Die Gartenlaube (1899)/Heft 2

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (1. Fortsetzung) 37
Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Anton Cratz von Scharfensteins wundersame Abenteuer und der Hexenflug 48
Blütenesser. Von C. Richter 52
„Deutschtum im Thal von Gressoney.“ Von Woldemar Kaden. Mit Bildern von P. Scoppetta 54
Verhängnisvolle Sinnestäuschungen. Von M. Hagenau 58
Fräulein Johanne. Novelle von Paul Heyse (Schluß) 60
Blätter und Blüten: Bismarck-Ehrung der deutschen Studentenschaft. S. 66. – Mädchen aus dem Gutachthale. (Mit Abbildung.) S. 67. – Das Kerzenspie. (Zu dem Bilde S. 40 u. 41.) S. 67. – Ueberführung eines Fesselballons über einen Eisenbahnkörper. (Zu dem Bilde S. 45.) S. 67. – Dorfklatsch. (Zu dem Bilde S. 49.) S. 67. – Friedrich mit der gebissenen Wange hält die Feinde auf, während sein Töchterchen trinkt. (Zu dem Bilde S. 53.) S. 67. – Das Stephan-Denkmal in Schwerin. (Mit Abbildung.) S. 68. – Raubwürger und Wiesel. Von Dr. K. G. Lutz. (Zu dem Bilde S. 61.) S. 68. – Das neue Landtagsgebäude in Berlin. (Zu dem Bilde S. 65.) S. 68. – Zu den Sternen empor! (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 68.
Illustrationen: Gute Nacht! Von Konr. Egersdörfer. S. 37. – Das Kerzenspiel. Von A. Ricci. S. 40 und 41. – Die Ueberführung eines Fesselballons über einen Eisenbahnkörper. Von A. Wald. S. 45. – Dorfklatsch. Von E. Zimmermann. S. 49. – Friedrich mit der gebissenen Wange hält die Feinde auf, während sein Töchterchen trinkt. Von A. Zick. S. 53. – Abbildungen zu dem Artikel „Deutschtum im Thal von Gressoney“. Von P. Scoppetta. Pont Saint-Martin. S. 54. Ein „Stadel“. Wohnhaus in Gressoney in Trinité. S. 55. Müdchen von Gressoney im Brautschmuck. Gressoney in Trinité. S. 56. Auf der Weide. Die Johannisprozession. S. 57. – Raubwürger schützen ihre Jungen vor den Angriffen von Wieseln. Von Aug. Specht. S. 61. – Das neue Landtagsgebäude in Berlin. S. 65. – Mädchen aus dem Gutachthale. Von W. Hasemann. S. 67. – Das Stephan-Denkmal in Schwerin. S. 68.


Hierzu Kunstbeilage II: „Zu den Sternen empor!“. Von Gabriel Max.




Kleine Mitteilungen.


Professor Hermann Wilhelm Vogel †. Den zahlreichen Freunden der Photographie ist der Name H. W. Vogel wohl bekannt; denn seit Jahrzehnten galt er unumstritten als ein Meister in diesem Fache. Mit bewundernswertem Scharfsinn verstand er, in die Geheimnisse des Lichtes einzudringen, dessen chemische Wirkungen zu ermitteln und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung der Praxis dienstbar zu machen. – H. W. Vogel wurde am 26. März 1834 zu Dobrilugk in der Niederlausitz geboren. Er wandte sich dem Studium der Chemie und Physik zu und wirkte als Assistent bei den Professoren Dove, Rammelsberg und Rose in Berlin. Die Beschäftigung mit der Photographie und deren Nutzbarmachung für Zwecke der Wissenschaft führte ihn zu Studien über die Chemie des Lichtes, und er zeichnete sich bald auf diesem Gebiete derart aus, daß er im Jahre 1864 zum Lehrer der Photochemie an der Berliner Gewerbeakademie und später zum Professor der Photochemie und Spektralanalyse an der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ernannt wurde. Im Jahre 1868 begleitete er die norddeutsche Sonnenfinsternis-Expedition nach Aden und 1870 und 1875 englische Expeditionen nach Sizilien und den Nicobarischen Inseln. Auf fast allen großen Weltausstellungen war er als Preisrichter thätig. – Von weittragender praktischer Bedeutung waren seine Erfindungen der farbenempfindlichen Platten und eine Arbeiten zur Herstellung des Naturfarbendrucks oder des Dreifarbendrucks. Auch als Fachschriftsteller entwickelte er eine rege Thätigkeit; er war Herausgeber der von ihm gegründeten „Photographischen Mitteilungen“. Am 17. Dezember starb H. W. Vogel in der Villenkolonie Grunewald bei Berlin. Wissenschaft und Technik verlieren in ihm einen bahnbrechenden Förderer.

Volkstümliche Kunstausstellungen in Berlin. Vor einigen Jahren that sich in Berlin ein Kreis für das Volkswohl wirkender Männer zu einer Gesellschaft zusammen, die es sich zur Aufgabe stellte, den minder Bemittelten für ein Billiges gute, echte Kunst zugänglich zu machen. Von dem Gedanken ausgehend, daß besonders der Besuch der besseren Theater für das Volk mit unerschwinglichen Unkosten verbunden ist, sammelte man ein Aktienkapital, das zinslos hergegeben wurde, zur Gründung einer Volksbühne. Das altbekannte Wallnertheater wurde gepachtet und feierte als Schillertheater seine Neuerstehung. Durch ein eigenartiges Abonnementssystem gelang es, die Preise derartig zu ermäßigen, wie es bisher bei gleicher Güte des Gebotenen in Berlin auch nicht annähernd möglich war. Dann wurden Vortragsabende für lyrische und epische Dichtungen, sowie volkstümliche Konzerte veranstaltet, und neuerdings beschloß man, auch Malerei und Plastik dem gleichen guten Zwecke dienstbar zu machen. Man gründete Anfang dieses Winters im Bürgersaale des Rathauses die „volkstümlichen Kunstausstellungen“. Durch Entleihen guter Kunstwerke von den Künstlern selbst oder von den glücklichen Besitzern bringt man eine Ausstellung von Gemälden und Skulpturen zusammen, die ebenfalls für ein Billiges zugänglich ist. Von anderen Ausstellungen unterscheidet sie sich ganz wesentlich dadurch, daß die Besichtigung nicht planlos nach Wunsch und Laune jedes einzelnen Besuchers erfolgt, sondern daß eine gewisse lehrhafte Methode in Anwendung gebracht wird, die dem Verständnis des Publikums zu Hilfe und zu gute kommt. Ein ästhetisch gebildeter Herr hält zu einer bestimmten Zeit einen Vortrag über die Kunstwerke und ihre Schöpfer, ihre Art und ihre Bedeutung, und anknüpfend an diesen Vortrag erfolgt der Rundgang durch die Sammlung, wobei der Vortragende das, was er soeben im allgemeinen gesagt hat, im Anschluß an die einzelnen Bilder noch im besonderen ergänzt. Auch hier zeigt die dicht gedrängte Menge das Interesse, das die Veranstaltung erregt.

Gärtnerischer Schmuck der Bahnanlagen. Zu den Vorzügen unserer Eisenbahnstationen im Vergleich mit manchen anderen Ländern darf man mit Recht den gärtnerischen Schmuck rechnen, welcher sie fast allenthalben umgiebt. Wo nicht echte Reben wachsen, ist es mindestens das sattgrüne Gerank des wilden Weines, welches die Dienstgebäude umhüllt. Oft findet man an Bahnhöfen ganze Parkanlagen, bisweilen von ausgesuchter Schönheit; immer aber zeigt sich das Bestreben, den Stationen ein möglichst freundliches Aussehen zu verleihen. Man findet Stationen, aus denen die Verwaltungen im Verein mit den dort wohnenden Beamten und den Inhabern der Bahnhofswirtschaften wahre Schmuckstücke geschaffen haben. Auch die am Bahndamm hausenden Wärter wetteifern mitunter, ihre Häuschen nach Möglichkeit herauszuputzen. In manchen Gegenden giebt es wahre Künstler unter den Eisenbahnern, welche den am Bahndamm entlang – zum Schutze gegen Schneeverwehungen – gepflanzten Weißdornhecken eine künstlerisch schöne Form zu geben wissen. Da sieht man Lokomotiven, Reiter, Tiergestalten, ja förmliche Jagdscenen mit Wild, Jägern und Rüden, welche durch ihre naturgetreue Darstellung die Aufmerksamkeit der Reisenden herausfordern.

In England fängt man auch an, für die gärtnerische Ausschmückung der Bahnanlagen etwas zu thun. Die Great Western und die Midland-Eisenbahn geben denjenigen Stationen besondere Prämien, die sich durch die Anlage und Pflege schöner Gärten hervorthun. R. Brand.     

Lavaeruptionen auf Hawaii. Auch auf Hawaii, einer bekanntlich sehr vulkanischen Insel, ist das Hauptauswurfsprodukt der Vulkane Lava; aber diese unterscheidet sich wesentlich von der anderer Feuerberge, sie ist nämlich so dünnflüssig, daß sie vom Wind, wenn sie gleich einer Fontäne emporsteigt, gefaßt und zu feinen Fäden ausgezogen wird. Nach der hawaiischen Göttin des vulkanischen Feuers, Pele, werden diese Fäden von den Eingeborenen „Peles Haar“ genannt.

Neuere Forschungen haben über die vulkanischen Eruptionen auf dieser Insel, welche, was die Lavaergüsse anlangt, alles Bekannte in Schatten stellen, genaue Nachrichten gebracht. Danach war die furchtbarste Eruption die des Kilauea im Jahre 1840. Der Lavastrom, der sich dabei aus dem Berge unterhalb des Kraters ergoß, hatte eine Breite von 3 Meilen und eine Tiefe von 12 bis 200 Fuß. Er durchfloß eine Strecke von 30 Meilen in vier Tagen und stürzte schließlich aus einer Höhe von 50 Fuß, einem glühenden Niagara gleich, ins Meer, das, aufkochend, alles in Dampf einhüllte. Ununterbrochen floß der Lavastrom drei Wochen hindurch. Zwanzig Meilen die Küste entlang war das Wasser warm, und unzählige tote Fische wurden von den Wellen ans Land geworfen. Die Helligkeit, welche der glühende Lavastrom verbreitete, war so stark, daß man in einer Entfernung von vierzig Meilen von ihm Druckschrift lesen konnte und daß auf hundert Meilen von der Küste die Schiffe ihn wahrnahmen. – t.     

Ein Amateurzeichenapparat. Die Liebhaberkünste würden eine größere Verbreitung als jetzt haben, wenn die Kunst des Zeichnens in weiteren Volkskreisen mehr heimisch wäre. Wie viele nehmen nicht von einer ihnen sonst sympathischen Liebhaberbeschäftigung Abstand, weil sie nicht im stande sind, Vorlagen auf das Rohmaterial zu übertragen. Die gewöhnlichen Hilfsmittel, wie das Durchpausen oder die Anwendung des Storchschnabels, erweisen sich für den Kunstdilettanten nur zu oft unzulänglich. Sehr gute Dienste leistet in dieser Hinsicht aber das Dikatopter, ein Apparat, der durch zwei hochglanzpolierte Silberspiegelchen von Vorlagen, Landschaften und allen möglichen Gegenständen überaus scharfe Bilder auf die Zeichenfläche wirft. Mit seiner Hilfe vermag sogar der des Zeichnens sehr wenig Kundige gute Kopien der Vorlagen anzufertigen. Namentlich „Eppers großes Dikatopter“ ist so ausgestattet, daß es sich trefflich für Bedürfnisse der Kunstdilettanten eignet und sogar Musterzeichnern. Naturforschern und Künstlern sich wesentlich nützlich erweist. Eine genauere Beschreibung des Apparates würde zu viel Raum beanspruchen. Wer sich dafür interessiert, kann von der Firma G. J. Pabst in Nürnberg einen Prospekt beziehen. Wir möchten nur auf den Apparat aufmerksam machen. Er ermöglicht ein leichtes Kopieren von Vorlagen, Zeichnen von Gegenständen und Personen nach der Natur, Aufnahmen von Landschaften etc. Die Vorlagen können mit seiner Hilfe verkleinert oder vergrößert werden. Landschaftsmaler können auf der Zeichenfläche sofort mit Pinsel und Farbe arbeiten, da das Bild in natürlichster Farbenwirkung erscheint. Sehr leicht gelingt es, neue Muster zu gewinnen, indem man natürliche oder künstliche Blumen, Figuren, Embleme u. dergl. zu Gruppen zusammenstellt und diese dann mit Hilfe des „Dikatopters“ abzeichnet.

[36 e]


ZU DEN STERNEN EMPOR!
Nach dem Gemälde von Gabriel Max

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 2

[36 f] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [37]

Halbheft 2.   1899.


Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(1. Fortsetzung.)


3.

In der Sennhütte schien die weinfröhliche Stimmung in bedenkliche Wärme zu geraten. Man hörte zwei zornig streitende Stimmen – neben einem rauhen Baß den kräftigen Tenor des Praxmaler-Pepperl. Aber die beiden Gegner schienen ihre Fehde doch nicht sonderlich ernst zu nehmen, denn ihr Zankduett löste sich bald wieder in helles Gelächter auf. Die Gläser klapperten, und ein übermütiger Jauchzer tönte in die stille Nacht hinaus.

Förster Kluibenschädl, der in einem der Jägerhäuschen noch lesend bei einem trüb brennenden Petroleumlämpchen am Tische saß, blickte beim Hall dieses Jauchzers verloren auf, atmete schwer, that einen tiefen Zug aus der Pfeife – ohne zu merken, daß sie schon erloschen war – und las mit erregter Spannung weiter. Sein rundes volles Gesicht glühte in dunkler Röte, obwohl die Sommernacht nicht allzu schwül und der eiserne Sparherd, auf dem er sich zum Nachtmahl den gewohnten Schmarren bereitet hatte, schon längst erkaltet war. Aber Förster Kluibenschädl war ein Freund litterarischer Genüsse,


Gute Nacht!
Nach einer Originalzeichnung von Konr. Egersdörfer.

[38] hatte eine wahrhaft unglückselige Leidenschaft für „schöne Bücheln“, dazu eine leicht zu rührende Seele, und obwohl er in der Praxis des Lebens dem schönen Geschlechte nicht sonderlich freund war, bevorzugte er doch in der Kunst gerade jene „Bücheln“, die von Liebe handelten, von recht viel Liebe und von treuer Liebe! Und die aufregende Geschichte, die er just verschlang, heizte seinem in Spannung zitternden Herzen so erschrecklich ein, daß ihm diese innerliche, atembeklemmende Glut den Schweiß in schimmernden Perlen auf die Stirne trieb.

Die heißgespannte Erregung des Lesers war aber auch begründet. Man denke nur: in dem dreibändigen „frei nach dem Englischen bearbeiteten“ Roman „Das Geheimnis von Woodcastle“ hielt er soeben bei der hochwichtigen Scene, in welcher „Lord Fitzgerald“, der enterbte, von Unglück und Feinden verfolgte Held, die heimliche Botschaft seiner Geliebten empfängt und in mitternächtiger Stunde sich aufmacht zur heißersehnten und entscheidenden Unterredung mit „Lady Maud“, der holdseligen, von Haß und Eifersucht bewachten Herrin von Woodcastle. Die Nacht ist rabenschwarz, eine Eule wimmert um die zerfallenen Zinnen, unheimlich murmelt der Fluß, und geheimnisvoll flüstern die alten „Rüstern“ des Parkes. Wohl ahnt der Lord die Gefahr, die ihn umlauert; doch keine Macht der Welt kann ihn zurückhalten, in die Arme der Geliebten zu eilen, und so schreitet er furchtlos durch die finstere Nacht dahin, nur begleitet von seinem treuen Neufundländer, der gleich dem Schatten eines Löwen an seiner Seite wandelt. Rosige Träume von Glück und Liebe erfüllen die große, stolze Seele „unseres Helden“, und so ganz versunken ist er in die Gedanken an seine holde „Maud“, daß er die zischelnde Stimme überhört, die sich plötzlich im schwarzen Schatten der alten Mauer hören läßt: „Das ist er!“ Doch „Lion“, der treue zottige Freund, hat blitzschnell die Gefahr erkannt, die seinem Herrn droht; seine Haare sträuben sich, er stößt ein drohendes Knurren aus, aber im gleichen Augenblick –

„Mar’ und Josef!“ stotterte Kluibenschädl, dessen Augen sich in gruseliger Spannung erweiterten. „Jetzt g’schieht ihm was!“ Wütend schlug er die Faust auf den Tisch. „Aber gleich hab ich mir’s denkt … und grad heut’ muß er sein’ Revolver daheimlassen … so ein verliebts Kalbl, so ein unvorsichtigs!“ Schnaubend vor Erregung legte er sich mit beiden Ellbogen über den Tisch und beugte die glühende Nase auf das Heft nieder, denn es flimmerte ihm vor den Augen, daß er kaum zu lesen vermochte.

– Im gleichen Augenblick stürzen vier vermummte Gestalten aus der Mauernische hervor. Wohl springt der treue Hund dem ersten der Banditen heulend an die Kehle, doch ein wohlgezielter Dolchstoß streckt das mächtige Tier zu Boden.

„Ah, da hört sich aber doch alles auf!“ Dem Förster traten vor Erbarmen um das schöne Tier dicke Thränen in die Augen.

Dann starrte er eine Weile tiefergriffen vor sich nieder. Schluckend erhob er sich, wischte mit dem Aermel zuerst die Thränen aus den Augen, dann den Schweiß von der Stirne, und nun brach’s mit heiligem Zorn aus ihm heraus: „Die Raubersbuben, die gottverfluchten! Und so ein treu’s unschuldigs Tierl!“ Er packte mit grober Faust das Heft. „Den Schmarren lies ich nimmer weiter!“ Wütend schleuderte er das „Geheimnis von Woodcastle“ in die Tischschublade, dann erhob er sich vom Tisch und ging auf die zweischläfrige Bettstatt zu, um seine Ruhe zu suchen.

Und da war er nun auch so weit schon Herr seiner Sinne, um den fidelen Spektakel nicht mehr zu überhören, der von der Sennhütte heraufklang. Er sah nach der Uhr. „Halb Zwölfe schon! Das geht aber doch ein bißl über d’ Schnur! Ich merk’ schon, da muß ich Polizeistund’ machen!“ Er nahm seinen Hut und ging zur Almhütte hinunter, aus deren Thür ein matt beleuchteter Qualm hervordrang, als wäre in der Sennstube Feuer ausgebrochen.

Der große von einem flackernden Talglicht und dem halb schon erlöschenden Herdfeuer beleuchtete Stubenraum war so dick vom Qualm der Pfeifen erfüllt, daß Kluibenschädl, als er auf die Schwelle trat, die Gestalten der Sennerin und der vier Jäger, die um den mit Flaschen und Gläsern bestellten Tisch saßen, kaum zu unterscheiden vermochte.

Als ihn die fidele Kneipgesellschaft erkannte, wurde er mit lautem Halloh begrüßt. Die junge Sennerin, die vom Weine auch ihr Teil bekommen hatte, empfing den unerwarteten Gast mit einem trillernden Juhschrei im höchsten Diskant, und Pepperl, mit dem gefüllten Schoppenglas in der Hand, sprang auf, daß der dreibeinige Stuhl einen Purzelbaum machte. „Jeh, der Herr Förstner!“ jubelte er und schwang das Glas, wobei er sein Gesicht und die zerzausten „Kreuzerschneckerln“ mit einem ausgiebigen Spritzer taufte. „Was sagen S’, Herr Förstner! Heut’ geht’s lustig zu! Kreuzlustig und schnackerlfidel! Sie! Und ein Weinderl is das! Ein Weinderl! Uüüh! Da, trinken S’ nur glei! Der Herr Förstner soll leben! Hoooch!“

Burgi und die drei anderen Jäger fielen lachend ein, so daß der Förster, der mit beiden Armen zur Ruhe winkte, den fröhlichen Spektakel mit seiner Stimme kaum übertönen konnte.

„Stad, sag ich! Stad! Seids denn schon ganz verruckt! Hat denn noch keiner auf d’ Uhr g’schaut, was? Droben im Fürstenhaus sind lang schon d’ Lichter ausg’löscht, und ihr machts in der Nacht um halb Zwölfe noch eine Metten wie ein Träupl Rekruten! An unsern guten Herrn Fürsten denkt wohl gar keiner nimmer, was? Daß er sterbenskrank g’wesen is! Daß er Ruh’ braucht und ein bißl schlafen muß! Oes seids Lackeln übereinander! Meiner Seel’ … gegen enk wenn man gut is, da hat man den richtigen Dank davon!“ Bei diesem Schlußwort knöpfte er energisch seine Joppe zu und drehte der verblüfften Gesellschaft den Rücken.

In der Sennstube war es mäuschenstill geworden. Burgi schlich zur Kammerthür und fuhr sich verlegen mit der Schürze über das glühende Gesicht. Die drei Jäger saßen wie Klötze, und Pepperl stand so erschrocken, als hätte man ihm unversehens einen Kübel eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Und da man bei solchem Stimmungswechsel, wenn man sein Gewissen nicht völlig rein weiß, die erste Schuld immer gern auf einen anderen schiebt, fuhr er mit heiserem Geflüster einen der Jäger an: „No also, da hast es jetzt! Mit deiner Streiterei!“

„Ah, da schau her!“ brummte Birmoser, der Jäger von Leutasch, in seinem tiefsten Baß. „Du selber hast ja noch viel ärger g’schrien als wie ich!“

Pepperl kam aus der Fassung. „Natürlich, wenn ich dir dein’ Spektakel verbieten muß … das geht doch net, ohne daß ich auch ein paar Wörtln sag …“ Er stockte und schien zu fühlen, daß seine Ausrede auf krummen Füßen ging. Er fuhr sich mit dem Aermel über die heiße Stirn, warf in tiefer Zerknirschung einen Trauerblick auf die beiden noch ungeleerten Flaschen und stotterte: „Thuts mir die zwei Flaschen zustöpseln! Jetzt trink’ ich kein Tröpfl nimmer!“

Dieser ehrlichen Reue gegenüber hielt Kluibenschädls Aerger nicht länger stand. Obwohl im Ernste niemand den Versuch machte, Pepperls Aufforderung zu befolgen, sagte er begütigend: „No no no no! Gar so übers Knie muß man auch net gleich alles abbrechen! Bleibts halt meintwegen in aller Ruh noch ein halbs Stündl bei einander sitzen, bis der Wein schön langsam aus’trunken is … und damit’s g’schwinder geht, hilf ich halt ein bißl mit, in Gottsnamen!“ Er füllte sich ein Schoppenglas bis zum Rand und leerte es auf einen Zug. „Sooooo!“ Als er das Glas niederstellte, gewahrte er, daß nur vier Jäger am Tische saßen.

„Wo is denn der ander’,“ fragte er verwundert, „der Mazegger-Toni?“

„Fort is er,“ antwortete Beinößl, der Jäger von Ehrwald, „schon gleich am Nachmittag is er fort, wie der Herr Fürst ’kommen is!“

„Was? Heut’? Und fort? Daß der aber allweil was Extrigs haben muß! Und jetzt bei der Nacht? Daß er weiß Gott wo umeinander strawanzt, das möcht’ ich mir ausbitten! Da muß ich gleich ein bißl nachschauen.“ Kluibenschädl ging zur Thüre. Auf der Schwelle brummte er über die Schulter zurück: „Also! Fein Ruh halten! Gut’ Nacht! Und um Zwölfe is Polizeistund!“

„Ja ja! Gut’ Nacht, Herr Förstner,“ erwiderten die Jäger. Nur Pepperl schwieg. Er hatte seinen Stuhl wieder aufgerichtet, saß mit gespreizten Beinen und machte ein Gesicht, als ginge ihm ein trüber Wirbel im Kopf herum. Die Sennerin kam aus der Kammer geschlichen und brach, als sie die so trübselig verwandelte Gesellschaft sah, in fröhliches Kichern aus, das sie mit der Schürze zu ersticken suchte. „Ui jegerl! Der hat enk aber derwischt bei die lustigen Haar’! Und du?“ Sie puffte den Praxmaler-Pepperl in den Rücken. „Was is denn mit dir? Was hast denn?“

„G’nug hab’ ich, scheint mir!“ gestand Pepperl in ehrlicher Selbsterkenntnis.

[39] Das Mädchen lachte, so hell und vergnügt, daß ihr die Jäger beschwichtigend zuwinkten. Da drückte sie die Hand auf den Mund, huschte zur Hüttenthür, guckte in die schwarze Nacht hinaus und kicherte: „Er hört’s ja nimmer!“

Der Förster war in der Finsternis verschwunden. Nur seine stolpernden Schritte waren noch zu hören.

Aus dem kleinen Fenster des Hegerhäuschens, auf das er zutappte, schimmerte mattes Licht. „No also, er muß ja daheim sein!“ Kluibenschädl ging auf das offene Fenster zu, packte die Gitterstäbe und steckte den Kopf hinein.

Eine rußende Petroleumlampe brannte in dem winzigen Stübchen, das mit den zwei Kotzenbetten, dem Tisch und dem eisernen Kochherd so reichlich angeräumt war, daß knapp noch schmaler Platz verblieb, um aus- und einzugehen. Das eine Bett war leer, auf dem anderen lag Mazegger ausgestreckt, angekleidet, die Hände hinter dem Kopf verschlungen, mit offenen Augen, die zur Decke starrten. Sein bleiches Gesicht war von Unruhe durchzuckt.

„He! Du!“

Mazegger fuhr mit dem Kopf in die Höhe. Als er den Förster am Fenster sah, nickte er wortlos und erhob sich.

„Was is denn mit dir? Wo warst denn am Abend?“

„Dienst hab’ ich gemacht.“

„Dienst? So? Wo denn? Leicht draußen beim Sebensee?“

„Nein!“ Glühende Röte flog über das bleiche Gesicht des Jägers. Doch seine Stimme klang ruhig. „Auf der Gaiseltalp!“

„Gegen Leutasch ’naus?“ fragte der Förster, als schiene ihm diese Meldung nicht völlig glaubhaft. „Hörst du, die G’schicht kommt mir ein bißl brenzlig vor. Die gnädige Duhrlaucht giebt euch zur Einstandsfeier ein’ freien Abend, und derweil sich deine Kameraden amaßiren, schießt dir gahlings der Pflichteifer ein? Und das soll ich glauben?“

Mazegger hob die Schultern und trat zum Tisch, um die rußende Flamme der Petroleumlampe herunterzuschrauben.

Kluibenschädl musterte den Jäger mit etwas mißtrauischen Augen. Dann sagte er: „Meinetwegen, … soll’s wahr sein oder net! Aber wenn Dienst g’macht hast, so mußt ja müd’ sein. Drum leg’ dich nieder und blas’ d’ Lampen aus. ’s Petroli für nix und wieder nix verbrennen und unserer guten Duhrlaucht ’s Geld zum Sack ’naus räuchern … das leid’ ich net!“

Mazegger löschte die Lampe aus, stieß in der finsteren Stube die Schuhe von den Füßen und warf sich aufs Bett.

Der Förster schüttelte seufzend den Kopf; doch mehr gutmütiges Bedauern als Aerger sprach aus seiner Stimme: „Meiner Seel’, Toni, du bist aber doch … ein recht ein unguter Mensch bist, ja! Aber wart’ nur, ’s Leben wird dich noch zwiefeln, dich! Und morgen in der Fruh stehst auf um Drei und machst dein’ Dienst gegen Leutasch ’naus, ins Hämmermoos! Verstanden?“

Er schlug den Fensterladen zu und schüttelte wieder den Kopf, während er langsam davon ging. „So is er doch sonst net g’wesen! … Möcht’ nur wissen, was er denn eigentlich hat die ganze Zeit her?“ Ein paar Ländlertakte pfeifend, nickte er vor sich hin. „Schier mein’ ich, daß ich mir’s denken kann!“ Nun lachte er. „O du narrische Welt! Der Lapp, der dumme! Was der sich einbild’t!“

Da sah er vom Fürstenhaus das Licht einer kleinen Blendlaterne durch die Finsternis einherschwanken, gleich einem Stern, der auf unsichtbaren Stelzen ging. „He? Was is denn? Wer kommt denn da?“

Es war der Lakai des Fürsten.

„Was? Sie, Herr Kammerdiener? Ja was suchen S’ denn so spat in der Nacht?“

„Zwei Briefe hab’ ich zu bestellen. Sind die Leutascher Jäger noch hier?“

„Ja, drunten bei der Sennerin hocken s’. Geben S’ die Brief nur her, ich trag’ s’ gleich nunter.“

„Ich danke, Herr Förster, bemühen Sie sich nicht, ich trage die Briefe selbst hinunter.“

Der Förster lachte. „Wenn S’ meinen, Sie können’s besser … meinetwegen! Und Gut’ Nacht!“

„Gute Nacht!“

Vorsichtig leuchtete Martin auf die Erde nieder, um nicht über die Steine und Krautbüschel des Almfeldes zu stolpern. Vor der Thür der Sennhütte nahm er das kleine Lodenmäntelchen ab, das er um die Schultern trug. Vermutete er, in wärmere Luft zu kommen – oder wollte er durch Enthüllung seiner kleidsamen Dienstgala den Eindruck seiner Persönlichkeit verstärken?

Sein lautloser Schritt und das vornehm leise Hüsteln, das er beim Eintritt in die rauchige Stube hören ließ, störte die kleine Zechgesellschaft nicht in ihrer tuschelnden Heiterkeit.

Zum Gaudium der anderen Jäger hatte Pepperl, dem die weinselige Stimmung heiß aus Wangen und Augen leuchtete, die Sennerin an beiden Armen gefaßt und suchte sie zum Tisch zu ziehen. Unter Lachen und Kichern wehrte sich das Mädchen. „Au weh! Du Narr du! Was machst denn! So hör’ doch auf! Brichst mir ja d’ Arm’ auseinander!“ Um sich frei zu machen, zuckte und zerrte sie wie eine Forelle, die am Haken hängt. Dennoch schien sie dieses grobe Neckspiel nicht im geringsten übelzunehmen. Jeder Wehlaut, den sie ausstieß, wurde durch neues Kichern abgelöst, und triumphierend blitzten ihre Augen, als sie mit der Hüfte einen festen Widerhalt an der Tischecke fand. Schon war es ihr gelungen, den einen Arm zu befreien. Doch Pepperl haschte ihn wieder.

„Aber geh, so sei net so dumm und hock’ dich ein bißl her zu mir! Ich thu’ dir ja nix!“

„Ich mag net! Auslassen! Oder ...“

„Oder was?“ Lachend griff Pepperl noch derber zu. „Mach weiter, komm her!“ Er zog, daß der schwere Tisch, gegen den das Mädchen sich stemmte, ins Rutschen kam. Ein paar leere Flaschen rollten zu Boden, die Gläser stießen klirrend aneinander, und das gab einen Lärm, daß Beinößl unter Zischen und Winken mahnte: „Der Förstner kommt!“ Um die Neckerei zu beenden, wollte er der Sennerin zu Hilfe eilen – aber das war überflüssig.

Pepperl, von einem blendenden Lichtstrahl ins Gesicht getroffen, hatte jählings die Arme des Mädchens fahren lassen. Burgi taumelte zurück und wäre über die hölzerne Bank gestürzt, wenn sie nicht knapp mit einer Hand noch die Tischkante hätte erhaschen können. Doch das lustige Lachen, mit dem sie sich aufrichtete, erstickte zu einem leisen Schrei, als sie plötzlich die schwarze Gestalt mit der Blendlaterne gewahrte. „Alle guten Geister …“ stotterte sie. Da erkannte sie den Gast, kicherte halblaut vor sich hin und trat verlegen ein paar Schritte zurück. Den Kopf gegen die Schulter geneigt, die Hände auf dem Rücken, musterte sie den Lakai vom glattfrisierten Kopf bis zu den blinkenden Schnallenschuhen.

Schweigend saßen die drei Jäger hinter dem Tisch und kauten an den Spitzen der erkalteten Pfeifen. Pepperl hatte die Fäuste in den Joppentaschen vergraben, saß zurückgelehnt auf seinem Sessel, die Beine lang ausgestreckt, und machte mit weit offenen Augen ein ganz merkwürdiges Gesicht. Er wußte wohl, daß droben im Fürstenhaus ein Kammerdiener eingezogen war, aber hier in der Hütte standen ihm nun zwei Kammerdiener vor Augen, und die beiden hatten die sonderbare Eigenschaft, daß sie sich im Kreis um ihn herum bewegten. Dabei lächelten sie so verdächtig – ein Lächeln, das dem Praxmaler-Pepperl, je länger er es ansah, das Blut immer heißer in die Stirne trieb. Schwül atmend griff er nach seinem Kopf und wühlte in den Kreuzerschneckerln. Da sah er plötzlich nur einen Kammerdiener.

Der aber lächelte noch immer so … und in prüfender Beschaulichkeit hob er die Blendlaterne hoch, um das Gesicht der Sennerin besser zu beleuchten. Wie hübsch dieses Mädel war! So mitten in dem strahlenden Lichtkreis, mit dem kirschroten Mund, mit den Schmunzelgrübchen in den runden heißbrennenden Wangen, mit den dunklen Feueraugen und dem wirrgezausten Braunhaar über der glühenden Stirn! Martin ließ den Schein der Blendlaterne über die Sennerin niedergleiten – und lächelte.

Burgi verstand dieses Lächeln nicht, sonst wäre sie wohl noch verlegener geworden. Aber das Schweigen währte ihr zu lange. Deshalb lachte sie und sagte: „Der Herr Kammerdiener vom Fürsten droben? Gelt? Wissen S’, ich hab’ Ihnen halt aufs erste G’schau net ’kennt … weil S’ gar so schwarz vor mir dag’standen sind! No also, grüß Gott halt in meiner Hütten!“ Freundlich reichte sie ihm die Hand und lachte wieder. „Ich hab völlig schon g’meint, der Leibhaftige steht vor mir in der schwarzen Stiefelwichs!“ Kichernd drückte sie das Kinn auf die Brust.

Martin lächelte gezwungen. „Na, hören Sie, mein schönes Kind, das ist gerade kein Kompliment. Und ich habe schon gedacht,

[40]

Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.

Das Kerzenspiel.
Nach dem Gemälde von A. Ricci.

[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] daß ich Ihnen als rettender Engel erschienen wäre, um Sie aus den groben Fäusten dieses ungalanten Flegels zu befreien.“

„Oho!“ Pepperls Stimme klang heiser und sein Gesicht war anzusehen, als hätte man ihm Zinnober auf die Stirn gestrichen.

„Sie wünschen?“ fragte Martin und hob die Laterne. „Ist das einer von unseren Jägern?“ wandte er sich ruhig an die Sennerin und musterte wieder mit kühlem Blick die Gesellschaft. „So viel Manier könntet ihr wohl haben, um zu wissen, daß man aufsteht, wenn jemand von der Herrschaft eintritt!“

Die drei Jäger hinter dem Tisch sahen sich mit großen Augen an und erhoben sich schwerfällig.

Pepperl blieb sitzen, legte breit den Arm über den Tisch und sah mit funkelndem Blick zu Martin auf. „Da muß schon ein anderer kommen, bis ich aufsteh! Wegen Ihnen reiß’ ich mir noch lang kein’ Haxen aus!“

„Aber Pepperl, geh, was hast denn?“ stotterte Burgi erschrocken. Und Beinößl griff über den Tisch hinüber und schüttelte den Erregten mit derber Faust an der Schulter. „Geh, Peppi, was machst denn? Bist denn verruckt?“

„Na! Ich net! Aber in Ruh lassen soll er mich! Der!“ Die Mahnung zum Frieden schien Pepperls Zorn nur noch geschürt zu haben. „Wenn er auch noch so pikfein dreinschaut wie ein aus’zogener Tintenspritzer, deswegen is er doch net mehr als wie ein Stiefelputzer, der sein’ Bürsten daheim lassen hat!“

Martin legte vornehm den blonden Kopf zurück und sah mit kaltem Blick über den Jäger weg.

Dieser Blick rührte in Pepperl den wallenden Zorn zum Sieden auf. „Sie! Ich sag’s Ihnen … bleankeln S’ net so mit Ihrem ausg’waschenen G’schau! Und wenn S’ auch ’s Madl schon halb mit die Augen g’fressen haben … ich bin net so leicht zum Schlucken! Verstanden? Mit solchene Augen können S’ enkere Frauenzimmer in der Stadt drin anschauen … aber kein Madl bei uns daheraußen!“

Ohne auf Pepperl zu hören, war Martin zum Tisch getreten. „Geht einer von den Jägern noch heute nach Leutasch?“

„Jawoll!“ erwiderten Birmoser und Ruef.

Dem letzteren, der von beiden der minder bekneipte zu sein schien, reichte Martin ein großes Couvert, das er aus der Brusttasche zog. „Uebergeben Sie dieses Couvert, das zwei Briefe enthält, morgen früh in Leutasch dem Postboten. Die Briefe sollen erst auf der Post in Seefeld aus dem Couvert genommen werden. Das ist strenger Befehl Seiner Durchlaucht. Haben Sie verstanden?“

„Jawoll!“

Mit wohlwollendem Lächeln wandte sich Martin zur Sennerin, welche wortlos dastand. „Gute Nacht, mein schönes Kind!“ Sacht und freundlich klopfte er sie auf die Wange, dann hob er die Laterne, um seinen Weg zu beleuchten, und verließ die Hütte.

Mit keinem Blick sah Burgi dem Abziehenden nach. Sie war bleich und hielt die zornblitzenden Augen auf Pepperl gerichtet. Die drei Jäger hinter dem Tisch begannen zu lachen und wollten mit ein paar derben Späßen über den unbehaglichen Ernst des Augenblicks hinwegturnen. Aber da trat die Sennerin mit raschen Schritten vor Pepperl hin.

„Du! Jetzt will ich dir was sagen!“ Ihre Stimme zitterte. „Wir zwei sind gute Freund’ g’wesen in aller Lustigkeit … net mehr und net weniger. Aber von heut an hat’s ein End’ damit! Solchene Sachen leid’ ich net in meiner Hütten … da kannst dir ein anders Platzl suchen!“

„So? So?“ kollerte Pepperl. „Ist dir am End gar schon Angst um ihn, weil ich ihm seine schmalzigen Haar’ ein bißl auf’kampelt hab?“ Höhnend deutete er mit beiden Armen nach der Thüre. „So geh doch, geh … main scheenes Gindd … und thu ihn schön führen am Armerl, daß er net stolpert!“

Glühende Röte flog über Burgis Wangen und ihre Hände ballten sich im Zorn. „Jetzt sei aber stad, gelt … du rauschiger Unfirm, du. Und kümmer’ dich lieber, daß du ein Helfer findst, der dich heut’ noch auf dein’ Strohsack lupft! Ja, schau mich nur an! Was für ein Recht hast denn eigentlich du, daß dich kümmerst um mich? Wie mich einer anschaut … geht denn das dich was an? Jetzt grad’ mit Fleiß, jetzt soll er mich anschaun wie er mag! Dich frag’ ich noch lang net drum … net heut’ und net morgen! Und überhaupt … heut’ hab’ ich g’nug … von enk alle miteinander!“ Wütend packte sie den hölzernen Wassereimer und goß seinen Inhalt über das müd flackernde Herdfeuer aus, so daß unter dem plätschernden Guß auch das letzte Flämmlein jählings erlosch.

„Aber Madl, so geh,“ fiel Beinößl beschwichtigend ein, „der ander’ giebt ja schon Ruh … jetzt sei doch net du die Narrische.“

Ohne zu hören, warf Burgi den Eimer zu Boden, ging zum Tisch und blies das in einer leeren Flasche steckende Talglicht aus. „So! Jetzt hab ich Polizeistund’ g’macht!“ grollte sie in der Finsternis, welche plötzlich die Hütte erfüllte. „Gut’ Nacht miteinander!“

Die Jäger lachten, nur Pepperl nicht; und als er in der Dunkelheit die Kammerthüre gehen und drinnen den schweren Eisenriegel klirren hörte, sprang er auf. „He! Burgi! Du! Geh her, ich muß dir was sagen noch!“ Als keine Antwort kam, begann er mit beiden Fäusten an die Kammerthür zu trommeln.

Während Birmoser bedächtig am Tisch umhertappte, um die letzte noch ungeleerte Flasche für sich zu retten, legten sich Ruef und Beinößl bei der Kammerthür ins Mittel und lotsten den Praxmaler-Pepperl unter gütlichem Zureden zur Sennstube hinaus in die stille, sternenschöne Sommernacht.

Pepperl wehrte sich mit Armen und Füßen. „Laßts mich aus! Ich sag’s enk im guten! Ich muß ihr was sagen! Laßts aus!“

Aber die beiden hielten fest und zogen an, daß Pepperl auf den vorgestemmten Füßen eine Rutschpartie übers Almfeld machte.

„Na! Und na! Und ich geh’ noch net heim! Ich muß ihr was sagen!“

„Jetzt halt dein’ Schnabel einmal, du Niegl, du eifersüchtiger!“ schnauzte ihn Beinößl an.

„Was? Eifersüchtig? Was? Daß ich net lach’!“ Und richtig, Pepperl lachte mit seiner heiseren Stimme laut in die Nacht hinaus. „Was geht denn mich die Burgi an! Im ganzen Leben hab’ ich nix g’habt mit ihr! Auf Ehr und Seligkeit! Und ich will auch nix haben mit ihr! Na! Net um d’ Welt! Ich mag net! Na! Oes seids mir die richtigen Freund’! Das muß ich sagen! Saubere Freund’! Und bringen ei’m solchene Sachen auf! Was? Helfts am End auch schon dem andern? Ja?“

„Geh, du Narr! Aber paß nur auf … der wird dich g’hörig verklampern beim Fürsten!“

„Verklampern? So? Meintwegen! Soll er mich halt verklampern! Jetzt is mir schon alles eins! Und meine Freunderln, meine guten … gelt, ja? … die machen ihm leicht noch ein’ Zeugen? Ja! Laßts aus! Mit enk will ich nix mehr z’schaffen haben! Na!“

Mit energischem Ruck befreite er seine Arme, rückte trotzig seinen Hut übers Ohr, wie einer, der weiß: jetzt hat mich alles verlassen, jetzt bin ich auf mich allein gestellt! – Und während ihm die Jäger lachend nachsahen, stolperte er einsam durch die Finsternis der nahen Hütte zu, die er mit dem Förster bewohnte.

Aber in seinen Ohren war ein böses Wort zurückgeblieben: „Verklampern! … Paß auf, der wird dich g’hörig verklampern beim Fürsten!“

Tief aus bedrückter Seele seufzend, erreichte er die Thüre des Försterhäuschens – und ohne zu prüfen, ob sie offen oder geschlossen wäre, suchte er eine Viertelstunde lang in allen Taschen nach dem Schlüssel. Als er ihn nicht fand – weil der Schlüssel im Schlosse steckte – ließ er sich in dumpfer Erschöpfung auf die Schwelle nieder und nahm seinen sumsenden Kopf in beide Hände.

Undeutlich und verworren tauchten die Ereignisse, die sich in der Sennhütte abgespielt hatten, vor seinem erwachten Gewissen auf. „Teufi, Teufi, Teufi! Was hab’ ich denn jetzt da für Sachen g’macht! Jetzt glaub’ ich schon selber, daß ich ein bißl z’viel derwischt hab!“ Schwer atmend erhob er sich, tappte unter den Bäumen bis zum Röhrenbrunnen und steckte den heißen Kopf in den Wasserstrahl. Unter Schnauben und Prusten stand er über den Rand des Troges gebückt; das eiskalte Wasser, das ihm die Ohren und das Gesicht umpritschelte und durch den Joppenkragen über den Rücken rann, machte ihn schauern und zittern; doch geduldig hielt er den kalten Guß so lange aus, bis es in seinen vom Wein umdusterten fünf Sinnen wieder hell zu werden begann. Dann zog er die Joppe herunter und rüppelte mit ihrem Futter den Kopf, bis die Haare leidlich trocken waren.

Seufzend kehrte er zur Hütte zurück. Und da war es ihm fast leid, daß er diese radikale Wasserkur unternommen hatte. Denn im Weindusel hätte er wohl bald den Schlaf gefunden und wäre die verwünschten Gedanken losgeworden – aber jetzt, da er zur klaren Erkenntnis der „Dalkerei“ gekommen war, die [43] er drunten in der Sennhütte angestiftet hatte, jetzt wußte er, daß es für diese Nacht vorbei war mit Schlaf und Ruhe.

Ob’s nicht am besten wäre, gleich alles dem Förster ehrlich zu beichten? Trotz dieser Einsicht zog Pepperl vor der Thüre die Schuhe herunter, um nur ja durch kein Geräusch den Förster aus seinem Schlaf zu wecken. Doch als er in das finstere Stübchen trat, hörte er dumpfes Stöhnen und abgerissene Worte, wie sie ein Kranker im Fieber redet. Erschrocken machte er Licht und leuchtete mit der Kerze über das Bett.

Kluibenschädl, welcher, halb entkleidet, mit der Lederhose auf der Matratze lag, hatte die wollene Kotze über die Kniee hinuntergestrampelt und arbeitete mit den Fäusten in der Luft herum. Sein Gesicht war dunkelrot, und röchelnd sprach er im Schlaf: „Raubersbuben! … Abfahren! … Laßts mir mein’ treuen Hund in Ruh’! … Abfahren, sag’ ich … oder es kracht. …“

Pepperl griff zu und rüttelte den von seiner Romanlektüre phantasierenden Förster, bis dieser sich nach der anderen Seite umkehrte, worauf er in ruhigen Schlaf verfiel. Der Jäger aber blies das Licht aus, legte die Joppe über einen Stuhl, streifte die Hosenträger von den Schultern nieder und kroch unter die Decke. Aber ihn floh der Schlummer; unruhig wälzte er sich auf dem Lager und kaute an einem Seegrasstengel, den er aus der Matratze gezogen hatte.

„Teufi, Teufi, Teufi! Morgen in der Fruh, bis ich heimkomm’ von der Birsch, da hat er mich schon verklampert!“ – Und der Fürst? Was der wohl sagen würde? – „Nobel, Pepperl, nobel! Fein hast dich aufg’führt!“ Er dachte sich diese Worte nicht, nein, er hörte sie, hörte so klar die ruhig ernste Stimme seines Herrn und sah so deutlich seine vorwurfsvollen Augen auf sich gerichtet, daß ihm vor Zerknirschung und heißer Reue der Schweiß aus den Schläfen brach. „Teufi, Teufi, Teufi! Was thu’ ich denn nur?“

Da fiel ihm der herrliche Vierzehnender ein, der in den Latschenfeldern über dem Sebensee seinen Standort hatte. Wenn es das Glück wollte, daß er den Fürsten auf diesen Staatshirsch zu Schuß bringen könnte – gleich bei der ersten Birsche! Solche Weidmannsfreude würde den Groll seines Herren gewiß besänftigen oder ihn doch in eine Stimmung bringen, in der sich Pepperl alle Reue über seine „rauschige Flegelei“ vom Herzen schwatzen und sich halbwegs verteidigen konnte.

Aber wie verteidigen? Daß ihm der Blick, mit dem der Kammerdiener die Sennerin gemustert hatte, wie Feuer ins Blut gefahren war – das konnte er doch dem Fürsten unmöglich sagen. Was hat sich denn ein Jäger um die Augen zu kümmern, die der fürstliche Herr Kammerdiener macht? Und dann – was ging den Praxmaler-Pepperl die Burgi an? Daß er von der was wollte … Gott behüt’! Das wär’ ja doch die reine Narretei! Wenn ein Jäger, der selber nicht viel mehr als seine Büchse hat, an so was denkt, muß er doch ein bißchen rechnen und schauen, daß er sich ein Bröserl einheiratet. Aber die Burgi! Ui jegerl! Wenn sich die nicht im Winter ein Paar Strümpfe strickte, konnte sie im Sommer barfuß laufen! Das Mädel eine blutarme Sennerin, der die Mutter längst schon gestorben, und der Vater ein alter Notnickel, der sich mit Tagelohn frettete und für fünfzig Kreuzer Monatszins in einem Stüberl hauste, in dem die Mäuse am Strohsack nagen mußten, weil’s was anderes nicht zu knuspern gab! Und was seine Mutter wohl sagen würde, wenn er eines Tages mit der Nachricht käme: „Du, Mutterl, ich denk’ mir, ich nimm die Burgi!“ Die alte Frau würde vor Schreck und Jammer die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: „Ja Bub, ja Pepperl, ja bist denn narrisch, bist denn ganz verruckt? Hast selber nix zum Beißen … vierhundert Gulden liegen vom Vater her noch Schulden auf unserem Häusl … und da bringst mir so ein Weibsbild, das bloß ein’ einzigen Rock für Kirch’ und Arbeit hat!“

Gott bewahre! Für solch einen Narrenstreich war der Praxmaler-Pepperl viel zu gescheit! An die Burgi zu denken, das wär’ ihm auch im Traum nie eingefallen! Und überhaupt, wenn er an die Burgi hätte denken wollen – sie war ja doch auf der Tillfußer Alm schon Sennerin im zweiten Sommer – da hätte er doch nicht warten müssen bis heut’! Bis ihm der fürstliche Herr Kammerdiener die Nase auf das Butterlaibl stieß! Daß die Burgi ein mudelsauberes Mädel war, das brauchte sich Pepperl von keinem anderen sagen zu lassen, am allerwenigsten von so einem! Er hatte doch selber Augen im Kopf! Aber zum Heiraten gehört eben noch mehr als ein rotes Göscherl!

Wo also käme da die Eifersucht her? Zum Lachen! Eifersucht! Die Burgi und er, sie beide waren halt junge, lustige Leut’, und da sitzt man halt gern beisammen und kudert und lacht! Mehr will man nicht voneinander! Gott bewahre … auf Ehr’ und Seligkeit! Und das Lachen ist ja noch lang’ keine Sünd’! „’s Leben is eh’ nur lauter Plag … wenn man das bißl Lachen net hätt’, wär’ gar nix dran.“ Und aufs Lachen verstand sich die Burgi! Mit ihren Grübchen und ihren Blitzäugerln! „Wenn einer aufs Heiratsgut nicht anstehen müßt’ und könnt’ die Burgi nehmen wie sie geht und steht … Teufi, Teufi, Teufi! Der krieget ein lustig’s Leben! Der wär’ zum Neiden, ja!“

Er atmete schwer, und unter der wollenen Decke begann ihm immer schwüler zu werden. So viel wie in dieser nächtlichen Stunde hatte er schon lange nicht gedacht, und die ungewohnte Kopfarbeit machte ihm heiß.

Aber nach all dieser Gedankenmühe war er doch wenigstens zu der beruhigenden Ueberzeugung gekommen, daß er „von der Burgi nichts wollte,“ und daß es „helllichte Narretei“ war, wenn ihn seine Kameraden der Eifersucht ziehen. Was ihn in diese „rauschige Wut“ gegen den fürstlichen Herrn Kammerdiener versetzt hatte, das hatte mit der Burgi nichts zu schaffen – das war etwas ganz, ganz anderes! Der Praxmaler-Pepperl war eben mit einem „g’schamigen G’müt“ behaftet, und da hatte jener Blick des Lakaien auf ihn gewirkt, als hätte man ihm eine Handvoll Schmutz ins Gesicht geworfen! Das wäre auch so gewesen, wenn es sich um ein Nannerl oder um eine Stasi gehandelt hätte! Wenn Menschen so in der Einsamkeit auf einem Flecklein Erde nebeneinander hausen, da müssen sie füreinander einstehen in Not und Gefahr, jedes ist verantwortlich für das Wohl und Wehe des anderen! Nun hatte der Praxmaler-Pepperl allerdings eine recht armselige Kenntnis von den Tiefen und Untiefen eines weiblichen Herzens, aber es war ihm doch die billige Redensart geläufig: „Junge Madln, o du mein Gott, die sind ja so viel dumm!“ Und da sitzt nun solch ein junges, lebensfrohes, bildsauberes dummes Ding in der einsamen, unbewachten Sennhütte, ist an nichts anderes gewöhnt als an den gefahrlosen Verkehr mit „so unfirmigen Lümmeln“, wie der Praxmaler-Pepperl einer war – und da kommt nun so ganz ein anderer, so ein Pikfeiner aus der Stadt, mit silbernen Schnallen auf den Schuhen, mit seidenen Strümpfen und mit süßen Redensarten wie „Main scheenes Gindd!“ – Ja du lieber Herrgott, da ist ja ein Unglück geschehen, ehe man sich umschaut!

Und da sollte Pepperl nicht das Recht und die Pflicht haben, das zu verhindern? Das war er schon dem armen alten Vater schuldig! Wohl hatte der alte Brentlinger eine bedenkliche Vorliebe für den Doppeltgebrannten, aber er trug doch auch ein richtiges Vaterherz in seiner Brust! Und was wird er sagen, wenn er es einmal erfahren muß … das ganze schreckliche Unglück der Burgi! Er meinte ihn schelten und schluchzen zu hören – dem Pepperl kamen selber die Thränen in die Augen – so rührte ihn der Kummer des alten, braven Mannes. „Himmelkreuzteufi noch einmal!“ Er streckte drohend seine Arme in die Finsternis. „Zerreißen und schlitzen thu ich den Kerl in der Luft, wann er das Madl net in Ruh laßt!“ Schwer atmend schob er die wollene Kotze von seiner Brust. „Herrgott, hat’s da eine Hitz’ herinn! Na! Da steh’ ich schon lieber auf … schlafen kann ich eh’ nimmer heut!“

Achtsam, um den schnarchenden Bettkameraden nicht zu wecken, erhob er sich, strich ein Zündholz an und sah nach der Uhr. Ein paar Minuten fehlten noch bis Drei. „No also, es is ja eh schon Birschzeit!“ Sinnend, als sollte ihm ein besonders guter Einfall kommen, stand er in der finsteren Stube und starrte das Zündholz an, das sich im Erlöschen krümmte wie ein feuriger Wurm; dann packte er mit der einen Hand seine Joppe und die Schuhe zusammen, mit der anderen den Hut, die Büchse und den Rucksack und schlich auf den Fußspitzen hinaus.

Lautlos zog er hinter sich die Thüre zu und machte sich unter freiem Himmel in aller Hast zum Birschgang fertig.

[44] Schon begann im fernen Osten ein mattes Dämmern, und die Sterne wollten erlöschen. Schwarzgrau dehnte sich das betaute Almfeld, der Brunnen plätscherte, und halblaut bimmelte die Glocke eines Rindes, das irgendwo im Grase lag. Ganz deutlich unterschied man schon im Zwielicht die grobe Mauer der Sennhütte und in dem trüben Mauergrau das schwarze Fensterchen.

Dieses Fenster betrachtete Pepperl mit wägenden Blicken. Das heilige Pflichtgefühl – das heißt die Verantwortung, die er dem alten Brentlinger gegenüber zu haben glaubte – war ihm mit solcher Heftigkeit „eingeschossen“, daß er ganz unmöglich zur Morgenbirsche ausziehen durfte, ohne dem „dalketen Madl“ eine ernste Warnung zu erteilen.

Mit langen Sprüngen rannte er über das Almfeld hinunter wie einer, der gestohlen hat. Aber da hörte er im nahen Hegerhäuschen den rasselnden Wecker gehen. Schnaufend hielt Pepperl inne und besann sich.

„Na na! Das braucht ja keiner z’ wissen, daß ich ihr ein bißl predigen muß!“

Und just, als hinter den trüben Scheiben des Jägerstübchens der Lichtschein aufging und Mazeggers Silhouette im hellen Fenster erschien, drückte sich Pepperl um die Ecke der Almhütte. Daß die Thüre geschlossen war, machte ihm wenig Kopfzerbrechen, denn er kannte den primitiven Mechanismus dieses Schlosses: mit dem Messer fuhr er durch eine Spalte der Bretter und hob innen ohne Mühe den Riegel auf. In der Sennstube herrschte rabenschwarze Finsternis. Da war denn der Weg zu Burgis Kammerthür ohne einiges Stolpern und Gepolter nicht zu finden.

Hätte die junge Sennerin auch den Schlaf einer alten Bärin gehabt, sie hätte erwachen müssen bei dem Spektakel. „Mar’ und Josef! Was is denn?“ klang Burgis schlaftrunkene Stimme aus der Kammer.

„Nix is’s! Gar nix! Na na! Bloß ich bin’s!“ flüsterte Pepperl durch die Klumsen der Kammerthüre, sanft und freundlich wie ein guter Hirte zu seinem Schäflein reden muß. „Und weißt, ein bißl was sagen muß ich dir! Ganz ebbes Wichtigs! Ja! Geh’, Burgerl, geh’, sei g’scheit und komm ein bißl aussi!“

„Fahr’ ab, du da draußen! Gelt! Und laß mich schlafen!“

Diese widerspenstige Antwort machte den Praxmaler-Pepperl seufzen und brachte ihm die bittere Erkenntnis bei, welch eine schwierige und undankbare Aufgabe es ist, den Menschen das Gute und Rechte zu predigen. Einige Sekunden blieb er lautlos vor der schwarzen Thüre stehen. Dann pochte er schüchtern mit dem Knöchel an die Bretter und flüsterte mit aller Traulichkeit, deren seine vor Erregung bebende Stimme noch fähig war:

„Schau, Burgerl, thu net trutzen jetzt! Geh, Madl, komm, sei g’scheit und mach’ ein bißl auf! G’wiß wahr, ich mein’ dir’s gut … und so viel sorgen thu ich mich um deintwegen, ja … drum schau, ich muß dir was sagen!“

„Schlafen laß mich!“

„Na, Burgerl! Na! Ich därf dich net schlafen lassen! Ich muß dir ein paar Wörteln sagen in der Güt’ … ich hab’ die Verpflichtigung …“

„Was? Verpflichtigung? Ja freilich, da kannst recht haben,“ klang es mit gereiztem Lachen aus der Kammer, „die Verpflichtigung hast, daß dich niederlegst auf deine Ohrwascheln und dein’ Dampus verschlafst!“

„Auf Ehr’ und Seligkeit, Madl, ich bin so nüchtern wie der Pfarrer vor der Fruhmeß’ …“

„Hörst, du, laß die heiligen Sachen aus’m Spiel! So was vertrag’ ich net … z’ mittelst in der Nacht schon gar net!“

„Madl, ich sag’ dir’s im guten, thu mich net abweisen! Dein Glück is am Spiel … hörst, Madl … dein Glück! Mach’ auf, sag’ ich … oder es reut dich noch einmal, daß d’ ein’ abg’wiesen hast, der ’s ernst und ehrlich mit dir g’meint hat als ein rechtschaffener Mensch …“

„Ja hörst denn noch allweil net auf? Jetzt wird’s mir aber z’ dumm, das muß ich schon sagen!“ Heißer Unmut bebte in der Stimme der Sennerin. „Bis um Zwölfe in der Nacht hab’ ich enker rauschige Metten in der Hütten haben müssen … in der Fruh muß ich wieder frisch bei der Arbeit sein, und da soll ich net einmal die paar Stündeln schlafen können in der Ruh’? Fahr ab, sag’ ich! Für heut’ hab’ ich g’nug von enk alle miteinander! Und mit dir? Mit dir bin ich ganz fertig! Verstehst! Das is ’s letzte Wörtl g’wesen! Gut’ Nacht!“

Pepperls Geduld war zu Ende. Er sah es deutlich ein: bei dieser verstockten Seele war in Güte nichts auszurichten – dem heiligen Zweck zuliebe, der ihn hergeführt hatte, mußte er „sanfte Gewalt“ gebrauchen. Also faßte er mit beiden Fäusten die Klinke und rüttelte an der Kammerthür, daß die Bretter rasselten. „Mach’ auf! Und ob jetzt willst oder net … anhören mußt mich! In meiner Verpflichtigung steh’ ich da, als ob ich dein armer, guter Vater wär’ … oder als ob d’ ein’ Bruder hätt’st an mir, der sich in Kümmernis um d’ Schwester sorgen thut! Zum letztenmal sag’ ich dir’s: mach’ auf!“

Das wirkte. Noch ehe Pepperl völlig ausgesprochen hatte, öffnete sich die Kammerthüre – freilich nur um einen schmalen Spalt. Und aus diesem Spalt, in welchem undeutlich etwas Weißes schimmerte, kam etwas Schwarzes herausgeflogen, wie eine Nachteule aus ihrem finsteren Felsenschlupf. Dieser sonderbare, aber sehre gewichtige Vogel flog dem Praxmaler-Pepperl grob an die Wange, fuhr ihm wie mit scharfen Klauen übers Ohr und klatschte schwer zu Boden. Im gleichen Augenblick schloß sich die Kammerthüre wieder und der Riegel klirrte.

„Ah, da hört sich aber die G’mütlichkeit auf!“ brummte Pepperl, halb beleidigt und halb verblüfft. In unbewußter Neugier bückte er sich, tappte mit den Händen auf dem Boden herum – und als er den merkwürdigen Vogel haschte, zeigte es sich, daß er keine Flügel hatte, sondern sich anfühlte wie ein Pantoffel mit genagelter Sohle. Bei dieser Entdeckung schoß dem Praxmaler-Pepperl eine „gache Hitz’“ bis unter die Kreuzerschneckerln hinauf, wie überschürtes Feuer in den Schornstein fährt. „So also? So dankst mir du?“ Seine Stimme klang, als wäre ihm die Kehle zugeschnürt. „Meintwegen halt …“ dabei schleuderte er den Pantoffel gegen die Kammerthür, daß es krachte wie ein Schuß, „so renn’ halt ins Verderben, wie ’s dumme Hehndl in’ Fuchsenbau! Ich sag’ dir nix mehr!“

Tief atmend griff er nach seiner Büchse und stürmte zur Hüttenthür hinaus. Da vernahm er Schritte – und um nicht gesehen zu werden, duckte er sich hinter den Holzstoß, der an der Hüttenmauer aufgeschichtet war.

Im fahlen Grau des Morgens schritt Mazegger an der Hütte vorüber, die Büchse auf dem Rücken, das bleiche Gesicht tief vorgebeugt und zu Boden starrend wie einer, der etwas sucht, was sich nimmer finden läßt.

Trotz allen Aufruhrs, den Pepperl in seiner getäuschten und bekümmerten Hirtenseele toben fühlte, hatte er doch noch Augen für das schwer Gedrückte, das aus Mazeggers Haltung sprach. „O heiliger Mar’ und Josef! Mir scheint, der spinnt schon wieder … der arme Narr!“ Seufzend und den fremden Kummer nicht minder schwer als die eigene Sorge fühlend, blickte er dem Jäger nach, bis Mazegger zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann schlich er um den Holzstoß herum bis zur Ecke der Hüttenmauer, warf einen spähenden Blick zum Fürstenhaus hinauf und eilte mit langen Sprüngen dem nahen Walde zu.


4.

Förster Kluibenschädl machte am Morgen keine Birsche, nur einen kleinen Waldmarsch gegen Leutasch hinaus, um sich für das Frühstück im Fürstenhaus den schuldigen Appetit zu holen.

Im Hochwald, der das Weidefeld der Hämmermoosalpe umschließt, traf er mit Mazegger zusammen, der gebeugten Kopfes und in Gedanken versunken seines Weges daherkam.

„He! Toni!“

Der Jäger fuhr auf wie ein Träumer, welcher unsanft geweckt wird.

Mißmutig schüttelte der Förster den Kopf. „Ja Toni! Wie schaust denn aus? Ja bist denn du auch noch ein Jager? Wie kannst denn so umeinanderlaufen? Schamst dich denn gar net?“

Mazegger, über dessen bleiches Gesicht eine Spur von Röte huschte, schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschah. Er betrachtete seine Büchse – aber die war spiegelblank, ohne ein Flecklein Rost. Er blickte suchend an seinen Kleidern hinunter – aber die waren tadellos sauber.

[45]

Die Ueberführung eines Fesselballons über einen Eisenbahnkörper.
Nach einer Originalzeichnung von A. Wald.

[46] „Was ist denn?“ murrte er, und seine schwarzen Augen schossen einen gereizten Blick auf den Förster. „Wo fehlt’s denn schon wieder?“

„Dein Hütl schau dir an!“

Toni nahm den Hut ab, und da sah er, daß er von seiner Spielhahnfeder die Sichel verloren hatte.

„Die muß ich mir gestern am Abend abg’stoßen haben! Aber freilich, wenn der Herr Förstner schon wegen so was brummt …“

„So? Meinst? … Gestern verlierst dein Federl, und heut’ laufst umeinander mit ’m Stümperl. Was so was für ein’ Jager bedeut’ … wenn das net begreifen kannst, da thust mir was! Ja! Leid thust mir! B’hüt’ dich Gott!“

Der Förster drehte dem Jäger den Rücken und wanderte durch den Wald hinunter ins Bachthal.

Auf dem Heimweg hörte er aus einem nahen Jungholz die Stimme der Sennerin, welche die Kühe zum Melken eintrieb. Sonst pflegte Burgi bei diesem Geschäft vergnügt zu singen und zu jauchzen; heut’ aber schalt sie mit Zorn und Aerger auf das widerspenstige Vieh.

Das fiel dem Förster auf und er fragte sich: „Was das Madl heut’ nur hat, weil ’s gar so viel ungut thut?“

Als er gegen neun Uhr vormittags die Tillfußer Alm erreicht hatte und ins Försterhäuschen trat, sah er den Praxmaler-Pepperl, mit einem nassen Handtuch um die Stirne, in schwerem Schlaf auf der Matratze liegen.

„No also! Jetzt brummt ihm der Schädl, von der lustigen Nacht! Ja ja, ’s Leben hat halt allweil seine Zwidrigkeiten … und aller Zucker schmeckt ei’m sauer auf d’ Letzt!“

Lautlos, um den stöhnenden Schläfer nicht zu wecken, machte er Toilette zum Frühstück, das heißt, er wischte mit einem Handtuch die Schuhe sauber und bürstete einen Scheitel ins Haar.

Als er hinaufkam ins Herrenhaus, hatte er seine Freude an dem frischen Aussehen des Fürsten, der fest und gut bis in den hellen Morgen hinein geschlafen hatte. Und da gab’s gleich was zu lachen. Denn als der Fürst versicherte, er hätte einen Schlaf gethan wie ein Bauer, fuhr es dem Förster lustig heraus: „Na, hören S’, Duhrlaucht, das is aber doch g’spaßig! Sie sagen: wie ein Bauer! Und unsereiner, wenn er so recht gut g’schlafen hat, unsereiner sagt: heut’ hab’ ich g’schlafen wie ein Fürst!“

Während des ganzen Frühstücks behielt das Gespräch die heitere Stimmung bei, mit der es begonnen hatte, und Ettingen amüsierte sich über all die drollig derben und doch von einem gesunden Kern erfüllten Lebensweisheiten, die ihm dieser rauhborstige Philosoph in der Jägerjoppe zu hören gab.

Gleich nach dem Frühstück machte sich Ettingen fertig für den „Orientierungsmarsch“, der bis zum Abend dauern sollte. Martin war dem Fürsten beim Umkleiden behilflich, und als er ihm gerade die Schuhe zuschnürte, sagte er mit dem süßesten seiner Töne: „Ich bitte um Vergebung, wenn ich Durchlaucht eine Unbehaglichkeit bereite, aber ich sehe mich leider gezwungen, gegen einen der Jäger … ich glaube, er heißt Praxmaler … ernstliche Beschwerde zu führen. Der Mann hat sich gestern in so ungehöriger Weise gegen mich benommen … er hat allerdings die zweifelhafte Entschuldigung, daß er schwer bekneipt war … aber die Art, in der er sich mit mir zu sprechen erlaubte …“

„War jedenfalls begründet!“ unterbrach ihn der Fürst. „Du wirst den Jäger eben gereizt haben … schon gut, schweige nur, ich bin nicht neugierig. Ich kenne dich, mein lieber Martin! Und deshalb sag’ ich dir ein für allemal: Verschone mich hier im Jagdhaus mit solchem Klatsch! Und laß du die Jäger in Ruhe! So … und jetzt kannst du mir meinen Hut bringen.“

Als der Fürst aus dem Jagdhaus trat, stand Kluibenschädl schon wegbereit vor der Thüre, mit der Büchse hinter dem Rücken.

Auf der Schwelle blieb der Fürst eine Weile stehen, blickte lächelnd hinaus in den reinen zauberhaften Glanz des Morgens und drückte tiefatmend die Hände auf die Brust. „Wie schön! Und diese Luft!“

„Ja, gelten S’, bei uns daheroben, da schnauft man sich leicht! Und ein Tagerl is das heut’, das kann sich sehen lassen! Heut’ müssen wir schon ein bisserl wo ’naufsteigen, damit S’ die richtig’ Aussicht kriegen. Ja, gleich da hinter’m Jagdhaus steigen wir ’nauf, da haben wir den schönsten Reitsteig bis zum Steinernen Hüttl!“

Der Fürst blickte auf, als wäre bei diesem Namen eine Erinnerung in ihm wach geworden. „Zum Steinernen Hüttl?“ Er lächelte. „Gut! Steigen wir hinauf!“

Sie verließen den Hof.

„Wohnen Leute dort oben … beim Steinernen Hüttl?“

„Aber freilich! Der Senn und sein Bub’.“

„Sonst niemand?“

„Gott bewahr’!“

„Wirklich? Niemand sonst?“

„Na! Kein Mensch sonst! Es steht ja bloß die einzig’ Sennhütten droben.“

„Aber gestern am Abend, als ich den kleinen Spaziergang machte … ich glaube, es war auf dem Weg zum Steinernen Hüttl … da kam jemand von dort oben herunter.“ Wieder lächelte der Fürst. „Und das war nicht der Senn. Auch nicht sein Bub’.“

„No ja, wird halt ein Tourist g’wesen sein.“

„So? Meinen Sie?“

„Ja freilich! Wissen S’, Duhrlaucht, da droben is ein Uebergangl vom Zugspitz und von der Knorrhütten ’rüber. Da kommen schon diemal Touristen vom Bayrischen her, ja der Weg is net grob und is gut zum gehn.“

„Auch für Damen?“

„Ah ja! Ich bin schon öfters einer begegnet. Und das muß ich sagen: die haben mir allweil g’fallen. Ich bin net gut auf d’ Weiberleut’ z’reden … aber wenn ich merk’, daß eine ihr Freud’ an der lieben Natur und an die Berg’ hat und noch ein bißl was anders versteht als ihr Kuchlg’schäft, da lupf’ ich mein Hütl gar net ungern. Ein bißl G’rechtigkeit muß der Mensch auch bei die Weiberleut gelten lassen, ja!“

Sie waren zum Försterhäuschen gekommen, unter dessen Thüre der Praxmaler-Pepperl stand, mit hängenden Armen und einwärts gedrehten Fußspitzen: das verkörperte schlechte Gewissen. Sein Gesicht war übernächtig und bleich, nur die linke Wange, auf welcher er im Schlaf gelegen hatte, war rot gefleckt. Scheu blickte er seinem Herrn entgegen, und dieser Blick schien in banger Sorge zu fragen: „Bin ich jetzt schon verklampert oder net?“

Lächelnd nickte der Fürst ihm zu. „Ausgeschlafen, Pepperl?“

Diese freundliche Ansprache verwandelte den Jäger in einen anderen Menschen. Seine Gestalt streckte sich, als wäre ihm jählings alle Müdigkeit der durchwachten Nacht aus den Gliedern geblasen, und dunkle Röte schoß ihm übers ganze Gesicht. „G’rad’ hab’ ich noch ein Stünderl nachg’holt,“ sagte er mit verlegenem Lachen, „denn das is wahr, Herr Fürst, … ja, das muß ich sagen … heut’ nacht, mein’ ich, hab’ ich ein bißl z’viel derwischt!“ Und kleinlaut, als bedürfte diese Thatsache doch einer Entschuldigung, fügte er hinzu: „Enker Wein is halt so viel stark! Allweil brummt’s mir noch ein wengerl unter die Haar!“

Das kam so drollig heraus, daß Ettingen laut und herzlich lachen mußte. Da faßte der Jäger Mut. „Wissen S’, Duhrlaucht, beim Sebensee draußen, da steht unser bester Hirsch! Ein Vierzehnerg’weih hat er droben, nix Schöneres giebt’s nimmer auf der ganzen Welt! Heut’ am Abend schau’ ich mir sein’ Auszug an, und wenn er am richtigen Fleckerl steht, so müssen S’ mit, Duhrlaucht, gleich morgen in aller Fruh! Die Freud’, Herr Fürst, daß S’ Enkern ersten Hirsch mit’m Pepperl schießen … die Freud’, die müssen S’ mir machen! Recht schön thät’ ich bitten drum! Gelten S’ ja?“

„Ja, Pepperl! den holen wir uns morgen!“

In der ersten Freude stieß Pepperl einen klingenden Juchzer aus. Dabei fuhr er mit dem Kopf so derb gegen einen vorspringenden Balken der Hütte, daß der Förster rief: „Hö, hö, hö, laß mir doch wenigstens ’s Häusl noch stehn!“

„Ja, schiergar hätt’ ich’s mit umg’rissen,“ meinte Pepperl, rieb sich die Haare und verschwand mit brennendem Eifer in der Hütte.

Als er nach einer Weile, fertig für den Birschgang, wieder [47] aus der Thüre trat, war der Förster mit dem Jagdherrn schon im Wald verschwunden. Lustig blinzelnd lugte Pepperl zum Fürstenhaus hinauf und gewahrte an einem offenen Fenster den Kammerdiener.

„Ja, Mannderl, paß nur auf! Morgen fallt der Vierzehner … nachher kannst mich verklampern, wie d’ magst!“

Schon wollte er mit langen Schritten seinen Weg beginnen. Aber da blieb er erschrocken wieder stehen und sah mit sorgenvollem Blick zur Sennhütte hinunter.

„So, schön! Jetzt bleibt mir das dumme Madl den ganzen Tag ohne B’hütung! Mar’ und Josef, was thu’ ich denn da?“

Aber in dieser Sorge bekam der Praxmaler-Pepperl zu merken, daß es im Himmel einen gütigen Gott und draußen in der Leutasch einen gestrengen Bauern gab, der wöchentlich von der Tillfußer Alm seine zwanzig Pfund Butter sehen wollte.

Denn während Pepperl noch in Gedanken stand, wurde drunten an der Sennhütte die Thüre zugesperrt, und Burgi, mit der hohen, gegen die Sonnenwärme dick vermummten Butterkraxe auf dem Rücken, schritt über das Almfeld hinunter dem Walde zu.

Ein Strahl der Freude leuchtete über das Gesicht des Jägers. „Gott sei Lob und Dank! ’s Madl muß abtragen heut’. Da kommt’s vor Abend nimmer z’ruck,“ so rechnete er in Gedanken, „derweil is der Herr Fürst schon wieder daheim … und da muß er bei der Arbeit sein, der G’schniegelte!“ Mit einem seelenvergnügten Juchzer quittierte er das Ergebnis dieser Rechnung und rief – mit unverkennbarer Schadenfreude im Ton der Stimme – über das Almfeld hinunter: „He! Burgi! Thu’ mir dein’ braven Vattern schön grüßen, gelt!“

Er lachte nur, als die Sennerin sich umblickte, ohne ein Wort zu erwidern. Und mit langen Sprüngen eilte er schräg durch den Wald hinunter.

Es dauerte gar nicht lange, da erschien unter der Thüre des Fürstenhauses der Herr Kammerdiener in weiß und grün gestreifter Hausjacke, eine Cigarette zwischen den Zähnen und ein weißes Hütchen auf dem schön frisierten Kopf. Den Rauch in die Sonne blasend und dazwischen eine Arie aus „Rigoletto“ pfeifend, spazierte er über das Almfeld hin und her; wie im Zufall geriet er vor die Sennhütte – und fand die Thüre verschlossen.

„Fräulein Burgi!“ rief er ganz leise durch die Ritzen der Bretter, „Fräulein Burgi!“

Als er keine Antwort erhielt, wanderte er mit gründlich verstimmter Miene davon. Beim Jägerhäuschen blieb er stehen und blickte durch das offene Fenster.

Drinnen lag Mazegger angekleidet auf dem Bette, das Gesicht in die Arme vergraben.

„Heda! Sie!“

Der Jäger erhob sich. Seine Augen waren heiß gerötet.

„Halten Sie sich fertig bis in einer Stunde. Sie haben einen Brief nach Leutasch zu bringen, der noch heute mit der Post nach Innsbruck muß.“

Mazegger nickte und biß die Zähne übereinander.

Als gält’ es plötzlich ein hochwichtiges und unaufschiebbares Geschäft zu erledigen, eilte Martin ins Fürstenhaus hinauf, holte aus seiner Kammer ein Notizbuch und ein Centimeterband, begab sich in das „Grafenstübchen“ und verriegelte hinter sich die Thüre. Hier saß er eine Weile und betrachtete überlegend den anspruchslos möblierten Raum und die weißgetünchten Wände. Dann maß er alle Mauern und Fenster ab – und begann in sein Notizbuch eine lange Liste zu schreiben:

„1) Zartgeblümte Seidentapete auf mattblauem Fond, für 46 qm Wandfläche; Plafond 16 qm.

2) Für zwei Fenster seidene Gardinen von etwas tieferem Blau; Spitzen als Unterlage; Leisten in Weiß und Silber; Stores in gedämpftem Rosa oder zartem Heliotrop, mit allem Zubehör.

3) Portieren für 1 Thüre, Stoff und Farbe der Gardinen; ohne Spitzen; mit allem Zubehör.

4) Englischer Teppich, 16 qm, 4 zu 4, das Blumenmuster der Tapete entsprechend.“

So schrieb und schrieb er, bis die Liste über fünf Seiten seines Notizbuches ausgewachsen war. Dann verließ er das Stübchen, verschloß die Thüre und steckte den Schlüssel zu sich.

Eine halbe Stunde später trug Mazegger einen Brief davon, der an einen Hotelier in Innsbruck adressiert war. –

Für fünf Uhr nachmittags war das Diner befohlen. Wenige Minuten früher kehrte der Fürst zurück.

Trotz der weiten, siebenstündigen Wanderung, die kreuz und quer durch Wälder und Latschenfelder und über steile Almen gegangen war, verriet seine Haltung keine Spur von Müdigkeit. Sein Gang war strammer und fester als am Morgen, seine Augen hatten Leben und Feuer, die heiße Julisonne hatte ihm das Gesicht verbrannt, daß es glühte – nur die Stirne, soweit sie im Schatten der Hutkrempe lag, war weiß geblieben.

Bei der Ankunft vor dem Fürstenhaus forderte er den Förster auf, die Mahlzeit mit ihm zu nehmen. Dieser dankte verlegen und sagte zu; nur habe er vorher noch mit Mazegger etwas Wichtiges zu besprechen.

Ohne beim Försterhäuschen anzuhalten, ging er auf die Jägerhütte zu; es gewitterte in seinen kleinen Blitzaugen. Als er die Hütte leer fand, lachte er höhnisch auf.

„So so? Net daheim bist? Aber wart’ nur, Bürscherl, auf d’ Nacht, da kommst mir schon!“

Seine üble Laune war auch nicht besser geworden, als er später vom Essen kam und sich vorm Betreten der eigenen Hütte von neuem überzeugt hatte, daß Mazegger nicht daheim war.

In der finsteren Stube hatte er eben das Licht angezündet, da kam der Praxmaler-Pepperl in die Thür gestürmt, atemlos von einem zweistündigen Dauerlauf.

„Herr Förstner! Der Hirsch is heut’ am richtigen Fleckl g’standen … wenn der Herr Fürst morgen in der Fruh mit mir ’nausgeht zum Sebensee, kommt er ihm an auf hundert Schritt’!“

„No also, geh nur gleich ’nauf und thu’s ihm melden!“

Pepperl stellte die Büchse nieder und rannte davon. Als er nach einer Viertelstunde zurückkam, berichtete er mit aller Freude, deren er in seiner Erschöpfung noch fähig war: „Morgen kracht’s! Der Herr Fürst geht mit! Um Zwei in der Fruh wird abmarschiert!“ Er stellte den Wecker, dann stieß er die Schuhe von den Füßen und warf sich völlig angekleidet auf die Matratze. Aber nach einer Minute richtete er sich wieder auf. Droben im Fürstenhaus war ihm der „Schwarzlackierte“ begegnet – und jetzt überfiel ihn der Gedanke an die Sennhütte drunten, an das „dumme unb’hütete Madl“ und an Burgis „armen alten Vattern“, mit finsterer Sorge.

„Sie, Herr Förstner,“ sagte er dann zu seinem braven Vorgesetzten, der sich wieder in das „Geheimnis von Woodcastle“ vertieft hatte, „wenn S’ daheimbleiben, sollten S’ Ihnen doch ein bißl um den Herrn Kammerdiener kümmern.“

„Warum denn?“ klang’s unwillig zurück.

„Mir scheint, er muß ein bißl Langweil’ haben, wenn der Herr Fürst net daheim is.“

„Soll er halt was Vernünftig’s lesen!“

„Plauschen, mein’ ich, thut er lieber!“

„Soll er mit der Köchin plauschen!“

„Oder mit der Burgi? Net?“

„Ja, meinetwegen, mir is alles recht!“

„Aber wissen S’ … der Burgi, mein’ ich … der g’fallt er net recht … die kann die Stadtischen net leiden. Und wann er plauscht mit ihr … ja … da könnt’ s’ ihm leicht ein unb’schaffens Wörtl sagen, das ihn verdrießen muß. Ja … wenn er plauscht mit ihr … ich mein’, da sollten S’ doch dabei sein … damit sich die Burgi ein bißl z’ruckhalt’, Wissen S’!“

„Ja, ja, is schon recht! Laß mich nur jetzt in Ruh’! Und thu schön leuchten, gelt, daß der Herr Fürst net stolpert in der Finstern! Und schau, daß den Hirsch mit heimbringst! Und halt’ dich ordentlich auf der Birsch, gelt, daß d’ mir kein’ Schand’ net machst!“

„Na, na, da wird sich nix fehlen!“

Der Förster war ans Fenster getreten. Da sah er, wie drüben in der Jägerhütte der Lampenschein aufleuchtete. Sofort verließ er die Stube und ging mit langen Schritten hinüber.

Mazegger kniete vor dem eisernen Sparherd, um Feuer anzuschüren.

„Du? Wo warst denn heut’?“

Zögernd erhob sich der Jäger. Er schien es gleich zu merken, [48] daß sich ein Gewitter über ihm entladen sollte. Mißtrauisch betrachtete er den Förster und sagte: „Der Kammerdiener hat mir einen Brief übergeben, den hab’ ich nach Leutasch getragen.“

„So? Da kannst freilich aufs Wild net aufg’schaut haben. Aber was hast denn gestern g’sehen? Auf der Abendbirsch’?“

„Nichts.“

„So? Gar nix? Und draußen im Hämmermoos bist g’wesen?“

Mazegger wandte sich zum Herd und nickte.

Da brach das Gewitter los. „Du Lugenschüppel, du gottverlassener! Ja, schau mich nur an mit dei’m käsigen G’sicht! Ang’logen hast mich wieder! Net wahr is, daß gestern im Hämmermoos draußen warst! Da schau her ...“ der Förster griff in die Joppentasche und warf dem Jäger die Sichel einer Spielhahnfeder vor die Füße, „da hast dein Federl wieder. Am Steig zum Steinernen Hüttl droben hab’ ich’s g’funden. Warum lügst mich denn so an?“

Brennende Röte war über das bleiche Gesicht des Jägers geflogen. Seine Augen funkelten, aber er sprach kein Wort.

Der Förster betrachtete den Burschen vom Kopf bis zu den Füßen. Dabei verrauchte sein Zorn, und er sagte mit ruhigem Ernst: „Toni! Jetzt will ich dir die letzte Verwarnung geben! ’s Lugen, das weißt, ’s Lugen vertrag’ ich net. Alles kann ich ei’m Jager verzeihen, alles ... ein Jager is auch nur ein schwacher Mensch, und dazu noch, wenn’s ein junger is ... alles kann ich ihm verzeihen, aber ’s Maul wenn er aufmacht im Dienst, so muß ich ein wahrs Wörtl hören. Und drum sag’ ich dir’s jetzt, als dein Fürg’setzter: lügst mich noch ein einzigsmal an, so kannst deine sieben Zwetschgen packen ... und b’hüt dich Gott!“

Schweigend starrte der Jäger in die Lampenflamme und nagte an den Lippen.

„So! Und jetzt reden wir noch was anders miteinander ... weißt Tonerl, als Mensch und Mensch.“

Mazegger drehte langsam das Gesicht über die Schulter und seine Augen wurden klein, seine Lippen schmal.

„Ich bin dir gut g’wesen, Toni, wie ich gut bin zu alle Leut´ ... Und schau, gar oft, wenn deine eigensinnigen und gachzornigen Streich’ so g’macht hast, hab’ ich mir ’denkt: trag’s ihm net nach, er is halt verwildert, hat als Kind viel Unglück erfahren ... d’ Mutter hat er hergeben müssen und hat den Vater verloren. Aber wer in verstandsame Jahr’ kommt, sollt dengerst in ihm ein bißl aufrichten können, was bucklet g’raten is. In dir aber, Toni, wachst sich was aus, was mir gar nimmer g’fallt. Und manchmal schaut’s mich an aus deine Augen, daß ich mich fürchten möcht’ ... fürchten um deinetwillen. Und da fallt dir jetzt gar noch so ein Unsinn in’ Kopf und ins Blut ...“

Der Jäger fuhr mit heiserer Stimme auf: „Herr Förster ...“ Drohendes Feuer blitzte in seinen Augen. „Sagen Sie mir meinetwegen als Vorgesetzter, was Sie mir sagen wollen ... das muß ich anhören ... aber was über den Dienst hinaus und mich allein angeht, das bitt’ ich gefälligst in Ruh’ zu lassen!“

„So?“ Dem Förster schwollen an den Schläfen die Adern; doch seine Stimme blieb ruhig. „So sag’ ich dir’s halt im Dienst: mach’ du deine Birschweg’, gelt, und lauf net allweil deiner Narretei nach statt dem Jagdschutz! Meinst denn, ich weiß net, warum mich gestern wieder ang’logen hast und heimlich beim Steinernen Hüttl droben warst? Ich müßt’ ja rein ein’ Eselstritt von einer Hirschfährten net unterscheiden können, ’s Fräul’n Petri wird halt auf der Alm droben g’malt haben, und da bist ihr wieder nachg’stiegen, gelt? Aber ich rat’ dir’s im guten: denk’ ein bißl, wer du bist und wer das Fräul’n is! Ja, schau mich nur an! Und laß mir das Fräul’n in Ruh, das sag’ ich dir ... sonst hast es mit mir z’thun! Brock’ dir du ein Blümerl, das für dich g’wachsen is am Weg ... aber steig mir net über die Gartenzäun’ und streck’ deine Händ’ net aus nach ei’m Sternderl, das am Himmel glanzt.“

Mazegger lachte, und ein häßlicher Zug legte sich um seinen Mund. „Ein Sternderl? So? Ah ja, das is freilich nix für einen, wie ich einer bin. Da muß freilich ein anderer kommen! Ein ganz ein B’sonderer! Vielleicht so einer wie unser gnädiger Herr Fürst! So bieten Sie ’s ihm doch an ... er hat ihr ja gestern eh’ schon nachblinzelt mit seinen hochfürstlichen Augen, der ...“

Weiter kam Mazegger nicht; eine schallende Ohrfeige schnitt ihm die höhnische Rede ab. Einen Augenblick stand er wie versteinert, mit aschfahlem Gesicht – dann sprang er wie ein wütendes Raubtier dem Förster an den Hals. Der wankte unter der Wucht, mit der sich der Jäger auf ihn geworfen hatte. Aber seine Füße fanden wieder den Halt.

„Du! ... Du! ... So einer bist du! So einer!“ keuchte er.

Dann rangen sie miteinander, stumm, und es gehörte die ganze zähe Kraft dieses schweren Mannes dazu, um die Fäuste von sich abzuwehren, die wie eiserne Klammern seinen Hals umschlossen hielten. Ein Ruck, und der Förster hatte Luft bekommen – ein kräftiger Schwung seiner stählernen Arme, und Mazegger taumelte gegen die Wand.

„So, du!“ Schwer atmend brachte Kluibenschädl den aufgerissenen Hemdkragen wieder in Ordnung. „Jetzt sind wir fertig miteinander, wir zwei! Ueber vier Wochen such’ dir ein’ anderen Dienst! Müßt’ ich mich net schenieren, daß ich dem Herrn Fürsten den Grund sag’, so thät ich dich heut’ auf d’ Nacht noch davonjagen. Aber dem Herrn Fürsten z’lieb soll’s heißen, daß d’ selber ’kündigt hast! Verstehst? Und jetzt Gut’ Nacht! Und solang ’s Fräul’n am Sebensee draußen is, gehst mir nimmer ’naus ... das sag’ ich dir!“ Er drehte dem Jäger den Rücken und schritt zur Thüre.

Leichenblaß und zitternd an allen Gliedern starrte Mazegger ihm nach – und als der Förster schon in der Thür verschwinden wollte, riß der Jäger das Messer von der Hüfte und hob es zum Stoß. Er machte auch einen taumelnden Schritt. Aber dann sank ihm der Arm. Er schleuderte das Messer fort und preßte die zitternde Hand an seine Stirn.

Das hatte der Förster nicht mehr gesehen. Er stand schon draußen in der Nacht. Unschlüssig blickte er zum Fürstenhaus hinauf, an dem alle Fenster hell in den dunklen Abend hinausleuchteten. Ob er nicht doch seinem Herrn den Vorfall melden sollte? Aber er schüttelte den Kopf zu diesem Gedanken und ging in seine Hütte.

(Fortsetzung folgt.) 0


Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Anton Cratz von Scharfensteins wundersame Abenteuer und der Hexenflug.

Wer auf einem der prächtigen Rheindampfer seinen Weg von Koblenz aus stromaufwärts nimmt, erblickt nach etwa halbstündiger Fahrt rechts auf der Höhe aus dem dichten Grün der Wälder, welche die Abhänge des Schiefergebirges bedecken, die Zinnen und Türme der Burg Stolzenfels. Seinen Namen trägt dieses Schloß mit Recht; denn stolz und hoch schaut es von seinem Felsengrunde weithin über den Strom, die Blicke aller auf sich lenkend, welche auf den grünen Wellen des Rheines vorüberfahren. Die herrliche Burg, wie wir sie heute sehen, ist neueren Datums. Sie wurde von Friedrich Wilhelm IV als Kronprinz nach den Entwürfen des genialen Schinkel unter Benutzung der Ueberreste der von den Franzosen zerstörten alten Feste Stolcenvels erbaut und wahrhaft fürstlich ausgestattet. Aber kaum minder herrlich als der heutige Stolzenfels war die alte Burg, welche sich vor Zeiten an jener Stelle erhob. Ihre Erbauung reicht bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts hinauf und wird dem Trierschen Erzbischof Arnold II, Grafen zu Isenburg, zugeschrieben. Die spätern Erzbischöfe ließen das Schloß durch Amtmänner verwalten, welche eine sehr begehrte, hochangesehene Stellung einnahmen.

Zu der langen Reihe dieser Amtleute gehört Anton Cratz von Scharfenstein. Er war der Vater des im Dreißigjährigen

[49]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.

Dorfklatsch.
Nach dem Gemälde von E. Zimmermann.

[50] Kriege berühmt gewordenen Feldmarschalls Graf Johann Philipp Cratz von Scharfenstein, der, von Tilly bevorzugt, von Wallenstein aber gehaßt, schließlich das kaiserliche Heer verließ und zu den Schweden übertrat. Später gefangen genommen, wurde er nach Wien gebracht und dort enthauptet. Von dem Amtmann Anton Cratz von Scharfenstein ist aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts ein eigenartiger Bericht erhalten. Er betrifft eine Reihe von Abenteuern, die der Ritter im Laufe eines Jahres erlebt haben soll und die damals am Rheine viel Aufsehen erregten. Sie bilden eine geschichtlich beglaubigte Tragikomödie des Aberglaubens und gewähren uns so recht den Einblick in die unbeschreibliche Leichtgläubigkeit der weitesten Kreise in der düsteren Zeit der Hexenprozesse. Der ausführliche Bericht über die wundersamen Erlebnisse des Amtmanns von Stolzenfels ist in dem „Rheinischen Antiquarius“ abgedruckt. Wir geben ihn zunächst im Auszuge wieder.

Es war am Allerheiligenabend des Jahres 1589. Anton von Scharfenstein saß ermüdet von der Jagd bei einem Becher guten Weins, als plötzlich laut und heftig an die Schloßpforte geklopft wurde. Bald darauf trat der Türmer ein mit der Meldung, es sei ein Bote der Aebtissin zu Marienrod da; sie lasse bitten, ungesäumt ins Kloster zu kommen, keine Entschuldigung, welche es auch sei, würde angenommen. Obwohl dem Ritter das Verlangen höchst ungelegen kam, wagte er doch nicht, es abzulehnen, ließ sein Pferd satteln und begab sich in Begleitung eines Reitknechts, Namens Martin, auf den Weg. Es war finstre Nacht, die nur etwas durch die schwache Mondsichel erhellt wurde; denn man hatte junges Licht. Später bedeckte Gewölk den Himmel, und der Amtmann ritt mit seinem Begleiter in völliger Dunkelheit weiter. Sie hatten ihrer Meinung nach den Waldsaum erreicht, als sie zwischen den Bäumen ein großes, hell erleuchtetes Gebäude sahen. Verwundert hielt Scharfenstein sein Pferd an und wandte sich fragend an den Knecht. „Was kann’s anders als das Kloster sein,“ entgegnete dieser. Das schien dem Ritter in Anbetracht des kurzen Weges eine Unmöglichkeit; dennoch verhielt es sich so. Die Klosterpforte wurde geöffnet, und Martin blieb bescheiden beiseite, während sein Herr in den vordern Hof einritt. Huberta, eine Laienschwester, stand, eine Leuchte in der Hand, zu seinem Empfange bereit. Was den Ritter aber sehr wunderte, war, daß die Fenster des Klosters alle hell erleuchtet waren. Um schnellere Erklärung des sonderbaren Vorganges zu finden, schwang er sich rasch vom Pferde, warf die Zügel dem nächsten Klosterknechte zu und eilte die Stiegen hinan, zum Refektorium. Neue Ueberraschung! Ein seltsames Geräusch schallte ihm entgegen, ein Gemurmel und Summen wie von tausend Stimmen, als gälte es, ein großartiges Fest zu begehen! Rasch reißt Scharfenstein die Thür zum Refektorium auf; aber geblendet und überrascht bleibt er wie angewurzelt auf der Thürschwelle stehen und sieht, was er weder erwartet hat noch erklären kann: in strahlendem Glanze liegt der weite Raum vor ihm. Festlich geschmückte Menschen wogen in buntem Getümmel umher.

Seines Hauskleides unter den geputzten Menschen sich fast schämend, suchte der Ritter zu der Aebtissin zu gelangen. Aber vergebens! Glaubte er seinem Ziele nahe zu sein, so drängte sich ein Strom Menschen vor ihn, daß er Not hatte, sich aufrecht zu erhalten. Als er wieder einmal im Begriff war, die Aebtissin anzureden, wurde er von einem Strudel erfaßt und fand sich schließlich im Nebensaale. Dort saß an langer, festlich gedeckter Tafel eine zahlreiche Gesellschaft. Die gefüllten Becher kreisten umher. Eben wollte eine dem Ritter bekannte Dame, die Jungfrau von Merl, den Becher an die Lippen führen, als sie den von Scharfenstein gewahrte. Schnell sprang sie auf, eilte mit den Worten „Willkommen, mein Cratzchen“ auf ihn zu, in der unverkennbaren Absicht, ihren Gruß durch eine Umarmung zu bekräftigen. „Dies wäre mir,“ berichtete nachmals ganz treuherzig Anton von Scharfenstein selbst, „unter andern Umständen so unlieb nicht gewesen, aber vor den vielen Menschen mich küssen zu lassen, das wollte mir nicht recht anstehen. Die rechte Hand hielt ich ihr also wie abwehrend entgegen, während ich mit der linken, warum, weiß ich nicht, in die Tasche fuhr und einen Bündel welke Kräuter, Raute und dergl., so ich darin trug, erfaßte. Augenblicklich schwand alles wie ein Trugbild. Fort waren der glänzende Saal, die festlich geputzte Menge, die köstlichen Speisen und die silbernen Geschirre. Auf schmutzigem, altem Holztische flackerte eine kleine Oellampe.“ Erschreckt suchte der Ritter zu fliehen und gewann glücklich die Schwelle des Refektoriums. Da stand plötzlich wieder Jungfrau Merl vor ihm, schöner und lieblicher als je. In süßem Gekose hing sie sich an seinen Arm und drängte ihn sanft zum nächsten Fenster hin, das sie hastig öffnete. Nun schien die zarte Gestalt zu wachsen, sie dehnte und reckte sich zu Riesenhöhe empor, erfaßte den Scharfensteiner mit eisernem Griff und schleuderte ihn durch das geöffnete Fenster in die dunkle Nacht hinaus. Dabei, heißt es in seinem eignen spätern Berichte, habe ihn die Besinnung verlassen; nur sei es ihm mehrmals vorgekommen, als schleiche er über ein ungeheures Wasser, in steter Gefahr, zu versinken.

Als er wieder zu sich kam, ging eben die Sonne auf, und er sah sich mitten in einer Heide, die an einer Seite von ziemlich kahlen Bergen begrenzt war. „Dorthin,“ erzählt der Scharfensteiner, „lenkte ich meine Schritte, da ich zwischen den Bergen Rauch aufsteigen sah. Plötzlich sprengten aus der Ferne mehrere Reiter auf mich zu, ihnen vorauf ein großer Mann in einer mir fremden Kleidung. Ich eilte ihm entgegen, um nach Auskunft über die Gegend zu fragen, als zwei seiner Begleiter von den Pferden sprangen und mich zu Boden schlugen. Dabei hörte ich einigemal den Ausruf ,Gaur‘.“ Wie lange er dagelegen, wußte der Ritter nicht, aber nach und nach fing die Sonne an heiß zu werden, und der Unglückliche erhob sich und wankte weiter einem Dorfe zu. Dort wurde er nicht viel besser empfangen, und ebenso ging es auch in den nächsten Tagen, so daß es ihm kaum gelang, kümmerlich sein Leben zu fristen. Zuletzt fiel er einer Räuberbande in die Hände, welche ihn in eine Höhle schleppte. Daselbst blieb er eine Zeit lang, und die Räuber brachten ihm währenddessen die Elemente ihrer landesüblichen Kochkunst bei, natürlich unter aufmunternder Anwendung von Prügeln und allerhand sonstigen Mißhandlungen. Ebenso lernte er ihre Sprache, die sich nachmals als die türkische erwies. Ein Liedchen, das er dort häufig hörte, hat er später mit an den Rhein gebracht. Das Höhlenleben nahm nach einiger Zeit ein böses Ende für die Räuber. Sie wurden von der bewaffneten Macht in ihrem Zufluchtsorte belagert und mußten sich, da es ihnen an Wasser fehlte, ergeben. Der Scharfensteiner fand insofern Gnade, als er nach der nächsten Stadt in die Sklaverei verkauft wurde. Dort ging er aus einer Hand in die andere und kam zuletzt nach Konstantinopel in das Haus des Großveziers. Daselbst mußte er anfangs im Garten arbeiten, brachte es aber mit der Zeit bis zum Obergärtner. Als solcher erregte er das Interesse einer Dame des Harems, die in dem Obergärtner einen Abendländer erkannte. Sie vertraute ihm, daß auch sie das Kind einer christlichen Mutter sei, und beide verabredeten einen Plan zur Flucht. Schwer ist es, sich vorzustellen, wie dieser hätte ausgeführt werden können; auch kam man gar nicht so weit, denn der Plan wurde verraten. Was aus der Dame geworden, wird nicht gesagt. Dem Scharfensteiner aber wurde die Wahl gestellt, entweder zum Islam überzutreten oder den Tod zu erleiden. Wie er nachmals erzählte, habe er sich ohne Schwanken für letzteres entschieden. In einem feuchten Kerker mit schweren Ketten belastet, harrte der Verurteilte des letzten Tages und schlief ermattet ein. Als er wieder erwachte, fühlte er einen lebhaften Wind und hörte Pferdegewieher. Er sprang auf und sah sich zu seinem Erstaunen im Freien, ohne Ketten, am Ufer eines großen Stromes. Hände und Füße schmerzten ihn aber aufs äußerste, da sie von den Ketten wund gerieben waren. Um den Hals fühlte er noch einen schweren eisernen Ring. Er that nun mehrere Schritte vorwärts und kam zu einer kleinen Treppe. Hier erkannte er zu seinem größten Erstaunen, daß er sich beim Königsstuhl zu Rhens am Rheine befand. Ein Pferd, dem seinigen ähnlich, aber abgemagert und in kläglichem Zustande, war in der Nähe an einen Pfeiler angebunden. Er nahm es beim Zaume und gelangte mühsam zu dem nahen Stolzenfels.

Es war am Allerseelentage 1590, als Anton Cratz von Scharfenstein dort wieder eintraf. Ein Jahr war vergangen seit seinem Ausritt zum Kloster Marienrod. Man hielt ihn längst für tot; denn die umfassendsten Nachforschungen hatten keinerlei Anhaltspunkte [51] über die Art und Weise seines Verschwindens ergeben. Seine Rückkehr erregte das größte Aufsehen, und er wurde zum Kurfürsten Johann von Schönenburg beordert, um diesem mündlich Bericht zu erstatten. Der Kurfürst war von der buchstäblichen Wahrheit der Erzählung Scharfensteins völlig überzeugt. Er hielt, befangen in dem Wahn seiner Zeit, dessen plötzliches Entrücktwerden vom Rheine in das Gebiet der Türkei für Zauberwerk und ordnete strenge Maßregeln zur Verfolgung des Hexenunfugs an.

Die größte Freude, und wahrlich nicht mit Unrecht, hatte der Knecht über die Rückkehr seines Herrn; denn er war bezichtigt worden, denselben ermordet zu haben. In der That schien auch hierfür alles zu sprechen; denn der Knecht wußte nur zu berichten, er habe mit dem Klostergesinde so lange gezecht, bis er in tiefen Schlaf verfallen sei; erwachend aber habe er sich unter dem Galgen zu Bubenheim wiedergefunden. Wie abergläubisch auch die damaligen Gewalthaber sein mochten, so wollte ihnen doch die Wahrheit dieser Erzählung nicht einleuchten, und es wäre um den Hals des Knechtes geschehen gewesen, wenn der Scharfensteiner nicht im letzten Augenblick wiedererschienen wäre. Viele Mühe hatte dieser, des eisernen Halsringes ledig zu werden, bis es der Geschicklichkeit eines alten Schmiedemeisters gelang, ihn davon zu befreien. Das Eisen hat er nachher in der Kapelle zu Beurich niedergelegt.

Das ist nach dem „Rheinischen Antiquarius“ die nackte Erzählung des Vorgangs. Es wird sich wohl niemals mehr feststellen lassen, was Herr Anton Cratz von Scharfenstein während der Zeit vom Allerheiligenabend 1589 bis zum Allerseelentage 1590 in Wirklichkeit erlebt hat. Die Annahme liegt nahe, daß der wackere Amtmann, des Sitzens auf Stolzenfels müde, sich auf gut Glück in die weite Welt begeben hat. Er mag dabei Abenteuer erlebt haben, die ihm nicht zu besonderem Ruhme gereichten, und so hat er wohl nach seiner Rückkehr in die Heimat die wundersamen Abenteuer erfunden. Daß er dabei seinen Landsleuten einen solchen Bären aufbinden durfte, erscheint dagegen gar nicht wunderbar, wenn man die damaligen Anschauungen und auch die Oertlichkeit selbst in Betracht zieht.

Nicht weit von Stolzenfels, unterhalb Rhens, liegt eine in der deutschen Geschichte denkwürdige Stätte: der Königsstuhl, auf dem sich die Kurfürsten versammelten, um über deutsche Reichsangelegenheiten zu beraten und die Königs- und Kaiserwahl zu vollziehen. Die Gegend, in welcher der aus Quadersteinen aufgeführte, mit Säulen und steinernen Sitzen versehene Bau sich befand, war in früheren Zeiten wenig belebt, und an den Ort knüpften sich allerlei Sagen und Spukgeschichten. Weit und breit war der alte Königsstuhl berühmt und gefürchtet wegen der Hexensabbathe, die dort gefeiert werden sollten, und dieser traurige Ruf wurde durch die Aussagen der Angeklagten in einer ganzen Reihe von Hexenprozessen bekräftigt. Wenn also Anton Cratz von Scharfenstein erzählte, daß er in der verrufenen Gegend durch einen Zauber entrückt und von dort in ferne Länder versetzt wurde, so sagte er etwas aus, was seinen Zeitgenossen durchaus möglich erschien. Er baute auf den Aberglauben, daß man durch magische Kräfte den eigenen Körper oder auch andere Personen an weit entfernte Orte versetzen könne. Dieser Zauber kam bei der Hexenfahrt zustande. Der Hexensalbe wurde die Kraft zugesprochen, daß selbst Leute, die mit dem Teufel den Pakt nicht abgeschlossen hatten und nur aus Neugierde sich mit ihr bestrichen, augenblicklich zum Hexenchor hinweggeführt wurden. So erging es, um ein Beispiel anzuführen, einem zu Ferrara wohnenden Köhler Namens Antonio Leone. Er hatte auf sein eigenes Weib einen Argwohn geworfen, daß sie, vieler Leute Meinung und Gerede nach, des Nachts, während er schlafe, zum Hexenkonvent ginge; weswegen er heimlich darauf zu merken beschloß und in einer gewissen Nacht sich stellte, als ob er im tiefen Schlafe läge. Worauf das Weib vom Bette aufstand, aus einem kleinen Geschirr, welches sie vorher verborgen gehalten, sich schmierte, und hierauf nirgends mehr zu sehen war. Der hierüber sich verwundernde Mann gewinnt Lust, den Handel zu probieren, steht also auf und bestreicht sich gleichfalls mit der Salbe. Darauf wird er allsofort durch einen Schlot oder Kamin davon- und in eines Grafen Weinkeller geführt, allwo er sein sauberes Weib bei vielen anderen Zunftschwestern antrifft. Sobald aber dieselbe seiner ansichtig wurde, ist sie nach einigen gemachten Zeichen mit den anderen davon gefahren und er allein zurückgeblieben. Des Morgens finden ihn die Diener des Hauses, nehmen ihn mit großem Geschrei als einen Dieb gefangen und bringen ihn vor den Grafen. Als derselbe ihm zu reden erlaubt, hat er, wiewohl nicht sonder Scham, den rechten Verlauf und wie er in den Keller geraten, berichtet. Hiernächst ist sein Weib bei den Untersuchern der Hexerei angegeben und, nachdem sie es gestanden, zu gebührender Strafe gezogen worden.

In dieser Weise redeten sich viele aus, die an Orten, an die sie nicht hingehörten, betroffen wurden, und brachten andere ins Unglück. Die Flunkerei Anton von Scharfensteins erscheint somit durchaus – zeitgemäß.

Außer der Hexensalbe kannten die Zauberer noch andere Mittel, um eine magische Entführung der Personen wider deren Willen zu Wege zu bringen. Man brauchte von einem Menschen nur drei Haare zu besitzen, und dann war man mit Hilfe von allerlei Hokuspokus imstande, sie „von weitem zu sich zu bekommen“.

Was man vor zwei- und dreihundert Jahren über den Hexenflug auftischen durfte, davon zeugen die folgenden drei Berichte, die wir der „Geschichte des Okkultismus“ von Carl Kiesewetter entnehmen.

Der erste rührt von dem Spanier Prudentius von Sandoval her. Gelegentlich eines im Jahre 1507 in Calahorra geführten Prozesses wollte er sich durch den Augenschein überzeugen, auf welche Weise die Hexen eigentlich flögen. Er habe deshalb einer Mitgefangenen alten Hexe Gnade versprochen, wenn sie in seiner Gegenwart ihr Zauberwerk üben wollte. Die Alte nahm den Vorschlag an und verlangte die ihr bei der Verhaftung fortgenommene Salbenbüchse. Darauf stieg sie in Begleitung vieler Personen auf einen Turm, stellte sich an ein Fenster und rieb sich mit der Salbe ein. Dann fing sie an, am Turme herabzusteigen, den Kopf nach abwärts gerichtet und ihrer Hände und Füße sich nach Art der Eidechsen bedienend. Als sie so in die Mitte der Turmhöhe gelangt war, flog sie in die Luft und die Augen der Anwesenden folgten ihr, bis der Horizont die Fliegende verbarg. Leider erfahren wir nicht, ob die Hexe zurückkehrte.

Der zweite wundersame Vorfall soll sich 1587 zu Calais ereignet haben, als Erzherzog Albert die Stadt eingenommen hatte. An der Brücke nach Boulogne zu standen wallonische Vorposten. Zwei derselben sahen abends bei hellem Himmel eine schwärzliche Wolke heranziehen und hörten aus ihr verwirrte Stimmen ertönen, ohne daß sie etwas unterscheiden konnten. Da sie der Sache mißtrauten, schoß der eine Posten seine Arkebuse auf die Wolke ab, worauf zu seinen Füßen ein dickes betrunkenes Weib mittleren Alters niederstürzte, welches verwirrt fragte: „Sind Feinde oder Verbündete hierselbst?“

Der dritte Bericht stammt aus Deutschland. Im „Theatrum Europaeum“ heißt es: „Am 9. Januar 1666 empfing zu München, der Chur-Bayerischen Residentz-Stadt, ein Hexenmeister seinen Lohn, welcher in abgewichenem Sommer in einem Ungewitter, welches er zur Verderbung der Erndten wollte angerichtet haben, durch die Wolken gefahren und nackend zur Erde gefallen, auch darüber gefangen und nach München gebracht worden.“

Wir halten heute solche Erzählungen für albernes Geschwätz, das entweder ausgedacht wurde oder auf falschen Beobachtungen beruht. Bei dem Unglück des Münchener Hexenmeisters läßt es sich wenigstens denken, daß der arme Mann von einem Tornado in die Luft emporgerissen und seiner Kleider beraubt auf die Erde geschleudert wurde. Solches ereignet sich noch heute bisweilen, namentlich in Nordamerika, wo die Tornados häufig vorkommen und besonders heftig sind. Aber nicht alle unsere Zeitgenossen denken so. Carl Kiesewetter, dessen genanntes Buch im Jahre 1895 gedruckt wurde, schreibt im unmittelbaren Anschluß an die drei letzten Geschichtchen: „Was sollen wir nun zu derartigen Berichten sagen? Wir müssen angesichts des modernen Phänomens der Levitation schweigen, wenn wir uns auch keineswegs auf den Standpunkt der alten Dämonologen stellen, welche die Hexenfahrt nur auf diese grobsinnliche Art erklären zu müssen und zu kennen glauben.“ So reicht der moderne Mystiker dem alten Zaubergläubigen die Hand. An Stelle des grobsinnlichen Fluges tritt das rätselhafte Phänomen der Levitation, bei dem [52] durch magische Kräfte in spiritistischen und anderen Cirkeln Gegenstände oder gar Personen in die Luft erhoben worden sein sollen.

Die alten Hexenrichter kamen öfters auf den Gedanken, die Hexen in ihrem Fluge zu beobachten, und in allen diesen Fällen haben sie andere Beobachtungen gemacht als Prudentius von Sandoval. Sie sahen, daß die Hexen nach der Einsalbung in einen Zustand der Betäubung oder einen Schlaf verfielen und an Ort und Stelle liegen blieben. Nachdem sie erwacht waren, erzählten sie von den weiten Fahrten, die sie gemacht zu haben glaubten. Damit war bewiesen, daß ihre Geständnisse auf Einbildung und Wahn beruhten. Aber ein festgewurzelter Aberglaube läßt sich nicht leicht zu einer besseren Einsicht bekehren. Er sieht und hört, was er will, und thut den Schlußfolgerungen des gesunden Menschenverstandes Gewalt an. So gaben die Hexenrichter, welche die Beobachtungen angestellt hatten, zu, daß die Ausfahrt der Hexen in der Einbildung durch die Verblendung des Teufels geschehen könne, hielten aber weiter daran fest, daß sie auch „recht würcklich“ zustande komme. Ebenso schwer fällt es, die modernen Mystiker zu einer nüchternen Beobachtung der Naturerscheinungen anzuhalten. Ein Fortschritt zum Besseren ist aber dank der Aufklärung sicher zu verzeichnen; mit einer „Manifestation“, wie sie sich Anton Cratz von Scharfenstein erlaubte, kann man heute keinen Erfolg mehr erzielen. J. K.     


Blütenesser.

Von C. Richter.


Es war in der schönen Jahreszeit, da die Tage am längsten sind. Mit Ränzel und Stab waren wir Großstädter über Berg und Thal, durch duftende Tannenwälder und blumige Wiesen gezogen und hielten Rast an den südlichen Abhängen des Thüringer Waldes in der grünen Laube eines „alten“ Freundes, den das gütige Schicksal in ein ruhiges kleines Städtchen verschlagen hatte. Nach dem Mittagsmahle erquickten wir uns bei Kaffee und Cigarren, als die liebenswürdige Hausfrau mit einer Schüssel eintrat und uns etwas Süßes zum Knuspern anbot. Es war ein seltenes, den meisten von uns völlig unbekanntes Gebäck: Holunderblüten, zu zierlichen Sträußchen gebunden, in Mehlteig getaucht, in schwimmender Butter gebacken und mit Zucker bestreut. Diese gebackenen Blumen mundeten dem einen vortrefflich, dem anderen schmeckten sie fade, wie dies bei allen Süßigkeiten und Delikatessen der Fall ist. Die originelle nach einem alten Familienrezept bereitete Spende der Hausfrau gab jedoch Anlaß zu einer Unterhaltung über Blumengerichte, der namentlich die Damen der Gesellschaft gern zu lauschen schienen und deren Inhalt hoffentlich auch die Leser und Leserinnen der „Gartenlaube“ interessieren dürfte.

Heutzutage schmücken die holden Blumen unsere Tafel, an ihre Verwendung in der Küche denken die wenigsten. Nur einige Blüten erfreuen sich als Gemüse der allgemeinen Beliebtheit.

In dieser Hinsicht ist vor allem der Blumenkohl zu erwähnen, der von vielen als die Krone aller Kohlgemüse gepriesen wird. Was wir von ihm verzehren, sind die Blütenstände, die durch eine Wucherung des Zellgewebes zu dichten Massen verwachsen sind. Wer diese feine Kohlart zuerst gezüchtet hat, darüber schweigt leider die Geschichte. So viel wissen wir aber, daß der Blumenkohl eine verhältnismäßig junge Errungenschaft der Gartenkultur ist. Im sechzehnten Jahrhundert tauchte er in Italien auf und soll nach dorthin von Cypern her eingeführt worden sein. Rasch aber erwarb er sich die Gunst der Feinschmecker; schon vor zweihundert Jahren wurde er in Deutschland angebaut, und berühmt sind in der Gegenwart die Kulturen zu Erfurt und Bamberg geworden. Auch Kopenhagen erzeugt treffliche Sorten, vor allem aber sprießt er in den sonnigen Gefilden Südfrankreichs und Algiers; von dort kommen in den Wintermonaten ganze Wagenladungen des köstlichen Gemüses nach den nördlichen Ländern Europas.

Ein Verwandter des Blumenkohls ist der Spargelkohl. Er stammt aus Italien, wo er Broccoli genannt wird. Auch von ihm verzehrt der Mensch die Blütenstände. Bei den meisten Sorten des Spargelkohls bilden sie jedoch keine „Köpfe“. Der Spargelkohl treibt vielmehr seitliche Blütensprossen, die im Aussehen und Geschmack dem Spargel ähnlich sind. Besonders beliebt ist der violette italienische Broccoli.

Ein Blumengemüse liefert uns ferner die Artischocke, die mehr im Süden als im Norden gewürdigt wird. Ihr eßbarer Teil ist der Blütenkopf, vor allem der Blütenboden und der fleischige Teil der Schuppen.

Abgesehen von diesen Gewächsen finden Blüten in unserer Küche nur als Würzen Verwendung, und auch zu diesem Zwecke bedienen wir uns fast ausschließlich ausländischer, aus wärmeren Ländern eingeführter Blütenknospen. Es gab aber eine Zeit, wo in der Küche auch die Blumen von unserer heimatlichen Flur und aus unseren Gärten häufig und mit Vorliebe verwendet wurden. Blättern wir in den Kochbüchern aus vergangenen Jahrhunderten, so begegnen wir nicht selten allerlei Blumengerichten.

Mit dem Duft der Rose, der Königin der Blumen, würzen wir auch heute Zuckerwerk, und wie die Alten einen Rosenwein herstellten, so kennen wir einen Rosenliqueur. Aber nach Art der eingangs erwähnten Holunderblüten gebackene Rosen sind von unserem Küchen- und Speisezettel wohl völlig verschwunden. Länger hat sich die Rosensuppe erhalten; denn sie wurde noch oft zu Anfang dieses Jahrhunderts gekocht. Gewiegte Rosenblätter mischte man mit einem Teig, der getrocknet sich ein Jahr lang hielt. Er wurde bei Bedarf fein gestoßen, und aus dem so gewonnenen Pulver bereitete man mit Milch, Eidotter und Zucker die wohlriechende Suppe.

Ueberzuckerte Veilchen werden uns von unseren Zuckerbäckern angeboten. In der Küche unserer Altvordern bereitete man aber auch einen Veilchensirup und hielt einen Veilchenessig auf Vorrat. Der letztere zeigt eine rote Farbe und wird blau bei Beimengung mit alkalischen Stoffen, welche die Essigsäure neutralisieren. Das Veilchen stand wohl darum in der Küche in hohen Ehren, weil es als Heilmittel galt. Es sollte wirken gegen die Fallsucht und das Kopfweh, das in den verschiedensten Formen seit jeher die Menschen geplagt hat.

Halb zu Genuß-, halb zu Heilzwecken wurde auch die gelbe Schlüsselblume verwendet, die mit des Lenzes Einzug unsere Wiesen schmückt. Die pflanzenkundige Hildegard, die im 12. Jahrhundert auf dem Rupertsberge bei Bingen als Aebtissin wirkte, beschrieb die Blume unter dem Namen „Himmelsschlüssel“ und pries sie als Heilmittel gegen die Melancholie an. Aus diesen Frühlingsblüten wurde auch ein „Schlüsselblumenwein“ bereitet, der noch heute in dem nebligen England sich großer Beliebtheit erfreut. Ob bei diesem uralten Maitrank die Bestandteile der Blume oder das Rebenblut die erheiternde Wirkung bedingten, wollen wir dahingestellt sein lassen.

Die Salate waren in der Küche der Vorzeit wohl beliebt, und es gab „Phantastinnen“ in der Küche, die ihre Mischungen möglichst bunt gestalteten. Da wurde alles mögliche zusammengelesen, was der Garten bot, und neben Artischocken, Laktuken und Endivien wurden Röslein, gelbe Viol und dicke Nägeleinblumen als gute Zuthat empfohlen. Erwähnenswert ist noch aus der alten Zeit die Verwertung der Sonnenblumen als Gemüse in ähnlicher Weise, wie das bei den Artischocken der Fall ist.

Wir brauchen uns nach den verschollenen Blumengerichten und Blütengewürzen nicht zurückzusehnen. Es ist sogar fraglich, ob all die bunten Blüten, die man in Feld und Flur oder im Garten zusammensucht, jedem bekommen. Die Neuzeit hat die Länder der Erde nahe aneinander gerückt, und für erschwingliche Preise können wir in unseren Tagen die köstlichsten Gewürze der Tropen in der Küche verwerten. Auch unter ihnen erhalten wir in unscheinbarer eingedörrter Gestalt so manche köstliche Blütenknospe.

Obenan stehen in dieser Beziehung die Gewürznelken, getrocknete Blütenknospen des Gewürznelkenbaumes. Sie galten in dem Mittelalter für das köstlichste Gewürz des fernen Ostens. Als die Portugiesen den Seeweg nach Indien eröffnet hatten, erfuhren sie, daß der Gewürznelkenbaum noch weiter östlich auf den Molukkeninseln gedeihe. Um diese zu entdecken, wurden die verwegensten Seefahrten unternommen. Als im 17. Jahrhundert die wahrhaft paradiesischen Inseln in den Besitz der Holländer übergingen, beschlossen diese, sich das Monopol des Gewürznelkenhandels zu sichern. Sie rotteten alle Nelkenbäume aus und ließen nur die Pflanzungen auf der etwa eine Quadratmeile großen Insel Ternate bestehen. Mit Argusaugen hüteten sie ihren Schatz und ließen weder ein Bäumchen, noch ein Samenkorn nach auswärts gelangen. Bis 1770 erreichten sie ihre Absicht, in jenem Jahre aber gelang es einigen schlauen Franzosen, sich Samen zu verschaffen, den sie nach Mauritius brachten. Dort gediehen die Bäume und wurden von hier aus auch in andere tropische Länder verpflanzt. Heute erzeugen auch Guyana und Westindien Gewürznelken, und die Hauptbezugsquelle für den Welthandel ist seit lange nicht Ternate, sondern die Insel Sansibar.

Die Kapern, die geschätzte Zuthat zu pikanten Saucen, Salaten und dergl., sind gleichfalls Blütenknospen, die man vom Kapernstrauche bricht. Die Länder am Mittelländischen Meere sind seine Heimat, wo er als dorniger Busch die Höhe von 1 m erreicht. Südfrankreich betreibt mit diesem Gewürz einen schwunghaften Handel; als die besten und auch teuersten Sorten gelten die ganz kleinen „Nonpareilles“ und die etwas größeren „Surfines“ oder „Capucines“. Als Surrogate für Kapern werden die Blütenknospen verschiedener anderer Pflanzen verwertet. „Deutsche Kapern“ bestehen aus Blütenknospen der Sumpfdotterblume, die man 24 Stunden in Salzwasser liegen läßt, um die Schärfe auszuziehen, und dann in Essig einmacht. Außerdem werden noch die Blütenknospen des Besenstrauchs, des Scharbockskrauts und der Kapuzinerkresse als Kapern verwendet.

Mit Unrecht führen sich zwei ausländische Gewürze als Blüten bei uns ein. Es sind dies die Cassiablüten und die Muskatblüte. Die ersteren sind die unreifen Früchte, die man von den Zweigen des wilden Cassiabaumes pflückt, wenn sie etwa die Größe der Gewürznelken erreicht haben. Das Gewürz kommt von Südasien und seinen Inseln her und wird wegen seiner Aehnlichkeit mit dem Zimmet begehrt. Besser und gesuchter als die Cassiablüten ist die Rinde des kultivierten Cassiabaumes.

Die Muskatblüte ist ebenfalls eine unrichtige Bezeichnung. Die

[53]

Friedrich mit der gebissenen Wange hält die Feinde auf, während sein Töchterchen trinkt.
Nach einer Originalzeichnung von A. Zick.

[54] reifen Früchte des Muskatnußbaumes, der von den Bandainseln stammt, gegenwärtig aber in Südasien und Westindien verbreitet ist, haben eine abgerundete Birnform und einen Durchmesser von 5 bis 6 cm. Bei ihrer Vollreife springt die Frucht und läßt einen carmoisinroten Mantel blicken, der das Samenkorn umschließt. Dieser Mantel wird im Handel Muskatblüte genannt, während der Kern die Muskatnuß heißt.

Bei dem Verbrauch der vorhin genannten Gewürze zeigen sich die Menschen wohl mehr als Blütennascher denn als Blütenesser. Asien kann aber auch Blumenliebhaber aufweisen, die jeden Vergleich mit unsern Blumenkohl-, Broccoli- und Artischockenfreunden aushalten.

In den tropischen Ländern wachsen Bäume, welche den sogenannten Pflanzentalg erzeugen. Es ist dies eine dicke ölige Masse, die man gut zu Kerzen verarbeiten kann, die aber von den Eingeborenen auch als Butter verbraucht wird. Im Innern Afrikas wird aus den Früchten der Bassia Parkii, eines zwergig wachsenden Baumes, die sogenannte Schibutter gewonnen. Auch in Indien wachsen solche Butterbäume, von denen uns hier der Mahwabaum, Bassia latifolia, besonders interessiert. In seiner Gestalt und Belaubung ist er unserer Eiche ähnlich und erreicht eine Höhe von 12 bis 15 m. Seine Blüten sind eßbar und bilden während mehrerer Monate im Jahre sogar ein wichtiges Nahrungsmittel der ärmeren Volksklassen Centralindiens.

Im Februar bedecken sich die Bäume mit weißem Blütenschnee, und gegen Ende des Monats werden die Blumenblätter fleischig und schwitzen einen süßen Saft aus. Sie sind dann reif, wie die Eingeborenen sagen. Um diese Zeit ziehen von den benachbarten Dörfern Frauen und Kinder unter die Bäume, schlagen dort förmlich Lager auf und ernten, indem sie die Blüten pflücken oder abschlagen. Immer wird ein Teil der Blüten unberührt belassen, damit sie sich zu Früchten entwickeln können, aber trotzdem wird von einem vollkräftigen Baume eine Blütenlast von 2 bis 3 Centnern gewonnen. In den Dörfern, auf festgestampften Plätzen vor den Hütten, werden die Blüten in der Sonne getrocknet, wobei sie die Hälfte ihres Gewichtes verlieren, zusammenschrumpfen und rostbraun werden. Die getrockneten Blüten haben den Geschmack geringer Feigen und werden entweder allein, oder häufiger noch mit Reis u. dgl. vermischt als tägliches Gericht verzehrt.

Man verpachtet in Indien diese Blütenernte wie bei uns die Obsternte. Aus den Mahwablüten wird außerdem noch ein starker Spiritus, den die Indier Daru nennen, destilliert; anfangs hat das Getränk einen widerlichen Geruch, abgelagert soll es aber dem besten irischen-Whisky gleichkommen. Die Mahwabäume pflanzen sich wild durch Selbstsaat fort, und ihre Bedeutung für die Volksernährung ist so groß, daß es bei Strafe verboten ist, ohne besondere Erlaubnis der Gemeinde einen Mahwabaum umzuhauen, selbst wenn er aufgehört hat, fruchtbar zu sein.

Auch die Blüten der anderen Butterbäume sind eßbar, und berühmt ist in dieser Hinsicht der Jllupiebaum, Bassia longifolia, an der Koromandelküste; ein Salat aus seinen Blüten gilt weit und breit als Delikatesse.

Doch genug dieser Beispiele aus nah und fern, aus alter und neuer Zeit! Sie zeigen, daß der Mensch, der Allesesser, auch die Blumen appetitlich findet und daß es auf Erden mehr Blütenesser giebt, als man bei flüchtiger Betrachtung anzunehmen geneigt ist.


Deutschtum im Thal von Gressoney.

Von Woldemar Kaden.0 Mit Bildern von P. Scoppetta.

Du kennst das Märchen von Vineta, jener vor grauen Jahren in die Fluten des nordischen Meeres hinabgesunkenen, geheimnisvollen Stadt. Wer gute Augen hat und schaut in die Tiefe, der sieht noch heute

„anfangs wie dämmernde Nebel,
jedoch allmählich farbenbestimmter“

die Giebel der Stadt, Straßen, Paläste, den gotischen Dom, dazwischen wandelnd altväterisch Volk in verschollnen Gewändern. Der hört bekannte Laute, unbeholfene Worte, die zur Rede sich fügen, zur Sprache, die wie Muttersprache klingt. Er schüttelt den Kopf: ein Stück Deutschland liegt hier begraben ...

Um das große Festland der deutschen Sprache her liegen und lagen als zahlreiche Eilande, die sich, wie die Halligen durch Sturmfluten, einst, zur Zeit der gewaltigen Völkerstürme, von der Muttererde losgerissen, kleinere und größere Sprachinseln. Die Wogen des fremden Volkes umspülten sie ohne Unterlaß: so schmolzen die kleineren bald dahin, von den größeren ward Stück um Stück gerissen, das Gebiet dieses Deutschtums im Ausland ward mehr und mehr geschmälert. Sehr wenige dieser Sprachinseln trotzen der Flut noch heute, viele versanken ganz.

Pont Saint-Martin.

„Der Zweig eines Volkes,“ schreibt Vischer, „der über ein völkerscheidendes Gebirge sich hinüberstreckt, wird unwiderstehlich nach und nach in das fremde Volk eingeschmolzen, wenn nicht vom Bildungsmittelpunkte der eigenen Nationalität außerordentliche Anstrengungen ausgehen, seine Sprachen und Sitten zu retten.“

Diese Anstrengungen macht seit Jahren der Deutsche Schulverein. Gar vieles aber traf er nur noch als Schlacken an, als Trümmer, die sich bereits mit Moos und Gras, mit den Kulturpflanzen des fremden Landes bedeckt haben.

Wie eine halbverklungene Sage, deren Heimat uns kaum flüchtig in der Geographiestunde angegeben wird, trifft unser Ohr der Name der „Tredici Comuni“ und der „Sette Comuni“, der Dreizehn und der Sieben Gemeinden, wo, wie alte Urkunden sie nennen, homines teutonici, oder „Cimbern“, wie sie sich selbst nannten, mitten unter Welschen ein selbständig germanisches Wesen trieben.

In diesen „Comuni“, die in den Bergen der Provinzen Verona und Vicenza liegen, ist heute die deutsche Zunge fast verstummt, aber germanischen Ursprungs sind die Knaben und Mädchen, die mit den blonden Haaren und blauen Augen unter den schwarzhaarig-dunkeläugigen Altersgenossen die Schulen besuchen, in denen die obligatorische Unterrichtssprache das Italienische ist. Ihre Väter hat man einst überredet, daß ihre deutsche Mundart ein Tedesco bastardo sei, die Sprache wilder ungesitteter Menschen, und an vielen Orten, wo noch im vorigen Jahrhundert allsonntäglich deutsch gepredigt wurde, nahm man den Bethörten einen Eid ab, nie mehr deutsch zu reden.

[55] Viel weniger bekannt, weil fast ganz abgelegen von der alten wie der modernen Völkerwanderungsstraße, ist das Deutschtum an den piemontesischen Südhängen des Monte Rosa.

Der gewaltige Gebirgsstock des Monte Rosa erhebt sich am Ostende der Penninischen Alpen als Grenzwall zwischen dem schweizerischen Wallis und den italienischen Provinzen Turin und Novara und bildet wie sein am Westende stehender Rival, der nur um 172 Meter höhere Montblanc, der „Monarch der Berge“, die Wasserscheide zwischen Rhone und Po. Er ist nicht ein Gipfel, sondern eine Gruppe von solchen, und verschiedene mächtige Gletscher gleiten von seinen Flanken in die Thäler hinab.


Ein „Stadel“.


Eine Hauptgletschermasse ist die gegen Italien abfallende, die als Mittelpunkt den Lyskamm hat, es ist der Lysgletscher. Aus ihm geht der Fluß Lesa oder Lys hervor, der sich ein langes Thal, das Thal von Gressoney, ausgearbeitet hat, das mit seinem Fluß zusammen in das herrliche Aostathal einmündet.

Hier wird der Lys bei Pont Saint-Martin von der dem Monte Bianco entstammenden wilden Dora Baltea in die Arme genommen.

Dieses Gressoneythal nun, auch Vallesa genannt, hegt, wie seine Nachbarthäler, Gemeinden, in denen sich deutsche Sprache und Sitte zum Teil noch erhalten haben. Es sind das Allagna oder Alagna, Rima S. Giuseppe, Macugnaga, Rimella, Gaby, Issime, Gressoney St.-Jean und Gressoney la Trinité mit verschiedenen kleinen Anhängen.

In dem Gressoneythale, einem echten rechten Hirtenthale, habe ich stille glückliche Sommerwochen verlebt und von dem, was ich an Deutschtum mit den Alpenblumen zusammen botanisierte, sei hier ein weniges erzählt.


Wohnhaus in Gressoney la Trinité.


Mein Standquartier hatte ich anfangs in Pont Saint-Martin, Martinsbruck würden wir’s auf deutsch nennen, einem armen kleinen aber reizend gelegenen Städtchen am Eingang ins Val d’Aosta. Den Namen hat das Städtchen von einer kühnen Brücke über den Lys, die sich auf den ersten Blick als ein tüchtiges Römerwerk aus vorchristlicher Zeit erweist. Gewiß ist, daß über sie die einst zur Bekämpfung der Salasser gezogene Römerstraße führte. Die Römer saßen auch in diesem „äußersten Winkel Italiens“, von dessen Urbewohnern eines schönen Tages 36 000 als Sklaven zum besten der römischen Staatskasse verkauft wurden. Römische Steinwerke sind durchs ganze Thal bis hinauf auf den St. Bernhard zerstreut, und Spuren lateinischer Sprache findet man im Munde der Bergbewohner, während das mittelalterliche Französisch und der originelle piemontesische Dialekt im ganzen Thal und den es umschränkenden Bergen um die Hegemonie kämpfen.

Der Bergbewohner sagt hier noch heute oulla, der Topf, lateinisch olla, der doch im Italienischen pentola, im Französischen pot heißt; sagt oura, lat. aura, Wind; phason, lat. phasoleus, die Bohne; traz, lat. trabs der Balken; manté, lat. mantele, das Handtuch u. s. f. Und als Gruß hört man neben dem sonderbaren piemontesischen „geréja“ ein an das lateinische bonus vesper erinnerndes bon vêpro, dann aber plötzlich auf dem Markte des alten Jvrea von blonden Burschen und Mädchen gesprochene deutsche Laute, ein echt germanisches „Grüß Gott!“ Diese Landleute stammen aus dem Thal von Gressoney.

Die ganze weite wein- und wiesenprangende Landschaft, wo die Römer saßen, wo das spätere Mittelalter Kastell neben Kastell baute, wo der stille Glaube der Waldenser den Kampf mit Rom aufnahm und mutig noch heute weiter führt, ist mit Geschichte getränkt, das bedeutet freilich auch mit Menschenblut.

Jenseit der ersten hohen Bodenschwelle, deren Wände vom einstigen Lysgletscher spiegelglatt geschliffen wurden und die wir bei Pont Saint-Martin übersteigen, hat diese Geschichte wohl kaum ihren Fuß gesetzt. Hier, im Schatten uralter Kastanien, Nußbäume und Eichen scheint der Geist der Natur sein Reich des Friedens errichtet zu haben. Wie in vielen Alpenthälern kann man auch hier beobachten, daß dieses Thal des Lys eine Folge von sanft geneigten Ebenen ist. Dieselben sind voneinander durch mehr oder weniger mächtige Stufen oder Bodenschwellen getrennt, deren hauptsächlichste sich im obern Thal, im Gebiet von Gressoney erhebt, so daß die Landschaft selbst in ein „Unterteil“, ein „Mittelteil“, in dem die Hauptorte liegen, und in ein „Oberteil“, das bis zum Ursprung des Lys aufsteigt, geschieden wird.

[56]

Mädchen von Gressoney im Brautschmuck.


Wild, überkeck von seiner Geburt bis zur Vermählung mit der Dora, bricht der Lys, genährt von der schäumenden Gletschermilch, aus den Urgebirgssteinen hervor und durchfließt tönend, weithin vernehmbar, drängend und treibend, sich wendend und windend, das sieben Stunden lange Thal. Wie Silber glänzen seine Wellen, ein leuchtendes Band, das den grünen Teppich der Wiesen durchsticht. Die schwarzen Riesenblöcke, die der Gletscher vor Urzeiten hier abgelegt, überspringt er, schwindet dann hinter steilen Felsaufbäumungen, zwängt sich durch Spalten und Schluchten, ihres grausenerweckenden Wesens wegen vom Volke Orridi (die Schrecklichen) genannt, bildet Fälle und Stromschnellen, verrät sich hier und da nur durch sein Tosen, ist überall unbändig und trägt nur unwillig das Joch der Brücken und Stege. Geduldig seinen Windungen folgend, zieht von Pont Saint-Martin her seit wenigen Jahren, nach den beiden Gressoney eine prächtige Fahrstraße hinauf, die zunächst zur Bequemlichkeit der Königin von Italien hergestellt wurde, welche für diese Gegend eine große Vorliebe hegt.

Die Berge, die das Thal fassen, sind alle bedeutend; überragt werden sie von dem Kolosse des Grauhaupts, an dessen Fuße sich die beiden Gressoney angesiedelt haben, und das, zu der stolzen Höhe von 3315 m emporragend, mit dem tief im Hintergrunde des Thales silberweiß aufleuchtenden Monte Rosa, der im Lyskamm bei 4447 m gipfelt, sich messen möchte.

Zwei Blumen, sagt das Volk, sind dem Thale auf den Hut gesteckt: Lys, die Lilie, und Rosa, die Rose. Diese Deutung ist sehr poetisch, Liso heißt aber im Dialekt des Aostathales jedes größere Thal mit einem Wasserlauf, und der Monte Rosa hat schwerlich etwas mit Rosen zu thun, denn in demselben Idiom heißen eben die Gletscher Roese, Roïses und Ruize. Im Valsesia nennt man ihn gar Bioso und Monboso, in seinen südlichen Thälern aber, wo Deutsche wohnen, hieß er der Gorner, wie noch jetzt der Gletscher bei Zermatt. In dem Nachbarthale von Gressoney, in Ayas, nennt man ihn Monte della Roiza. Viele Oertlichkeiten des Thales aber, Alpen, Berge, Häusergruppen, haben deutschklingende Namen, wie Blatta, Kasten, Grauhaupt, Weißweib, Noversch, Netscho, Olen, Am Betta, Selbsteg, Stavel, Alp Ofer; Kälberhorn, Pfaffe, Karrohorn, Unterlicht, Gemsstein, Marienhorn u. v. a. Die Ortschaften des Thales, von Martinsbruck begonnen, sind Perloz, Lillianes, Fontainemore mit dem hochinteressanten Wassersturze, dem Orrido di Guillemore, Issime, Gaby an der Mündung des Nielthales, Trento und die beiden Gressoney.

Wir sind im Hintergrunde des Thales angelangt und haben eins der erfreulichsten Ziele erreicht, das der Sommerwanderer weitaus erreichen kann: ein stilles liebliches Hirtenthal, ausgerüstet mit allen Schönheiten und Eigenheiten einer großen Alpennatur, mit Wäldern und Wiesen, der köstlichsten Luft und dem dazu gehörigen Hotelkomfort, ohne jenen übertriebenen teueren Luxus so vieler Schweizerhotels. Das Thal ist noch nicht überlaufen, es ist noch „heimelig“, trotzdem die Königin von Italien seit Jahren den heißesten Sommermonat hier verbringt, wobei sie in der Tracht der Thalbewohnerinnen erscheint.


Gressoney la Trinité.


Schon dieser Fremdenverkehr hat nun freilich auch die Baulust in Gressoney angeregt, und der Stil, der dabei zur Verwendung kommt, und die weiß oder rot getünchten Häuserfassaden stören einigermaßen die Harmonie der von den Vätern [57] überlieferten braunen Holzarchitektur der Wohnungen, Speicher und Ställe. Ganz wie in Wallis stehen hier überall am Wege die sogenannten „Stadel“, das sind blockhausähnliche Vorratskammern, mit Steinen oder Schindeln gedeckte Holzkasten, deren Tragboden auf „Steinpilzen“ ruht, pilzkopfähnlichen Steinen, die den Nagern aus Feld und Wald den Zutritt verwehren. Der Mensch ersteigt sie durch eine Leiter. So ein Ding, in Italien sonst nirgends zu schauen, nimmt sich im Grünen äußerst malerisch aus.

Hier lagerten früher die hundert Jahr alten, ungenießbar gewordenen großen Käse, Familienerbstücke und Stolz der Familie, hier hing das Brot, das noch immer im Vorrat auf ein Jahr gebacken und so hart wird, daß besondere Maschinen zu seiner Zermalmung erfunden werden mußten; hier dörrte das Schaf- und Bockfleisch an dem scharfen Luftzug der Berge zu einer hornartigen Masse zusammen, dessen spätere Bearbeitung die Kunst des Holzschnitzers mit starken Armen und schärfstem Messer herausfordert, von der Bearbeitung durch die Zähne ganz zu geschweigen. Im Thale von Gressoney ißt man herzlich schlecht, und auf den Bergen darüber soll’s noch viel schlechter bestellt sein.

Auf der Weide.

Aber gesund sind die Menschen, wenn auch hager und abgearbeitet, und – ein Haupterbteil des deutschen Stammes – äußerst zufrieden und heiter ohne Lärm. Ich sprach eines Tages eine nicht wohlhabende Frau, Victoria Rial ist ihr Name, über die mancherlei Entbehrungen, die sie in dieser Weltferne zu ertragen hätten. Wie eine Heilige erschien sie mir, da sie die Hand auf die Brust legte und in ihrem treuherzigen germanischen Dialekt sprach: „Ich bin zufrieden, ja glücklich. Und wenn der Herrgott an mich heranträte und fragte mich um einen zu erfüllenden Wunsch, ich würde sagen: lieber Gott, ich danke dir, ich habe keine unerfüllten Wünsche.“

Es berührt eigentümlich, auf diesem italienischen Boden, wo in vielen Ortschaften auch noch französisch gesprochen wird, deutsche Laute zu hören. Am ersten Tage, wo ich mich des hier herrschenden deutschen Wesens noch kaum erinnert hatte, kniete ich an einer Halde und stach mir einige Pflänzchen der reizenden Gentiana nivalis aus. Da schritt vom Fußpfade quer über das Grün eine alte hagere, sehr saubere Frau auf mich los, neugierig wohl, zu sehen, was der fremde Mann da treibe.

„Gott grüetz-i, Herra,“ heimelte es mir aus ihrem Munde auf italienischem Boden entgegen, „was machet-er do?“

Ich sei auf der Kräutersuche.

„Was isch des für e’ Chrüetli, was-er da hent?“

Ich sagte ihr den Namen, sie fragte weiter: ,Isch es zu öppes guet? Wenn-t-er en Chrüttler (Kräutersammler) seid, weiter obe an der Sonnethalb (Sonnenseite) häts no bessers.“

Ich fragte die treuherzige Alte, ob sie auch italienisch spreche; ja, sie verstehe außerdem auch die französische Sprache. Die Leib- und Muttersprache der Alten sei aber das Deutsche und deutsch sei bis auf diese Tage auf der Kanzel gepredigt, in der Schule unterrichtet worden. Sie wußte die Namen der deutschen Geistlichen, die in diesem Jahrhundert hier amtiert, sämtlich zu nennen: Bärenfaller, Leiter, Lateltin, Netscher, Dreißiger, Bezle; der jetzt hergeschickte heißt Berguet, französischen Stamms, denn der Bischof von Aosta, zu dessen Diöcese das Gressoneythal gehört, wolle nichts mehr wissen vom Deutsch als Kirchensprache. Er will das Thal französisch machen und übt vielfach Gewalt.

Nur zwei deutsche Kirchenlieder giebt’s noch: das Neujahrslied und das Dreikönigslied; doch deutsche Reimverse stehen geschrieben auf den Gräbern der alten Pfarrherren und deutsch sind die Grabinschriften auf den Kirchhöfen, wie auch die Liebeserklärung des Burschen an sein Mädchen deutsch gemacht wird. Bislang heirateten die Thalbewohner vorzugsweise unter sich: so blieb der Stamm rein, so blieben die Gewohnheiten und Gebräuche der Urväter treu bewahrt.

Die Johannisprozession.

Noch heute trägt die weibliche Bevölkerung den leuchtenden roten Tuchrock, wenn auch das Tuch dazu nicht mehr wie früher im Thal gewoben wird. Noch in jüngster Zeit trug die Braut die eigentümlich geformte, reich mit [58] goldenen Arabesken gestickte kostbare Haube. Der rote Rock heißt Anketò, die Schürze das Fuder, Furblätz ist das Brustvortuch, welches bei besonderen Gelegenheiten durch das Halsmottschior (wohl vom französischen Moùchoir) ersetzt wird. Von anderen Kleidervokabeln habe ich mir notiert: Chappo die Kappe, Brosttuech die Weste, Bruëch die Hose, Hose die Strümpfe, Wolemd die kurze Jacke, Schuë die Schuhe. Natürlich ändern sich diese Ausdrücke in den verschiedenen Gemeinden ab, so heißt beispielsweise der Kuß in Gressoney Schmock, in Issime Ciuppe (spr. Tschuppe!), und nur in Alagna, wie bei den Engländern, Kiß. Der Dialekt ist aber eher weich zu nennen und berührt angenehm durch die vollen Vokale der Endsilben, die in den schweizer Dialekten meist stumm sind. Lieblich klingt „Atto“, der Vater, und „Eju“, die Mutter. Wenn Paul Kind, der vor etwa zwanzig Jahren das Thal besuchte, große Anklänge an den Oberwalliser Dialekt herausfindet, so denkt er dabei an einen noch nicht romanisierten „Burgunder Zweig“, dessen letzte Ueberreste hier zu suchen seien. Und Bergmann in seinen „Untersuchungen über die freyen Walliser oder Walser in Graubünden und Vorarlberg“ vergleicht den von diesen gesprochenen Dialekt mit dem „Gressoneyrisch.“

Aus dem Gedichtchen, das mir ein alter deutschsprechender Mann mit dem französischen Namen De la Pierre aufgeschrieben, mögen als Dialektprobe hier zwei Strophen stehen, es heißt: „D’ Herta on d’ Sebētodsennē (die Hirten haben keine Sieben Todsünden).“

„Nid eine van dē sebuē Sennē,
Cham ’mo bi dē Herta fennē,
Drum hein’sch Gleck o’ Segē noa,
O’ frägēn witter nid durnca.

Der Hoffart chend dēm Hert nid z’ Sē,
Das cham ’mo an dschim Chleid ja gseh.
Welchom escht wiēr z’ em Hertē geid,
Das escht dēm Gitz va hiērsē leid.“

Das bedeutet in wörtlicher Uebertragung: „Nicht eine von den sieben Sünden, kann man bei den Hirten finden, drum haben sie Glück und Segen und fragen weiter nicht danach. Die Hoffart kommt dem Hirten nicht zu Sinn, das kann man an seinem Kleid ja seh’n; willkommen ist wer zum Hirten geht, das ist dem Geiz von Herzen leid.“

Vor Jahren hatte das Thal auch seinen Dichter, Louis Zumstein. Er hat viele Lieder im „Gressoneyersch“ geschrieben und den Volkston prächtig getroffen.

Bei den Hochzeiten spielten die Ansingelieder eine Rolle. Auch in Alagna war es Brauch, daß am Ende des Hochzeitsabendessens sich die Braut mit zwei Brautjungfern in ihr Kämmerlein verschloß, während draußen die Jünglinge lärmten und sangen.

Singend antworteten die Mädchen in der Brautkammer, Gegengesang von außen und so fort, bis die Thür sich öffnete, die Jünglinge und die Geladenen zugelassen wurden und die Braut die Hochzeitsgeschenke und die guten Wünsche entgegennahm.

Wein wird selbstverständlich im Thal von Gressoney nicht erzeugt, dessen oberster Ort, Gressoney la Trinité, etwa 1600 m hoch liegt, während der Wein in den Alpen schon bei 530 m zurückbleibt und hier im Piemontesischen, in Camperlongo, ausnahmsweise 970 m ersteigt. Aber die Landschaft von Ivrea leitet ihre purpurnen Quellen über den Berg und der „Carema“ macht im weltabgelegenen Thal die Winterabende belebt und helle.

Ein Trinkbares bereitet das Thal aber doch, das ist der berühmte Schnaps „Ebolebo“, der einheimische Name für die Schafgarbe Achillea atrata. Es war im Jahre 1846, daß ein Zumstein einen Sack voll getrockneter würzig duftender Blumen dieser Pflanze nach Turin brachte und bei einem Apotheker anfragte, ob dies Kräutlein nicht zu verwerten wäre. Es wurde ein Schnaps daraus destilliert, der besonders in England großen Anklang fand, und der „Chrüttler“ sammelt noch heute auf den Bergen seine Atrata. Das ist denn außer der Viehwirtschaft der einzige Erwerbszweig des Thales.

Das Volk von Gressoney lebt in der Frömmigkeit seiner Vorfahren und geht sehr gern in Prozessionen, die sich im Grünen so wunderschön ausnehmen. Am 24. Juni, dem Tage Johannis des Protektors, segnet der Pfarrer die Kinder; am 26. Dezember, St. Stephan, segnet er das Wasser; am 5. Februar, St. Agathe, Salz, Brot und Korn; jeden Sonntag betet er auf den Gräbern der Priester; jeden Freitag des Maimondes wandelt das gesamte Volk in Prozession zur Kapelle des heiligen Gratus, die auf der Grenze zwischen den beiden Gressoney liegt; zur Zeit der Dürre finden Prozessionen nach verschiedenen Kapellen statt.

Da kann man sie sehen, die derben und biderben Nachkommen der Zumstein, Steiner, Knobel, die sich heute Squinobel nennen, Biner, heute Bonda, Leiter, heute Scala, Thumiger, Barell, Lateltin, Lorenz, Real, Bieler, Schwarz, Thedy, Wolf, Lettri, Litschgi und Castell. Romanisiert wurden Schmidt, Ismann, Ronk, Wahler, die sich heute Ferrara, Ferro, Ronco und Guala schreiben. Alles deutet leider darauf hin, daß das vollständige Verschwinden dieser Sprachinsel in kurzer Zeit Thatsache sein wird. Die gute Straße, die nunmehr nach den südlichen Provinzen führt, wird dem Zug nach Norden über die Pässe des Monte Rosa Abbruch thun. Die Mädchen verheiraten sich mit Italienern, die Burschen dienen im italienischen Heere, werden italienisch gesinnt und sprechen italienisch.

Woher aber ist einst dieser deutsche Stamm gekommen? Wann schlug er seine Wurzeln in dieser Einsamkeit? Trieb ihn die Not hierher?

Vermutlich war das Thal im 10. und 11. Jahrhundert noch eine nur etwa von Kohlenbrennern und Grubenleuten bewohnte Wildnis gewesen. 1218 ordnete Landri, Bischof von Sion, einen Kanonikus ab, den Herrn Giacomo della Porta di S. Orso zur Entrichtung des Tributs aufzufordern. In der noch erhaltenen Urkunde werden die verschiedenen Lehnsgüter des Aostathales und seiner Seitenthäler aufgezählt; auch Gressoney wird genannt, aber nicht wie andere bewohnte Ortschaften, die mit villae, parocchiae bezeichnet werden, sondern als alpine Weide, besetzt im besten Falle mit Zufluchtshütten für Mensch und Vieh. Der Bischof von Sion im Wallis war also Lehnsherr dieser Gründe, und um sie sich für spätere Zeiten zu sichern, schickte er Walliser Bauern und Hirten über die Alpen, die in diesen Wildnissen wohl ihre Werkzeuge, aber keine Waffen brauchten, denn die Grafen belästigten die Ansiedler nicht, sie erkannten ihre nützliche Thätigkeit und Energie an und gaben den emporwachsenden Ortschaften ihren Schutz.

Mit dem Hirtenwesen blühte der Handel auf, und die Pässe, die vom Val d’Aosta ins Oberwallis führten, belebten sich ganz bedeutend. In der Münsterschen Kosmographie (Basel 1526) wird das Val Lesa das „Krännethal“ genannt. In der Berner Stadtordnung vom Jahre 1531 heißt es ausdrücklich: „daß die Aemter nicht an Schwaben und Grischtneyer (Gressoneyer) vergeben werden, es seien diese zu rührig und, einmal im Rath, würden sie die Wahrheit nicht sagen, sondern eitel Lügen.“

Diese von den Bernern gefürchtete Rührigkeit ist dem prächtigen Völklein noch heute eigen, und weil es sieht, daß die Zuneigung einer Königin seinem Thale neues Leben für die Zukunft verheißt, so rüstet es sich, seine Gäste würdig zu empfangen in Hotels und Gasthäusern.


Verhängnisvolle Sinnestäuschungen.

Von W. Hagenau.

Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Ohren gehört, und meine Sinne sind gesund und scharf; was ich aussage, ist darum richtig und wahr; ich kann es beschwören!“

Wie oft hört man nicht im Leben diese Behauptung! Sie ist im allgemeinen zutreffend.

Menschen mit gesunden Sinnen beobachten in der Regel richtig; aber der Mensch ist nun einmal nicht vollkommen. Ein zufälliges Zusammentreffen verschiedener äußerer Umstände kann es bewirken, daß selbst die schärfsten Sinne uns täuschen; oder es entstehen in unserem Innern verschiedene Stimmungen, die das geistige Gleichgewicht vorübergehend stören, und dann geschieht es, daß die seelischen Kräfte, welche die Sinneseindrücke zu Wahrnehmungen verarbeiten, uns einen schlimmen Streich spielen, das Gesehene oder Gehörte vergrößern oder verkleinern, verschieben und verzerren.

[59] Jeder, der sich zu beobachten versteht, ertappt sich im Leben auf solchen Sinnestäuschungen. Glücklicherweise sind sie zumeist für unser Arbeiten und Wirken bedeutungslos. Es können aber Lagen eintreten, in welchen eine unrichtige Beobachtung oder eine Sinnestäuschung die schlimmsten Folgen für das Wohl und Wehe der Mitmenschen oder für unser eigenes Schaffen nach sich ziehen kann.

Wie verhängnisvoll wird es nicht, wenn bei einem drohenden Schiffszusammenstoß das Auge den Kapitän in der Schätzung der Entfernung täuscht; wie leicht kann eine falsche Beobachtung den Naturforscher um die Frucht langer mühevoller Arbeit bringen, und wie tragisch greifen Sinnestäuschungen in das Menschenleben ein, wenn ein von ihnen bethörter Zeuge vor Gericht unbewußt falsche Aussagen macht, Unschuldige damit belastet und Glück und Ehre unbescholtener Familien bedroht!

Der Gesichtssinn wird mit Recht als der vollkommenste und schärfste unserer Sinne betrachtet.

Und doch täuscht er uns in vielen Fällen. Das erfahren wir z. B. bei der Schätzung der Größe gesehener Gegenstände. Wir überschätzen deren Größe, wenn wir aus irgend welchem Grunde die Gegenstände nicht in scharfen Umrissen sehen. Trübungen der Luft bewirken dies; bei klarer Luft erscheinen uns, aus derselben Entfernung gesehen, Häuser, Berge und Menschen kleiner als bei nebligem Wetter.

Desgleichen überschätzen wir leicht die Größe bei ungenügender Beleuchtung wie im Mondschein oder im nächtlichen Dunkel. Unter solchen Umständen erscheinen uns Personen größer, als sie in Wirklichkeit sind, und diese Sinnestäuschungen erlangen praktische Bedeutung, wenn z. B. Zeugen vor Gericht aussagen sollen, ob der Mann, den sie in der Nacht oder während der Dämmerung beim Einbruch gesehen haben, groß oder klein war.

Andrerseits giebt es auch Verhältnisse, die unser Auge bestimmen, die Größe des Gesehenen zu unterschätzen. Ein gelehrter Mann hat einmal gesagt, der Mond erscheine uns mit freiem Auge betrachtet tellergroß; beobachte man ihn aber durch ein Rohr, so komme er uns thalergroß vor. In der That verlieren wir den Größenmaßstab, wenn wir Vorgänge durch enge Oeffnungen, wie Schlüssellöcher, Spalten in Thüren und dergl., ansehen. Da erscheint uns alles kleiner, als es in Wirklichkeit ist, und wie oft spielen nicht derartige verstohlene Beobachtungen eine wichtige Rolle bei Gerichtsverhandlungen.

Viel unzuverlässiger als das Auge ist das Ohr. Wie leicht selbst Menschen mit scharfem Gehör sich verhören und in die Rede eines anderen einen ganz falschen Sinn hineinlegen, ist aus täglicher Erfahrung zur Genüge bekannt. Für gewisse Beurteilungen erweist sich aber auch das schärfste Ohr bei gespanntester Aufmerksamkeit unzulänglich. So ist es oft schwierig, ja unmöglich, anzugeben, von welcher Richtung ein gehörter Schall herkommt. Da der Mensch zwei Ohren hat, so kann er allerdings beurteilen, ob der Schall von rechts oder links kommt, je nachdem er stärker in das eine als in das andere Ohr dringt. Der Bau der Ohrmuschel gestattet auch die Schlußfolgerung, ob der Schall von vorne oder von hinten kommt. Aber diese Hilfsmittel nützen uns nur im Freien oder in großen regelmäßigen Räumen. In Zimmern, die mit allerlei Möbeln besetzt sind, versagen sie, wenn es sich um leisere, ungewohnte oder unerwartete Töne und Schallwirkungen handelt.

Alfred Lehmann, Direktor des Psychophysischen Laboratoriums in Kopenhagen, hat im Laufe seiner Versuche einen kleinen, Geräusche erzeugenden Apparat an einem Beine des Tisches angebracht, an dem einige Personen versammelt waren. Von dem Vorhandensein des Apparates waren die Anwesenden nicht unterrichtet, und so meinten die einen, das Geräusch käme vom Boden, andere glaubten, es gehe von den Wänden aus, andere wieder gaben eine Wasserleitung in der einen Ecke des Zimmers als seine Quelle an. Wenn wir während der Nacht im Zimmer sitzen und hören, wie aus der Ferne ein Wagen heranrollt, so wird es uns bei gleicher Beschaffenheit der Straße rechts und links von unserem Wohnhause nicht möglich sein, anzugeben, von welcher Seite der Wagen kommt.

Diese angeborene Schwäche des Gehörs mahnt den Richter zur Vorsicht, wenn er vom Zeugen Aussagen entgegennimmt, die sich lediglich auf Gehörtes stützen.

Auf ganz eigenartige Sinnestäuschungen, die mit dem Bau des Ohres zusammenhängen, macht Dr. Hanns Groß in seinem trefflichen Buche „Kriminalpsychologie“ (Leuschner und Lubensky, Graz) aufmerksam. Wir erwähnen daraus nur die Erscheinung vom „doppelten Hammerschlag“.

Läßt man durch einen Gehilfen mit einem Hammer auf den Tisch schlagen, während man mit beiden Fingern beide Ohren zuhält, und öffnet sie etwa eine halbe Sekunde nach dem Schlag, so hört man ihn wie neu entstehen. Ja, wenn man rasch öffnet und schließt, kann man den Schlag mehrere Male hören.

Hanns Groß bemerkt dazu: „Es ist bekannt, daß man durch Schlingbewegungen momentan den Gehörgang verschließt, namentlich in liegender Stellung. Geschieht das nun zufällig gerade während eines Schlages, Schusses oder eines ähnlichen Schalles, so muß man ihn doppelt hören. Nun kann es aber leicht vorkommen, daß man im Halbschlummer erst infolge des Lärmes erwacht und aufgeschreckt wegen der Speichelansammlung rasch eine Schlingbewegung macht, und so dürfen wir annehmen, daß dieses Doppelthören, das bei einer Zeugenaussage oft die größte Wichtigkeit haben kann, sogar häufig vorkommt.“

Die anderen Sinne, der Tastsinn, der Geruchs- und Geschmackssinn, sind noch unzuverlässiger als die beiden vorher genannten. Aus den Sinnestäuschungen, die durch sie verursacht werden, heben wir nur eine hervor. Verletzte, die gestochen wurden, empfinden den Stich selten als einen solchen; in der Regel haben sie die Empfindung, daß sie einen Stoß oder Schlag erhalten hätten. Wenn also z. B. zwei Attentäter jemand überfallen haben und der eine ihn gestochen, der andere nur geschlagen oder gestoßen hat, so kann man der Aussage des Verletzten, daß bestimmt der eine von den beiden Attentätern ihm den Stich versetzt habe, nicht ohne weiteres Glauben schenken.

Die Sinnestäuschungen kommen am leichtesten zustande, wenn der seelische Zustand der betreffenden Person derart verändert wird, daß die gewöhnliche Ruhe beim Beobachten fehlt. Dann tritt an die Stelle der nüchternen Erfahrung die Phantasie in ihr Recht. Aus lückenhaften Beobachtungen und ungenauen Eindrücken schafft sie, nach Willkür das Fehlende ergänzend, Wahrnehmungen, die der Wirklichkeit gar nicht entsprechen.

Durch ihre Thätigkeit werden auf diese Weise Sinnestäuschungen zu Illusionen. Schon die Befangenheit ruft diese Störung des seelischen Gleichgewichts hervor. Befangen ist man in der Regel bei Vorführung von Taschenspielerkünsten oder bei spiritistischen Sitzungen, und nur zu leicht wird man alsdann ein Opfer der Sinnestäuschung. Furcht und Schrecken trüben unsere Beobachtungsklarheit in noch höherem Maße, und unter ihrem Einfluß kommen die verhängnisvollsten Sinnestäuschungen zustande. Beispiele dieser Art finden wir in einem anderen Meisterwerke von Dr. Hanns Groß, in dem „Handbuch für Untersuchungsrichter“.

In einem norwegischen Gefängnisse hatte sich ein berüchtigter Einbrecher Namens Gudor dadurch befreit, daß er sich bei einem Spaziergange plötzlich gegen den Aufseher stürzte. Dieser sah in der Hand des Gudor ein langes Messer blitzen und entfloh – Gudor that dasselbe. Als er später wieder eingebracht wurde, ergaben die eingehenden Erhebungen daß er gegen den Aufseher einen Häring geschwungen hatte, den der zu Tode erschrockene Mann für ein langes Messer gehalten hat.

Bei einem Eisenbahnunglücke zeigte sich, wie weit die Sinnestäuschung im Schrecken gehen kann. Ein Bierbrauer, ein herkulisch gebauter Mann in den besten Jahren, war aus einem zertrümmerten Wagen gesprungen und querfeldein im Dauerlaufe bis zum nächsten dreiviertel Stunden entfernten Flecken gerannt, weil er sah und hörte, daß die Lokomotive des entgleisten Zuges ihn über die Felder hin brausend und schnaubend verfolgte. Der Mann war infolge seiner Einbildung derart gelaufen, daß er eine Lungenentzündung bekam, an deren Folgen er starb.

Schließlich müssen wir noch der Sinnestäuschungen gedenken, denen die Menschen im Halbschlummer oder beim Erwachen ausgesetzt sind.

In Thüringen sind wir in einigen Familien dem Aberglauben begegnet, daß sich ein Unglück ereignen werde, wenn die Uhr um Mitternacht dreizehnmal geschlagen hat. Es fanden sich einigemal in der That Leute, die jene dreizehn Schläge gezählt zu haben behaupteten. Daß dieser Aberglaube nicht auf einem leeren Gerede, sondern auf einer Sinnestäuschung beruht, erfahren wir aus der „Kriminalpsychologie“ von Dr. Groß.

Der Verfasser schreibt: „Mich hat vor kurzem ein Freund darauf aufmerksam gemacht, daß man, im Schlummer die Schläge der Uhr zählend, regelmäßig um einen Schlag zu viel zählt. Ich überprüfte diese mir vollkommen neue Beobachtung und fand sie (bei mir und anderen) vollauf bestätigt. Wenn man nun erwägt, wie wichtig in Kriminalprozessen oft die Stundenangabe ist und wie leicht man also eine Mitteilung bekommen kann, die um eine volle Stunde falsch lautet, so kann man die Bedeutung dieser Täuschung erwägen.“

In dem Augenblicke des plötzlichen Erwachens aus einem tiefen Schlafe befinden sich die Menschen in einem Zustande, der ein Mittelding zwischen Schlaf und Wachen darstellt und Schlaftrunkenheit genannt wird. In ihm werden die Sinneseindrücke sehr oft zu falschen Vorstellungen verarbeitet und mit den Träumen des Erwachenden in Beziehung gebracht. Von Schlaftrunkenen wurden schon wiederholt beklagenswerte Gewaltthaten begangen. Der Gerichtsarzt J. L. Casper berichtete über eine Anzahl solcher Fälle.

Ein Mann sah im Traume ein fürchterliches weißes Gespenst auf sich zukommen, halb erwacht schlug er darauf mit seiner Axt ein und tötete – seine Frau. Ein junger Mann litt, zumal in mondhellen Nächten, an beängstigenden Träumen; eines Nachts stand sein Vater auf, und als der Schlafende durch das Knarren der Thür geweckt wurde, sprang er im wilden Schrecken auf, griff nach seiner Doppelflinte und schoß den Vater, den er für einen eindringenden Raubmörder hielt, durch die Brust.

Glücklicherweise sind derartige furchtbare Verkettungen äußerst selten, und für den geübteren Kriminalbeamten ist es nicht schwierig, etwaige Simulation eines solchen Zustandes von seiten eines wirklichen Verbrechers zu durchschauen. Andrerseits versetzt die Kenntnis des merkwürdigen Spiels der Sinnestäuschungen den Richter oft in die glückliche Lage, die Wahrheit vom Irrtum zu scheiden und die Verurteilung eines unschuldig Angeklagten zu verhüten.


[60]
Fräulein Johanne.
Novelle von Paul Heyse.
(Schluß.)


Seit jenem Tage, fuhr die Wirtin fort, hat niemand mehr das Mädchen lachen hören.

Im übrigen fand sie sich langsam wieder zurecht, zumal es bei ihr im Hause so viel zu thun gab, daß sie keine Zeit zum Spintisieren und Kopfhängen hatte.

Die Mutter erholte sich nicht wieder. Sie siechte noch Jahr und Tag so hin, dann losch sie aus wie eine Pfennigkerze. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich dem armen Frauenzimmer nach Möglichkeit beistand, und – es mag Ihnen schlecht und unchristlich scheinen – eigentlich konnte ich nicht bedauern, daß alles so gekommen war. Nun war das Mädchen ja wieder frei, und wenn erst Gras über der traurigen Geschichte gewachsen wäre, würde sie, dacht’ ich, doch wohl einsehen, daß es ihr Unglück gewesen wäre, aus purem Mitleid den Mann zu nehmen, der nicht für sie paßte. Ich war eben Mutter, lieber Herr, und das Glück meines Sohnes ging mir über alles.

Ich hatte aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Denn freilich, nach dem Tode ihrer Mutter sah meine Pate ein, daß es das beste für sie wäre, mein altes Anerbieten anzunehmen und zu mir zu ziehen. Ich konnte sie nur allzu gut brauchen, da ich schon damals zuweilen von meinem Gebresten befallen wurde und dann keine treue Seele hatte, mich in der Wirtschaft zu ersetzen, die damals noch sehr gut ging, ehe unser Städtchen mehr und mehr heruntergekommen war. Mein Mann und der Franz hatten mit der Brauerei und der Oekonomie genug zu thun, Küche und Wäsche und die Bedienung der Gäste hatte ich zu besorgen. Ich war daher sehr froh, als die Johanne ihr mütterliches Gut verkaufte – sie war ohnedies auf dem Dorf gemieden, als ob sie selbst die beiden Schüsse abgefeuert hätte – und in gesunden und kranken Tagen mir zur Seite stand. Eine lustige Wirtin war sie freilich nicht, die mit den Gästen sich auf einen scherzhaften Diskurs einläßt und junge Leute ins Haus zieht. Da aber alle ihre Geschichte kannten und sie überdies so gut anzusehen war, nahm man ihr das stille Wesen nicht übel.

Am wenigsten mein Sohn Franz. Der war wie närrisch in sie verliebt, und da er’s endlich nicht mehr aushalten konnte, drang er in mich, bei ihr auf den Busch zu klopfen, was er zu hoffen hätte.

Was glauben Sie, daß sie uns zur Antwort gab? Der Franz sei ihr lieb und wert wie ein Bruder, und wenn eins nicht wäre, würde er ihr vielleicht auch noch mehr werden können. Nun aber sei’s eben unmöglich; die Frau Pate wisse ja selbst, daß sie schon einen Bräutigam habe, und wenn es auch noch Jahre bis zur Hochzeit dauern würde, ihr gegebenes Wort werde sie nicht brechen.

Ich starrte sie an, wie wenn sie mich zum besten haben wollte.

Redst du im Ernst, Kind? sagt’ ich. Auf den willst du warten, den unseligen Menschen, der Blut an seinen Händen hat? Einem Zuchthäusler willst du die Treue halten?

Er ist es um mich geworden, sagte sie ganz ruhig. Ich habe ihn zu der That getrieben, da ich ihm untreu werden wollte. Nun ist es meine Pflicht, ihm alles, was er jetzt leidet, zu vergüten. Sie wissen ja auch, Frau Pate, sagte sie, daß seine gute Mutter gestorben ist, auch aus Herzweh um ihren einzigen Sohn. Ihr Mann hat wieder geheiratet, eine liederliche Person, die ihm hilft, sein Gut durchzubringen und alles zu verwahrlosen. Es heißt, sie werden nächstens auf die Gant kommen. Wenn der Firmian seine Strafzeit abgesessen hat, ist er ein Bettler. Alle Leute werden ihm ausweichen, ein rechter Arbeiter ist er nie gewesen, und die lange Gefangenschaft wird ihn vollends träge gemacht haben. Wer soll ihm da wieder zu einem ordentlichen Leben helfen, wenn ich nicht zu ihm stehe? Uebrigens habe ich erfahren, daß er sich im Gefängnis sehr gut aufführt. Kommt er wieder frei, so darf man ihm nicht mehr vorwerfen, was er in der Verblendung seiner Leidenschaft verbrochen hat. Und er selbst ist auch damit einverstanden. Ich habe ihn wissen lassen, wozu ich entschlossen bin; das hält ihn jetzt aufrecht, alle Leiden und Entbehrungen zu ertragen.

Ich war zu Tod erschrocken über diese Erklärung. Aber wie ich das Mädchen kannte, sah ich ein, daß es vergebene Mühe sein würde, ihr den wahnsinnigen Gedanken auszureden. Es kam ja auch das von ihrem Mitleiden her, das schon früher sie so halsstarrig an thörichten Entschlüssen festhalten ließ.

Und dann – was konnte nicht im Laufe der nächsten Jahre noch alles geschehen! Wenn der Sträfling an der schlechten Kost oder der harten Arbeit zu Grunde ginge –

Kurz, ich berichtete meinem armen Jungen nur, daß er sich gedulden müsse. Vorläufig sei nichts zu machen. Er war aber ein Hitzkopf, der von Geduld nichts hören wollte. Täglich mit ihr zusammen zu sein, ohne nur ein gutes Wort oder einen freundlichen Blick von ihr zu erhalten, das brachte er nicht übers Herz.

Und so ging er in die Fremde, und bald darauf starb mein Mann, und ich arme Witwe wäre auch nicht am Leben geblieben, hätte ich die Johanne nicht gehabt. Aber wie die mich pflegt – nun, Sie haben’s ja gesehen! So gram ich ihr darum war, daß sie durch ihren Eigensinn den Franz aus dem Hause getrieben hat, ich hab’ sie doch von Tag zu Tag mehr ins Herz geschlossen. Sie hat ihr Zimmer oben neben dem meinigen. Wie oft, wenn meine Schmerzen mich nicht schlafen lassen, steht sie mitten in der Nacht auf, mir Tropfen zu reichen oder auch nur neben meinem Bette zu sitzen, daß ich doch nicht so ganz verloren und verlassen vor mich hin stöhnen müsse. Und das soll nun auch bald vorbei sein! Wenn ich’s denke, ist mir’s, als ob ich meinen guten Mann und den Franz noch einmal verlieren sollte, und ich meine, diesmal könnt’ ich’s nicht überleben!

*      *      *

Das gute alte Gesicht sah so kläglich unter dem schwarzen Tuch hervor, daß ich mit der armen Frau das herzlichste Mitleid fühlte.

Seien Sie doch nicht so verzweifelt, liebe Frau, sagt’ ich. Es wird ja noch alles gut werden, wenn Ihr Sohn wieder bei Ihnen ist. Denn der kommt doch gewiß wieder zurück, wenn er Fräulein Johanne hier nicht mehr begegnen muß. Wie ist es denn aber zugegangen, daß jetzt schon von „Veränderung“ die Rede ist? Der arme Teufel, der Firmian, hat doch seine fünfzehn Jahre noch lange nicht abgesessen?

Die Frau wischte sich die Augen und sah zu mir auf.

Das ist’s ja eben, worüber ich mich abhärme, sagte sie. Hätte sie nur ruhig die Zeit abgewartet, wär’ alles vielleicht noch gut geworden. Aber denken Sie nur: vor etwa zwei Monaten kommt sie zu mir und bittet mich, sie nach München reisen zu lassen, nicht für lange, höchstens auf acht Tage. Sie müsse hin. Was sie da vorhatte, wollte sie mir nicht sagen. Was sollte ich thun? Ich konnte mir nicht von ferne so etwas denken, wie sie’s wirklich im Sinne hatte. Stellen Sie sich vor: sie hatte ein Gnadengesuch an den König aufgesetzt – damals lebte unser armer Herr noch auf dem Linderhof – und darin hatte sie gebeten, dem Firmian die letzten drei Jahre von seiner Strafzeit zu schenken, und hatte mit so schönen, kräftigen Worten alles erzählt und daß sie selber die Hauptschuld trage, von wegen ihrer Untreue, und was er dann gethan, in der blindwütigen Verwirrung seiner Sinne, das habe er jetzt zwölf lange Jahre bereut und sich so tadellos gehalten, daß ihm der Gefängnisdirektor und alle Wärter das beste Zeugnis gegeben hätten, – kurz, kein Advokat hätte die Schrift besser und eindringlicher abfassen können.

Nun überlegte sie, wenn sie selbst damit an den König ginge, würde dessen gutes Herz mehr gerührt werden als beim bloßen Lesen. Also mußte sie nach München. Da erfuhr sie freilich, zu Seiner Majestät höchstselbst könne sie nicht kommen, ruhte aber nicht, bis sie wenigstens Audienz beim Justizminister erlangte. Na und wie Sie sie nun kennen, mit ihrer stillen, großartigen Manier,

[61]

Raubwürger schützen ihre Jungen vor den Angriffen von Wieseln.
Nach einer Originalzeichnung von Aug. Specht.

[62] werden Sie begreifen, daß Seine Excellenz sie nicht wie die erste beste Supplikantin abfertigen konnte, sondern sehr gnädig anhörte und versprach, ihre Eingabe bei dem allerhöchsten Herrn zu befürworten.

Sie ist dann auch gleich wieder abgereist, hat aber auch da noch kein Wörtel verraten von dem, was sie gethan hatte. Bis nach etwa vierzehn Tagen ein großes Schreiben aus dem Ministerium an sie einlief, ihr Gesuch sei in Gnaden gewährt und der Häftling werde demnächst entlassen und der Rest der Strafe ihm geschenkt werden.

Ich bekam vor Schrecken einen so heftigen Anfall, daß ich sechs Tage mich wie ein Wurm in meinem Bette krümmte und wand. Zum erstenmal aber schien sie gar kein Mitleid mit meinen Schmerzen zu haben. Sie hatte den Kopf zu voll mit ihren eignen Sorgen, schrieb an den Firmian, daß sie nun Hochzeit machen würden, sobald er frei geworden, ließ sich für ihn und sich alle nötigen Papiere aus ihrer Heimat kommen und bestellte das Aufgebot bei unserm Pfarrer, der freilich auch ein bißchen den Kopf dazu schüttelte, daß gleich vom Zuchthaus weg geheiratet werden sollte. Auch er wußte aber, daß sie sich von niemand raten ließ. Und wie ich ihr sagte: warte doch wenigstens, bis du ihn wieder gesehen hast; es könnte ja sein, er hätte sich sehr verändert – Nein, Frau Pate, sagt sie, das darf mich nicht hindern meine Pflicht zu thun. Wenn er noch so heruntergekommen aussähe, – ich wäre ja schuld daran und würde ihn nehmen wie er geht und steht.

Nun, ein bißchen dachte sie doch auch an sein Aeußeres, schrieb an den Gefängnisdirektor um seine Kleidermaße und ließ ihm dann zwei Anzüge machen, einen für den Werktag und einen für die Hochzeit. In der Sträflingsjacke mochte sie ihn doch nicht vor sich hintreten sehen.

Und dann kündigte sie ihr Kapital, das sie auf der Nürnberger Bank deponiert hatte – die Zinsen hatte sie nicht angerührt und obenein noch ein Sparkassenbuch angelegt, denn sie brauchte fast nichts für ihre Person, nicht einmal die Hälfte von dem Lohn, den ich ihr zahlte. Einmal fuhr sie noch selbst nach Nürnberg, ich glaube, um ihr Testament zu machen. Dann, als alles besorgt war, wurde sie ordentlich heiter und wieder ganz besorgt um mich und bat mich um Verzeihung, daß sie mich verlassen würde. Aber ich sähe wohl selbst, hier, wo alles ihn kannte, könne er nicht bleiben. Sie will mit ihm nach Amerika. Sogar die Billette zur Ueberfahrt hat sie schon in Hamburg besorgen lassen.

Nun soll in fünf Tagen die Hochzeit sein, eine ganz stille. Uebermorgen erwartet sie ihn, und jetzt, wo es ernst werden soll, kommt mir’s doch vor, als ob sie manchmal ein Schauer überliefe, daß sie nun die Hand drücken soll, die ihrem Geliebten den Tod gebracht hat. Aber dann schüttelt sie sich und spricht von gleichgültigen Dingen. Sie ist eben ein ganz apartes Menschenkind, und eben darum ein Jammer, daß sie sich in dieses Schicksal verrannt hat. Wenn ich denke, den Firmian rührte über Nacht der Schlag, und dann könnte mein Franz wieder Hoffnung fassen – – aber stille! Da kommt sie eben über den Hof. Verraten Sie ihr ja nicht, daß ich mir das Herz gegen Sie erleichtert habe!

Wirklich sah ich sie jetzt dem Garten sich nähern, mit ihrem steten, ruhigen Schritt und dem festen Blick der schönen großen Augen. Sie sah uns beide so eigen an, als ob sie wohl vermute, wovon wir so lange geschwatzt hatten, sagte aber kein Wort. Nur daß es Zeit für die Frau Pate sei, wieder ins Zimmer zu kommen, die Sonne scheine, durch das Dach des Bräuhauses abgehalten, nicht mehr in das Salettl. Wie du willst, Kind, sagte die Alte, ließ sich aufrichten und fester einwickeln und dann, mehr getragen als geführt, wieder zu Bett bringen, nachdem sie sich bei mir entschuldigt hatte, daß sie mich so lange belästigt habe.

*      *      *

Ich verließ denn auch bald nach den Frauen den Garten, holte mein Skizzenbuch und schlenderte ins Freie, um noch ein paar Striche zu machen auf einem andern Fleck als am Vormittag. So dankbar aber das Motiv war – ich kann es Ihnen noch zeigen – die Arbeit ging mir nicht recht von der Hand. Diese wunderliche trübselige Geschichte lag mir im Sinn, das Bedauern mit dem herrlichen Geschöpf, das eine so abenteuerliche Buße über sich nahm. Für andere Weiber ist’s ein Scheidungsgrund, wenn ihre Männer sich ins Zuchthaus gebracht haben; wenigstens wünschten sie, nun von ihnen loszukommen. Und dieses Mädchen wartet zwölf Jahre standhaft, bis der Bräutigam, den sie nie recht geliebt hat, frei würde, verschafft ihm einen Nachlaß seiner Strafzeit, will seinetwegen ihre Heimat aufgeben und ihm in eine ungewisse Ferne folgen – das schien mir in einem Atem großartig und verrückt, bewundernswert und kläglich, und ich konnte mich, wie die alte Frau Pate, des Wunsches nicht erwehren, der Himmel möchte dazwischenfahren und den Knoten dieses Trauerspiels durchhauen, ehe die schöne Heldin an dem unseligen Ehebund ersticken müßte.

Noch ehe es zum Zeichnen zu dunkel wurde, klappte ich das Buch zu und ging in die Stadt zurück.

Als ich aber in mein Zimmer trat, fand ich zu meinem Erstaunen Fräulein Johanne an meinem Tische stehend, ein Buch in der Hand, in welchem sie so eifrig gelesen haben mußte, daß sie mein Kommen überhörte. Es war die Tauchnitzausgabe des Vicar of Wakefield, die ich mit einiger andern Lektüre mitgenommen hatte, für Regentage; ich wollte ja seit Jahren eine Studienreise nach England und Schottland machen, zu der es auch heute noch nicht gekommen ist.

Verzeihen Sie, sagte das Mädchen, indem sie mit einer kleinen Verlegenheit das Buch wieder auf den Tisch legte, – ich wollte nachsehen, ob Ihr Zimmer gelüftet und frisches Wasser im Kruge sei – die Christel ist oft nachlässig –, da fiel mir das Buch in die Augen, und ich habe mir erlaubt –

Ich beruhigte sie, daß sie gar kein Verbrechen begangen habe, und fragte, wie sie denn Englisch gelernt habe, da Engländer doch wohl kaum unter den Passanten im Bayrischen Löwen zu finden seien.

Freilich nicht. Aber sie habe es schon seit Jahr und Tag auf ihre eigene Hand gelernt, es falle ihr nicht schwer, ein leichtes Buch zu verstehen, nur mit der Aussprache sehe es übel aus, da sie keinen Lehrer gehabt habe und aus der Grammatik nicht alles habe lernen können.

Ich lachte: das glaubte ich wohl; ich würde mich ihr gern zum Lehrmeister anbieten, aber wenn ich selbst auch länger bleiben wollte, ich hörte ja, daß sie schon in kurzem das Haus verlassen werde. Vielleicht fände sie auf der Ueberfahrt einen freundlichen Reisegefährten, der ihre Aussprache korrigieren könne.

Sie sah mich mit einem prüfenden Blicke an, ob ich es ernst meinte, oder, wie die anderen, ihre Auswanderung für ein tolles und thörichtes Unternehmen hielte.

Die Frau Pate hat Ihnen natürlich gleich meine ganze Geschichte erzählt, sagte sie dann. Sie kramt sie ja auch vor jedem aus, der die Geduld hat, ihr zuzuhören, und da ohnehin der ganze Ort darum weiß – aber hat sie Sie am Ende aufgestiftet, mir, wie sie’s versteht, zur Vernunft zu reden, um mich noch kurz vor der Entscheidung andern Sinnes zu machen, so möcht’ ich Sie bitten, sich darauf nicht einzulassen. Jeder weiß allein, was er thun und lassen soll, und ich habe lange genug Zeit gehabt, mit mir selbst darüber einig zu werden, was meine Pflicht ist.

Sie irren, Fräulein Johanne, sagt’ ich. Ihre Frau Pate hat mir gar keinen Auftrag gegeben; sie ist zu sehr überzeugt, daß Sie sich nicht mehr umstimmen ließen. Und ich selbst – daß Sie unter diesen Umständen nicht in der Heimat bleiben wollen, begreife ich ja. Auch werden Sie drüben über dem Wasser mit Ihrer Thatkraft und Besonnenheit sich bald einen neuen Wirkungskreis geschaffen haben und Ihr mangelhaftes Englisch wird Sie darin kaum hindern. Nur, wenn ich mich doch offen aussprechen soll – daß Sie die Heirat so übereilen, noch ehe Sie den Bräutigam wiedergesehen haben – ich meine nicht wegen seines Aeußeren, aber sein Charakter – wer bürgt Ihnen, daß es in Ihrer Macht steht, ihn wirklich glücklich zu machen, auch wenn Sie auf eigenes Glück gar keine Rücksicht nehmen wollen?

Sie schwieg eine Weile und sah an mir vorbei nach der alten Kirche hinüber. Die feinen Flügel ihres etwas stumpfen [63] Näschens zitterten, die hellblonden Brauen zogen sich zusammen.

Ich glaube, daß Sie es gut mit mir meinen, sagte sie endlich; aber es hilft nichts, darüber zu reden. Auch wenn ich es ihm nicht schuldig wäre, nur an sein Glück zu denken, auf ein eigenes Glück würde ich doch nicht mehr hoffen dürfen. Vielleicht, in dem fremden Lande, unter einem ganz neuen Himmel läßt sich ein ganz neues Leben anfangen. Und jedenfalls – hinüber müssen wir. Ich bin einmal als ganz junges Ding – kaum siebenjährig – ich hatte mich weit vom Dorf verlaufen und war auf eine moosige Wiese geraten, es gab dort so schöne Blumen, aber ehe ich mich’s versah, sank ich bis über die Knöchel ein, weit und breit kein fester Weg! Da dacht’ ich, wenn ich zurückginge, könne ich ebensogut im Sumpf stecken bleiben, also nahm ich mein Röckchen zusammen, zog einen Schuh nach dem andern aus dem Moorgrund und hielt sie beide hoch, um leichtere Füße zu haben, und dann in Gottesnamen vorwärts, noch eine gute Strecke, bei der ich das Wasser unter mir gurgeln hörte, das mir ein paarmal über die Kniee ging, und endlich hatt’ ich’s doch überwunden und wieder festen Grund unter den Füßen! So, denk’ ich, wird’s auch jetzt das Klügste sein, nur vorauszuschauen und alles unserm Herrgott anheimzustellen.

Sie wandte sich mit einem stillen, ernsten Gruß hinweg und überließ mich meinen Gedanken.

*      *      *

Am nächsten Tage kam es nicht mehr zu einem Gespräch zwischen uns.

Ich war sehr fleißig an meiner angefangenen Studie, doch mehr mit der Hand, denn ich hatte Kopf und Herz zu voll, um recht bei der Sache zu sein.

Wenn ich Ihnen zu Anfang gesagt habe, die traurige Geschichte habe mich persönlich nicht betroffen, so ist das nur halb wahr. Freilich – was ging mich das sonderbare Mädchen, ihr Geschick und ihre Zukunft eigentlich an? Ich war weder ihr Bruder noch ihr Freund, noch auch – aber nein! das war’s ja eben: ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich mich gründlich in sie verliebt hatte, nicht bloß mit meinen Maleraugen in ihre reizende äußere Erscheinung, sondern in die ganze Person mit all ihren rührenden Wunderlichkeiten und heroischen Schrullen. Ich mußte beständig daran denken, was für ein Glück es sein müßte, eine solche Geliebte, solche Frau, solche Herzensfreundin und Lebensgefährtin zu haben und sie nach und nach das verlorene Lachen wiederfinden zu sehen. Und dazu war nun nicht die mindeste Hoffnung, weil dies seltene Wesen an einer Hypertrophie des Gewissens litt, von der niemand sie kurieren konnte.

Ich schlief sehr schlecht in meinem Himmelbett und überlegte beständig, ob es nicht das Gescheiteste wäre, mein Bündel zu schnüren und durchzubrennen, ehe ich den verwünschten Tölpel zu Gesicht bekäme, der sich dies Prachtmädel nur durch ein bißchen Mord und Zuchthaus verdient hatte! Aber ich kam nicht von ihr los. Wenn sie mir auch nur ein Gericht auftrug oder den Krug mit einem „Wohl bekomm’s!“ vor mich hinstellte, wurde mir schon wohl ums Herz; ich mußte dann an mich halten, daß ich nicht ihre Hand faßte und ihr zuraunte: Sei doch gescheit, Mädel! Laß deinen zwölfjährigen, längst verschimmelten Liebhaber sitzen und geh mit mir! Für den Firmian wollen wir sorgen, der läßt sich gewiß mit einem schönen Stück Geld abfinden. Du aber sollst es so gut bei mir haben, daß dein pedantisches Gewissen gar nicht mehr zur Besinnung kommt.

Ich fand natürlich nicht den Mut, so zu ihr zu sprechen, und das war gut. Sie hätte mich groß angesehen und mir wie einem, der plötzlich übergeschnappt wäre, den Rücken zugedreht.

So kam ich auch am zweiten Tage nach unsrer letzten Unterredung sehr verstimmt und unschlüssig gegen Mittag nach dem Gasthofe zurück, zumal ich mir eine Skizze schändlich verklext hatte. Da sah ich vorn neben der Einfahrt auf einem Stuhl, der sonst nicht dort stand, eine Figur sitzen, in der ich unschwer den verhaßten Begnadigten erkannte: einen langen hageren Gesellen, dessen Arme und Beine so dünn waren, daß der Sommeranzug aus karriertem Zeug eine Menge Falten warf. Das Gesicht aber war gedunsen, von einer fahlen Farbe, die schwammigen Backen von einem eben aufsprossenden Bart umstarrt. An der geraden Nase und dem Schnitt der Augen konnte man noch erkennen, daß er ehemals ein hübscher Bursche gewesen sein mußte. Aber die vorquellenden wasserblauen Augen und die hängende Unterlippe gaben dem Gesicht einen widerlich stumpfsinnigen Ausdruck, zumal er beständig vergnügt lächelte, zuweilen wie im Gefühl besonderer Wichtigkeit die Brauen in die Höhe zog und, seinen braunen Strohhut lüftend, sich in dem kurzgeschorenen, schon ganz ergrauten Haare kraute.

Er hatte einen Maßkrug neben sich auf der Erde stehen, aus dem er dann und wann einen Zug that, worauf er sich mit dem Rücken seiner sehnigen Hand die breiten Lippen trocknete. Dann sah er wieder wohlgemut um sich her, nickte den Schulkindern zu, die sich im Halbkreis um ihn gesammelt hatten und ihn wie ein Wundertier angafften, und schien nicht im mindesten dadurch betroffen, daß Männer und Weiber, die über den Markt gingen, ebenfalls stehen blieben und sich in halblauten Reden über ihn lustig machten.

Das also war der Glückliche, der die Braut heimführen sollte!

Nun, ungefähr so hatte ich ihn mir gedacht, aber daß ich ihn jetzt leibhaftig vor mir sah, gab mir doch einen Stich ins Herz, als wäre jetzt erst die letzte Hoffnung geschwunden, daß das Gefürchtete noch abgewendet werden könnte. Ich sputete mich, an dem verhaßten Thürhüter vorbeizukommen; der aber stand mit einer linkischen Gebärde der Höflichkeit auf, grinste mich neugierig an und zog den Hut. Ich sah jetzt, daß er – infolge der harten Gefängniskost – mit einem ansehnlichen Bauch behaftet war, der zu der übrigen Dürre seiner Gliedmaßen in lächerlichem Kontrast stand. In demselben Augenblicke öffnete sich die Thür des Gastzimmers und die Johanne trat heraus. Als sie mich erblickte, stieg ihr das Blut ins Gesicht, sie schlug aber die Augen nicht nieder, sondern heftete sie tapfer auf den unsicher dastehenden Bräutigam und sagte: Komm’ jetzt herein, Firmian. Das Essen ist fertig.

Dann, als er sich nicht gleich rührte, sondern nach seinem Kruge zurückschielte, nahm sie ihn am Arme und führte ihn an mir vorbei ins Haus, aber nicht ins Gastzimmer, sondern in die Schenkstube gegenüber, die jetzt leer war. Drüben pflegten sich einige Stammgäste zu Mittag einzufinden, der Stationsvorsteher, der Apotheker, der unverheiratet war, ein Forstgehilfe und zuweilen der Bezirksarzt. Ich begriff, daß sie es nicht über sich gewann, ihren Verlobten dieser Gesellschaft vorzustellen.

Ich selbst vermied es, sie anzusehen, so sehr that sie mir in der Seele weh. Auch während des Essens war’s heute im Gastzimmer stiller und ungemütlicher als sonst. Die Herren, die natürlich alle den armen Sünder gesehen hatten und nun erst recht die ganze Geschichte verrückt fanden, tauschten flüsternd ihre Gefühle und Ansichten aus und verstummten, sobald die Braut sich wieder blicken ließ.

Ich konnte nur ein paar Bissen hinunterwürgen und machte, daß ich wieder auf mein Zimmer kam.

Oben im Korridor begegnete ich der Wirtin, die mühsam am Stock herumwankte. Haben Sie ihn nun auch gesehen? raunte sie mir zu. Ach Gott und Vater, ist es denn zu glauben?

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich – oder auch seine Hölle! – etwas Tröstlicheres wußte ich der armen Alten nicht zu sagen. Dann schloß ich mich in meinem Zimmer ein, rauchte eine Cigarre nach der andern und hatte sogar nicht einmal Lust, mich im Freien zu ergehen; meine bitteren Gedanken wären mir ja überall gefolgt.

Im Hause war’s seltsam still, als läge darin ein Todkranker. Als die Christel mir abends frisches Wasser brachte, sah ich, daß sie rotverweinte Augen hatte. Sie wollte gern von der Hochzeit anfangen, sie hing sehr an ihrem Fräulein Johanne, ich schnitt aber alles weitere ab, indem ich mich stellte, als wäre ich in meine Lektüre vertieft.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Ueber Nacht war ein Gewitter niedergegangen, und während der Morgenstunden hatte es so ausgiebig geregnet, daß ich nicht daran denken konnte, meine Staffelei draußen aufzuschlagen. Es lag mir [64] auch nicht viel daran, ich war, wie gesagt, ohnehin nicht con amore dabei.

Also stand ich am Fenster und sah auf den Marktplatz hinab, wo die Bäume sich des frischen Bades erfreuten. Das Laub hatte sich so mächtig entfaltet, daß der Brunnen fast dazwischen verschwunden war, und die Bäumchen auf der Burgruine, deren Umriß sich über dem schwarzen Kirchendach erhob, waren plötzlich grün geworden.

Ich dachte eben, ich sollte eine Skizze von dieser Morgenscene machen, als die Glocken wieder zu läuten anfingen, was den Schluß des Gottesdienstes ankündigte. Einzelne Männer und Frauen kamen aus der spitzbogigen Pforte, schienen aber mit dem Heimweg keine Eile zu haben, sondern zögerten draußen noch herum. Immer mehrere kamen, und alle machten es wie die ersten. Worauf sie warteten, sollte mir bald klar werden.

Denn jetzt erschien eine lange schwarze Gestalt in einem Tuchanzug, der an allen Ecken und Enden zu weit war, einen hohen Cylinder auf dem Kopf, darunter ein bleiches, gedunsenes Gesicht, das aber ganz zuversichtlich umhersah, vielmehr es als eine Art Huldigung aufzufassen schien, daß so viele Augen ihm entgegen spähten. Neben dieser Karikatur von einem ungelenken philisterhaften Kirchgänger nahm sich seine ebenfalls schwarzgekleidete Begleiterin wie eine Fürstin aus, schon durch die stolze Haltung ihres Nackens, der sich auch jetzt nicht beugen wollte. Sie war mir nie so schön erschienen, die Augen so groß und dunkel, und doch wie von einem leichten Schleier bedeckt. In der einen Hand hielt sie ein Meßbüchlein, an der anderen ließ sie sich von der Vogelscheuche an ihrer Seite führen. Ein paarmal wendete sie den Kopf nach rechts und links, einer Bekannten zuzunicken. Dann zog ihr Begleiter mit einem feierlichen Schwunge den Hut und lächelte blöde die Leute an.

Der Weg über den Platz war nicht weit. Mir aber war doch, als das Paar im Hausflur des Gasthofs verschwunden war, als hätte ich am eigenen Leibe die Wunden gespürt, die man ihr bei diesem Spießrutengang durch das gaffende Spalier beigebracht hatte.

*      *      *

Mittags ließ sie sich im Gastzimmer nicht sehen. Die Christel bediente uns und erzählte, Fräulein Johanne habe am Morgen mit ihrem Bräutigam kommuniziert und esse mit ihm auf seinem Zimmer. Mir war’s nur lieb, daß sie nicht zum Vorschein kam. Ich hätte nicht gewußt, mit welchem Gesicht ich sie begrüßen sollte.

Auch war ich entschlossen, den Tag der Hochzeit – übermorgen – nicht abzuwarten, sondern schon morgen mit dem Abendzuge abzureisen. Als ich aber am Montag Vormittag mein Zimmer verließ, um an einer meiner Studien noch ein paar Striche zu machen, begegnete sie mir im Korridor, und es war keine Möglichkeit, ihr auszuweichen.

Ich hätt’ es gern gethan, denn zu allem andern erschien sie mir verwandelt, so aufgeregt lustig, daß mir diese unheimliche Heiterkeit noch weher that als ihre trübsinnige Resignation. Sie begrüßte mich mit einer lauten Stimme, die mir auch fremd klang, sie danke mir vielmals für das Buch, das ich ihr zum Andenken geschenkt hatte – den Vicar of Wakefield – und auf der Seereise werde sie Zeit genug haben, die ganze Geschichte zu lesen, vielleicht finde sich dann auch jemand, ihre Aussprache zu korrigieren. Heute habe sie alle Hände voll zu thun, ihr und ihres Bräutigams Koffer sei schon gepackt, nun müsse sie noch Kuchen backen für die Hochzeit morgen. Gleich nach der Frühmesse werde sie getraut werden, hernach gebe es nur ein Frühstück mit den Trauzeugen, dem Herrn Bezirksarzt und dem Apotheker – Sie begreifen, daß ich es gern möglichst still und klein haben will, sagte sie, denn die dummen Menschen verstehn mich ja nicht und glauben, es sei mein Unglück. Ich allein weiß, was mir bevorsteht, und unser Herrgott sieht in mein Herz, und so kann ich alle auslachen, die mich für verrückt halten. Haha! – sie lachte wirklich! sie, die seit zwölf Jahren nie gelacht hatte! Es war auch danach: wie eine zersprungene, verrostete Glocke, die man nach langer Zeit wieder einmal anschlägt.

Mich überlief es kalt. Ich wünsche Ihnen das beste Glück, Fräulein Johanne, sagt’ ich, und wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte – ich reise schon morgen mit dem ersten Zug – so lassen Sie mich Ihnen Lebewohl sagen, und denken Sie manchmal an mich, als an einen Freund, der Sie nie vergessen wird.

Nein, nein! machte sie, ich lasse Sie nicht fort. Meinen Kuchen müssen Sie durchaus probieren und morgen früh sich überzeugen, wie ich als glückliche junge Frau aussehe. Sie haben wohl Furcht, es möchte viel geweint werden? Die Frau Pate freilich – für die steh’ ich nicht. Aber ich – Sie sollen sehen wie vergnügt ich sein werde, ich habe ja auch Ursache dazu – einen Mann zu kriegen, der zwölf Jahre Wolle gezupft hat, um mich endlich heimführen zu dürfen – und wenn er darüber ein bißchen schläfrig geworden ist, ich werde ihn schon aufwecken, und es wird eine recht musterhafte Ehe geben, wie sie nicht immer so gut und friedlich ausfallen. Nur erst fort – fort! Sie glauben nicht, wie müde ich mich fühle, aber das hat ja so sein müssen, und jetzt bin ich am Ziel. Also Sie bleiben noch zur Hochzeit, ich nehme keine Ausrede an, und nun noch vielen Dank für all Ihre Freundlichkeit!

Damit huschte sie von mir weg, auch darin verwandelt, daß sie alles in einer seltsamen Hast that und z. B. die Treppe hinunter sprang wie ein ganz junges Ding.

Ich kann nicht sagen, welch peinlichen Eindruck das alles auf mich machte.

Draußen auf dem Markt sah ich den Firmian. Er kam, in seinem Sommeranzug, aus einem Laden, in dem allerlei kurze Ware zu Kauf geboten wurde, hatte sich eine Pfeife angeschafft mit einem Porzellankopf, auf dem ein Mädchen in sehr losem Gewande gemalt war. Als ich an ihm vorüberging, zeigte er mir seinen Einkauf mit einem vertraulichen Grinsen, ohne dabei zu sprechen, und ging dann in einen anderen Laden, wo Tabak zu haben war. Seine Braut hatte ihn offenbar mit einem Taschengeld versehen, das er sich nun beeilte loszuwerden, um dadurch die lang entbehrte Freiheit zu bekunden. Die Kinder ließen sich’s nicht nehmen, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen und auch wohl gelegentlich ihm etwas zuzurufen, was ehrenrührig klang. Er aber schien auch das wie eine Huldigung hinzunehmen, zog zuweilen mit ironischer Höflichkeit den Hut und schwenkte ihn gegen die ungezogene Bande, die dann schreiend und lachend auseinanderstob. Es war offenbar, daß er kein klares Bewußtsein mehr hatte von allem, was um ihn und mit ihm vorging.

Und dieses arme Mißgeschöpf, das man nicht mehr für einen richtigen Menschen ansehen konnte, sollte morgen früh – der Gedanke war nicht auszudenken!

*      *      *

Ich verbrachte den Tag in tiefer Verstimmung, die ich an meiner armen Studie ausließ. Zu Mittag mochte ich nicht in den Gasthof zurückkehren. Ich ließ mir in einem Bauernhof eine Schüssel Milch und Brot geben und malte nachmittags weiter. Aber es ging endlich nicht mehr. Ich packte mein Malgerät zusammen, als es noch kaum zu dämmern anfing, und beschloß, den Hochzeitsmorgen überhaupt nicht abzuwarten, sondern schon mit dem Abendzug mich aus dem Staube zu machen.

Als ich aber in den Ort zurückkehrte, erstaunte ich nicht wenig, den kleinen Marktplatz schwarz von Menschen zu finden, die alle in dumpfem Schweigen nach den Fenstern des Bayrischen Löwen hinaufstarrten. Sämtliche Einwohner des Städtchens schienen aus ihren Häusern herausgekommen zu sein, in Erwartung irgend eines ungewöhnlichen festlichen oder traurigen Schauspiels.

Warum stehen hier alle Leute? fragte ich einen ehrsamen Bürgersmann, der von seiner Arbeit weggelaufen zu sein schien, da er noch den Schurz vorgebunden hatte und keine Mütze trug.

Fräulein Johanne ist vor einer Stunde von ihrem Bräutigam erschossen worden, war die Antwort, mit einem so verstörten Gesicht, als handle sich’s um eine nahe Verwandte.

Das Mädchen wurde allgemein verehrt; ich hatte es an vielen Beweisen sehen können.

Aber das ist ja unmöglich! rief ich, im Innersten erschüttert. Am Tag vor der Hochzeit – und da er ihr alles verdankt –

Es soll nicht mit Absicht geschehen sein, sagte ein anderer. Mit dem Firmian war’s nicht ganz richtig – er ist auch jetzt ganz auseinander – aber tot ist sie –

[65] Nein, sie hat noch gelebt, rief eine alte Frau, die heftig weinte, und sie hat noch sagen können, daß den Firmian keine Schuld trifft, und dann hat sie noch versehen sein wollen – und da kommt eben der Herr Pfarrer – o Jesus Maria Joseph! das Unglück! Einen Tag vor der Hochzeit!

Wirklich sah man eben den Geistlichen, der das Viaticum in den Händen trug, von einem Chorknaben gefolgt aus der Einfahrt des Gasthofs kommen und durch die Menge, die vor ihm niederkniete, der Kirche zuschreiten. Sein breites, joviales Gesicht war sehr ernst. Als er mich erblickte, nickte er mir mit einer schmerzlichen Gebärde zu und erhob dann die Augen zum Himmel.

Wie mir zu Mute war, können Sie sich ungefähr denken. Aber so gräßlich das Ereignis erschien, ich empfand doch heimlich eine gewisse Erleichterung nach dem peinlichen Druck der letzten Tage. Alles besser als das, was am nächsten Morgen hatte geschehen sollen!

Ich drängte mich hastig durch die Menge durch, betrat das Haus und stieg mit zitternden Knieen die Treppe hinauf, an der weinenden Christel und dem alten Hausknecht vorüber, die Mühe hatten, den Schwarm der Neugierigen und Trauernden zurückzuhalten. Das ganze Haus und den Korridor oben durchzog noch die duftende Wolke des Weihrauchs, die der Priester zurückgelassen hatte. Die wies mir auch den Weg nach dem Sterbezimmer.

Die Thüre stand offen. Vom Hof herein drang nur noch ein schwaches Zwielicht. Ich sah die Johanne auf ihrem Bett lang ausgestreckt, mit geschlossenen Augen, die sie langsam öffnete, als ich über die Schwelle trat. Nie werde ich den Blick vergessen, von einer so verklärten Ruhe, fast heiter, und um die Lippen ein schwaches Lächeln, als ob sie sagen wollten: du siehst, du hast dir umsonst Sorge gemacht um meine Zukunft. Ich habe nun keine andere Zukunft mehr, als im Himmel.

Das neue Landtagsgebäude in Berlin.
Nach einer Photographie von Jul. Richter in Berlin.


Es dauerte aber nur ein paar Sekunden, dann wich der Glanz aus den großen grauen Augen und das edle Haupt, an dessen linker Seite hinter dem Ohr dunkles Blut in langsamen Tropfen auf das weiße Kissen rann, neigte sich nach rechts, und die Brust begann schwer zu arbeiten. Jetzt erst bemerkte ich, wer noch im Zimmer war. An der Seite des Betts kauerte, unförmlich in sich zusammengesunken, der unglückliche Mensch, der mir mit dem Ausdruck blöder Hilflosigkeit entgegenstarrte, während ihm die Thränen über das verzerrte Gesicht liefen. Er hatte die eine Hand der Sterbenden mit seinen beiden knochigen Fäusten umklammert, als ob er sie mit Gewalt festhalten wollte, daß sie ihn nicht verließe, und sie hatte ihm ihre blasse Hand nicht entzogen. Am Fußende des Bettes aber kniete in einem Aufzuge, wie wenn sie selbst eben erst ihr Bett verlassen hätte, das schwarze Tuch um den grauen Kopf gehüllt, die alte Wirtin, leise in sich hinein schluchzend.

Keine zehn Minuten hatte ich in meiner Erschütterung so gestanden und dem Rätsel dieses Schicksals nachgesonnen, da traten noch zwei Männer herein, der Bürgermeister und der Bezirksarzt, beide in tiefer Bewegung. Der Arzt näherte sich dem Bette, faßte die andere Hand der jetzt regungslos Daliegenden und drückte sein Ohr an ihr Herz. Nach einigen Minuten richtete er sich wieder auf. Es ist vorbei! sagte er leise. Dann entwand er die andere Hand dem Firmian, legte beide gefaltet auf die Decke und schloß die offenen Lider. Der Bürgermeister bückte sich zu dem Burschen herab, der jetzt in ein krampfhaftes Heulen ausbrach. Steh auf! sagte er barsch, du mußt mit mir kommen. – Ich bin unschuldig! rief der Unglückliche. Gott weiß, ich hab’ es nicht gethan. – Das wird sich finden, antwortete der gestrenge Vater der Stadt. Das Gericht wird darüber entscheiden.

Er packte den Widerstrebenden am Arm und zerrte ihn in die Höhe.

Führen Sie ihn nur fort, Herr Bürgermeister, kam es jetzt aus dem schwarzen Tuch hervor, aber behandeln Sie ihn nicht wie einen Missethäter. Ich kann bezeugen, daß er es nicht gethan hat. Wer die Schuld trägt, ob es nur ein Zufall war, oder ob sie selbst – nur der himmlische Richter kann es entscheiden. Ach meine arme Johanne, mein unglückliches Kind –.

Und sie raffte sich mühsam auf, tastete sich am Bett entlang und drückte ihren stammelnden Mund auf die gefalteten Hände.

*      *      *

Die Männer hatten sich entfernt und den Firmian mit fortgeführt. Es gelang mir mit großer Mühe, die alte Frau zu bewegen, daß auch sie das Zimmer verließ und der Seelnonne, die inzwischen angelangt war, die Sorge für die Tote übergab.

Ich führte die heftig Weinende in ihr eigenes Zimmer neben dem der Johanne und bestand darauf, daß sie sich wieder zu Bette legte. Dann setzte ich mich zu ihr.

Ueber eine Stunde blieb ich dort, und während nebenan die Tote eingekleidet und aufgebahrt wurde, was unter beständigem Schluchzen und Gebetemurmeln der Christel geschah, hörte ich von der zuverlässigsten Zeugin, wie das schreckenvolle Ende dieses Trauerspiels sich zugetragen hatte.

Die gute Frau hatte gerade einen ihrer bösesten Anfälle und hütete schon seit dem Morgen das Bett. Von Zeit zu Zeit sei die Johanne hereingekommen, nach ihr zu schauen. Auch der Alten war die aufgeregte Munterkeit ihres Gesichts und ihrer Reden unheimlich gewesen, sie hatte aber nur gedacht, das Mädchen wolle sich über ihre eigene Bangigkeit betäuben.

Dann, gegen Abend schon, habe sie plötzlich die Thüre nebenan gehen und das Brautpaar eintreten hören und sich noch gewundert, daß die Johanne ihn in ihr Zimmer ließ, was sie bisher streng vermieden hatte. Die Thür zwischen beiden Stuben, die nach dem Hof gingen, schließe so wenig fest, daß man jedes Wort hören könne, das nebenan gesprochen werde. Darauf gerade muß es der Johanne angekommen sein.

Gleich beim Eintritt habe der Firmian sie küssen wollen. Sie habe ihn aber fortgedrängt und gesagt, dazu sei morgen nach der Trauung Zeit genug, er müsse überhaupt versprechen, sehr brav zu sein, sonst dürfe er nicht bei ihr bleiben. Sie möchte aber allerlei mit ihm besprechen.

[66] Dann habe sie ihn zum Sitzen genötigt und gesagt: Schau, Firmian, du mußt doch auch wissen, was deine Frau dir in die Ehe mitbringt. Da in der Kommode habe ich die Papiere, die ich bisher auf der Bank verwahrt hatte – und sie nahm das Bündel heraus, breitete die einzelnen Scheine auf dem Tisch vor ihm aus und sagte ihm, auf wieviel sich die Summe belief. In ihrem Testament, das der Notar aufbewahre, habe sie ihm ihren ganzen Besitz vermacht, wenn sie vor ihm sterben solle, was ja immerhin möglich sei, da sie nicht wisse, ob sie das Klima drüben ertragen werde. Und dann zeigte sie ihm noch ihr Sparkassenbuch und sagte: Ich weiß zwar, du nimmst mich nicht des Geldes wegen, aber es wird dich doch beruhigen, daß wir drüben in Amerika nicht um den Taglohn arbeiten müssen, sondern uns ein Stück Land kaufen können und mit der Zeit, will’s Gott! zu einem hübschen Wohlstand gelangen. Arbeiten mußt du freilich, und versprich mir auch, das Trinken zu lassen, zu dem du schon vom Vater her Neigung hast. – Das versprach er ihr, mit Handschlag, und wollte sie wieder an sich ziehen. Aber sie wehrte ihn wieder ab, that die Papiere in die Schublade zurück und zeigte ihm dabei auch die beiden Billette zur Ueberfahrt. Immer ganz heiter. Und er brauche sich auch nicht vor der Seekrankheit zu fürchten, sie wisse schon ein Mittel dagegen.

Er selbst sprach nur wenig. Er scheint sie immer nur mit verlangenden Blicken angesehen zu haben.

Dann sei sie aufgestanden und ein paarmal schweigend durch das Zimmer auf und ab gegangen. Als ob sie noch ein paar Atemzüge habe thun wollen vor dem letzten Entschluß. Dann auf einmal sei sie wieder an der Kommode stehen geblieben und habe ein anderes Fach herausgezogen. Ich wußte, was sie darin aufbewahrte, sagte die Alte. Nach der Gerichtsverhandlung vor zwölf Jahren hat sie sich den Revolver zu verschaffen gewußt, der eigentlich zu Gerichtshänden verbleiben mußte, und das Mordwerkzeug, das so großes Herzeleid über sie gebracht, in einem schwarzen mit Sammet gefütterten Kästchen aufbewahrt. Nur ein einziges Mal war ich darüber gekommen, als sie krank war und ich ihr etwas von ihrer Leibwäsche holen mußte.

Schau, sagte sie und legte die kleine Waffe auf den Tisch vor ihm hin, erkennst du dies noch?

Er antwortete mit einem dumpfen Grunzen.

Wie hast du’s denn eigentlich angestellt, den Revolver gebrauchen zu können? Du hast dich doch sonst mit Schießwaffen nie abgegeben.

O, sagte er und lachte kurz auf, ein Lachen, das mir grauenhaft klang, ich bin schon gescheit genug gewesen, mir das Laden und Schießen von dem Büchsenmacher, bei dem ich’s gekauft hab’, zeigen zu lassen. Und dann bin ich den Nachmittag, eh ich’s hab’ brauchen wollen, weit über Feld gegangen, nach der Gänsweide zu, wo keine Menschenseele mir begegnet ist. Da hab’ ich mich eingeschossen, auf Krähen, und erst wie ich die dritte getroffen hab’, hab’ ich gedacht, jetzt ist’s genug, jetzt wirst auch den Veit nicht fehlen.

Und wieder lachte er, und ich dachte: wie erträgt sie das nur! Sie blieb aber eine ganze Weile still, und dann hörte ich sie plötzlich sagen: Geschickt hast du’s schon angestellt, daß du nicht mit dem Messer auf ihn losgegangen bist, denn dann hätt’ er dir’s aus der Hand gewunden und dein Blut, statt seines, wär’ über den Friedhofrasen geflossen. Und schon mit der zweiten Kugel hast du ihn kalt gemacht. Nicht wahr, es stecken noch vier Schüsse drin? Wenn in dem Amerika Räuber unsre einsame Farm überfallen wollen, denen soll’s schlecht bekommen, gelt? Aber du mußt mir nun auch zeigen, wie man’s anstellt. Da, nimm’s einmal in die Hand und ziele – du kannst ja zum Fenster hinausschießen – so! – nein, thu’s nicht – ich fürcht’ mich vor dem Knall, – und auch die Pate könnt’ erschrecken – gieb das Ding wieder her –

Im nächsten Augenblick hört’ ich den Schuß und zugleich den Schrei des Firmian: Herrgott und Vater, Johanne –! und dann den dumpfen Fall der armen Getroffenen, und schreie: Firmian, was hast du gethan? und der unselige Mensch reißt die Thür zu mir auf, die rauchende Waffe noch in der Hand, und ruft: Kommen Sie geschwind, Frau Pate! Die Johanne – sie hat mir den Revolver aus der Hand nehmen wollen und wie sie danach gegriffen hat, ist er losgegangen, gerade auf sie zu, und hat sie hinterm Ohr getroffen und – o alle Heiligen, sie stirbt, die Johanne stirbt!

Ich bin dann hinein, wir haben sie aufs Bett gehoben, sie hat mit ihrer schwachen Stimme sogleich gesagt: der Firmian ist unschuldig, ich habe es so ungeschickt angestellt –

O du arme Seele! Nur allzu geschickt hast du’s angestellt! Niemand sollte wissen, daß du lieber ins Grab wolltest, als in dieses Brautbett. Wir zwei aber, nicht wahr, lieber Herr, wir haben sie besser gekannt. So tapfer sie war, das hat sie denn doch nicht übers Herz gebracht, neben dem hinzuleben, der ihren Geliebten unter die Erde gebracht hat.

*      *      *

Ich trat dann noch in das Sterbezimmer. Man hatte das Bett von der Wand abgerückt, zwei Kerzen daneben gestellt und die Leiche mit dem Myrtenkranz geschmückt, den sie morgen in der Kirche hatte tragen sollen. So lag sie still und friedlich aufgebahrt. Ich konnte mir’s nicht versagen, noch ihr schönes, vornehmes Profil zu zeichnen. Wenn ich Ihnen das Blatt zeige, werden Sie begreifen, daß ich ein paar Jahre brauchte, bis dies Gesicht in meiner Erinnerung zu verblassen anfing.


Blätter und Blüten.


Bismarck-Ehrung der deutschen Studentenschaft. An das deutsche Volk richtet sich ein Aufruf, den die deutsche Studentenschaft erlassen hat. Er fordert auf zu einer allgemeinen Kundgebung, die dem Andenken des Fürsten Bismarck ein würdiges Wahrzeichen vaterländischen Dankes aufrichten soll. In erhebender Weise will die deutsche Studentenschaft den gewaltigen Schmied der deutschen Einheit in ähnlicher Art ehren, wie einst die alten Sachsen und Normannen die Gräber ihrer Helden auszeichneten. Ueber den Leibern der in Kampf und Rat ums Vaterland verdienten Männer türmten sie schmucklose Felsensäulen auf, deren Spitzen Feuerfanale trugen. – Felsensäulen, mit ehernen Feuerbehältern gekrönt, nur mit dem Wappen und Wahlspruch des eisernen Kanzlers geschmückt, sollen sich in Zukunft auf allen Höhen unserer Heimat erheben. Ueberall soll das gleiche Zeichen erstehen als ein Sinnbild der Einheit Deutschlands. Es liegt ein so kräftiger urgermanischer Zug in dieser Kundgebung der deutschen Jugend, daß er überall nur die wärmsten Sympathien erwecken kann und die regste Förderung verdient.

Welche Form die „Bismarcksäule“ erhalten wird, darüber sollen bedeutende Künstler entscheiden. Die deutsche Studentenschaft will aus eigenen Mitteln zwei Säulen errichten: eine in Friedrichsruh und eine bei Straßburg i. E. Zugleich sollten aber mindestens bei jeder Stadt, die der Sitz einer deutschen Hochschule ist, die granitenen Denksteine sich erheben. Dazu mögen die Vaterlandsfreunde die Mittel aufbringen. Jede, auch die kleinste Spende ist willkommen. Sämtliche akademische Korporationen aller deutschen Universitäten und Hochschulen, die „Bergisch-Märkische Bank“ in Elberfeld, die „Deutsche Bank, Hauptdepositenkasse“ in Berlin W, Mauerstraße, das Bankgeschäft „Goldschmidt & Cie.“ in Bonn sowie die „Westdeutsche Bank“ in Bonn nehmen Beiträge entgegen. Jede Studentenschaft wird sich verpflichten, die Bismarcksäule ihrer Hochschule in ihre besondere Obhut zu nehmen und alljährlich die Feuer zu entzünden. Auf einer Delegiertenversammlung in Hamburg wurde der 21. Juni als studentischer Bismarck-Gedenktag erwählt und ferner der Beschluß gefaßt, daß Vertreter aller Hochschulen alljährlich am Todestage des Fürsten Bismarck im Namen aller Studenten einen Kranz am Sarge des Altreichskanzlers niederlegen. Sicher werden sich dem Vorgehen der Studentenschaft auch andere Kreise unseres Volkes anschließen. So wird das treue Gedenken an den Schöpfer der deutschen Einheit in künftigen Zeiten den Ausgangspunkt vaterländischer Feiern bilden und das junge Geschlecht daran erinnern, sich des segensreichen Erbes einer großen glorreichen Vergangenheit würdig zu erweisen.

[67] Mädchen aus dem Gutachthale. (Mit Abbildung.) Vor ein paar Jahren konnten wir unseren Lesern berichten, wie das in allen deutschen Gauen erwachte Streben, die alten Volkstrachten zu erhalten, auch im badischen Schwarzwald sich rege. Wir brachten damals (Jahrgang 1894, S. 689[WS 1]) zwei Abbildungen von Gruppen „lebender Bilder“, welche bei einem Trachtenfest im Schwarzwalddorf Gutach gestellt worden waren, einem Fest, das von dem dortigen Verein zur Erhaltung der Landestrachten veranstaltet wurde. Die Tracht des Gutachthals ist eine der malerischsten im ganzen Schwarzwald. Da nun auch der Charakter seiner Bewohner sehr liebenswürdig und die Landschaft dort überaus reizvoll ist, kann es nicht wundernehmen, daß sich seit Jahren im Sommer eine kleine Malerkolonie in Gutach zusammenfindet, deren Mitglieder mit Eifer dafür wirken, daß alte Tracht und Sitte sich in der dortigen Gegend erhalten. Der Gründer dieser Kolonie ist Wilhelm Hasemann, dem wir auch das hübsche Mädchenbildnis verdanken, das unser heutiges Heft schmückt. Als dieser aus der Provinz Sachsen stammende, an der Weimarischen Akademie gebildete Künstler vor nunmehr bald zwanzig Jahren auf fröhlicher Wanderfahrt durch den Schwarzwald mit seinem Malkasten in das Gutachthal kam, behagten ihm Land und Leute derart, daß er beschloß, hier für den Sommer dauernd seinen Aufenthalt zu nehmen, und sich im Dorfe ein Atelier bauen ließ. Dort entstanden dann Hasemanns köstliche Illustrationen zur Prachtausgabe von Auerbachs „Lorle“, welche bei ihrem Erscheinen Ludwig Pfau mit dem schönen Lobe begrüßte, daß man beim Anblick dieser Bilder den vollen Duft des freien Feldes atme und fühle, daß sie wie Blumen frisch und wild von Wald und Wiese weggeholt sind. Auch das kleine Lorle unter dem großen Gutacher mit roten Wollrosen besetzten Strohhut auf unserem Bild macht solch frischen Eindruck, wie es da frohen Sinns vor dem wehenden Kornfeld steht.

Mädchen aus dem Gutachthale.
Nach dem Gemälde von W. Hasemann.

Das Kerzenspiel. (Zu dem Bilde S.40 u. 41.) Zu Goethes Jugendzeit hätte dies Bild keiner Erklärung bedurft, denn überall, wo Mädchen und junge Leute zusammenkamen, gab es Gesellschaftsspiele, und das hier dargestellte erfreute sich ganz besonderer Beliebtheit. Wir sehen es in vollem Gang. Eins der Mädchen steht mit dem brennenden Licht an seinem Stuhl – wie graziös sie es zu machen weiß! – und die Gesellschaft bemüht sich, das Licht auszublasen. Wer es fertig bringt, kommt selbst auf den Stuhl und das Spiel geht weiter, aber es kann bis dahin lange dauern, wenn die Kerze, wie hier, unbarmherzig hoch gehalten wird. In die Höhe springen ist verboten, so streckt sich denn der Jüngling im hellfarbigen Atlasrock aufs äußerste und bläst immer hitziger, während rundum die mutwillige Jugend laut auflacht, ja selbst die Mama, welche mit dem Abbé im Hintergrunde des reichen Rokokosalons Chokolade trinkt, ein Lächeln nicht unterdrücken kann. Was würden wohl unsere jungen Damen sagen, wenn man ihnen in Gesellschaft ein solches Kerzenspiel zumuten würde, statt der Litteratur und Kunstunterhaltung mit den Verehrern? Sie würden vermutlich verachtungsvoll die Achseln zucken, und doch – man kann nicht wissen … Das altmodische Menuett ist neu zu Ehren gekommen, vielleicht erlebt das Spiel aus der „guten alten Zeit“ auch einmal seine Auferstehung. Bn.     

Ueberführung eines Fesselballons über einen Eisenbahnkörper. (Zu dem Bilde S. 45.) Das bewegte lebensvolle Bild zeigt uns ein Manövcr, das die deutsche Luftschifferabteilung bei ihren Uebungen in der Umgebung Berlins nicht selten ausführen muß. In der Nähe der Großstadt kommen viele Eisenbahnlinien und Telegraphenleitungen zusammen, und da gilt es oft, die Haltetaue des Fesselballons über den Eisenbahnkörper zu bringen, ohne die Telegraphenleitungen zu beschädigen. Zu diesem Zwecke erklettern einige Leute, mit Steigeisen an den Füßen, die starken Telegraphenstangen, ziehen die Haltetaue einzeln heran und werfen sie über die Drähte. Auf der anderen Seite werden die Taue von bereitstehenden Mannschaften aufgefangen und kräftig angezogen. Es muß dabei auf beiden Seiten geschickt vorgegangen werden, um den Ballon in der Gewalt zu behalten. Zum Transport des Fesselballons werden etwa 40 Mann unter Kommando zweier Offiziere verwendet. *     

Dorfklatsch. (Zu dem Bilde S. 49.) Wer es noch nicht wußte, daß unsere Landbewohner an Interesse für den lieben Nächsten durchaus nicht hinter den Städtern zurückbleiben, der könnte es durch dieses Bild erfahren. Leibhaft und naturgetreu stehen sie vor uns: die alte Klatschbase, welche eine köstliche Skandalgeschichte von Hof zu Hof trägt, und die beiden hochaufhorchenden Dorfältesten mit ihren genußvoll schadenfrohen Gesichtern. Ob die Geschichte wahr ist, danach fragt man auf dem Land so wenig wie in der Stadt: sie ist schön, man schmückt sie im Erzählen noch ordentlich aus, und wenn sich’s dann schließlich herausstellen sollte, daß sie gänzlich erlogen war, dann spricht man mit hochverwunderter Miene: „Ja, wie ’s nur g’rad’ möglich ist, daß die Leut’ auch so was sagen können! Ganz schrecklich ist’s doch, was es heut’ für böse Mäuler in der Welt giebt!“ … Bn.     

Friedrich mit der gebissenen Wange hält die Feinde auf, während sein Töchterchen trinkt. (Zu dem Bilde S. 53.) Landgraf Albrecht von Thüringen, dem die Geschichte den wenig schmeichelhaften Beinamen „der Unartige“ verliehen hat, hatte als Gemahlin Margaretha, die Tochter Kaiser Friedrichs II, heimgeführt. Sie schenkte ihm zwei Söhne, Friedrich und Diezmann. Die Ehe schien glücklich zu sein, bis eines Tages mit dem Erscheinen einer neuen Hofdame, Kunigunde von Eisenberg, der Friede für immer schwand. Angezogen von der blendenden Schönheit Kunigundens, begann der Landgraf seine Gemahlin zu vernachlässigen, bis er eines Tages beschloß, durch Mord sich ihrer für immer zu entledigen. Doch der gedungene Knecht warf sich, vom Gewissen aufgerüttelt, der Landgräfin zu Füßen und gestand alles. Da beschloß Margaretha zu fliehen. In der Nacht trat sie an das Bett ihrer Kinder und nahm herzzerreißenden Abschied – für immer. Und als sie ihren Lieblingssohn Friedrich in ihrer Verzweiflung herzte, da biß sie ihn vor Trennungsweh in die Wange. Seitdem trug dieser den Namen „der Gebissene“. Aus einem Laufgang – er heißt noch heute Margarethengang – ließ sich Margaretha an einem Seile in die gähnende Tiefe nieder und entfloh. Sie ist dann auch bald darauf in Frankfurt gestorben – an gebrochenem Herzen, wie das Volk erzählt.

Als die Söhne Albrechts groß geworden waren, verweigerte ihnen der Vater alles Recht und Anspruch am Erbe und gedachte sie zu gunsten eines Sohnes, den ihm Kunigunde geschenkt hatte, zu enterben.

Es fanden sich aber viele Freunde und Helfer für das Brüderpaar. Mit thatkräftiger Unterstützung derselben traten Friedrich und Diezmann in den Kampf ein, und Friedrich that sich so herrlich hervor, daß ihn das Volk den „Freudigen“ nannte. Er hatte die Wartburg sich erobert, und dort oben war’s, wo ihm sein junges Gemahl Elisabeth ein Töchterlein schenkte. Da aber kein Geistlicher auf der Burg war, so bedrückte es die Eltern schwer, daß die Kleine ungetauft bleiben sollte. Denn auf den Höhen ringsum wie drunten im Thale hielten die Kriegsvölker.

Friedrich den Gebissenen aber schreckte keine Gefahr. In einer dunklen Nacht öffnete sich leise das Burgthor, und heraus ritt Friedrich, hinter ihm zwölf mannhafte Kampfgesellen, in deren Mitte die Amme [68] mit dem Kindlein auch auf einem Rosse ritt. Sie waren schon ein Stück in den Wald hinein, als die Belagerer ihnen nachgesetzt kamen. Nun ging’s in schnellem Ritt über Höhen und durch Thäler. Da begann das Kind zu schreien. „Was fehlt ihm?“ forschte der Landgraf. „Es will trinken!“ entgegnete die Amme. Da hieß Friedrich sie absitzen und sich abseits niedersetzen, daß sie das Kind trinken lasse. „Meine Tochter soll trinken!“ rief er aus, „und wenn ganz Thüringen darüber verloren gehen sollte!“ – So geschah es denn auch. Währenddessen aber hielt Friedrich mit seinen Getreuen scharfe Wache, und im Getüinmel des Kampfes ward mancher Gegner zu Boden gestreckt. Dann ging es weiter, bis der kleine Zug Schloß Tenneberg oberhalb Waltershausen erreicht hatte. Hier blieb das Kind, und der Abt von Reinhardsbrunn taufte es auf den Namen Elisabeth. – Unvergessen aber blieb bei dem Thüringer Volke dieser schöne Herzenszug des tapferen Landgrafen. T.     

Das Stephan-Denkmal in Schwerin. (Mit Abbildung.) Der berühmte Schöpfer des Weltpostvereins Generalpostmeister Heinrich von Stephan hat während seiner von Arbeit freien Zeit oft und gern in Mecklenburg geweilt; in den herrlichen Waldungen des Obotritenlandes pflegte er beim Weidwerk Erholung zu suchen. Er hat aber auch dem Lande durch postalische Einrichtung, unter anderem durch die Aufführung des schönen Postgebäudes in Schwerin, wesentliche Dienste geleistet. Die Stadt Schwerin hat ihn vor Jahren zu ihrem Ehrenbürger ernannt und nunmehr im Verein mit dem Lande Mecklenburg das Andenken des hochverdienten, am 8. April 1897 verstorbenen Mannes durch ein Denkmal geehrt. Dasselbe wurde am 17. Dezember vorigen Jahres in der Residenzstadt Schwerin feierlich enthüllt. Es erhebt sich am Pfaffenteich in der Nähe der Denkmäler von Heinrich Schliemann und F. v. Kücken. Der Entwurf stammt vom Postbaurat Struve. Einen viereckigen Aufsatz von zwei Metern Höhe krönt eine bronzene Erdkugel. Auf der Vorderseite befindet sich das von dem Berliner Bildhauer Wandschneider modellierte Reliefporträt Stephans. Die darunterstehende Widmung lautet: „Heinrich von Stephan, dem Begründer des Weltpostvereins, seine dankbaren Verehrer in Mecklenburg.“ Auf der Rückseite prangt der Wahlspruch des berühmten Generalpostmeisters: „Ziel erkannt – Kraft gespannt – Pflicht gethan – Herz obenan!“ *     

Das Stephan-Denkmal in Schwerin.
Nach einer Photographie von John Thiele in Hamburg.

Raubwürger und Wiesel. (Zu dem Bilde S. 61.) Den Abhang, der sich längs des Flüßchens hinzieht, bewohnen seit Jahren Singvögel verschiedener Art, und sobald im Frühling die Sonnenstrahlen ihre belebende Wirkung äußern, klingt froher Singsang durchs Gebüsch.

Da stellt sich eines Tages ein Vogelpaar von auffallender Färbung und wenig lobenswerten Sitten an diesem lieblichen Orte ein – zwei Raubwürger (Lanius excubitor L.). Das Männchen setzt sich auf die Spitze eines Schwarzdorns, das Weibchen auf den höchsten Zweig eines Weißdorns, und unbeweglich verharrend halten sie Umschau: er schätzt die Gegend auf den Ertrag an Insekten, Mäusen und Vögeln ein, sie sieht sich nach einem passenden Busch zur Unterbringung der Kinderwiege um. Keck und verwegen glänzt das Schelmenauge, und sie bleiben. In dem Weißdornbusch wird sofort mit dem Bau des umfangreichen Nestes begonnen, und bald darauf liegen die grüngrauen, braungefleckten Eier darin. Das Ergebnis einer 15 Tage dauernden Sitzung sind 4 Kinderchen, die zu versorgen keine Kleinigkeit ist. Die Eltern gehen auf die Insektenjagd und sind dann fleißig hinter den Mäusen her. Aber auch die Nester der hier wohnenden Singvögel plündern sie, wo und so oft sie nur können. Darum gelten sie für schädliche Vögel, die viel zur Verödung unserer Fluren beitragen. –

Eines Tages schleichen zwei große Wiesel (Hermelin, Putorius ermineus Ow.), die in einer Spalte der weiter unten am Abhange zu Tage tretenden Felsen wohnen, an das Würgernest heran. Das feine Ohr und das scharfe Auge der Eltern entdecken den Feind sofort. „Tätt tätt! – Tätt tätt!“ Warnungs- und Wächterruf. Sie eilen herzu und setzen sich zur Wehr; fliegen hin und her, um die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zu lenken; schlagen mit den Flügeln und spreizen den langen Schwanz. Ihr Blick ruht unerschrocken auf dem Gegner; ihre heftige Erregung aber verrät das laute „Tätt tätt“ und das heisere „Gäh gäh“, das sie ohne Unterlaß hervorstoßen.

Die Wiesel, die sich sonst nicht leicht aus der Fassung bringen lassen, rücken nur langsam vor. Das Würgerweibchen aber legt nun alle Scheu ab und ist, indem es offen zum Angriff übergeht, im Begriff, das eigene Leben für die Sicherheit der Kinder dranzugeben.

Und die Wiesel? Sie wenden plötzlich um und machen sich davon. Ob ihnen die Würger Furcht eingeflößt? Ob sie sich kurz zuvor an anderer Beute satt gefressen? Ob ihnen der kühne Mut, mit dem das sonst so hartherzige Vogelpaar das eigene Leben für seine Kinder in die Schanze zu schlagen bereit war, unbewußt Hochachtung abnötigte? Wer will diese Fragen beantworten? Ich aber sehe die Raubwürger seit diesem Tage mit anderen Augen an und bin geneigt, ihre Schandthaten milder zu beurteilen als früher. Dr. K. G. Lutz.     

Das neue Landtagsgebäude in Berlin. (Zu dem Bilde S. 65.) Als dem Reichstag in Berlin durch den Wallotschen Prachtbau ein neues Heim geschaffen war, wurde es endlich auch möglich, langgehegte Pläne für den Neubau der preußischen Landtagsgebäude zur Ausführung zu bringen. Das weite Grundstück, dessen Front nach der Leipzigerstraße der alte Reichstag und das Herrenhaus einnahmen und das sich bis nach der Prinz Albrechtstraße durchzieht, sollte Raum gewähren für beide Häuser des Landtags. Während man auf der einen Seite das alte Reichstagsgebäude und das alte Herrenhaus abbrach, wuchs an der Prinz Albrechtstraße, gegenüber dem Renaissancebau des Kunstgewerbemuseums, das neue Landtagsgebäude empor. Jetzt ist es vollendet. Die säulengeschmückte statuengekrönte Fassade, welche unser Bild zeigt, ist hinter die Straßenflucht weit zurückgerückt. Durch mächtige schmiedeeiserne Thorflügel betritt man eine weite Vorhalle, von der links das Postamt, rechts die Portierloge liegt. Dann öffnet sich ein Oberlichtsaal, ganz in Weiß gehalten, in den zu beiden Seiten die Treppen einmünden, geschmückt mit vier großen allegorischen Statuen in getriebenem Kupfer von Stark: Weisheit, Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Beredsamkeit als Haupttugenden eines guten Volksvertreters darstellend. Steigt man hinauf, so kommt man in das Hauptgeschoß, in dem auch der Sitzungssaal des Landtags sich befindet. Er liegt im Mittelflügel, um ihn gruppieren sich die übrigen Räume. Er ist in schlichter aber würdiger Holzarchitektur gehalten, das Licht fällt von oben durch eine gemalte Glasdecke. Zwischen dem Sitzungssaal und dem Oberlichtsaal befindet sich die Wandelhalle für die Abgeordneten, hoch gewölbt, in dunklen Tönen mit Gold und Bronze ornamentiert, wesentlich auf die Wirkung künstlicher Beleuchtung berechnet, die von der Decke aus mächtigen elektrischen Krystallschalen niederflutet. Nach der Straße zu liegen auf beiden Seiten des Eingangs Gesellschaftsräume: Handbibliothek, Lesezimmer für Raucher und Nichtraucher, ein Arbeitssalon mit einer Reihe von Schreibtischen und jenseits wieder ein Arbeitssalon, an den sich die Restaurationssäle anschließen. Hinter dem Sitzungssaal befindet sich noch eine kleine Wandelhalle für die Minister und das Präsidium; den übrigen Teil des Hauptgeschosses nehmen Zimmer für die einzelnen Beamten und Würdenträger ein. In den weiteren Stockwerken sind die Kommissions- und Fraktionssitzungssäle verteilt, nebst den Räumen für Verwaltung und Presse. Die Bibliothek, auf dem Gebiete der Staatswissenschaften eine der reichhaltigsten, die wir besitzen, hat einen besonderen Flügel für sich, den sie vom Souterrain bis unter das Dach einnimmt. Die Pläne und Entwürfe zu dem Bau, vom Geh. Baurat Schulze im Ministerium der öffentlichen Arbeiten hergestellt, stammen schon aus dem Jahre 1883. Aber erst 1892 konnte mit der Ausführung begonnen werden. Die Bauleitung lag in den Händen des Regierungsbaumeisters Fischer.

Zu den Sternen empor! (Zu unserer Kunstbeilage.) Wie mag es wohl der Seele sein, wenn sie, von Banden des Todes befreit, aus rauhem Erdenleid zu den Sternen emporschwebt? … Der Künstler antwortet auf diese Frage mit einer feierlichen Vision. – Groß und ahnungsvoll öffnen sich die Augen der vom Grab erstandenen Jungfrau, ihre Hände greifen, wie halb noch vom Traum befangen, nach dem verhüllenden Totenschleier und streifen ihn zurück. Frei und leuchtend erscheint das reine Angesicht, dessen Augen bereits den Wiederschein himmlischen Glanzes spiegeln. Was ihr Herz ehemals schmerzte und bedrückte – es ist wie Gewölk und Nebel von ihr niedergeflossen, sie wird keine Erinnerung daran mit in die Seligkeit nehmen, an deren Schwelle der feierliche Glanz der Sternennacht sie mit niegesehener Strahlenfülle empfängt. Auch auf ihrem Scheitel flammt bereits das himmlische Licht, und so schwebt sie, getragen von Glauben und Hoffen, empor bis zu der Region, wo menschliche Vorstellung und Phantasie an der Schwelle des Ewigen erlischt und untergeht! Br.     



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[68 a] 0


Allerlei Winke für jung und alt.


Dalmatinische Markttasche. Diese trotz ihrer dauerhaften Einfachheit sehr reizvoll wirkende Tasche besteht aus einer Art Sackstoff von ziemlich engem Gewebe, inwendig mit Kattun gefüttert. Die beiden zusammengenähten Teile, durch welche sie gebildet wird, müssen, wenn sie hinlänglich Raum bieten soll, jedes 39 cm lang und 30 cm breit sein. Ueber die ganze Tasche ist ein fortlaufendes Muster in halben eng aneinanderstehenden Kreuzstichen gestickt, mit Baumwolle von zwei bis drei harmonierenden Farben. Kleine dreifarbige Baumwollquasten, etwa 5 cm lang, sind auf den Nähten angebracht, je eine auf den Seiten, drei auf der unteren Naht; auch auf die bestickten Flächen werden manchmal noch Quasten genäht. Oben am Rande der Taschenöffnung befindet sich eine Handhabe von vier ganz dünnen Baumwollkordeln, rechts und links mit einer nach aufwärts stehenden Quaste verziert. H. R.     

Dalmatinische Markttasche.

Kleineisenarbeit 1.

Kleineisenarbeit. Eine hübsche Art von Kleineisenarbeit wird neuerdings ausgeübt. Man setzt nicht fertige Eisenteile zusammen, wie dies bisher üblich war, sondern biegt sich die Spiralen und Verzierungen selbst aus schmalen Streifen von Eisenblech. Nötig sind dazu eine gute feste Blechschere und zwei unten (Abb. 1) abgebildete Werkzeuge. Das linksstehende dient zum Festklemmen der kleinen Bänder, mit denen man die Streifen verbindet, das andere zum Rollen der Spiralen; man faßt damit das äußerste Ende des Streifens und wickelt ihn ein Stück weit auf, mehr oder weniger fest, wie es die betreffende Form verlangt. Bei einiger Uebung werden die Spiralen rund. Die Technik eignet sich besonders, um kleine Gestelle und Fassungen für Muscheln. Schalen u. s. w. zu verfertigen; ich sah auch einen netten Handleuchter dieser Art.

Kleineisenarbeit 2.

Kleineisenarbeit 3.

Das Gestell der Abbildung 2 ist 18 cm hoch und trägt ein Porzellankübelchen für eine Farnkrautpflanze oder dergleichen; auch die kleinen venetianischen Kupfereimer würden sich dazu eignen. Die obersten Spiralen laufen unter dem Kübelchen durch und sind in der Mitte kreuzweis verbunden, so wie es Abbildung 4 a und b von oben und unten zeigt, kurze Stückchen des Blechstreifens, fest übereinander geklemmt. Eine weitere Abbildung zeigt eine Muschel als Rauchschälchen gefaßt. Erst macht man das Gestell, in dem die Muschel ruht, und verbindet die Teile in der Mitte; dann legt man die Teile, welche den Fuß bilden sollen, über den Kreuzungspunkt (Abbild. 4 c) und befestigt sie ein wenig weiter außen mit einfachen Bändern.

Kleineisenarbeit 4.

Mit schwarzer Emailfarbe streicht man schließlich das Eisenwerk an; auch etwas Vergoldung macht sich gut. J.     

Tintoria-Photographiemalerei. So viele Mühe man sich bisher gegeben hat, um Photographien in einer Weise zu kolorieren, die den Anschein erweckt, als wäre die Buntfarbigkeit mit der Aufnahme des Bildes entstanden, so wenig hat man dieses weitausgreifende Problem praktisch gelöst. Man benutzte entweder Oel- oder Aquarellfarben oder irgend eine andere, für den speziellen Zweck zubereitete Farbe, aber das Bild, welches man erlangte, war kaum als bunte Photographie zu bezeichnen, es war eben ein gemaltes oder bemaltes Bild. Nun giebt es eine neue Erfindung, welche wohl geeignet ist, die bisherigen Kolorierverfahren von Photographien in Schatten zu stellen. Im allgemeinen werden die neuen sogenannten Tintoriafarben ebenfalls in Form einer Malerei aufgetragen, aber die Wirkung ist doch eine wesentlich andere, viel natürlichere als bei Verwendung anderer Farben.

Die Tintoriafarben werden nur in den drei Grundtönen Blau, Gelb und Rot geliefert, alle anderen Töne müssen aus diesen verdünnt oder gemischt werden, was auch – vom zartesten Hauch bis zur stärksten Beleuchtung – jedermann ohne viel Vorübung gelingt. Zum Verdünnen befindet sich in den Arbeitskästen eine besondere Flüssigkeit; eine zweite Flüssigkeit, Cellin genannt, dient zur vorherigen Präparation von Photographien aus Celloidinpapier, welches ohnedem die Farben nicht gut annehmen würde. Im sonstigen aber können alle Arten von Bildern ohne weiteres bemalt werden, ebenso lassen sich die Tintoriafarben ganz vorzüglich zum Bemalen von Leinen und Seide, von mattem Glas und unglasiertem Porzellan verwenden. Bei Photographien wähle man möglichst lichte Kopien, da sonst die feinen, zarten Töne, welche gerade einer Photographie den höchsten Reiz verleihen, nicht genug zum Ausdruck kommen würden.

Zuerst wird das Bild mehreremal mit der farblosen Flüssigkeit Nr. 1 überstrichen. Diese läßt man einige Minuten lang einziehen und trocknet dann die ganze Fläche mit gutem Löschpapier ab. Hierauf giebt man der Fläche einen zweiten Aufstrich von ganz verdünntem Blau, den man ebenfalls nach einigen Minuten abtrocknet. Durch diese Nuancierung erhält das Bild mehr Lebendigkeit. Das weitere, spezielle Ausmalen ist leicht erlernt; man richte sich in der Farbenwahl unbedingt nach der Natur, vergesse aber nicht, daß die nötigen Schattierungen, zum Beispiel bei Haaren, Kleiderfalten etc., durch die Photographie selbst schon vorhanden sind und also nicht besonderer Farbenmischungen bedürfen. Es ist dabei ein großer Vorteil der Tintoriafarben, daß sie ebenso schnell wie ganz fest haften und bei Neuauftragungen sich nicht verwischen. Aus diesem Grund kann man alle Details öfter und auch mit anderen Tönen übermalen, bis der Farbenton befriedigt. Auch in diesem Falle bleiben die Farben ungemein lasierend und verraten in keiner Weise den sonst sehr störenden Eindruck des Bemaltseins.

Die Tintoriafarben sind wohl in allen Malutensiliengeschäften käuflich, zwar etwas teuer; aber angesichts ihres großen Wertes rechtfertigt sich die Ausgabe ohne Zweifel. Auch ungeübte Laien können sich ruhig der Tintoriafarben bedienen, zumal jedem Farbenkarton eine genauere Anleitung beiliegt.

Zimmerschmuck aus Federn. Ein überaus schöner Zimmerschmuck läßt sich aus Federn herstellen, wenn man dieselben zu einem Fächer verarbeitet. Zu diesem Zwecke gebe man einem Pappdeckel, welcher als Unterlage dient, durch Ausschneiden die Form, die der Fächer erhalten soll. Nun werden aus dem Federvorrat die längsten, ebenmäßigsten von Flügel oder Schwanz heraussortiert und die Kiele, soweit sie noch verhältnismäßig dick sind, bis zur Fahne abgeschnitten. Diese Federn bilden den äußeren Rand des Fächers und werden mittels Dextrins oder eines anderen Klebestoffes eine nach der anderen so befestigt, daß sie weit über die Pappe hinaussehen und gerade so weit auseinanderstehen, daß letztere nicht durchscheint. Um eine größere Haltbarkeit zu erzielen, wird jede Feder am Grunde noch mit einem Papierstreifchen überklebt, was aber nur bei großen Federn erforderlich ist. Ist man damit fertig, so werden kleinere Federn ebenfalls von Kiel und Flaum befreit, unten etwas mit Klebemittel versehen und einzeln so angeklebt, daß die Spitze die darüber befindliche Feder etwas verdeckt. Ist man damit herum, so fange man eine neue Reihe an, u. s. f., bis der ganze Deckel dachziegelartig bedeckt und der Fächer fertig ist.


Hauswirtschaftliches.

Treffliche süße Speise aus Eiweißresten. Neue Verwendung von Eiweißresten ist allen Hausfrauen sicher willkommen, giebt es doch gerade für die so oft in der Küche vorhandenen Eiweißreste recht wenig Verwertung. Die nachfolgende süße Speise hat bislang noch den Beifall aller Hausmütter gefunden, die sie erprobten, hoffentlich gefällt sie auch den Leserinnen der „Gartenlaube“. Man braucht etwa acht Eiweiß, die man zu steifem Schnee schlägt und behutsam mit 175 g Zucker, mit dem man eine halbe Schote Vanille gestoßen hat, und einer Prise Salz vermischt. In eine glatte. mit Butter ausgestrichene Cylinderform aus Blech wird die Schneemasse gefüllt und drei Viertelstunden in eine passende Kasserolle mit heißem Wasser gestellt, das aber nicht kochen darf. sondern immer gleichmäßig kochend heiß erhalten werden muß. In dieser Zeit wird eine gute Schokoladensauce bereitet, zu der man 150 g Schokolade langsam unter Rühren in einer Tasse heißer Milch auflöst. Man giebt dann einen gehäuften Theelöffel in kalter Sahne glatt gerührtes Maismehl, eine Prise Salz und 50 g feinen Zucker dazu, gießt langsam zwei Tassen heiße Sahne daran und quirlt eine dicke Sauce davon. Die fertige Schaumspeise wird auf eine heiße Schüssel gestürzt, mit einem Teil der Schokoladensauce überfüllt und mit dem für sich gereichten Rest der Sauce sofort zu Tisch gegeben. Ein Stehenlassen, auch nur auf kurze Zeit, verträgt die Speise nicht. L.     

Polnische Leber. Nach Abziehen einer Leber schneidet man sie in kleine, nicht zu dünne Schnitten und wendet diese in gequirltem Ei und Mehl. Inzwischen zerläßt man in einer flachen Kasserolle Butter oder gutes Fett. giebt feingeschnittene Zwiebel hinzu, legt die Leberschnitten ein und dünstet das Ganze schön braun. Hiernach gießt man reichlich Bouillon und halbsoviel sauren Rahm auf, thut noch eine Prise Paprika hinzu, sowie Salz nach Geschmack. Das Gericht wird mit gedünstetem Reis aufgetragen.

Goldene Ketten zu reinigen. Im Anschluß an die auf dem Halbheftumschlag 22 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ abgedruckte Anweisung geben wir noch die folgende, die sich besonders gut bewährt: Man lege die Kette in ein Seifenbad, putze sie in demselben tüchtig mir einer weichen Bürste (alten Zahnbürste), spüle sie sodann in reinem Wasser ein- oder zweimal ab, bringe sie hierauf in eine mit Sägmehl gefüllte Zigarenkiste und rühre das Sägmehl mit der Kette wiederholt um. Nach einiger Zeit wird das Sägmehl sämtliche Feuchtigkeit aufgesogen haben. Nach dem Herausnehmen genügt es, die Kette mit einer Bürste oder einem Pinsel von den etwa hängengebliebenen Sägmehlteilchen zu befreien; sie wird alsdann wieder wie neu erscheinen.

[68 b]

Allerlei Kurzweil.

 Rätsel.
Die erste Silbe nennt, was wir ersehnen
Im Haus, im Staate, in der ganzen Welt,
Die erst’ und zweite nennen einen Namen,
Den mancher König trug und mancher Held.
Wie an der ersten Silb’ ein Zeichen fehlet,
Ist diesen Zwei’n ein solches zugezählet.
Die dritte Silbe, wiederum verkürzet,
Verhindert, daß man je sich überstürzet.
Dem, der sie hat, und dem, der sie genießet,
Aus ihr die Quelle des Behagens fließet,
Und wem sie fehlt für Körper oder Geist,
Wohl selten sich von Herzen glücklich preist.
Das Ganze gilt uns als geweihte Stätte,
Wo wir so oft im Geiste uns verweilt,
Wohin noch jetzt in ernsten, bangen Stunden
So gern die Sehnsucht vieler Edlen eilt! B.


Fächerrätsel. Von Oscar Leede.

Schreibt man unter die auf dem Fächer genannten Dichter je den Namen der Titelheldin einer ihrer Dichtungen, so ergiebt sich aus den Anfangsbuchstaben der letzteren derjenige dieser sechs Dichter, dessen Werke die Besitzerin des Fächers am meisten bevorzugt.


 Wechselrätsel.
Wenn ein i an der vorletzten Stelle steht,
Noch jetzt voll Glanz ihr in Rom es seht.
Mit v es oft eure Augen sahn,
Wenn ihr benutztet die Eisenbahn.
Ist es mit d wohl im fernen Land
Als ein Bergbewohner euch bekannt?
 F. Müller-Saalfeld.


Skataufgabe.0 Von K. Buhle †.

Da die Teilnehmer passen, wird Ramsch gespielt. Die Hinterhand hat folgende Karten:

(tr.B.) (c.B.) (tr.K.) (tr.D.) (tr.9.) (tr.8.) (p.9.) (c.K.) (c.9.) (car.9.)

und verliert mit zwei Jungfern, da sie alle Stiche nehmen muß. Vor- und Mittelhand haben gleichviel Augen in ihren Karten. Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist der Gang des Spiels?


Auflösung des Diagonal-
rätsels auf dem Umschlag
von Halbheft 1.

Auflösung des Rösselsprungs auf dem
 Umschlag von Halbheft 1.
Nun geht das alte Jahr zu Ende;
Die Zeit der Wintersonnenwende
Hüllt Feld und Wald in lichtes Weiß.
Die Tannen frühlingsgrün nur ragen,
Doch ihre stolzen Häupter tragen
Ein flimmernd Diadem von Eis.

Es sinkt die Nacht, die Stunden rinnen,
Die ihren dunkeln Mantel spinnen;
Kein Stern bält heute treue Wacht;
Die Eichenwipsel weh’n im Sturme,
Und durch den Wald vom nahen Turme
Dröhnt laut es zwölfmal: – Mitternacht!
 Johanna Baltz.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 1.
Trompeter, Peter.


Auflösung den Auszählrätsels „Ein Freudenschuß“ auf dem
Umschlag von Halbheft 1.
Die drei Sterne deuten darauf hin, daß jeder dritte Buchstabe auszuzählen ist, bis keiner mehr erübrigt. Beim I in der ersten Zeile ist der Anfang. Man erhält dann:
„Prosit Neujahr!“



[Werbung - vor allem von Firmen des amerikanischen Marktes - hier nicht abgebildet.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: S. 677