, von wo ein Weg nach dem Dorfe führte, als ihm in der Windung dieses Weges ein Anderer entgegentrat, der vom Dorfe herkam. Raimund von Werdenfels und Gregor Vilmut standen plötzlich einander gegenüber.
Beide stutzten bei dieser unerwarteten Begegnung und hemmten ihren Schritt. Einige Secunden blickten sie sich schweigend an, dann sagte Vilmut in eisigem Tone: „Herr von Werdenfels – ich wußte bereits von Ihrer Ankunft.“
„Ich beabsichtigte auch nicht, ein Geheimniß daraus zu machen,“ entgegnete der Freiherr in dem gleichen Tone. „Ich war auf dem Wege zu Ihnen, Hochwürden.“
„Zu mir? Und das gerade heute?“
„Warum nicht heute? Ist Ihnen das nicht gelegen?“
Der Argwohn Vilmut’s begann zu schwinden, denn er sah, daß Werdenfels wirklich keine Ahnung hatte, wer sich im Pfarrhause befand, aber trotzdem galt es, ihn davon fern zu halten.
„So kommt diese Begegnung also Ihrem Wunsche entgegen,“ versetzte er. „Nun denn, wir sind auch hier allein und ich bin bereit, Sie zu hören.“
Er stand da, gewaffnet mit derselben starren Strenge, womit er im Beichtstuhl die reumüthigen Bekenntnisse seiner Pfarrkinder empfing, aber der Freiherr sah nicht aus wie ein Büßender. Er kreuzte ruhig die Arme und antwortete: „Ich wußte, daß Sie einer Aufforderung, im Schlosse zu erscheinen, nicht Folge leisten würden, deshalb blieb mir nichts übrig, als Sie aufzusuchen, aber ich glaube, Hochwürden, Sie täuschen sich über den Grund meines Kommens.“
„Schwerlich! Denn ich kenne nur eins, was Sie zu mir führen kann. Es hat freilich lange gedauert, ehe Sie diesen Weg zu mir fanden, volle sechs Jahre, aber es ist nie zu spät zur Umkehr. Sie wollen endlich den Schritt thun, den Sie damals verweigerten?“
Es lag kein Triumph in diesen Worten, aber der ganze Hochmuth des Priesters, der die Unterwerfung als selbstverständlich betrachtet. Raimund richtete sich plötzlich empor, mit jenem Ausdruck unnahbaren Stolzes, der ihm bisweilen eigen war, und seine Stimme klang voll und fest, als er sagte:
„Nein!“
„Nein?“ wiederholte Vilmut scharf. „Dann begreife ich in der That nicht, was Sie nach Werdenfels geführt hat.“
„Bedarf ich Ihrer Erlaubniß, um in meinem Schlosse zu wohnen?“ gab Raimund mit derselben Schärfe zurück.
„Sie sind der unbestrittene Herr Ihres Schlosses – das Dorf und die Gemeinde sind meine Domäne.“
„Die Sie ebenso absolut beherrschen, wie nur irgend ein Despot seine Unterthanen beherrscht. Ich habe das erfahren.“
„Ich übe nur die Zucht des Priesters,“ sagte Vilmut, jedes Wort betonend, „und dieser Zucht allein beugt sich die Gemeinde. Sie beugten sich nicht, Herr von Werdenfels, und doch kennen Sie die Bedingungen, unter denen ich Ihnen den Frieden bot und noch biete.“
„Und Sie wissen, daß ich mich diesen schmachvollen Bedingungen niemals fügen werde. Was auch geschehen mag, Sie werden es nicht erleben, einen Werdenfels im Staube vor sich zu sehen.“
„Der Hochmuth ist es, der in den Staub nieder muß!“ sagte Gregor unbewegt. „Das ist der erste Schritt zur Buße. Dieser Hochmuth ist ein Erbfehler Ihres Geschlechtes. So unähnlich Sie Ihrem Vater und Ihren Vorfahren auch sein mögen – in dem Punkte sind Sie ein echter Werdenfels!“
„Hochwürden, mißbrauchen Sie Ihr Priesteramt nicht zu Beleidigungen!“ fiel der Freiherr mit dumpfer, mühsam beherrschter Stimme ein. „Ich weiß, daß dieses Amt Sie unangreifbar macht, aber Sie könnten es dahin bringen, daß ich es vergesse.“
„So werde ich Sie daran erinnern,“ erklärte Gregor. „Beleidigungen empfängt man nur von seines Gleichen. Ich bin ein Diener des Herrn und fordere Ehrfurcht für die Worte, die ich in seinem Namen spreche.“
Raimund schien sich zu bezwingen.
„Wir wollen nicht um Worte rechten! Ich kam nicht, um mit Ihnen zu streiten, sondern um eine Frage an Sie zu richten, deren Beantwortung Sie mir schuldig sind. Es war Ihre eiserne Hand, die mir damals mein Glück entriß; ich möchte jetzt erfahren, ob diese Hand auch das Siegel auf meinen Verlust drückte. Jener letzte Brief, den ich an Anna Vilmut richtete, wurde ungelesen verbrannt?“
„Ja, aber wer sagte Ihnen das? Ich war allein mit meiner Cousine, als es geschah.“
„Also Sie waren zugegen? Das allein wollte ich wissen! Meine Braut hätte meine letzte Bitte gehört; es war Ihr Werk, daß jener Brief in die Flammen geworfen wurde, oder wollen Sie mir in das Angesicht hinein behaupten, daß Anna es freiwillig that?“
[217] Vilmut sah den Freiherrn an. Jetzt war es Triumph, der aus seinen sonst so kalten Augen blitzte und in seiner Stimme klang, als er antwortete:
„Nein, denn ich werde niemals die Wahrheit verleugnen. Anna hatte in meine Hand gelobt, keine Zeile mehr von Ihnen anzunehmen. Ich war bei ihr, als sie jenes Schreiben empfing, und mahnte sie an ihr Versprechen. Ich selbst nahm den Brief aus ihrer Hand und warf ihn in das Feuer.“
Ein tiefer Athemzug rang sich aus der Brust des Freiherrn, als sei eine Last von ihm genommen.
„Also gezwungen! Ich ahnte es, obgleich Anna es mir verschwieg.“
„Anna?“ wiederholte Gregor. „Was soll das heißen, Herr von Werdenfels? Haben Sie etwa seitdem Frau von Hertenstein gesehen und gesprochen?“
„Ja,“ sagte Raimund kalt.
„Und wann geschah das? Wo geschah es?“
„Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Fragen Sie Anna selbst; sie wird ihrem strengen Beichtiger die Auskunft wohl nicht verweigern.“
„Ich werde fragen,“ sagte Vilmut finster. „Und ich werde mir Antwort zu verschaffen wissen.“
„Daran zweifle ich nicht, aber haben Sie Dank für Ihre Auskunft. Sie ist mir sehr viel werth, leben Sie wohl.“
Er wollte gehen, doch Vilmut vertrat ihm den Weg.
„Noch eins, Herr von Werdenfels – gedenken Sie in Ihrem Schlosse zu bleiben?“
„Für das Erste – ja.“
„Und wie soll ich und das Dorf Ihr Wiedererscheinen deuten?“
„Wie Sie wollen!“ entgegnete Raimund stolz und verächtlich.
„Ist Ihnen das so gleichgültig? Sie sind hier nicht so unnahbar, wie in Ihrem Felseneck, das sollten Sie bedenken –“
„Sprechen Sie Ihre Drohungen doch offen aus,“ unterbrach ihn der Freiherr. „Sie wollen von Neuem den Kampf beginnen, den wir Beide schon einmal mit einander gekämpft haben. Ich war darauf gefaßt, als ich Felseneck verließ.“
„Und Sie denken diesmal Sieger zu bleiben?“
„Ich denke diesmal Stand zu halten, wie auch das Ende sein mag.“
Es war ein seltsamer Ausdruck in dem Blicke, mit dem der Priester den „haltlosen Träumer“ maß, der jetzt eine so ungewohnte Energie zeigte, ein halb verwunderter, halb zorniger Ausdruck.
„Jene Unterredung muß wohl sehr inhaltreich gewesen sein, da sie Ihnen einen Kampfesmuth gegeben hat, der sonst gar nicht in Ihrer Natur liegt,“ bemerkte er. „Bauen Sie nicht auf den Tod des Präsidenten Hertenstein, auch bei seiner Wittwe können Sie das Geschehene nicht auslöschen, und ich, der ich ihr Hüter gewesen bin von ihrer Kindheit an, stehe ihr auch jetzt zur Seite. Was Sie auch versuchen mögen, Sie werden mich auf dem Platze finden.“
„Es bedarf der Hut nicht,“ sagte Werdenfels bitter. „Sie haben dafür gesorgt, daß ich nichts unternehme. Aber diese Unterredung hat mir auf’s Neue gezeigt, daß wir Beide bleiben, was wir von jeher gewesen sind – Feinde auf Leben und Tod.“
Er grüßte kurz und stolz und schlug den Rückweg nach dem Schlosse ein. Vilmut stand einige Minuten finster, wie in Gedanken verloren, dann sagte er halblaut:
„Also sie hat ihn gesprochen! Und sie verschwieg mir das!“
Lily war pünktlich zur Mittagszeit zurückgekehrt. Sie hätte gar zu gern die interessante Begegnung mit dem Schloßherrn erzählt, so wenig heldenhaft sie sich auch dabei benommen hatte, aber bei dieser Gelegenheit wäre doch auch das Rendez-vous bei den Haselsträuchen zum Vorschein gekommen. Das junge Mädchen verstand nicht zu lügen und wäre nicht im Stande gewesen, jene Zusammenkunft für einen Zufall auszugeben, sie schwieg daher über das Ganze. Die Unterhaltung bei Tische zeichnete sich überhaupt nicht durch besondere Lebhaftigkeit aus; der Pfarrer war sichtlich verstimmt von seinem Krankenbesuche zurückgekehrt, er sprach kaum ein Wort, auch Anna verhielt sich meistens schweigsam, und so war es Fräulein Hofer, die fast allein das Gespräch führte.
Kaum war die Mahlzeit zu Ende, so erklärte Vilmut, daß er etwas Wichtiges mit seiner Cousine zu besprechen habe, und zog sich mit ihr in das Studirzimmer zurück.
„Da zieht wieder ein Ungewitter heran!“ sagte Lily. „Wenn Vetter Gregor so aussieht, empfinde ich immer ein dringendes Bedürfniß, davonzulaufen. Ich beneide Anna nicht um diese Unterredung unter vier Augen.“
„Es werden geschäftliche Unannehmlichkeiten sein,“ meinte Fräulein Hofer. „Es giebt ja noch so Manches zu ordnen in dem Nachlaß des Präsidenten, und der Herr Pfarrer hat ja größtentheils diese Angelegenheiten in Händen.“
[218] „Ja, er mischt sich in alles!“ rief Lily, die sehr naseweis sein konnte, sobald eine geschlossene Thür zwischen ihr und dem Vetter Gregor lag. „Seit Anna Wittwe geworden ist, bevormundet er sie bei jeder Gelegenheit, ganz wie in früheren Zeiten.“
Das Fräulein lächelte ein wenig.
„Ich glaube, Frau von Hertenstein läßt sich nur bis zu einem gewissen Punkte bevormunden. Es ist im Grunde nur natürlich, daß sie die Vertretung ihres Verwandten annimmt.“
„Der Justizrath ist ihr geschäftlicher Vertreter,“ beharrte das junge Mädchen, „wozu braucht sich da noch Vetter Gregor einzumischen? Der arme Onkel Justizrath mit seinen vier Körben! Er sah noch recht trübselig aus, als er gestern nach Rosenberg kam. Ich habe ihn nach Kräften getröstet.“
„Ja, Sie trieben wieder ein recht übermüthiges Spiel mit ihm,“ sagte Fräulein Hofer strafend. „Und es ist doch sehr anerkennenswerth, daß er wiederkam, um sich der gnädigen Frau in alter Freundschaft zur Verfügung zu stellen, trotz allem was geschehen war.“
„Trotz der Hochachtung Nummer vier!“ rief Lily mit übermüthigem Lachen. „Es muß eigentlich schrecklich sein, immer und ewig nur Hochachtung zu finden, wenn man eine Frau sucht. Sie haben aber gar kein Mitleid mit ihm, Fräulein Emma. Sie haben sich gestern wieder mit ihm gezankt.“
„Ja, das that ich,“ sagte Emma mit unverkennbarer Genugthuung, „oder vielmehr wir zankten uns Beide!“
Im Studirzimmer zog inzwischen der prophezeite Sturm heran. Auch Anna kannte das Gesicht Vilmut’s und sah, daß irgend etwas geschehen war. Kaum befand sie sich mit ihm allein, so fragte sie unruhig:
„Was ist vorgefallen, Gregor? Du bist auf das Tiefste verstimmt, ich sah es schon bei Deiner Rückkehr.“
Gregor schloß die Thür, dann trat er dicht vor die junge Frau hin und sagte plötzlich, ohne jede Einleitung:
„Ich habe eine Begegnung mit Werdenfels gehabt.“
In Anna’s Gesicht zeigte sich ein leichter Farbenwechsel, aber sie erwiderte mit anscheinender Ruhe:
„In der That? Ich hörte, er habe bisher sein Schloß noch nicht verlassen.“
„So that er es heute, und er war auf dem Wege zu mir.“
„Zu Dir?“
„Scheint Dir das unmöglich?“
„Wie ich den Freiherrn kenne, allerdings.“
„Und Du kennst ihn jedenfalls am besten! Du hast Recht, er kam nicht als Bereuender, aber ich erfuhr etwas ganz Seltsames bei dieser Gelegenheit. Du hast ihn kürzlich gesehen und gesprochen! Warum hast Du mir das verschwiegen?“
Die rücksichtslose Strenge dieser Frage rief das ganze Selbstgefühl der jungen Frau wach. Sie hob mit voller Entschiedenheit den Kopf.
„Weil ich kein Kind mehr bin, das von jedem Worte und jedem Schritte Rechenschaft abzulegen hat. Bedenke das, Gregor.“
Gregor schien wenig geneigt, seine herrische, rücksichtslose Art aufzugeben, aber er mochte wohl wissen, daß es hier eine Grenze für seine Macht gab, denn er milderte seinen Ton.
„Du verweigerst mir also die Auskunft?“
„Wenn Du sie wünschest – nein.“
„Nun also, wo und wie fand diese Begegnung statt?“
„Durch einen Zufall. Es war an jenem Tage, wo wir nach dem Mattenhofe fuhren. Du warst bei dem gestürzten Pferde zurückgeblieben und ich eilte nach der Försterei, um Dir Beistand zu senden. Auf dem Wege dorthin traf ich Rai– den Freiherrn von Werdenfels.“
„Und bei dieser Gelegenheit erfuhr er vermuthlich, daß Du Wittwe bist,“ sagte Vilmut hohnvoll. „Das erklärt allerdings sein plötzliches Wiederauftauchen.“
Die junge Frau schüttelte leise, aber entschieden den Kopf.
„Du irrst, ich bin es nicht, die er sucht. Aber wenn er es nur versuchen wollte, sich wieder den Menschen zu nähern, die ihn ausgestoßen haben! Gregor, Du bist allmächtig in Deiner Gemeinde und in der ganzen Umgegend, ein Wort von Dir giebt das Signal zum Kampfe oder zum Frieden. Wirst Du dem Zurückkehrenden wieder so unversöhnlich entgegentreten wie damals, wird sich auf Dein Geheiß wieder Alles gegen ihn wenden? Du bist ein Priester, Dein Amt schon fordert Versöhnung und Verzeihung, sei nicht unbarmherzig!“
Ihre Stimme bebte im leidenschaftlichen Flehen, aber gerade dies Flehen schien den starren Mann noch mehr in seiner Härte zu bestärken.
„Willst Du mich meine Priesterpflicht kennen lehren?“ fragte er kalt. „Ich fordere Unterwerfung des Schuldigen unter mein Urtheil, volle, ganze Unterwerfung, dann mag von Versöhnung die Rede sein, eher nicht!“
„Du hassest ihn!“ sagte Anna leise.
„Nein, ich richte ihn! Und wenn er diesen Richterspruch nicht anerkennen will – um so schlimmer für ihn.“
Die junge Frau mochte wohl einsehen, daß jeder Versuch der Milderung vergebens sein würde. Sie wandte sich ab und ließ sich auf den Stuhl nieder, der vor dem Schreibtische stand. Nach einem minutenlangen Schweigen trat Vilmut zu ihr und seine Haud legte sich schwer auf ihren Arm.
„Und Du, Anna?“ fragte er langsam. „Hast Du endlich diese unselige Neigung überwunden, oder muß ich Dir von Neuem die Vergangenheit in das Gedächtniß zurückrufen? Muß ich Dich an den Tag erinnern, wo –“
„Nein, nein, schweig davon!“ unterbrach sie ihn mit angstvoller Abwehr. „Du weißt es ja, was mich und Werdenfels trennte, das besteht noch in voller Kraft.“
„Ja, es besteht!“ bekräftigte Gregor. „Und wehe ihm, wenn er versuchen sollte, daran zu rühren! Ich werde Dich vor ihm zu schützen wissen.“
Um Anna’s Lippen zuckte ein halb bitteres, halb schmerzliches Lächeln.
„O gewiß! Das hast Du schon einmal gethan, und Du hattest ja auch Recht, aber ich hege seitdem doch ein Grauen vor Deinem Schutze.“
„Und doch hat er allein Dich damals gerettet. Dieser Werdenfels hätte gesiegt trotz Allem, was geschehen war, ohne mein Dazwischentreten. Du bist ja nur ein Weib und Du liebtest ihn.“
„Und Du, Gregor, bist ein harter Richter, wo es sich um die Liebe handelt, die Du nie gekannt und erfahren hast.“
Gregor kreuzte die Arme, und in seinem Antlitze erschien wieder jener Ausdruck stolzer, kalter Genugthuung, als er fragte:
„Weißt Du das so genau?“
„Ja. Du brachtest sicher kein Opfer, als Du Dein ganzes Leben und Sein dem Priestergelübde zu eigen gabst. In Deinem Herzen hat die Liebe keinen Raum.“
„Nein, sie hat ihn nicht gefunden, aber sie nahte auch mir einst als Versuchung, und bei dem geweihten Priester war diese Leidenschaft für ein Weib ein Verbrechen. Auch mir ist der Kampf nicht erspart geblieben, den Jeder im Leben einmal durchkämpft, aber ich habe ihn bestanden.“
„Du hast geliebt, Gregor?“ rief Anna, indem sie sich in höchster Ueberraschung erhob. „Das hätte ich nie für möglich gehalten, aber ich möchte die Frau kennen, die Dir eine Empfindung abzwang.“
Das Auge des Priesters ruhte eisig auf dem schönen Antlitze und den goldschimmernden Haaren, es war auch nicht die leiseste Regung in diesem Blicke.
„Du kennst sie!“ erwiderte er. „Glaubst Du denn, ich hätte Dich jemals hinaus gelassen aus dem sicheren Schutze meines Hauses, wenn die Trennung nicht nothwendig gewesen wäre?“
Die junge Frau erblaßte. „Die Trennung von mir? Das kann nicht Dein Ernst sein!“
„Weshalb nicht?“ fragte Vilmut mit derselben eisigen Gelassenheit. „Du warst in meiner Hut aufgewachsen und jahrelang glaubte ich Dir nur Lehrer und Beschützer zu sein, bis ich eines Tages entdeckte, daß ich am Abgrunde stand, und den Schwindel fühlte, der mich hinabzog. Ich bin Sieger geblieben, weil ich nicht unterliegen wollte, weil ich den Muth hatte, das Messer an die Wunde zu setzen, ohne der Schmerzen zu achten. Ich brachte Dich zu Fräulein von Hertenstein, deren Reise Dich monatelang entfernte, und das gab Deinem Schicksale eine neue Wendung. Ich weiß, Du hast es mir niemals verziehen, daß ich damals, als jene Katastrophe hereinbrach, Deine Verzweiflung, Deine halbe Betäubung benutzte, um Dich zu der Verbindung mit dem Präsidenten zu bestimmen. Ja, diese Heirath war mein Werk, aber mein eigenes Herz war es, das dabei zermalmt und [219] zertreten wurde. Und mit diesem Herzen drängte ich Dich zu jenem Entschlusse, mit diesem Herzen traute ich Dich einem Andern an und sprach den Segen über Eure Häupter.“
Anna erwiderte keine Silbe, aber sie blickte mit einem Gemisch von Scheu und Bewunderung auf den Mann, der ebenso eisern und unbarmherzig, wie er Andere richtete, auch die Empfindungen seines eigenen Herzens niederzwang. Wohl sprach der Triumph über den errungenen Sieg aus jedem seiner Worte, aber diese Worte klangen so unbewegt, als läge ein Menschenalter zwischen ihm und jenen Kämpfen.
„Jetzt ist die Schwäche längst überwunden und begraben,“ fuhr er fort, „sonst hättest Du überhaupt niemals davon erfahren, aber ich wollte Dir an meinem Beispiel zeigen, was der Wille und das Bewußtsein der Pflicht vermag. Was mir die Pflicht gebot, das gebietet Dir die Schuld jenes Mannes. Aergert Dich Dein Auge, so reiß’ es aus! sagt die Schrift. Ich folgte diesen Worten – thu’ Du desgleichen!“
„Gregor, Du bist furchtbar in Deiner starren Größe,“ sagte die junge Frau mit einem leisen Schauer. „Ich bewundere sie, aber ich kann mich nicht zu ihr erheben.“
„So lerne es!“ versetzte er mit Nachdruck. „Du gehörst nicht zu den Schwachen, auch Dein Wille ist eine Macht, lerne sie gebrauchen. Die Gefahr, die ich für immer beseitigt wähnte, tritt Dir zum zweiten Male nahe, seit Werdenfels wieder in Deiner Nähe ist. Du wirst jeden Annäherungsversuch unerbittlich zurückweisen, hörst Du, Anna? Ich fordere es von Dir im Namen der Vergangenheit, im Namen jener Flammen, die vor vierzehn Jahren unser Dorf in Asche legten!“
Anna zuckte zusammen, aber sie widerstand nicht der schonungslosen Mahnung, stumm senkte sie das Haupt, und ebenso wortlos legte sie ihre Hand in die ausgestreckte Rechte Gregor’s. Ihm war das genug; denn er wußte, dies Gelöbniß werde gehalten werden.
Monate waren vergangen, der Winter hatte seine unbestrittene Herrschaft angetreten, die diesmal ungewöhnlich hart war. Es war ein stürmischer, eisiger Winter, der Alles in Schnee begrub und das Gebirge und dessen nächste Umgebung oft wochenlang ganz unwegsam machte. Die ärmere Bevölkerung litt schwer in dieser harten Jahreszeit und gerade auf den Werdenfels’schen Gütern gab es viel Noth und Elend. Der verstorbene Freiherr hatte trotz seines Reichthums nie auch nur das Geringste für seine armen Gutsangehörigen gethan, und sein Sohn hatte sich nach einigen mißglückten Versuchen, ihnen nahe zu treten, in die Einsamkeit zurückgezogen, wo er überhaupt nicht mehr nach dem Wohl und Wehe der Menschen fragte.
Jetzt war Raimund von Werdenfels freilich zurückgekehrt und schien dauernden Aufenthalt in seinem Stammschlosse nehmen zu wollen. Er fuhr zwar noch öfter nach Felseneck und blieb tagelang allein dort, aber der eigentliche Haushalt befand sich in Werdenfels, und die Abgeschlossenheit wurde dort nicht so streng aufrecht erhalten, wie droben in dem einsamen Bergschlosse.
Paul hatte mit Erlaubniß, ja auf ausdrücklichen Wunsch seines Onkels Besuche bei den Gutsnachbarn gemacht, die sehr zahlreich erwidert wurden. Man kam schon aus Neugier, um den vielbesprochenen Schloßherrn zu sehen, den indessen Niemand zu Gesicht bekam. Werdenfels zog sich persönlich von jedem Verkehr mit der Gesellschaft zurück und ließ sich stets durch Paul vertreten. Die Landleute dagegen sahen ihn öfter, denn er fuhr regelmäßig durch das Dorf, wenn er Felseneck besuchte, und zeigte sich auch bisweilen zu Pferde in der Umgegend. Selbst seine Unzugänglichkeit den Beamten gegenüber hatte theilweise aufgehört, er empfing nicht selten persönlich ihre Berichte. Es war, als versuche er langsam und allmählich wieder die Fühlung mit den Menschen zu gewinnen, die er so ganz verloren hatte.
Die Zimmer, welche der Freiherr bewohnte, lagen in der Hauptfront des Schlosses und waren von den ehemaligen Gemächern seines Vaters durch einen Salon getrennt, der in früheren Zeiten als Empfangszimmer benutzt worden war. Es war ein ziemlich großes Gemach, reich, aber ohne jene düstere Pracht eingerichtet, die in Felseneck vorherrschte. Durch die hohen Fenster fiel das Licht voll herein und das lebensgroße Bild des verstorbenen Freiherrn, das die Hauptwand schmückte, zeigte sich in bester Beleuchtung.
In dem Armsessel am Kamin saß Raimund von Werdenfels und hörte den Bericht des ersten Verwalters an, den er hatte rufen lassen. Paul, der soeben eingetreten war, stand neben seinem Onkel und folgte aufmerksam dem Gespräche. Der Freiherr wandte sich eben zu ihm und sagte erklärend:
„Es handelt sich um die Dammbauten, die sehr kostspielig sind, aber doch endlich in Angriff genommen werden müssen. Das Schloß und die Gärten sind hinreichend geschützt, das Dorf aber ist einem etwaigen Hochwasser schutzlos preisgegeben, und der Strom hat uns in diesem Herbste wieder eine drohende Mahnung zugerufen. Ich habe der Gemeinde den Vorschlag gemacht, die sämmtlichen Kosten zu tragen und einstweilen Erddämme aufführen zu lassen, damit einer möglichen Gefahr im Frühjahr vorgebeugt wird. Mit dem Eintritt der milden Witterung soll dann sofort der eigentliche Bau beginnen.“
Die Worte hatten nichts von der gewöhnlichen Theilnahmlosigkeit des Freiherrn, und die Zeichnungen und Pläne, welche neben ihm auf dem Tische lagen, zeigten, daß er sich eingehend mit der Sache beschäftigte. Auch Paul hielt eine der Zeichnungen in der Hand, die er mit großem Interesse betrachtete, und die beiden Herren waren so eifrig dabei, daß sie gar nicht die augenscheinliche Verlegenheit des Verwalters bemerkten, der sich verschiedene Male räusperte, ohne ein Wort hervorzubringen, endlich sagte er:
„Die Sache ist aber noch nicht geordnet, gnädiger Herr, es haben sich da noch verschiedene Schwierigkeiten ergeben –“
„Schwierigkeiten?“ fragte Raimund aufblickend. „Ich dächte, die Sache wäre vollkommen klar und einfach. Ich übernehme die Kosten und stelle meinerseits nicht eine einzige Gegenbedingung. Sie haben das betreffende Schriftstück doch der Gemeinde übergeben?“
„Schon vor einigen Tagen, und der Gemeindevorstand war in dieser Angelegenheit auch heute bei mir, aber – man weigert sich, das Anerbieten anzunehmen.“
Paul fuhr mit einer Bewegung der Entrüstung auf.
Raimund blieb ruhig sitzen, aber er erbleichte.
„Weigert sich?“ wiederholte er. „Aus welchem Grunde?“
„Herr Pfarrer Vilmut wird eine Petition bei der Regierung einreichen, von der man sich Erfolg verspricht. Man rechnet auf die Beihülfe des Staates, und ihren eigenen Antheil an den Kosten will die Gemeinde selbst bestreiten.“
„Sind die Leute denn von Sinnen?“ rief Paul heftig. „Da klagen sie fortwährend über die Armuth ihres Dorfes, die ihnen keine Schutzmaßregeln gestattet, und solch ein Geschenk, solch eine Wohlthat, die ihnen unverdienter Weise zufällt, weisen sie zurück? Das ist ja reine Tollheit!“
„Nein,“ sagte Raimund kalt, „es ist nur ein Beweis, daß Vilmut’s Macht noch größer ist, als die Geldliebe der Bauern. – Also an die Regierung will man sich wenden! Wenn da wirklich etwas bewilligt wird, so kann das Jahre dauern, und jedes Frühjahr kann die Gefahr bringen. Haben Sie das den Leuten nicht vorgestellt?“
„Gewiß, gnädiger Herr, aber sie blieben dabei – sie wollten –“
„Nun? Sprechen Sie nur frei heraus, Feldberg.“
„Sie wollten kein Gnadengeschenk, sie würden allein thun, was Noth wäre, und damit gaben sie mir dieses Schriftstück zurück.“
Er zog ein Papier hervor, das er dem Freiherrn überreichte; dieser nahm es, ohne einen Blick darauf zu werfen, seine Hand bebte dabei in nervöser Erregung, aber seine Züge blieben unverändert.
„So mag die Sache denn ihren Lauf nehmen,“ sagte er. „Lege die Zeichnungen bei Seite, Paul, Du hörst es ja, daß sie nicht mehr gebraucht werden. Und nun weiter, Feldberg, wie steht es mit der Unterstützung, welche ich für die Familie des verstorbenen Schullehrers bestimmt habe? Ist sie ausgezahlt worden?“
In dem Gesicht des Verwalters zeigte sich derselbe Ausdruck peinlicher Verlegenheit wie vorhin.
„Noch nicht, gnädiger Herr,“ erwiderte er. „Ich wollte erst Ihre Willensmeinung hören, denn die Hülfe scheint bei der Familie nicht mehr nöthig zu sein.“
„Sie sagten mir aber doch selbst, daß die Wittwe mit den Kindern sich in der größten Noth befindet, und gar keine Hülfsmittel besitzt.“
„Das war auch bei dem Tode des Mannes der Fall, aber jetzt ist Herr Pfarrer Vilmut eingetreten und wird selbst die nöthigen Mittel herleihen, um –“
[220] „Meine Hülfe überflüssig zu machen!“ ergänzte Raimund. „Ich hätte es vorher sehen können! Und die Frau weigert sich natürlich, die Unterstützung von meiner Hand anzunehmen?“
Feldberg zuckte die Achseln und schwieg.
Der Freiherr brach mit einer krampfhaften Bewegung das Papier zusammen, das er noch in der Hand hielt.
„Gut, so senden Sie das Geld den Armen von Buchdorf; da das Gut Eigenthum meines Neffen ist, wird man ihnen die Annahme hoffentlich erlauben. Sollte es dennoch nicht der Fall sein, so melden Sie es mir.“
Er gab dem Verwalter einen Wink, sich zu entfernen, aber Feldberg blieb stehen und sagte zögernd:
„Ich habe noch etwas mitzutheilen, gnädiger Herr. Ich fürchte, es wird Ihnen unangenehm sein, aber erfahren müssen Sie es ja doch – die große Ceder im Parke ist heute Morgen gefallen.“
Raimund fuhr auf, und sein Auge richtete sich forschend und finster auf den Sprechenden.
„Wie konnte das geschehen? Der Wind war ja doch ganz unbedeutend heute Nacht, und die Ceder hat länger als fünfzig Jahre den heftigsten Stürmen Widerstand geleistet. Der Fall muß irgend eine Ursache haben.“
„Die hat er auch und eine schlechte dazu!“ sagte Feldberg. „Der Stamm ist während der Nacht heimlich durchsägt worden, und da fiel der Baum beim ersten Morgenwinde.“
Raimund hatte sich erhoben, sein Auge sprühte auf in wildem Schmerz oder Zorn, man sah es, dieser Nachricht hielt auch seine Gelassenheit nicht Stand, aber er sprach kein Wort.
Paul dagegen brach empört aus:
„Das ist ja ein Bubenstück ohne Gleichen! Die prachtvolle Ceder, die in der ganzen Umgegend berühmt war als die Krone der Werdenfels’schen Gärten, die ein Menschenalter hindurch gegrünt hat und auf das Sorgsamste gepflegt worden ist! Raimund, diese Niederträchtigkeit darfst Du nicht ungestraft hingehen lassen. Der Baum war Dein Liebling, ich weiß es!“
„Eben deshalb mußte er fallen!“ sagte Raimund tonlos. „Man wird erfahren haben, daß er mir lieb war. – Aber laß Feldberg ausreden.“
„Die That muß von Mehreren verübt worden sein,“ berichtete Feldberg. „Wir haben auch bereits eine Spur gefunden, die nach dem Dorfe weist. Wenn Sie befehlen, gnädiger Herr, so soll die Untersuchung sofort –“
„Nein,“ unterbrach ihn Werdenfels. „Ich will nichts entdecken, was mich zwingen würde, zu strafen. Lassen Sie die Untersuchung fallen.“
„Ich begreife Deine Langmuth nicht,“ rief Paul unmuthig.
Der Verwalter aber sah ungemein erleichtert aus. Der Befehl des Freiherrn schien ihm sehr willkommen zu sein; er verneigte sich und ging.