Die Gartenlaube (1899)/Heft 27
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27. Heft. | Preis 10 cents. | 23. Dezember 1899. |
Inhalt.
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Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (8. Fortsetzung) | 837 | |
Die Spinnerin. Gedicht von Ernst Muellenbach. Mit Abbildung | 844 | |
Deutsch-Samoa. Mit Abbildungen | 846 | |
Grünes Gras. Eine Backfisch-Geschichte von Eva Treu (Lucy Griebel). (Anfang) | 850 | |
Mit dem Fuße. Skizze aus der Völkerkunde. Von C. Falkenhorst | 859 | |
Airolo und die Stalvedroschlucht. Mit Abbildung | 860 | |
Winterwohnung und Winterschlaf in unserer höheren Tierwelt. Von Friedrich Arnold | 860 | |
Blätter und Blüten: Vermißten-Liste der „Gartenlaube“. (Fortsetzung.) S. 864. – Zur Erinnerung an die Schöpfer des Suezkanals. (Mit Abbildungen.) S. 865. – Die „Deutsche Brücke“ in Bergen. (Zu dem Bilde S. 865.) S. 866. – Das neue Reichspostgebäude in Straßburg. (Mit Abbildung.) S. 866. – Das Denkmal Albrechts des Bären. (Mit Abbildung.) S. 866. – Eine „Zeichenschule“ zum Selbstunterricht. S. 866. – Die neuen Denkmäler auf den Schlachtfeldern des Reichslands. (Mit Abbildungen.) S. 867. – Heinrich der Finkler wirbt um Mathildis. (Zu dem Bilde S. 840 und 841.) S. 867. – Der Kampf brandenburgischer und spanischer Schiffe bei Kap St. Vincent im Jahre 168l. (Zu dem Bilde S. 849.) S. 867. – Der Turmbläserbrunnen in Bremen. (Mit Abbildung.) S. 868. – Schlittenrennen auf der Theresienwiese bei München. (Zu dem Bilde S. 857.) S. 868. – Spazierengehen außerhalb der Stadtluft. S. 868. | ||
Illustrationen: Heinrich der Finkler wirbt um Mathildis. Von Ferd. Leeke. S. 840 und 841. – Die Spinnerin. Von A. Perret. S. 845. – Abbildungen zu dem Artikel „Deutsch-Samoa“. Junges Mädchen von Samoa. S. 837. Samoanerin in europäischer Kleidung. Samoanische Mädchen in feinen Mattenkleidern. S. 846. Ein samoanisches Dorf. Flußscenerie bei Apia. S. 847. Ein Samoaner. Der Strand von Apia. S. 848. – Der Kampf brandenburgischer und spanischer Schiffe bei Kap St. Vincent im Jahre 1681. Von Hans Petersen. S. 849. – Vertraulich. Von E. v. Müller. S. 853. – Schlittenrennen auf der Theresienwiese bei München. Von Chr. Speyer. S. 857. – Airolo und die Stalvedroschlucht. Von E. T. Compton. S. 861. – Alois Negrelli. S. 865. – Das Lesseps-Denkmal in Port Said. S. 865. – Die „Deutsche Brücke“ in Bergen. S. 865. – Das neue Reichspostgebäude zu Straßburg. S. 866. – Denkmal Albrecht des Bären von Ballenstedt. S. 866. – Die neuen Denkmäler auf den Schlachtfeldern des Reichslands. Das Denkmal des 2. Thür. Jnf.-Reg. Nr. 32 bei Morsbronn. Das Denkmal des 1. Garderegiments z. F. bei St. Privat. S. 867. – Der Turmbläserbrunnen in Bremen. S. 868. |
Vom Weihnachtsbüchertisch.
Im Anschluß an die Besprechungen von neuen, sich besonders zu Weihnachtsgeschenken eignenden Büchern, welche im Halbheft 26 der „Gartenlaube“ enthalten sind, bringen wir im Folgenden noch einige weitere zur Empfehlung. Außer der Buchausgabe des Romans „Das Schweigen im Walde“, mit welchem wir den zu Ende gehenden Jahrgang der „Gartenlaube“ eröffneten, bringt Ludwig Ganghofer den vielen Freunden seiner waldfrischen Muse noch ein zweites Buch dar, den Roman „Das Gotteslehen“ (Stuttgart, A. Bonz & Comp.). Hier bildet den Schauplatz die großartige Berchtesgadener Gebirgswelt, wie dies schon in den früheren historischen Romanen des Autors, „Der Klosterjäger“ und „Die Martinsklause“ der Fall war. Das sangesfreudige 13. Jahrhundert, des deutschen Minnesangs Blütezeit, giebt sein Kolorit der düstergestimmten Handlung, welche uns die Gewissenskämpfe eines jugendlichen Chorherrn aus der Berchtesgadener Propstei schildert, in dessen Adern heißes Jägerblut rollt und der sein Herz an die blinde Jutta, die holde Tochter des Freihofs im Klostergebiete, verliert. In derselben ansprechenden Art illustriert wie „Das Gotteslehen“ sind zwei weitere Bände aus dem Bonz’schen Verlag: „Sigurd Eckdals Braut“ von Richard Voß, das einen kühnen Polarreisenden zum Helden hat, und „’s Tantele und Anderes“, Geschichten von Hermine Villinger, in denen sich das liebenswürdige Talent der Verfasserin reizvoll äußert. Schmucke handliche Bändchen, in denen ein frischer, echt wienerischer Humor waltet, bietet der Wiener Verlag von Robert Mohr in: „Ernst bei Seite“ von Paul v. Schönthan, „Pomeisl & Comp.“ von Ottokar Tann-Bergler und der neuesten Skizzensammlung von Eduard Poetzl „Mitbürger“. Die kleinen epischen Dichtungen „Kyffhausen“ von Zoë von Reuß (Leipzig, P. Ehrlich) und „Der Sommerkönig“ von Lewin Ludwig Schücking (Göttingen, Lüder Horstmann) sind beide von poetischem Reiz und dem Stoffe nach interessant. Den Freunden der lyrischen Poesie seien des weiteren empfohlen die Gedichtsammlungen „Veilchen und Himmelsschlüssel“ von E. Dresbach (Elberfeld, Baedeker), „Aus dem Bergischen Sagenwalde“ von W. Baurmann (ebenda), „Bunte Saat“ von H. Gutberiet (Dresden, O. Damm) und „Sonntagsglocken. Ein dichterisches Hausbuch für jung und alt“, das, hübsch illustriert, Maximilian Bern herausgegeben hat (Regensburg, Nationale Verlagsanstalt). Die hübschen plattdeutschen ‚Leeder un Läuschen‘ „Julklapp!“ von Karl Theodor Gaedertz erschienen bereits in 3. Auflage, (Hamburg, Verlagsanstalt vorm. J. F. Richter).
Einem Meister auf dem Gebiete des historischen Romans, dessen Schöpferkraft leider zu früh erlosch, dem Dichter von „Jürg Jenatsch“ und „Huttens letzten Tagen“ hat Adolf Frey ein biographisches Werk gewidmet, das unter dem Titel „Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke“ soeben im J. G. Cotta’schen Verlage in Stuttgart herauskam. Der eigentümliche Werdegang des edlen Dichters hat durch Frey eine lichtvolle Darstellung gefunden, die ebensosehr von liebevoller Auffassung wie tiefem Verständnis zeugt. – Nicht eine eigentliche Biographie, vielmehr eine wertvolle Ergänzung der bereits vorhandenen Heine-Biographien ist das an interessantem Detail reiche, von eifriger Forschung zeugende Buch „Heinrich Heine. Aus seinem Leben und aus seiner Zeit“ von Gustav Karpeles (Leipzig, Adolf Titze). In dem biographiichen Sammelwerke „Geisteshelden“ (Berlin, Ernst Hofmann & Comp.) darf der Band „Mozart“ von Oskar Fleischer, der ein lebensvolles Bild des großen liebenswürdigen Tonschöpfers entwirft, auf besonders freundliche Aufnahme rechnen. Zugleich von litterar- historischem wie hohem künstlerischen Wert ist der schöne Band „Das litterarische München. 25 Porträtskizzen von Paul Heyse“ (München, Verlagsanstalt F. Bruckmann). Paul Heyse, der in jungen Jahren von König Maximilian II nach München berufen wurde, um im Wetteifer mit Geibel, Lingg, Bodenstedt u. a. in Isar-Athen seiner Kunst zu leben, ist auch als Zeichner ein ungemein feiner Beobachter des Seelenlebens, wie diese Galerie von idm gezeichneter Porträts der Dichter und Schriftsteller erweist, mit denen er in München bis in die neueste Zeit persönlichen Verkehr unterhielt. Ein poetisches Geleitwort und ein Anhang mit biographischen Angaben umrahmen die durch Lichtdruck wiedergegebenen Bilder. Von dem ausgezeichneten Porträtwerk „Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen“, das Karl Werckmeister im Verlag der Photographischen Gesellschaft in Berlin herausgiebt, gelangt in diesem Jahre der 3. Band zum Abschluß. Vollendet wird das großartige Unternehmen im nächsten Jahre werden und dann 600 Bildnisse der bedeutendsten Männer und Frauen des Jahrhunderts samt biographischen Texten umfassen. Das künstlerisch so kostbare und doch wohlfeile Sammelwerk „Handzeichnungen alter Meister aus der Albertina und anderen Sammlungen“, herausgegeben von J. Schönbrunner und J. Meder (Wien, Gerlach u. Schenk), führt bereits den 4. Band dem Abschluß entgegen. Auf weite Verbreitung darf rechnen das prächtig ausgestattete Werk „Die Hohenzollern in Bild und Wort“ von Karl Röchling und Richard Sternfeld (Berlin, Martin Oldenbourg), welches die Thaten und Geschicke des ruhmreichen Fürstenhauses, das im neuen Deutschen Reiche die Kaiserkrone trägt, in der lebensvollen Darstellung eines berufenen Historikers und eines berufenen Malers vorführt. Als Frucht der Festfahrt zur Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem, welche der Maler L. Julius Hartmann auf der „Asia“ mitmachte, hat er die 24 Aquarellbilder nach Hause gebracht, welche das Prachtwerk „Palästina“ in einer handlichen Mappe vereinigt. Der Verlag des Rauhen Hauses in Hamburg hat der Mappe eine geschmackvolle Ausstattung gegeben. Den schönen Ansichten sind erläuternde Texte von Immanuel Benzinger beigefügt. Was deutsche Kultur und deutsche Thatkraft in unserer ältesten Kolonie für schöne Erfolge erzielten, veranschaulicht in naturgetreuen Kunstblättern das Werk „Unser Kamerun“, das, wie das kleinere „Album von Kamerun“ bei G. Poetzsch in Magdeburg erschien.
Von Erzählungen für die Mädchenwelt hat sich auch noch mancher schmucke Band eingestellt. „Lockenköpfchen“, die im Art. Institut Orell Füßli in Zürich erschienene Erzählung der selbst noch jugendlichen Jugendschriftstellerin Lilly von Muralt ist ein sehr ansprechendes Familienbild für Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren, ebenso die Erzählung „Keine Langeweile“ von Tony Schuhmacher, die, im Verlag von Levy & Müller in Stuttgart erschienen, frisch und lebendig das Schicksal eines braunen Mädchens aus Amerika schildert, das zwischen einer Schar anderer Kinder bei seinen Großeltern in Deutschland aufwächst. Auch Elisabeth Halden, wie Tony Schuhmacher eine Lieblingsschriftstellerin der Mädchenwelt, wendet sich mit ihrem von F. Löwes Verlag in Stuttgart herausgegebenen Geschichten- und Märchenbuch „Bunte Steine“ an das gleiche Jugendalter, während die im nämliches Verlage erschienene Erzählung „Vater Janssens Sonnenschein“ von Henny Koch, ein liebliches Lebensbild vom Nordseestrand, bereits eine Stufe höher geht und einige Kenntnis des Plattdeutschen voraussetzt. Gleiches ist mit dem schweizerischen Dialekt der Fall bei den ansprechenden „Erzählungen und Märchen“ von L. Müller und H. Blesi (Zürich Art. Institut Orell Füßli).
Vornehmlich für junge Frauen bestimmt erscheinen Tony Schuhmachers gemütvolle Plaudereien „Vom Schulmädel bis zur Großmutter“ (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt), die soeben in zweiter Auflage erschienen. Bei Knaben reiferen Alters wird gewiß besondere Freude erregen die „Sammlung unterhaltender und belehrender physikalischer Spielereien“, die unter dem Titel „Kolumbus-Eier“ im Verlag der „Union“ in Stuttgart von der Redaktion des „Guten Kameraden“ herausgegeben wird. Von ihr liegt der zweite Band vor; er enthält 149 Illustrationen, die eine Fülle belustigender Experimente und Kunststücke näher erläutern, bei deren Ausübung unsere Knaben „spielend“ wertvolle physikalische Kenntnisse erwerben und bethätigen können. In der bewährten illustrierten „Vaterländischen Jugendbücherei“ Julius Lohmeyers (München, J. F. Lehmann) sind zwei weitere Bände: „Admiral Karpfanger, Erzähluug aus Hamburgs Vorzeit von Vizeadmiral a. D. Reinhold Werner“ und „Mit Ränzel und Wanderstab, Schülerwanderungen durch deutsches Land von G. Lang“ erschienen, die beide sich ganz besonders zu Festgeschenken empfehlen. Dasselbe gilt von dem „Deutschen Jugendhain“ (Dresden, Meinhold & Söhne), einem illustrierten Jahrbuch für Knaben und Mädchen, dessen 3. Jahrgang, von Theodor Schäfer bearbeitet, uns vorliegt. Er enthält eine ansprechende Auswahl von Erzählungen, belehrenden Aufsätzen, Gedichten und R[...] Zwei hübsche Bilderbücher für unsere Kleinen bietet der gleiche Verlag in „Frohe Stunden, 15 farbige Originalzeichnungen von W. Claudius, Elis. Voigt und Karl Wagner, mit Versen von J. Trojan, Jul. Schmidt u. a.“ und „Neue lustige Bilder mit heiteren Versen von E. Limmer“.
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Sonderbeilage zu Halbheft 27, 1899.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Buren in Südafrika.
Der erste Eindruck, den die Nachricht von der Einverleibungserklärung des 12. April 1877 auf die Buren hervorrief, wird von einem Berichterstatter dahin zusammengefaßt: „Die Buren empfanden den Vorgang zunächst als eine gerechte Strafe des Himmels für ihre Zwietracht und verhielten sich im Gefühl der Selbstverschuldung thatlos.“ Die Beamten blieben in ihren Stellungen und leisteten der Königin Viktoria den Treueid; selbst Männer wie Paul Krüger und Dr. Jorissen thaten dies; aber der Grund war nicht Charakterlosigkeit oder armseliges Hangen an Amt und Gehalt, sondern die Treue gegen ihr Volk, das sie unter keinen Umständen verlassen wollten und dem sie am besten dienen konnten, wenn sie ihr Schicksal keinen Augenblick von dem seinigen trennten. Dem Präsidenten Thomas Burgers freilich ward es sehr verübelt, daß er einen englischen Ruhegehalt annahm und bis an seinen Tod fortbezog; man hielt ihn vielfach für einen Verräter, und sein Eintreten für den Südafrikanischen Bund, von dem bereits gesprochen worden ist, schien den Verdacht zu bestätigen, obwohl Burgers diesen Bund ohne Zweifel anders verstanden hat als Lord Carnarvon. Bemerkenswert ist, daß englische Federn jetzt, wo der Schlag gefallen war, es offen aussprachen, daß es gegolten habe, zu verhüten, daß das Deutsche Reich, dem Burgers auf seiner Reise die Schirmherrschaft über die Republik ohne Erfolg angetragen hatte, doch noch auf dieses Angebot zurückkomme. Wenn später (1885) Betschuanaland für eine britische Kolonie erklärt wurde, so geschah es auch vor allem, um zwischen Deutsch-Südwestafrika und die Buren einen Keil zu treiben.
Einzelne Buren, die sich England unter keinen Umständen unterwerfen wollten, griffen nun wieder zu dem alten Mittel zu „trekken“ und machten sich mit Weib und Kind nordwärts auf, um neue Siedelungsplätze zu suchen; wieder sah man die 4 Meter langen, mit undurchdringlicher Leinwand überspannten Ochsenwagen sich in Bewegung setzen; wieder erscholl der Ruf: „Gras und Freiheit!“ Aber die Masse blieb diesmal im Lande. Auf einen Teil wirkten die Versprechungen der Engländer, daß man den Buren die weitestgehende Selbstverwaltung belassen und in der „gesetzgebenden Versammlung“ – welche den Volksrat ersetzen sollte – den Gebrauch der holländischen Sprache neben dem der englischen gestatten, auch für Eisenbahnen, Telegraphen, Wege und Schulen sorgen werde. Wenn diese Verheißungen erfüllt wurden, so mochte es geschehen, daß die Buren für den Verlust der vollen Selbständigkeit durch wichtige wirtschaftliche und kulturelle Fortschritte entschädigt wurden, die selbst den konservativsten unter ihnen einleuchten mußten, und daß sie dabei in ihrem eigenen Lande doch so ziemlich ungestört blieben. Die Mehrzahl aber hoffte, daß, wenn nur erst der Statthalter der Kapkolonie, Sir Bartle Frere, und Lord Carnarvon erführen, daß die von Shepstone vorgenommene Scheinabstimmung die wahre Gesinnung der Mehrheit der Transvaaler nicht widerspiegle, die Einverleibung von England freiwillig zurückgenommen werden würde. Zweimal, im Jahr 1877 und 1878, sind zuerst Krüger und Dr. Jorissen, dann Krüger und Joubert in London gewesen und haben dort den urkundlichen Beweis geführt, daß 6591 Burghers mit ihrer Unterschrift nachträglich gegen die Einverleibung vom 12. April protestiert hätten, also fast dreimal so viel Männer, als nach Shepstone für diesen Schritt sich ausgesprochen hatten. Aber beidemal gab man in London den Abgesandten die Antwort, daß die Sache jetzt unter keinen Umständen wieder rückgängig gemacht werden könne, und vertröstete die Buren mit neuen Zusagen von ähnlichem Inhalt wie die erwähnten. Allein diese Versprechungen wurden – abgesehen davon, daß das Parlament 2 Millionen Mark „für die dringendsten Bedürfnisse Transvaals“ verwilligte und damit den Verpflichtungen des Augenblicks genügt wurde – nicht eingelöst; namentlich wurde den Buren keinerlei Möglichkeit der Mitwirkung am Landesregiment eröffnet; vielmehr schalteten die königlichen Kommissäre – zuerst Shepstone, dann der barsche und rücksichtslose Oberst Lanyon – mit absoluter Gewalt im Lande. Der Krieg gegen den Häuptling der Bapedis, Sekokuni, der gefangen ward, und gegen den Zulukönig Ketschwayo, der nach anfänglichen Siegen im Februar 1879 das gleiche Schicksal erlitt, gab England Anlaß, immer mehr Truppen nach Südafrika zu werfen und die Städte Pretoria, Potschefstroom, Lydenburg, Standerton u. a. mit englischen Besatzungen zu belegen. General Wolseley, der zum Oberfeldherrn im östlichen Teil Südafrikas ernannt ward, that im September 1879 den Ausspruch: „Transvaal wird englisch bleiben, solange die Sonne scheint.“ Als endlich die neue Verfassung des Landes bekannt gemacht ward, enthielt sie zwar eine „Volksvertretung“; aber diese war ein Hohn auf ihren Namen: nicht ein einziger frei gewählter Abgeordneter sollte in ihr sitzen, sondern neben königlichen Beamten sechs Landesangehörige, „welche die Regierung nach ihrem Gutdünken ernennen werde“. Ein deutlicheres Zugeständnis, daß Englands Herrschaft im Volk keinen Boden habe und jede freie Wahl ihr gefährlich werden müsse, ist nicht denkbar.
[836 i 2] Immer noch hofften indessen die Buren, daß ein politischer Umschwung in England selbst ihnen zu Hilfe kommen werde; hatten doch die 1877 in der Minderheit befindlichen Liberalen gegen die durch das Toryministerium vorgenommene Einverleibung sich ausgesprochen und damit selbst die Hoffnung erweckt, daß sie, zur Macht gelangt, die Vergewaltigung zurücknehmen würden.
Aber als im Frühjahr 1880 das Parlament aufgelöst wurde und die Tories in der That eine entscheidende Niederlage erlitten, die Whigs aber wieder die Zügel der Regierung ergriffen, da zeigte sich an einem überaus lehrreichen Beispiel, daß die parlamentarische Opposition oft bloß aus Parteigeist das am Ruder befindliche Ministerium tadelt, aber, in den Besitz der Macht gekommen, genau dasselbe thut, was sie vorher aufs heftigste bekämpfte.
Derselbe Gladstone, der im Wahlkampf ausgerufen hatte, daß man Transvaal ohne alle Rücksicht auf Wert oder Unwert des Landes schon deshalb die Freiheit zurückgeben müsse, weil seine Einverleibung unter Verletzung der britischen Ehre erfolgt sei, derselbe Gladstone wollte, nachdem er Ministerpräsident geworden war, von dieser Wiederherstellung nichts mehr wissen und erklärte, nun die Einverleibung einmal, gegen seinen Willen, vollzogen sei, könne die Autorität der Königin über Transvaal unter keinen Umständen wieder aufgegeben werden. Man wird annehmen dürfen, daß ihm dieser Abfall von seiner kaum erst mit seiner flammenden Beredsamkeit kundgegebenen Ansicht nicht leicht wurde, daß er Einflüssen unterlag, die stärker waren als seine persönliche Ehrenhaftigkeit, kurz gesagt: der ungeheuren nationalen Selbstsucht des englischen Volkes, das nach allen überseeischen Gebieten von irgend welchem Wert begehrt, wie wenn Gott die Welt nur für England geschaffen hätte, und das, wo es einmal seinen Fuß hingesetzt hat, spricht: „Hier bin ich, hier bleibe ich; Recht oder Unrecht – mein Land steht über allem!“ „Der Brite,“ hat Schiller schon vor hundert Jahren gesagt, „will das Reich der freien Amphitrite – das Weltmeer – schließen wie sein eignes Haus.“ Der Kolonialminister Lord Kimberley machte geltend, daß seit 1877 die englische Bevölkerung in Transvaal so zugenommen habe, daß die Freigabe des Landes dort einen Bürgerkrieg entfesseln würde, und er suchte den Buren die herbe Pille mit erneuten Verheißungen der weitestgehenden Selbstverwaltung zu verzuckern; aber er fand keinen Glauben mehr: das Maß war voll.
Längst empfanden die Buren mit bitterem Groll, wie hochmütig jeder Engländer auf sie herabsah. Sie waren ihm einfältige, schmutzige, zurückgebliebene Bauern, die in Häusern ohne Parkettböden (dafür mit Böden von getrocknetem Kuhmist, zur Abwehr der holzfressenden Ameisen) und ohne gemalte Zimmerdecken wohnten und deren Fenster nur Kugellöchern glichen; in ihrer Vorliebe für die Viehzucht, die sie sommers auf den Hochebenen, winters in den Thälern betrieben, in ihrer geringeren Neigung für den Ackerbau, in ihrer völligen Abkehr von der Industrie waren sie den Engländern Menschen ohne Entwickelung. Die Engländer selbst aber betrachteten sich als die wahren development-men, als die Männer des Fortschritts, des Jahrhunderts; ein Engländer, heißt es, wohl etwas übertrieben, würde sich nicht herablassen, ein Burenmädchen zu heiraten; kein Wunder deshalb, daß die Buren auf ihren Höfen den Engländern die sonst freigebig geübte Gastlichkeit versagten und erst zugänglicher wurden, wenn etwa der schlaue Engländer sich als – Waliser bezeichnete! Shepstone wagte es gar, dieser weißen Bevölkerung Zulupolizisten aus Natal zu setzen; seine Beamten benahmen sich, wie die Landvögte der Habsburger der Sage nach gegen die Schweizer sich benommen hatten; unter Lanyon ward es noch schlimmer! Das sollte ein Volk ertragen, das seit Menschengedenken sich in voller Freiheit selbst regiert hatte? Die Unruhe nahm immer mehr zu; man weigerte sich, wie vor hundert Jahren die Amerikaner es gethan hatten, die Steuern zu zahlen, welche man nicht bewilligt hatte; im Bezirk Wakkerstroom thaten sich 110 Burghers zu einem öffentlichen Protest zusammen, und als einem Buren – er hieß wieder Bezuidenhout – wegen Steuerverweigerung sein Karren weggenommen ward, da brach der Sturm los. Der Wagen ward zurückgeholt, und auf den 8. Dezember 1880 wurde nach dem Hofgut Pardekraal (zwischen Potschefstroom und Pretoria) trotz Lanyons Verbot eine Landesversammlung einberufen. Sie trat erst am 13. wirklich zusammen, beschloß aber sofort die Herstellung der Südafrikanischen Republik und übertrug drei Männern, dem greisen Martinus Pretorius, Paul Krüger und Pieter Joubert, vorläufig die Regierungsgewalt; Pretorius ward zum Präsidenten, Krüger zu seinem Stellvertreter, Joubert zum Generalkommandanten erwählt. Am 16. Dezember, dem Tag, an dem 1837 400 Buren die 15000 Zulus Dingaans am „Blutflusse“ in Natal geschlagen und ihre gemordeten Brüder gerächt hatten (s. Artikel I, S. 4) und der seither als Nationalfest gefeiert wird, am sogenannten „Dingaanstag“, erhoben sich nach gefaßten Beschlüssen alle in Pardekraal versammelten Buren zu dem mannhaften Entschluß, der Väter nicht unwert zu sein, denen die Freiheit lieber gewesen war als selbst die Heimat, und schwuren mit aufgehobenen Händen, so wahr der alte Gott lebe, die Waffen nicht eher niederzulegen, als bis sie die Freiheit ihres Landes aufs neue erkämpft hätten: des zum Zeichen warf jeder einen Stein auf einen Haufen, und dessen rasches und gewaltiges Emporwachsen kündete die Macht des Entschlusses aller an, frei zu leben oder zu sterben.
Seit Monaten b hatte jeder Bur Schießbedarf aufgekauft, den er unter dem Vordersitz seines Karrens verborgen hielt; die Männer waren gewohnt, ihr Pulver zu sparen und mit jeder Kugel ihr Ziel zu treffen: wie staunte jener Fremde, der als Gast eines Buren mit diesem zur Jagd ging und sich selbst die ganze Patrontasche füllte, während der burische Gastfreund drei Patronen zu sich steckte und zu dem Verwunderten sprach: „Drei Antilopen will ich schießen; wozu brauche ich mehr Kugeln?“ Das Hauptquartier der Erhebung war das Dorf Heidelberg, das an der Straße von Pretoria nach Natal liegt; hier befehligte als Generalkommandant – der nach der Verfassung durch alle Burghers auf zehn Jahre gewählt wird und unter dem die Kommandanten (Obersten) und weiterhin die Feldkornetts (Hauptleute der Bezirke und Kompagnien) stehen – Pieter Joubert eine Streitmacht von 4000 Mann. Sein Plan war sehr einfach: alle englischen Besatzungen in den Städten sollten eingeschlossen, die sämtlichen Straßen aber gesperrt und so jeder Entsatz verhindert werden; und da man eigentlich allein aus Natal den Feind erwarten konnte – weil die Südgrenze durch den neutralen Oranjefreistaat gedeckt war – so ging die Hauptmacht nach Natal vor. Die Stimmung in der (seit 1854 unter ihrem eigenen Ministerium und Parlament stehenden) Kapkolonie war so, daß die Engländer hier gar keine militärischen Maßnahmen zu treffen wagten, um nicht die Kapburen, unter denen es gewaltig gärte, zum Aufstand zu reizen: in dem als Kronkolonie fast absolut regierten Natal hatte man die Hände freier. Als nun die in Lydenburg liegende Abteilung des 94. Regiments sich, erhaltenem Befehl gemäß, nach Pretoria begeben wollte, um zu der dortigen Besatzung zu stoßen, wurde sie am 20. Dezember an der Furt des Bronkhorstspruit (Spruit = Fluß) von einer Burenschar angegriffen und binnen einer halben Stunde [836 i 3] so zusammengeschossen, daß 86 Engländer tot, 83 verwundet waren und der Rest sich ergeben mußte; die Buren ihrerseits hatten nur einen Toten und fünf Verwundete verloren! Als darauf 4500 Mann Verstärkung aus Indien und eine Batterie aus Sankt Helena angelangt waren, versuchte General George Colley, der von der Not der belagerten Besatzungen unterrichtet war, durch den von 1000 Buren verteidigten Paß von Laings Neck (= lange Schlucht) nördlich von Newcastle in Transvaal einzubrechen, wurde aber am 28. Januar 1881 mit einem Verlust von 194 Mann gänzlich zurückgeschlagen; die von Joubert selbst befehligten Buren verloren nur 43 Mann. Darauf umging eine Burenabteilung unter General Nikolas Smit die Engländer und schnitt sie von der Stadt Newcastle ab; ein Versuch, den Weg am Ingogofluß hin frei zu machen, trug Colley eine neue Niederlage ein, wobei die sicher zielenden Buren nicht nur eine Menge seiner Offiziere, sondern auch fast alle Artilleristen wegschossen: die englischen Kanonen und Lafetten „waren mit Burenkugeln buchstäblich übersät; eine Kanone bedienen war sicherer Tod“.
Jetzt faßte Colley einen verwegenen Entschluß. Unter ungeheuren Schwierigkeiten brachte er in der Nacht des 26. Februar 1881 nach achtstündigem Klettern einen Teil seiner Soldaten, zusammen 650 Mann, und mehrere Geschütze auf den Majubaberg, der 2000 m überm Meer liegt, also fast die Höhe des Pilatus hat; er überragte das etwa 1330 m überm Meer befindliche Lager der Buren bei Laings Neck noch um fast 700 m.
Der General hoffte von hier aus das Lager der Feinde so beschießen zu können, daß sie entweder den Paß aufgeben müßten oder sich zu einem Sturm genötigt sehen würden, auf den sie bei ihrer Fechtart, die mehr auf Verteidigung gerichtet war, nicht eingeübt waren.
Aber das Unerwartete geschah, und es geschah mit blitzähnlicher Schnelligkeit. Kaum sahen die Buren mit ihren scharfen Augen die Rotröcke auf der etwa vier Morgen großen Kuppe des Majuba, kaum flogen die ersten englischen Granaten in ihr Lager, als der Obergeneral Joubert (es war gegen sechs Uhr morgens) dem General Smit, dem Helden vom Ingogo, den Befehl gab, den Berg um jeden Preis zu nehmen. Die Mannschaften hatten sich bereits ganz von selbst gesagt, daß nichts anderes übrig bleibe; einer rief es dem andern zu: 150 bis 200 Freiwillige traten sofort vor, und geführt von dem General Smit, dem Kommandanten Ferreira, den Feldkornettsassistenten Stephanus Roos, Malan und Trichhard stürmten sie, die Vorsprünge des steilen Berges klug als Deckung benutzend, von drei Seiten her den Majuba hinan und erreichten etwa um elf Uhr glücklich seine Spitze. Die grauen Jacken der Buren hoben sich kaum von den grauen Felsblöcken ab, mit denen die Bergspitze übersät ist; hinter jedem Felsen hervor krachten die Schüsse, fast nie ihr Ziel verfehlend, während die englischen Rekruten, die in Colleys Schar zahlreich waren, „Fabrikarbeiter, denen man den roten Rock angezogen hatte“, planlos ihr Pulver verschossen. Von allen Seiten gefaßt und niedergemäht, des tapferen Anführers beraubt, der in dem furchtbaren Kreuzfeuer fiel, jagten die Engländer am Ende in wilder Flucht den Berg hinab, wobei viele den einzigen schmalen Fußpfad verfehlten und, über Abgründe stürzend, zerschellten. Etwa 90 Engländer fanden den Tod, 133 wurden verwundet, 57 gefangen; darunter waren 4 tote, 8 verwundete, 6 gefangene Offiziere; der Verlust der Buren betrug nach Stephanus Roos’ Zeugnis nur 2 Tote und 4 Verwundete. Auf dem Schlachtfeld entblößten die Sieger ihre Häupter, und brausend erklang ihr Dankespsalm; still kehrten sie dann in ihr Lager zurück und bereiteten ihr Abendbrot: kein Jubeln, kein Schreien, kein Trinkgelage hörte man; aber man sah sie eifrig bemüht, die Leiden der verwundeten Feinde barmherzig zu lindern. Wenn je Christen waren, so waren sie es am Abend des 26. Februar im Lager von Laings Neck.
Der Sieg auf dem Majuba brachte dem tapferen Volke aber auch die Freiheit. England hatte die kriegerische Kraft und den Todesmut der Buren kennengelernt; und niemand konnte mehr in Abrede ziehen, daß die Handlung der Einverleibung in der That eine brutale Gewaltthat gegen ein Volk gewesen war, dessen wahre Gesinnung jetzt vor aller Welt offen lag. Es trat infolge der Vermittelung des Präsidenten Brand vom Oranjefreistaat eine Waffenruhe ein, und es wird Gladstone und Lord Kimberley immer zur Ehre gereichen, daß sie, ohne Rücksicht auf die Stimmen, welche neuen Krieg mit übermächtigen Mitteln und Herstellung der verlorenen Waffenehre forderten, den Mut hatten, sich zu sagen, daß der weitaus Stärkere ruhig einen Schritt thun kann, der den Schwachen entehren würde, und daß Einlenken jetzt ebenso gerecht als klug sei; bei längerem Krieg war der Abfall der holländischen Bevölkerung am Kap zu befürchten.
Der Krieg in Südafrika. (Zu unseren Bildern). Von den befestigten Plätzen, in denen es den Buren bald nach Ausbruch des Krieges gelungen war, größere Truppenkörper der Engländer einzuschließen, und auf deren Entsatz sich die Operationen des Generals Buller mit den frischen Truppen aus England zunächst richten mußten, ist Kimberley der bedeutendste. Bei der letzten Zählung der Bevölkerung betrug dieselbe gegen 40000 Einwohner, die Hälfte davon waren Weiße. Sein Entstehen und schnelles Wachstum verdankt der Ort den Diamantminen in seiner Nähe. Er wurde zum Mittelpunkt einer Diamantenindustrie, deren Ertrag 1892 einen Wert von 78 Millionen darstellte. Als vor 30 Jahren die ersten Diamantfunde gemacht wurden, annektierte England mit Hilfe des Griquahäuptlings Waterboer (vergl. Sonderbeilage zu Nr. 49, Seite 2) die damals zum Oranje-Freistaat gehörige Gegend und schlug sie zu Westgriqualand, das schon in seinem Besitz war. Erst nachträglich fand es sich bereit, eine Entschädigung von zwei Millionen Mark an den Oranje-Freistaat zu zahlen. Die Stadt hat heute verschiedene Hotels, ein Hospital, ein Sanatorium, eine städtische Bibliothek, welche die größte in ganz Südafrika ist. Gewissermaßen als Vorstadt von Kimberley ist Beaconsfield zu betrachten. Der Oberkommandant der westlichen Burenarmee, Pieter Cronje, stellte sich gleich nach Ausbruch des Kriegs die Aufgabe, diese reiche und strategisch wichtige Stadt zu erobern. Daß Cecil Rhodes, der zu den ersten Ausbeutern der Diamantgruben zählte und später als Direktor der „Chartered Company“ der rücksichtsloseste Vorkämpfer der englischen Geldinteressen in Südafrika wurde, sich in Kimberley aufhielt, dieser Umstand erhöhte den Eifer der Belagerer, die jedoch wochenlang den von 2500 Mann unter Oberst Kekewich verteidigten Ort vergeblich beschossen. Der Ort ist schwer einzunehmen, zumal die Stein- und Schuttmassen und die Gräben bei den Minen natürliche Befestigungen bilden. Bis zum 4. Dezember war es andrerseits den Belagerern unter Kommandant Dutoit auch stets gelungen, die oft sehr heftigen Ausfälle zurückzuschlagen.
Mit dem Entsatz von Kimberley wurde von Buller die um eine [836 i 4] Marinebrigade verstärkte Division betraut, zu deren Führer Lord Methuen bestimmt war. Sie umfaßt mehrere der glänzendsten Garderegimenter der englischen Armee, in deren Reihen von jeher die Söhne der alten britischen Adelsgeschlechter mit Vorliebe dienen. Die Armee hatte beim Aufbruch von Kapstadt eine Stärke von rund 14000 Mann und drang mit großer Schnelligkeit, die Eisenbahn benutzend, über den Oranjefluß vor. Unweit von diesem sah sie sich bei Belmont am 23. November von einigen tausend Mann Buren bedroht, die auf den Höhen entlang der Bahn Stellung genommen hatten. Unter dem Aufwand seiner gesamten Truppenmacht gelang es Methuen, die Gegner zu vertreiben, aber der Kampf kostete viele Opfer.
Noch blutiger verlief zwei Tage später der Sturm auf die Höhen bei Graßpan, und hier wie dort war die Zahl der getöteten und verwundeten englischen Offiziere sehr groß, während die Verluste der Buren verhältnismäßig klein waren. Ueberhaupt erwiesen sich diese Gefechte, welche Lord Methuen nach London als bedeutende Siege verkündete, als erfolgreiche Schachzüge der Strategie des alten Burengenerals Cronje, der darauf ausging, mit kleinen vorgeschobenen Kontingenten von günstiger Stellung aus den Feind im Vorrücken aufzuhalten und zu schwächen. Diese Kontingente von Oranjeburen standen unter Führung des Generals Delarey. Am 27. November gelangte Lord Methuen an den Modderfluß, der sich in der Nähe der Bahnlinie, etwa 35 km vor Kimberley, mit dem Rietfluß vereinigt. Hier hatte Cronje auf dem südlichen wie auf dem nördlichen Ufer des hochgehenden Flusses Schanzen aufwerfen lassen, zu deren Verteidigung etwa 8000 Mann zusammengezogen waren. Ein erbitterter Kampf entspann sich am 28. in der Frühe, der bis spät in den Abend währte. Die englischen Truppen kämpften, nach dem Berichte des Lord Methuen, ohne Wasser und Nahrung, in der Sonnenhitze mit großer Tapferkeit und zwangen schließlich den Feind, seine Stellungen aufzugeben. Doch ward dieser Erfolg mit Opfern erkauft, die zu ihm in gar keinem Verhältnis standen. Auch Lord Methuen befand sich unter den Verwundeten. Am 1. Dezember wurde vom General Gatacre aus Kapstadt dem Londoner Kriegsamt gemeldet, Lord Methuen bleibe am Modderfluß, um die Brücke über den Fluß wieder herzustellen. Starke Abteilungen von Kavallerie und reitender Artillerie, sowie zwei Infanterieregimente seien von Kapstadt her zu seiner Verstärkung unterwegs. Inzwischen hielt sich wie die Besatzung von Kimberley auch die von Mafeking, das Oberst Baden-Powell mit bewundernswerter Zähigkeit verteidigte, trotz der scharfen Beschießung durch die schweren Geschütze der Buren.
Nur dunkle Nachrichten kamen in derselben Zeit vom Operationsfeld der Regimenter, welche General Gatacre von Kapstadt, Port Elizabeth und East-London aus, unter Führung des Generals French, gegen die Stellungen der Oranjeburen im Norden der Kapkolonie ausgesandt hatte. Am 2. Dezember traf in London die Meldung ein, die Truppen Gatacres hätten bei Molteno zwischen Queenstown und Burghersdorp ein Lager bezogen, welches befestigt werde. Die holländischen Kolonisten der nördlichen Grenzdistrikte des Kaplands befanden sich zu dieser Zeit in offenem Aufstand. Ueber die Vorgänge in Natal, wo sich bis zum 2. Dezember, den englischen Berichten nach, die Truppen des Generals White noch immer in oder wenigstens bei Ladysmith gehalten hatten, blieb erst recht ein Schleier gebreitet. Aus der Nähe von Colenso, wo die große Eisenbahnbrücke über den Tugelafluß sich spannt, von der es schon am 15. November hieß, General Joubert habe sie sprengen lassen, wurden Gefechte gemeldet, durch welche Kavallerie und reitende Artillerie vom Lager des Generals Hildyard bei Frere die Buren zu hindern versucht hätten, die Brücke zu zerstören. Es ist zu beachten, daß bei Colenso zwei Brücken über den Tugelafluß führen. Wirkliche Erfolge hatte der Oberkommandierende der englischen Armee, General Buller, der am 26. November in Pietermaritzburg die Leitung der Operationen zum Entsatz von Ladysmith übernahm, zunächst nicht aufzuweisen. Der Rückzug der Buren von Estcourt nach Colenso war ein freiwilliger und entsprach jedenfalls einer strategischen Absicht Jouberts, der inzwischen eine starke Truppenzahl auf den Höhen im Norden des Tugelaflusses konzentrierte, von wo die schweren Geschütze Colenso und Ladysmith gleichzeitig beherrschen.
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Oberst Kekewich.
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General Sir W. F. Gatacre.
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Generalmajor Hildyard.
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Oberst Baden-Powell.
Außer den Porträts der Generale Lord Methuen, Gatacre und Hildyard, der Obersten Kekewich und Baden-Powell bringen wir heute das Bildnis von Major Albrecht, dessen Verdienst es ist, die Artillerie des Oranjefreistaats auf die jetzt bewährte Leistungsfähigkeit gebracht zu haben. Richard Albrecht ist ein geborener Berliner, der 1870 den Krieg gegen Frankreich in der preußischen Garde-Feldartillerie mitmachte. Er blieb bei der Waffe und wurde später Vizewachtmeister. Als 1880 der Oranjefreistaat einen tüchtigen preußischen Artilleristen zur Organisierung seiner Artillerie suchte, wurde diese ehrenvolle Aufgabe Albrecht übertragen. Die 6 Kanonen, welche die Oranjeburen bei Belmont, dann bei Graßpan aufgefahren hatten, wurden so vortrefflich bedient, daß lange Zeit die 24 Kanonen Lord Methuens nichts gegen sie ausrichten konnten.
Mit Interesse werden die Leser auch die Züge des Dr. W. J. Leyds betrachten, der als außerordentlicher Gesandter der Südafrikanischen Republik in Brüssel mit ebensoviel Umsicht wie Energie die Interessen der Buren bei den Staaten Europas vertritt. Leyds stammt aus Holland, wo er die Rechte studierte. Eine Zeitlang war er unter Präsident Krüger Staatssekretär des Auswärtigen in Pretoria. Vor Ausbruch des Krieges gab er sich viel Mühe. denselben abzuwenden.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Buren in Südafrika.
Am 23. März 1881 wurde ein vorläufiger, am 3. August in Pretoria der endgültige Friede unterzeichnet, die sogenannte „Pretoria-Konvention“. Gemäß dieser stellte Transvaal seine auswärtigen Angelegenheiten, einschließlich des Abschlusses von Verträgen und der Pflege diplomatischer Beziehungen, unter englische Aufsicht, erkannte also Englands Oberhoheit (Suzeränität) an und gab die Anwesenheit eines englischen „Residenten“ (d. h. Aufsehers) in Pretoria zu, der namentlich über die Verhältnisse der Eingeborenen ein Aufsichtsrecht haben sollte. Auch behielt sich England für Kriegsfälle das Durchzugsrecht für seine Truppen durch Transvaal vor. Dafür aber sollte dieses Land sich im Innern völliger Selbständigkeit erfreuen, soweit nicht eben durch den Vertrag den Eingeborenen und den Uitlanders (= Ausländern) besondere Rechte gewährleistet wurden: jenen die Fähigkeit zu Landerwerb und zur Freizügigkeit sowie der Genuß von „reservierten Lokationen“, d. h. ihnen vorbehaltenen Gegenden; diesen das Recht, sich überall niederzulassen, Eigentum zu erwerben und Handel zu treiben; politische Rechte ihnen zu erteilen, blieb der freien Entschließung Transvaals anheimgestellt. Auch allgemeine Religionsfreiheit wurde jetzt eingeführt. Am 8. August 1881 erklärte der englische Statthalter im Kapland, Sir Herkules Robinson, in feierlicher Handlung zu Pretoria im Namen der Königin die Einverleibung von 1877 für null und nichtig und ermahnte alle Unterthanen Transvaals zum Gehorsam gegen die wieder hergestellte Regierung. Im Oktober trat sodann der neu gewählte Volksrat wieder zusammen und nahm den von dem „Triumvirat“ Pretorius, Krüger und Joubert geschlossenen Vertrag, wenn auch nicht ohne entschiedene Einsprache gegen einzelne Punkte, an. Zum Präsidenten der „Südafrikanischen Republik“, wie sie sich sofort wieder nannte, wurde 1882, nach dem Rücktritt des hochbetagten Pretorius, Paul Krüger gewählt.
Die Lage der Republik war zunächst wenig günstig; die Finanzen waren noch sehr ungeordnet, und mit den Eingeborenen gab es allerlei Schwierigkeiten: aus ihren Felsnestern und Höhlen hervorbrechend, verwüsteten die Häuptlinge Mampur und Mapoch, die Vasallen des von England wieder eingesetzten, aber dann von ihnen ermordeten Sekokuni, das Land, und nur mit großer Mühe wurden sie endlich bewältigt; der erste ward gehenkt, dem zweiten ein Wohnort bestimmt. Aus Anlaß ähnlicher Kämpfe im Westen der Republik „trekten“ Abteilungen von Buren erobernd über die Grenzen und gründeten in Betschuanaland die neuen Republiken Stellaland und Gosen. Darüber mischte sich England, dem diese Erweiterung der Republik Besorgnisse erregte, ein, und im Verlauf der Unterhandlungen begab sich Krüger 1883 nach London. Hier brachte er am 27. Februar 1884 einen neuen Vertrag, die Londoner Konvention, zu stande, welche – mögen auch die Engländer dagegen sagen, was sie wollen – den Vertrag von 1881 nicht etwa bloß ergänzte, sondern ihn thatsächlich beseitigte. Die Aufsicht Englands über die auswärtigen Verhältnisse der Republik ward darauf eingeschränkt, daß diese ohne die Genehmigung der Königin mit keinem fremden Staat und mit keinem Eingeborenenstamm einen Vertrag sollte abschließen dürfen, es sei denn mit dem Oranjefreistaat. Die Aufsicht über den Verkehr der Republik mit dem Ausland aber hatte England eben durch Annahme dieser Beschränkung aufgegeben, und von Suzeränität über die Republik schlechtweg kann seit 1884 nicht mehr gesprochen werden; es ist nur noch ein letzter Rest englischer Oberhoheit, mit ganz genauer Umgrenzung seiner Tragweite, übrig geblieben. Die Anwesenheit eines englischen „Residenten“ in Pretoria kam folgerichtig in Fortfall; es gab fortan nur einen englischen Generalkonsul, der keine weitergehenden Befugnisse hatte als die Generalkonsuln der anderen Mächte.
Auch das Truppendurchzugsrecht erscheint in der Londoner Konvention nicht wieder. Für diese Zugeständnisse willigte die Südafrikanische Republik in eine genaue Festsetzung ihrer Grenzen und verzichtete auf jeden künftigen „trek“ jenseit dieser Grenzen; Stellaland und Gosen wurden infolgedessen wieder geräumt und [836 k 2] damit Betschuanaland den Briten überlassen. Swasiland dagegen fiel 1893 an die Republik.
Wenn man in Transvaal an diese Verständigung die Hoffnung knüpfte, daß der hergestellte Staat fernerhin von England werde in Ruhe gelassen werden, so hat sich diese Hoffnung freilich nicht erfüllt. Den Anstoß zu neuen Wirren gab der reißend sich entwickelnde Abbau von Gold im Witwatersrand, westlich von Johannesburg; die Goldförderung von Transvaal betrug 1896 nicht weniger als 2,5 Millionen Unzen, blieb also hinter der amerikanischen (mit 2,6 Millionen Unzen) nur wenig zurück und übertraf die australische (mit 2,2 Millionen Unzen) beträchtlich: mit anderen Worten, Transvaal ward – seinen verhältnismäßig kleinen Umfang in Betracht gezogen – das erste Goldland der Welt. Im Jahre 1894 betrugen die Einnahmen des Staats, der früher so schwer mit Geldnot gekämpft hatte, schon über 44 Millionen Mark, wovon 43% oder 19 Millionen aus den Steuern der Goldfelderindustrie – für ihre Zulassung und für das ihr nötige Dynamit – kamen; die Ausgaben beliefen sich auf 34 Millionen. Wenn man so den großen wirtschaftlichen Umschwung in Transvaal zwischen 1884 und 1894 bedenkt, so wird man an das Wort eines Reisenden erinnert: „In Südafrika ist immer entweder Fest oder Hungersnot.“ Das goldreiche Land erregte natürlich die Begierde aller Großspekulanten, als deren größter Cecil Rhodes zu betrachten ist. Dieser Mann war 1853 in Bishop-Stortford in der Grafschaft Hertford als Sohn eines Predigers geboren, ging 1870 mittellos nach dem Kap und ward erst Landwirt, dann Diamantengräber in Kimberley. Hier gelang es ihm, 1881 fast alle kleineren Grubengesellschaften zu der gewaltigen De Beers-Company zu verschmelzen, die über ein Kapital von gegen 90 Millionen Mark verfügte und im Durchschnitt in guten Jahren 35 bis 40 Millionen Mark – manchmal sogar das Doppelte – verdiente. So ward Rhodes ein reicher Mann, und er brachte es bald dahin, auch eine politische Rolle zu spielen, wozu er freilich oft seltsame Wege wählte.
Im Zusammenhang nämlich mit der brutalen, von London aus in Scene gesetzten Vergewaltigung der Südafrikanischen Republik war ein Erwachen erstens der holländischen Bevölkerung in ganz Südafrika und zweitens ein Erwachen des Geistes der Selbständigkeit überhaupt erfolgt; es bildete sich 1879 in der Hauptstadt des Oranjefreistaats, in Bloemfontein, der sogenannte „Afrikander-Bond“ (Afrikanerbund), der sehr bald in der Kapkolonie – nicht aber in dem gegen alles Auswärtige nicht ohne Grund mißtrauischen Transvaal – großen Anhang fand und dessen Ziel war, Südafrika vor den Eingriffen, die von London ausgehen möchten, zu bewahren, also namentlich den „imperialistischen“ Bestrebungen der Engländer entgegenzutreten, die auf feste Vereinigung der Kolonien mit dem Mutterland gerichtet waren. Ein Gegensatz gegen England an sich oder gar der Gedanke einer völligen Trennung von ihm war damit nicht gegeben. Auch die Afrikander wußten den Wert des Schutzes der englischen Flotte für die weitgedehnten Küsten Südafrikas, die sonst leicht auch anderen Mächten verlockend erscheinen mochten, sehr wohl zu schätzen; sie wendeten sich nur gegen eine in England mächtige politische Richtung (gegen die „Jingos“). Im Bond waren neben den Holländern, die in Südafrika etwa doppelt so zahlreich sind als die Engländer, doch auch nicht wenige englische Elemente, und die Losung des Bundes war deshalb: gleiche Berücksichtigung beider Nationen – was bald zur Zulassung der holländischen Sprache im Parlament der Kapkolonie und vor deren Gerichten führte – und so Schaffung eines „südafrikanischen Nationalgefühls“, das in dem Schlachtruf gipfelte: Südafrika den Südafrikanern! Die Leiter des Bundes sind zur Zeit Schreiner (der jetzige Ministerpräsident der Kapkolonie) und Jan Hendrik Hofmeyr.
Cecil Rhodes verstand es nun, mit dieser mächtigen Partei so zu kokettieren, daß er sich mit ihrer Hilfe 1890 zum Ministerpräsidenten aufschwang; er schien der Ansicht zu huldigen, daß überall im englischen Weltreich die Völker ihr Geschick selbst bestimmen sollten – an die irische Nationalpartei unter Parnell soll er einmal einen Agitationsbeitrag von 200[836 k 3] diese Einwanderer schon etwa die Hälfte der 120 000 Köpfe zählenden weißen Bevölkerung der Republik aus. Man nennt diese Fremden, wie schon erwähnt, Uitlanders oder Ausländer; sie wohnten besonders zahlreich in den Goldbezirken um Barberton im Osten (in dem De-Kaapgebirge) und um Johannesburg, wo neun Zehntel der ganzen Goldmasse Transvaals hervorgebracht werden. Diese Ausländer durften gegen Entrichtung der Steuern nach Belieben Geschäfte treiben, genossen aber keine politischen Rechte. Bis 1893 war die Erlangung des vollen Bürgerrechts bei einer Ansässigkeit von 14 Jahren möglich gewesen; nach Abfluß dieser Zeit hatte man selbst das aktive und passive Wahlrecht zu dem 1890 eingerichteten ersten Volksrat erworben, welcher thatsächlich alle Macht ausübte. Der zweite Volksrat, zu dem der Zutritt leichter war, hat fast nur den Schein von Rechten. 1893 wurde aber aus Sorge vor einem allmählichen Ueberwiegen der Uitlanders gesetzlich bestimmt, daß das volle Bürgerrecht an Fremde überhaupt nicht mehr erteilt werden dürfe. Die Uitlanders hatten das Gefühl, daß sie durch ihre Arbeit und ihre Steuern die Republik reich machten; sie hielten es also auch für billig, daß sie an der Regierung des Landes Teil bekämen. Das wäre wohl auch schließlich nach dem natürlichen Lauf der Dinge von selbst so gekommen; der alte kluge Krüger, der seit 1882 immer wieder zum Präsidenten gewählt ward, kam mehr und mehr zur Einsicht, daß Transvaal seine bäuerliche Abgeschlossenheit auf die Dauer nicht behaupten könne; er ließ es also zu, daß die Bahnen vom Kap durch den Oranjefreistaat nach Transvaal fortgesetzt wurden, und förderte selbst den Bau der Delagoabahn, welche von einer niederländischen Gesellschaft vornehmlich mit deutschem Gelde (das die Berliner Handelsgesellschaft darlieh) hergestellt und im Jahr 1895 dem Betrieb übergeben wurde.
000 Mark gesandt haben –, daß aber der Zusammenhang mit England als Mutter- und Schutzmacht doch nicht aufgegeben werden sollte. Ueber seine letzten Ziele herrscht freilich auch unter denen, die ihn genauer kennen, Meinungsverschiedenheit; aber das mindestens, daß sie nicht bloß auf rücksichtslosen Gelderwerb ausgehen, sondern daß er auch von politischem Ehrgei[z] getrieben wird, gestehen selbst seine Feinde zu. Jedenfalls machte er als Minister sich daran, ganz Südafrika – womöglich unter Durchkreuzung der sich eben entwickelnden deutschen Kolonialbestrebungen – bis hinauf zu den großen Seen in englischen Besitz zu nehmen; er gedachte wohl, sich daselbst noch größere Reichtümer zu sammeln und auf diese gestützt dann der leitende Mann vom Kap bis zum Aequator zu werden. Im April 1889 gründete er nach dem Muster der mächtigen Ostindischen Compagnie die „Britisch-südafrikanische bevorrechtete Gesellschaft“ (Chartered Company, von charter = privilegieren, bevorrechten), welche von der Königin durch Freibrief das Recht erhielt, in dem von dem Matabelekönig Lobengula gegen 3000 Mark bar Geld, 10 000 Gewehre und einen kleinen Dampfer abgetretenen Maschonaland Handelsgeschäfte zu treiben, Bergwerke, Posten, Eisenbahnen und Telegraphen anzulegen, überhaupt nach Belieben zu kolonisieren, Steuern zu erheben und Recht zu sprechen. Mit erstaunlicher Thatkraft hat Rhodes sodann in diesem weiten Lande Bahnen und Telegraphen angelegt, mehrere Niederlassungen gegründet und wenigstens äußerlich die europäische Herrschaft daselbst aufgerichtet. Im Jahr 1893 wurde durch einen der rechtswidrigsten Kriege, die jemals unternommen worden sind, Lobengula auch aus seinem übrigen Reiche verjagt und sein Volk durch Maximkanonen und Repetiergewehre großenteils abgeschlachtet; er selbst starb auf der Flucht. Da aber alle diese Länder nicht den erhofften klingenden Gewinn einbrachten, so warf Rhodes sein Augenmerk auf die von ihm und von England unabhängige Südafrikanische Republik, die ohne Frage eine sehr wertvolle Beute darstellte. Er gedachte sie zu unterwerfen und die Witwatersgoldwerke dann ebenso zu beherrschen wie die Diamantfelder von Kimberley. Wie gewöhnlich durchdrangen sich in ihm auch hier wieder persönliche und allgemeine Tendenzen, Habsucht und Herrschgier. Bei seinen Absichten kam ihm die in der Republik eingetretene Verschiebung in den Bevölkerungsverhältnissen zu statten. Mehr und mehr trat neben das alteingesessene, an Viehzucht und Ackerbau festhaltende Burentum eine zweite – industrielle und handeltreibende – Bevölkerungsschicht von fremder, großenteils englischer Herkun[ft;] doch waren in ihr auch Deutsche, Franzosen, Skandinavie[r,] Italiener, Russen, Amerikaner vertreten. Im Jahre 1890 machtenWas nun aber das Entgegenkommen Krügers gegen die Forderungen der Uitlanders erschwerte, was wesentlich an dem – wohl gegen Krügers Willen beschlossenen – Gesetz von 1893 schuld war, das war das Verhalten des englischen Elements unter den Ausländern. Diese Engländer hatten kein Gefühl dafür, daß, wie dies der unparteiische englische Schriftsteller Reginald Statham in seinem (1897 in Berlin bei Springer auch in deutscher Sprache erschienenen) Buche „Südafrika wie es ist“ S. 83 selbst ausspricht, „es den Thaten und Leiden der ausgewanderten Buren zu danken ist, wenn es heute ein wenigstens teilweise zivilisiertes südafrikanisches Festland giebt“. Das begreifen in ihrer Art selbst die eingeborenen Barotse besser, welche – in einer Entfernung von 3500 Kilometern vom Kap – vor den Holländern solche Achtung haben, daß sie das Holländische für „die große Sprache“ der Weißen schlechtweg ansehen, oder auch jene 10 000 mohammedanischen Malayen der Kapstadt, die im Gefühl des Wertes und der Ueberlegenheit der holländischen Zivilisation sogar unter sich die Burenmundart, das „Afrikansch“, reden, das nach dem Vorbild der englischen Sprache durch Vereinfachung von Formenlehre und Syntax eine sozusagen handlichere, universeller brauchbare Gestalt des Holländischen darstellt. Die englischen Uitlanders hatten also für diese Kulturarbeit auf bäuerlicher Grundlage gar kein Verständnis; für sie fiel die Kultur überhaupt mit der industriellen Kultur zusammen. Transvaal war ihnen auch kein Vaterland, an dem ihr Herz hing, sondern einfach ein Land, mit dessen erst entdeckten Schätzen sie alsbald ihre Taschen füllen, über das sie also unbedingt verfügen wollten; sie wollten den Buren den Fuß auf den Nacken setzen und das Gold des Landes ohne Abzug durch Steuern haben. Dazu bedurfte es aber einer Revolution; durch sie allein konnte man es dahin bringen, daß den Ausländern sofort das Stimmrecht erteilt und eine aus ihnen gebildete Regierung errichtet wurde. Im Jahre 1895 entstand in Johannesburg ein revolutionärer Verein, die „National-Union“, die eine förmliche Verschwörung gegen die Burenregierung anzettelte. An ihrer Spitze standen Rhodes’ Geschäftsfreunde; man schaffte, unter den Minengeräten versteckt, 40000 Gewehre in die Stadt, und Rhodes gab (insgeheim und, wie fest geglaubt wird, mit dem englischen Staatssekretär für die Kolonien, Chamberlain, im Einverständnis, oder doch für den Fall des Gelingens seines Schutzes sicher) den Befehl, daß 800 Mann Soldaten der „Bevorrechteten Gesellschaft“ mit 12 Kanonen unter Anführung des Dr. Jameson in Transvaal einbrechen und sich mit den Johannesburger Verschwörern vereinigen sollten.
„Ob recht, ob unrecht,“ so sagt der britische Reisende Selous, „es ist ein britischer Charakterzug, Besitz von jedem Lande zu ergreifen, das wir des Besitzes wert erachten, und dieser Seeräuber- oder Wikingerinstinkt ist eine angeerbte Tugend, die uns aus dem Blut unserer nordischen Vorfahren überkommen [836 k 4] ist.“ Aber diesmal fanden die modernen Wikinger ihre Meister. „So wie ein Bur von Transvaal reitet, wenn sein Vaterland in Gefahr ist,“ äußerte damals der Leutnant Sarel Eloff, ein Enkel Krügers, „so reitet kein Soldat auf der Welt.“ In zwei Tagen hatte Krüger, dessen Auge die bevorstehende Gefahr nicht entgangen war, mit Hilfe der ebenso einfachen als wirksamen Mobilisierungsart der Republik, deren Feldkornetts auf Befehl sofort ihre Mannschaft mit Proviant für zehn Tage aufbieten, 3000 berittene Buren versammelt, welche nach der Weisung des Generalkommandanten Joubert unter dem Kommandanten Cronje dem Dr. Jameson, der am 29. Dezember bei Mafeking die Grenze überschritten hatte, am 1. Januar 1896 bei Krügersdorp, etwa eine halbe Tagreise westlich von Johannesburg, gerade noch rechtzeitig den Weg verlegten; daß sie kein Geschütz hatten, focht die tapferen Männer nicht an: sie vertrauten auf ihre Büchsen. Unter großen Verlusten ward Jameson von Cronje zurückgeschlagen, südwärts abgedrängt und am 2. Januar am sogenannten Doornkop (Dornkopf), bezw. genauer bei Vlakfontein, mit noch 650 Mann zur Uebergabe auf Gnade und Ungnade gezwungen. Krüger bewies eine große Mäßigung, indem er Jameson mit den anderen Gefangenen nicht kurzerhand als Freibeuter erschießen ließ, sondern sie an England auslieferte; auch die Johannesburger Rädelsführer, denen übrigens im letzten Augenblick noch Bedenken aufgestiegen waren, wurden zwar als Hochverräter zum Tode verurteilt, dann aber von Krüger begnadigt. In der Kapkolonie hatten diese Dinge die Wirkung, daß Rhodes als Minister zurücktreten mußte; der Afrikanderbond brach jetzt völlig mit ihm, siegte bei den Wahlen von 1898 und setzte statt des Rhodesschen Schildknappen Sprigg das Ministerium Schreiner ein.
In England aber nahm die Mehrheit des Volkes unbedingt für die Friedensbrecher Partei; Rhodes und Jameson wurden mit den Männern verglichen, welche im 18. Jahrhundert „nach Wikinger Art“ Ostindien für England erobert hatten, mit Robert Clive und Warrens Hastings; und wenn auch Chamberlain und der Statthalter am Kap, Sir Herkules Robinson, sich amtlich von allem Anteil an dem völkerrechtswidrigen Einfall (zu dessen Abwehr der Deutsche Kaiser Krüger telegraphisch beglückwünschte), feierlich lossagten, so glaubte man es ersterem doch nicht. Jameson und Genossen wurden zwar vor Gericht gestellt, aber doch nur mit der mäßigen Haftstrafe von 15 Monaten belegt, und der vom Unterhaus eingesetzte Untersuchungsausschuß „brachte unter viel Klappern der Mühle wenig Korn zu stande“.
Ein paar Jahre der Ruhe vor neuem Sturm verstrichen, die Krüger zu solcher Fürsorge für die wirtschaftlichen Verhältnisse der Uitlanders benutzte, daß die nicht englischen Uitlanders ihre volle Zufriedenheit mit der Republik ausdrückten. Dann aber holte England – wie es scheint, auf Deutschlands Neutralität vermöge eines geheimen Vertrags über die afrikanischen Dinge bestimmt bauend, der Unfähigkeit Frankreichs zum Kampf seit Faschoda und wegen der herannahenden Weltausstellung sicher – zu einem neuen, wie es hoffte, entscheidenden Schlage aus. Der Statthalter am Kap, Milner, verlangte auf Chamberlains Befehl im Juni 1899 auf einer Besprechung, die er mit Krüger in Bloemfontein hatte, die Gewährung des Stimmrechts für alle Ausländer nach fünfjährigem Aufenthalt: er forderte, wie der gleißende Ausdruck lautete, Gleichheit für jeden weißen Mann vom Kap bis zum Sambesi, gab sich also den Schein des Vorkämpfers für Recht und Billigkeit. Als diese Angelegenheit durch Krügers Nachgiebigkeit in der That nach Englands Willen erledigt zu werden schien, obwohl die Buren dabei Gefahr liefen, durch die rasch anwachsende Zahl der Ausländer in die Minderheit gedrängt zu werden, da warf Chamberlain, um den Gegner sicher vor die Klinge zu bekommen, die Frage der Suzeränität Englands über die Republik aufs neue auf; er behauptete, daß der Vertrag von 1884 den von 1881 nicht aufhebe, also die Suzeränität fortbestehe. In diesem Punkte aber kannten die Buren kein Nachgeben, und als England durch gewaltige Rüstungen die feste Absicht verriet, die ganze Sache mit Gewalt zum Austrag zu bringen und Transvaal endgültig seinem Scepter zu unterwerfen, da warteten die tapferen Männer nicht lange ab, bis der Feind fertig war und ihnen das Netz über den Kopf zog, sondern sie verlangten am 9. Oktober, daß die Zurückziehung der englischen Verstärkungen aus Südafrika binnen 48 Stunden zugesichert werde, da deren Anwesenheit ihnen als Kriegsdrohung erscheinen müsse. Als die Erfüllung ihres Verlangens in London für nicht einmal einer Erörterung fähig erklärt ward, haben sie in den Abendstunden des 11. Oktober die Grenze von Natal im Vertrauen auf Gott und ihre gerechte Sache mit Heeresmacht überschritten.
„Das natürliche Recht der Verteidigung“, sagt Montesquieu, „zieht manchmal die Notwendigkeit des Angriffs nach sich, wenn eine Nation sieht, daß ein längerer Friede ein anderes Volk in stand setzt, sie zu vernichten, und daß der Angriff also das einzige Mittel ist, diese Vernichtung zu verhindern. Daraus folgt, daß kleine Staaten öfter das Recht haben Krieg anzufangen als große, weil sie öfter Vernichtung fürchten müssen.“ In dieser Lage waren im Oktober 1899 Transvaal und der ihm verbündete Oranjefreistaat. Daß die Buren mannhaft den Kampf eröffneten, als sie seine Unvermeidlichkeit erkannten, gereicht dem tapferen Häuflein nur zur unvergänglichen Ehre, und das brutale Pochen der Engländer auf ihre große Uebermacht hat sich bald in schwere Besorgnis verwandelt, daß das Reich mit dem ungerechten Krieg etwas unternommen haben könnte, was trotz allem über seine Kräfte geht.
Der Krieg in Südafrika. (Zu unseren Bildern.) Am 10. Dezember erfolgte nun endlich auch auf dem Kriegsschauplatze im Norden der Kapkolonie ein ernster Zusammenstoß. General Gatacre ließ aus dem festen Lager bei Molteno einen Teil seiner Infanterie mit zwei Batterien zum Angriff gegen die Stellung der Buren bei Stormberg vorrücken. Eine schwere Niederlage der Engländer war das Ergebnis; kaum zwei Drittel der Regimenter kehrten ins Lager zurück, die übrigen wurden in ihrer Mehrzahl „vermißt“. Nicht besseres Glück hatte General Methuen auf dem Kriegsschauplatze vor Kimberley. Nach seinem so verlustreichen Pyrrhussiege am Modderfluß sah er sich zum Stillstand verurteilt; er wartete auf die Verstärkungen, die von De Aar her zu ihm unterwegs waren, und ließ von seinen Pionieren die Eisenbahnbrücke über den Modderfluß wiederherstellen. Inzwischen aber umgingen größere Burenabteilungen von der Oranjegrenze her seine Stellung im Süden, während Cronje mit der Hauptmacht auf den Höhen bei Spytfontein zwischen Modderfluß und Kimberley eine feste Stellung einnahm. – In Natal hatten die Engländer bei Frere auf die Wiederherstellung der dort von den Buren zerstörten Eisenbahnbrücke zu warten. Doch trafen in der Zwischenzeit noch bedeutende Verstärkungen von Durban her ein, und der Oberkommandierende Sir Redvers Buller verfügte am 10. Dezember über eine Macht von über 20 000 Mann. Die Vorhut unter Hildyard vor Colenso konnte am Tugelafluß gleichfalls nichts ausrichten. Aus Ladysmith selbst wurde am 9. Dezember ein siegreicher, aber unerheblicher Ausfall gegen die Burenstellung auf dem Lombardskop gemeldet. Auch berichtete General White von einer Rückwärtsbewegung größerer Burenkontingente nach der Grenze des Oranjefreistaats und des Transvaal hin. Diese Bewegungen erklärten sich aufs natürlichste durch die notwendige Vorbereitung des Verteidigungskampfs, zu welchem die Buren in den Grenzpässen der Drakensberge genötigt sein würden, falls die Engländer unter Buller bei Ladysmith siegen sollten.
Von dem wildzerklüfteten Charakter dieser Pässe giebt unsere Ansicht vom Van Reenenpaß nach dem Oranjefreistaat einen lebhaften Begriff. Das Bild, welches den hochbetagten Leiter der Geschicke der Transvaalrepublik, Paul Krüger, neben seiner Frau darstellt, zeigt uns den greisen Patrioten in seiner Häuslichkeit in Pretoria. Das Gebäude, das beide bewohnen und in welchem er die Besuche seiner Landsgenossen empfängt, ist einstöckig und sehr bescheiden eingerichtet. Ein ansehnlicher Bau ist dagegen das Parlamentsgebäude in Pretoria. Das gilt auch von dem Haus des Rats wie von dem des Präsidenten in Bloemfontein, der Hauptstadt des Oranjefreistaats. – Die erste Sanitätsabordnung, die im Auftrage des Zentralkomitees der „Deutschen Vereine vom roten Kreuz“ nach Südafrika abging und der bereits eine zweite folgte, konnte inzwischen ihr Liebeswerk bei den Buren aufnehmen. Die Porträts der ihr zugehörigen Aerzte, Marinestabsarzt Dr. Matthiolius und Dr. Küttner, Assistenzarzt an der Chirurgischen Klinik in Tübingen, sind oben wiedergegeben.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Die Gartenlaube 1899. [837]
Kunstbeilage 27Halbheft 27. | 1899. |
Der König der Bernina.
Bescheiden wie erster Frühling begann nach der Gründung des Bades, als der engadinische Sommer wieder kam, etwas Kurleben in St. Moritz.
Der Sammelpunkt desselben war das Gasthaus des Dichters Konradin von Flugi und seiner sonnigen Hauswirtin Menja. „Mütterchen Menja“ nannten die Gäste die junge blonde Frau.
Die ersten Gäste waren der Seidenhändler Näf von Aarau, seine Frau, seine Tochter und seine zwei Söhne, eine wohlhabende Familie, die gekommen war, den Retter des Vaters zu begrüßen. Dazu gesellten sich einige Bürger von Chur, die der alte Ruhm der Wasser und die Neugier, das Bad von St. Moritz zu sehen, angelockt hatte, und etliche Tiroler Bauern, die die alte Sitte, nach der Heuernte eine Reise zum Brunnen von St. Moritz zu machen, nicht vergessen hatten. Weitab von den Ereignissen der Welt, oft wochenlang ohne jede Nachricht, was in den Ländern der Tiefe geschah, lebte der kleine Kreis, auf sich selber angewiesen, wie eine einzige Familie, bei Veltlinerwein, luftgedörrtem Fleisch oder dem Gemsbraten, den Markus Paltram, das Pfund um wenige Kreuzer, lieferte.
Eine reizende Kleine begleitete manchmal die alte Frau, die das Fleisch brachte – Jolande! Sie glich, das sagten alle Einheimischen der wilden Pia, sie war schmal und kraftvoll wie eine Gemse; aber es war doch nicht sie. Unter dem schönen Ansatz des dunklen weichen Haars glänzte eine freie reine Stirn und in den leuchtenden kirschschwarzen Augen war nichts Raubtierartiges.
Ein herbinniges, verschlossenes Kind war Jolande, schon mit ihren wenigen Jahren eine Schweigerin. Aber ihre Augen prüften und ihre Ohren horchten, sie horchten, was man von ihrem Vater spreche.
Sie hatte einen brennenden, ja krankhaften Stolz auf ihn, sie erbebte, wenn man von ihm redete.
Diese heiße, leidenschaftliche Art des Kindes, das sich doch schon selber zügelte, war das reizvollste an ihr.
Sie widersprach nicht, wenn sie etwas, was ihr nicht gefiel, von ihrem Vater hörte, aber die feinen schmalen Lippen spitzten sich – zuerst rührend schmerzlich – und dann zu einer Verächtlichkeit, wie man sie selten an einem Kinde gesehen. Wenn sie aber sprach, geschah es mit einem lieblichen Zauber der Stimme.
Und immer ging sie den Gästen Konradins zu früh.
„Jolande, willst du mit dem Vater auch einmal zur Jagd gehen?“ fragte der Wirt.
„Gewiß, an meinem zwölften Geburtstag darf ich die erste Gemse schießen!“
[838] Und sprechend zeigte sie die schönen weißen Zähne, und die kirschschwarzen Augen leuchteten.
„Hast du schon auf ein Ziel geschossen?“
„Ja, aber nur mit dem Vogelrohr habe ich es versucht.“
Nicht häufig sprach sie so viel Worte, nie nahm sie das kleinste Geschenk an; nicht verletzend, sondern mit einem herb standhaften Lächeln wies sie es zurück.
„Das Eisenköpfchen!“ grollte Adam Näf, der stattliche Händler, der die schwere goldene Uhrkette über die Brust gespannt hatte. „Heillos vornehm ist sie.“
„Schaut ihr nur auf das simple Kleid – ist ein Mängelchen daran?“ versetzte Menja, „und wie sie Kopf und Hütchen trägt! Paltram will eine Prinzeß aus ihr erziehen!“
Ludwig Georgy, der burschikose Maler aber, der das Engadin auch wieder aufgesucht hatte, war vernarrt in Jolande.
„Sie muß mir auf die Leinwand!“
In den ersten Septembertagen zogen die Gäste fort. Ein Saumpferd trug die Staffelei, die fertigen und angefangenen Bilder und die Skizzen des Künstlers. Er pfiff und sang vor Fröhlichkeit, denn ein Bild, das Adam Näf gekauft, hatte seine schmale Börse gefüllt.
Und seine Hoffnungen waren groß.
„Das sind keine hundertmal gemalten Schlösser, das ist frisches, keusches Hochgebirge – die werden staunen im lieben Deutschland! Da hat ja keine gute Seele eine Ahnung vom Morteratsch, vom St. Moritzersee!“
„Und von den lumpigen Bergamasken, die Eure besondere Liebe haben,“ fiel Adam Näf lachend ein.
So ritten sie durch den Sonnenschein.
In St. Moritz aber saßen die „Geldverlocher“ und rechneten aus, daß das Bad ein Moloch sei, an dem sie vollends verarmen müßten.
„Man darf es keinem Menschen verraten, wie wir stehen!“ sagte Lorsa.
„Das Bad kommt schon noch in die Höhe!“ tröstete vertrauensvoll Herr Konradin.
Es kam aber auch im nächsten Jahr und im dritten nicht; was an neuen Gästen zu den alten stieß, war nicht der Rede wert.
Aber auch die alte Partei hatte allen Grund, über den Mißerfolg der Jungen nicht zu lachen.
In tiefer Stille war die Abordnung aus Wien zurückgekehrt, und der Landammann sprach nicht gern von der Sendung. Mit Hofbescheiden, mit Versprechungen, die doch keine bestimmten Verpflichtungen enthielten, mit einer Menge Verschiebungen der Audienzen und kränkenden Verschleppungen waren die zähen, unbequemen Bündner Gesandten hingehalten worden. Dann endlich erklärten die österreichischen Räte, daß sie die Verhandlungen nicht weiter führen könnten, ein längeres Bleiben der Gesandtschaft überflüssig sei: Oesterreich halte an den bestehenden Verhältnissen fest. – Und um den Bündnern den Abzug zu erleichtern, versprach man ihnen dreißigtausend Gulden als Entschädigung für die von den Franzosen eingezogenen Privatgüter. Die Summe war aber so mit Bedingungen verklausuliert, daß niemand zu hoffen wagte, sie würde je ausbezahlt werden.
Der Ausgang der Gesandtschaft war der größte Schmerz im Leben des Landammanns von Flugi, des treuen Anhängers der bündnerischen Freundschaft zu Oesterreich.
„Sie haben in Wien einen Nagel zu meinem Sarg geschlagen!“
So klagte der greise würdige Herr.
Ein liebliches Enkelkind zog aber den Nagel aus dem Sarg, und im Gasthaus des Herrn Konradin saßen die alten, früher so streitbaren Herren, der Landammann und Melcher, schlürften am Nachmittag den Kaffee, spielten Karten und überließen die Politik den Jungen.
Wenn doch ein Gewitter drohte, war der gemeinsame Enkel ein lustiger Friedensstifter.
Und jeden Sommer einmal ritt der alte Landammann zu Cilgia Premont nach Puschlav.
„Sie ist wohl eine hinterhältige Teufelin gewesen, aber auf der Welt versteht mich niemand besser als sie,“ pflegte er zu sagen.
Jeden Sommer rückte auch Ludwig Georgy, der Maler, mit der Sicherheit eines Zugvogels wieder ein.
Und er malte – malte – bald in St. Moritz, bald in Pontresina, bald in Puschlav.
Dabei qualmte er aus der Pfeife, daß er in der Arbeit innehalten mußte, bis sich der Dampf über den Farben der Landschaft verzogen hatte.
„Kein Stück ist noch verkauft,“ erzählte er, „aber einen Händler habe ich zu Frankfurt entdeckt, der ist Goldes wert. Er legt die Bilder auf den Speicher und leiht mir das Notwendige zum Leben. Er sagt: ‚Die Gemälde kommen schon ins Ziehen! – malt zu!‘ Jetzt eben geht er mit einer Ladung ‚Engadin‘ nach London – er hofft ein paar Engländer zu erwischen!“
Das trug der Prachtmensch so in einem Tone der Selbstverspottung vor, daß auch niemand im Engadin seine Kunst sehr ernst nahm – nur eine: Cilgia.
Um so größer war das Erstaunen, als eines Tages eine malerische Karawane englischer Touristen, wie vom Himmel geschneit, im Engadin erschien und mit einem „Good morning“ zu St. Moritz nach dem Maler Ludwig Georgy fragte. In London waren seine Bilder aus dem Engadin zum Ziehen gekommen.
Und hinter den Engländern kamen neugierige Franzosen, neugierige Deutsche ins Engadin, und die Landsleute des Malers, den sie zuerst für einen farbenbegabten Phantasten gehalten hatten, jubelten am lautesten.
Die sturmgepeitschten Arven, die sich im Gefelse drängenden Herden der Bergamasken, das Idyll der äsenden Gemsen, das Schneeleuchten der Gipfel, der Traum der Seen, der innige Zauber des Lichtes – alles, was Ludwig Georgy gemalt – das war nicht der Traum eines phantasievollen Arkadiers, das war herrlich beobachtete Natur!
Im Engadin gab es wirklich so grüne Wiesen, wie er sie malte, es gab die leuchtenden Blumenteppiche, die Seen, die wie ein Kinderlächeln prangen, die Berge, die wie silberne Flammen in einen dunkelblauen Himmel steigen, und jene überirdisch schönen Sonnenuntergänge, wo aus den Schneespitzen das Feuer bricht, während sich ein magisches Dämmerblau um die Dörfer breitet.
In diesen Dörfern gab es die Gestalten, die er malte, ein hartes, zähes, in einer eigenartigen Würde dahinlebendes stolzes Volk.
Und in St. Moritz gab es eine Sauerquelle, deren vielhundertjähriger Ruhm in Vergessenheit geraten war, doch jetzt wieder auflebte. An ihr sammelten sich die Leidenden; sie stiegen im Juni an Krücken aus den Sänften, sie blieben bis im September dort und jauchzten auf der Heimreise über die Berge.
Die Namen Engadin und St. Moritz begannen in der weiten Welt und besonders in den großen Städten zu klingen.
Man lebte in der poesievollen Zeit der ersten Schweizerreisen. Jede Fahrt war noch eine Entdeckung, und die über die Berge zogen, waren Leute von Geist und Gemüt, mit einer gewissen Schwärmerei, bereit, das Schöne auszuspüren, das Unvollkommene zu übersehen, es kann die gebildete Aristokratie der Länder. Und St. Moritz wurde das Sommerlager der Vornehmsten.
Die Reisenden ritten noch eine Weile über die Pässe: eines Tages aber kam – ein unerhörtes Wunder! – die erste Kutsche von Chur, später die Postwagen mit dem bunten Sommervolk.
Die Säumer, die mit untergeschlagenen Armen vor ihren Häusern gesessen, wurden Fuhrleute und Postillone, und der alte Tuons knallte mit der Peitsche, wenn er durch das Dorf Pontresina fuhr, daß es die Toten von Santa Maria hätte wecken mögen.
Ein großes Aufatmen ging durchs Engadin – die verderbliche Auswanderung stockte, die Dörfer, die durch den Sommerverkehr auf den Straßen Verdienst fanden, schmückten sich und da und dort entstanden schlichte bürgerliche Gasthäuser.
Langsam hob sich das Thal.
Und die Dankbarkeit des Volkes wandte sich zwei Namen [839] zu: Ludwig Georgy – Markus Paltram. – Es erschien ihm wie eine höhere Fügung, daß der Künstler, der den Ruhm des Engadins durch seine Bilder in die Welt verbreitete, ein Geretteter des grauen Jägers sei, und Ludwig Georgy war der erste, der das Verdienst auf Markus Paltram schob.
„Die verfluchte Lawine,“ scherzte er burschikos, „war für uns alle ein Glück! Ich säße ohne sie irgendwo, ein Genremaler unter tausend deutschen Genremalern – nun aber hat mir das Glück die frische, wunderherrliche Stoffwelt des Engadins zugewiesen und ich male sie, weil ich dabei mein Leben finde und ein bißchen Ehre in der Welt – ich male sie im Grund heillos eigennützig!“
Dazu schlug Ludwig Georgy sein hellstes Lachen an, das Lachen eines goldigen, harmlosen Menschen.
Nein, sein ganzes Wesen widersprach der Rolle des rettenden Helden.
Aber Markus Paltram, der geheimnisvolle!
Er wachte an den Pässen, und Winter um Winter, Jahr um Jahr gelangen ihm merkwürdige Rettungen – ihm, der so viele Jäger erschossen haben sollte!
Zu den vielen Legenden, die über ihn gingen, bildete sich eine neue: er hätte die Not des Engadins heben sollen, aber er war ein Camogasker und nicht rein genug!
Markus lächelte wehmütig dazu: „Ja, nicht rein genug!“ Er schritt seinen einsamen Weg, und um die Fremden, die durch die Dörfer streiften, kümmerte er sich nicht.
Desto mehr sie sich um ihn.
Der große Sonderling von Pontresina, ein einfacher Jäger und doch ein König, der hocherhobenen Hauptes durch sein Volk dahinschritt!
Seine Erscheinung und sein Leben fesselten sie, seine Hütte mit dem bemoosten Wasserrad, mit der Esse, aus der nie mehr Feuer schlug, wurde mit dem stimmungsvollen Kirchlein Santa Maria in der Höhe ein Wallfahrtsort der fremden Engadinschwärmer.
Das Wort „König der Bernina“, das zuerst ein zorniger Schimpf der Engadiner auf die Anmaßungen Markus Paltrams gewesen war, wurde im Munde der Gäste ein Ehrentitel.
„Wir haben den König der Bernina gesehen – er ist wie ein wandernder Fels!“
Und sie glaubten, sie hätten etwas Großes erlebt.
Als Jolande zwölfjährig wurde, verbreitete sich eine sonderbare Kunde – um so rascher, da fast alle Gäste die reizvolle Gestalt kannten.
Als Knabe verkleidet, begleitete sie den Vater auf die Jagd. Und was zuerst nur Gerücht war, das bestätigten bald manche aus eigener Anschauung. Ja, den Leuten der Berge fiel es gar nicht besonders auf. Denn italienische Wildheuerinnen, die in Männerkleidern das Gras der Felsenplanken sicheln, gab es in den Grenzbergen von jeher, und es war nicht unerhört, sondern genugsam überliefert, daß Engadinerinnen schon früher in Männerkleidern zur Jagd in die Berge gegangen waren, wo die Mädchen- oder Frauenkleider nichts wert sind.
In Pontresina gewöhnten sich die Leute bald an sie oder an ihn, an Landolo, wie Markus Paltram seinen Jägerknaben nannte.
Wie der Vater ging er in Grau.
Aber eine Mädchenart blieb dem feinkecken Burschen: er trug gern eine leuchtende Blume auf der Brust und errötete leicht wie ein Mädchen, auch erschien er für sein Alter etwas zu zart, aber das leichte Gewehr über dem Rücken, schritt er spannkräftig wie eine Gemse neben dem Vater. Doch so elastisch war Landolo nur, wenn er sich unbeobachtet wußte.
Sobald die Neugier nach ihm sah, steifte und bäumte sich die Gestalt in verschwiegener Herbheit, in inniger Zurückhaltung. „Rührt nicht an mir!“ bat der flammende Blick, das Erröten, „nicht mit euern Augen, nicht mit euern Worten.“
Und die Schweigsamkeit und der brennende Stolz wappneten die Gestalt.
Ein Lächeln, ein Wort aber von Landolo – ein guter Blick der kirschdunklen Augen – man sagte, es gebe nichts Hinreißenderes im Gebirge.
Und ein heißblütiger, leidenschaftlicher kleiner Jäger war Landolo. Markus Paltram hütete ihn wie seinen Augapfel.
Der König der Bernina, erzählten die Hirten, welche die beiden häufig genug in den Felsen klettern sahen, lebe in der beständigen Furcht, daß ihm eines Tages das Gebirge ein satanisches Wunder vorspiegle und er seinen Knaben erschieße. „Denn er ist ein Camogasker, und die müssen diejenigen schlagen, die ihnen am liebsten sind!“
Die Camogaskersage beherrschte mehr als je die Kreise des Volkes, seit die gewaltige Persönlichkeit Markus Paltrams und die Erzählungen von seinem geheimnisvollen, wunderthätigen Wirken ihr so viel neue Nahrung zuführten. Aber nicht nur in Volkskreisen wuchs der Ruf des merkwürdigen Jägers und seines schönen Töchterleins. Die Reiseberichte der Gäste von St. Moritz verbreiteten ihn überall in den Ländern der Tiefe.
Dem Volke erschien er als die leibhaftige Verkörperung der erhabenen, geheimnisreichen Bergnatur. Es bewunderte ihn als den großen Jäger, den Retter, den Arzt. Und als ein fremder Naturforscher, wie sie jetzt öfter aus wissenschaftlichem Forschungsdrang ins Engadin kamen, in einem Bericht die Beschuldigung gegen Markus aussprach, daß er bei einem Jagdausflug ins Hochgebirge einen unvermutet zwischen den Felsen erscheinenden fremden Jäger habe erschießen wollen und nur schwer von seinen Begleitern davon abzubringen gewesen sei, da erhob sich, während Markus zu der Anklage lächelte und schwieg, das ganze Engadin, um diese Anklage als eine Verleumdung zu brandmarken.
Die Schweiz blühte in geistigem und wirtschaftlichem Aufschwung, und just, da der unerwartete Angriff auf Markus Paltram erging, sprach man von einem großen eidgenössischen Schützenfest zu Zürich, das die Stämme zwischen Boden- und Genfersee, zwischen Rhein und Bernina in gehobenen vaterländischen Gefühlen sammeln sollte.
Da war es Konradin von Flugi, da waren es die Männer des ehemaligen Jugendbundes, die den Gedanken in das Volk des Engadins warfen, daß man in großer Schar zum allgemeinen Feste ziehen wolle.
„Zeigen wir, daß das Engadin lebt – daß die Wunde nicht mehr blutet, zeigen wir unsern Miteidgenossen unsere blühende Jugend!“
„Und unsern großen Schützen! Bezeugen wir, indem wir ihn in unsere Mitte nehmen, daß wir nichts Ungerechtes an ihm sehen!“
„Markus Paltram, gebt uns die Ehre. daß Ihr mit uns zum Feste zieht! Wir geben das Banner in Eure Hand. Das ist die Genugthuung für den Schimpf von Madulein!“
Da wurden ihm vor Freude die Augen naß, und nach einiger Zeit des Bedenkens fügte er sich dem stürmischen Wunsche seines Volkes.
„Ich komme, damit Jolande ein schönes Andenken an ihren Vater habe, und wenn ihr mich für rein genug haltet, so bin ich es!“
Der ehemalige Jugendbund aber sammelte sich in einem neuen Verein, der „Liga grischia“, dem „Rhätischen Bund“, und verstärkt um viele, übte dieser Verein die Lieder Konradins.
Den romanischen Männergesang wollten sie vor dem Lande zu Ehren bringen.
Ludwig Georgy aber übernahm die malerische Ausgestaltung des Zuges. Auf drei reichgeschmückten Prachtwagen wollte man das Wild der engadinischen Berge nach Zürich führen, den mächtigen Bär, den stolzen Adler, den gewaltigen Geier.
„Die übernehme ich,“ sagte Markus Paltram, „die Gemsen schießt ihr – schießt so viele, daß wir einen Tag lang das Fest mit Gemsen bewirten können!“
Und allen war die Bernina frei.
„Nie habe ich einen Engadiner gehindert, daß er in der Bernina jage – wenn ihr nicht gekommen seid, so ist es eure Schuld! Hart war ich nur gegen die fremden Jäger, in Zukunft will ich eure Jugend schießen und jagen lehren.“
Auf einem Wagen hat Markus Paltram eine Gesellschaft junger Gemsen, die er eingefangen hat und an den Tierpark einer fernen Stadt liefern will, über den Albula gefahren.
Jolande, die Siebzehnjährige, hatte neben ihm gesessen –
[840][841] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [842] nicht als Landolo, sondern im Mädchenkleid – in einem etwas zu eng gewordenen Kleid. In Chur ist sie ausgerüstet worden für das Fest in Zürich. Sie hat einen leichten Hut aus feinem Stroh bekommen.
Und jetzt wandelt sie in neuem Gewand neben dem Vater durch die kleine alte Stadt.
Nichts Duftigeres als Jolande im einfachen hellen Sommerkleid, die dunklen Augen im schmalen Gesicht, dessen Stolz und Kühnheit weiche Züge der Jugend mildern!
Die Leute stehen still, sie flüstern: „Der König der Bernina und seine Tochter – sie ist wie eine Prinzeß.“
Jolande aber erduldet Qualen: zu lange hatte sie Knabenkleider getragen, und die Firnen und Gletscher fehlen ihr, die Hitze im Thal ist drückend, und die Neugier der Leute thut ihr weh.
Das Kind der Berge in einer Stadt – selbst nur in einer kleinen Stadt!
„Ich will heim, Vater – zwinge mich nicht! Auf das große Fest mag ich nicht gehen!“
Mit wahrer Pein sagt es Jolande.
Noch säumt der bestellte Unterhändler. – Da kommt an seiner Stelle ein Brief, Markus Paltram möge die Gemsen an den Bodensee bringen.
„Gut – so gehe heim, Jolande!“
„Darf ich die schönen Kleider tragen?“
„Die andern sind zu schlecht – trage sie.“
Es fand sich für sie die Gelegenheit, ein Stück Weges zu fahren. Und der Wagen rollte in herrlicher Sommerfrühe über Churwalden zum Lenzerheidsee, dann bergab.
Da holte er einen jungen Wanderer ein, der, das Ränzlein auf dem Rücken, voll Fröhlichkeit am Knotenstock fürbaß schritt.
Er war gut gekleidet, die Mütze und das farbige Band über der Brust verrieten den Studenten.
Er rief den alten Fuhrmann an.
„Hättet Ihr etwas Raum für mich bis Tiefenkastel? Ich kann sonst noch genug gehen – mein Ziel ist Puschlav. Es kommt mir auf einen Neunuhrschoppen mit Imbiß nicht an!“
Und halb verlegen, halb keck grüßte er das schlanke Mädchen mit großer Höflichkeit.
Seine blauen treuherzigen Augen und sein frisches, fröhliches Gesicht gefielen ihr. Eben darum aber wollte sie seine Gesellschaft nicht, und ihre Augen baten den Fuhrmann, daß er den Jüngling abweise.
Aber der alte Fuhrmann hieß ihn aufsteigen, und schweigend ging die Fahrt eine Weile. Wie sie jedoch um eine Felsenecke kamen, stieß der Student einen Jauchzer aus. Denn vor ihnen lagen in Glanz und Gloria die Albulaberge und hoben die weißen Häupter in den blauen Himmel.
„Alt frei Bündnerland – was geht darüber!“
Da zog der alte Fuhrmann die Pfeife aus dem Mund, klopfte die Asche daraus und begann zu plaudern.
Und heimatfroh erzählte der Jüngling, der gewiß das zwanzigste Jahr noch nicht überschritten hatte, von langen Wanderfreuden.
Jolande mischte sich nicht in das Gespräch – in herber Unnahbarkeit blickte sie streng und stolz.
Und der Jüngling wagte, obgleich er große Lust dazu zeigte, nicht, das stolze Mädchen anzureden.
Da fragte der Fuhrmann: „Und wen habt Ihr in Puschlav zu besuchen?“
„Meine Mutter – Frau Cilgia Gruber, oder wie sie das Volk nennt: Frau Cilgia Premont!“
Schöne Sohnesfreude klang aus seinen Worten.
Jolande Paltram erglühte bei diesem Namen. Sie dachte an das Bild der Frau, das der Vater wie das einer Heiligen verehrte.
O, sie wußte es wohl, mitten in der Nacht trat er manchmal vor dieses Bild. Das Geheimnis seines Lebens hing mit ihm zusammen. Was für ein Geheimnis das war, darüber hatte sie sich manchmal den Kopf zerbrochen – es mußte ein schönes sein!
Sie sah in Gedanken die herrliche Frau, die einst am Thor von Santa Maria gesessen, die sie geliebkost und von der sie in kindlicher Einfalt gewünscht hatte, sie möchte ihr Mutter sein!
Und das war der Sohn, das war der Knabe, mit dem sie einst zu Pontresina gespielt.
Die Herbigkeit auf dem schmalen Mädchengesicht verlor sich.
„Ludwig Georgy, der Maler, hat mir viel Schönes von Eurer Mutter erzählt.“
Das bebte silberhell hervor, und das kleine Lächeln, was das Lieblichste an Jolande war, spielte um ihr Mündchen.
„Wer seid Ihr, daß Ihr Ludwig Georgy kennt?“ fragte der Jüngling etwas verlegen.
„Jolande Paltram!“
Da wurde er erst recht neugierig und teilnahmvoll. Das Eis war gebrochen – die jungen Reisenden plauderten und waren überrascht, als sie schon in Tiefenkastel anlangten.
Sollten sie sich trennen, da nun ein so langer gemeinsamer Weg vor ihnen lag?
Der Fuhrmann blieb zurück, sie aber wanderten durch den schönen Sommertag in die firnenüberleuchtete Gebirgswelt des Albula und die Wildwasser rauschten und die Blumen glänzten in den Felsen.
Und die Stimmen der Einsamkeit redeten um sie.
Seltsam schön berührt von der Begegnung, schritt Jolande rasch und leicht wie eine Gemse neben ihrem Kameraden. Sie sprach wenig, aber sie lauschte dem frohmütigen Geplauder ihres Reisegefährten mit ganzem Ohr.
Von ferner Stadt erzählte der Student, von Hoffnungen und Plänen.
„Und eigentlich ist Euer Vater schuld, daß ich Arzt werden will – Chirurg wie er! Der Gedanke kam mir, als ich von seinen Heilungen hörte.“
Mit Wärme sprach es der Jüngling – die Wangen des Mädchens erglühten, die junge Brust hob sich freudig, und verstohlen hingen ihre Blicke an ihm.
Sie wurde schweigsamer und schweigsamer, in herber Keuschheit verschloß sie ihre Gedanken. Doch das Wenige, was sie sagte, klang klug und gütig. Und Stimme und Lächeln gaben ihm Reiz.
Etwas wie Heimweh nach der sonnigen Welt der Menschen, von der ihr Gefährte plauderte, hatte sie überfallen – sie, die doch schon das kleine Chur mit den vielen Menschen bedrückt hatte.
„Ich bin nur eine Jägerin – aber wenn Ihr so redet, hätte ich auch Lust, etwas Größeres zu werden.“
Sie sagte es bitter wie in Selbstbeschämung.
So wanderten sie durch ein Meer rotglühender Alpenrosen, durch den stillen innigen Frühling des Hochgebirges, durch das Gebet der Primeln und Männertreu und der Fransenglöckchen der Soldanellen.
Und aus stahlblauem Himmel rief ein Adler sein „Pülüf – pülüf!“
Sittig wanderten sie wie je nur zwei Menschenkinder durch Gottes strahlende Welt gegangen sind. Und der junge fröhliche Student wollte Jolande wohl nichts mehr sein als ein guter Kamerad.
Sie aber wurde immer unruhiger – sie wußte selbst nicht warum.
Das junge Wanderpaar rastete am „Weißen Stein“, und als das schlichte Mahl beendet war, wurden sie einig, daß sie, ob es darüber auch Mitternacht würde, bis nach Pontresina gehen wollten.
Sie würden nicht müde, versicherte eines das andere.
Halbwegs zwischen der Paßhöhe und dem Engadin überfiel sie die Dämmerung: über fernen blassen Gipfeln aber stieg der volle Mond auf und goß sein Silberlicht in die Berge, in den schweigenden Hochgebirgswald, auf die rauschenden Wellen, auf den einsamen Weg.
Keine Menschenseele weit und breit, in den Adern aber singt das junge Blut sein Lied, und Wort verlangt nach Wort.
Und Jolande Paltram war nicht mehr schweigsam – um so stiller ihr Gefährte.
Mit einem Anflug von Uebermut erzählte sie von den Jagdgängen mit ihrem Vater, mit brennendem Kindesstolz von seinen Rettungsthaten, von seinen Erfolgen. „Und dennoch haben ihn böse Menschen verleumdet!“
Mit steigendem Wohlgefallen sah der Jüngling die Glut [843] der Entrüstung in den funkelnden Mädchenaugen. Jolande Paltram war so schön in ihrem Zorn!
Aber der Weg ist weit – weit! – und als das junge Paar durch den Frieden der Dörfer schritt, schmiedete es Wiedersehenspläne.
Blaß und hoch stand die Bernina am blauen Mondnachthimmel.
„Ich raste jetzt einen Tag bei meinem Großonkel, dem Pfarrer zu Pontresina, übermorgen in der Frühe gehe ich über die Bernina nach Puschlav. Dann kehre ich zum Großonkel in die Ferien zurück und wir können uns wiedersehen!“
So der leichtblütige Student.
Sie dachten nicht weiter – wiedersehen und aneinander Wohlgefallen haben – das ist ja nichts Böses!
Als sie aber gegen Pontresina schritten, atmete Jolande schwer.
„Ihr seid gewiß zu müde,“ meinte Lorenz teilnehmend.
„Nein,“ flüsterte sie, „ich ginge noch weit mit Euch.“
Und als sie das Dorf Pontresina erreichten, der Mond durch die Waldspalte des Rosegthales leuchtete, als sie sich die Hand zum Abschied boten, da bebte die ihrige in der seinen, und sie ließ sie lange darin – etwas wie ein Seufzer ging über ihre Lippen.
„Was habt Ihr, Jolande?“
Eine heiße Flamme stand in ihrem Gesicht.
„Darf ich Euch etwas sagen?“ bebte ihre Stimme. „Aber wenn Ihr deswegen übel von mir denken würdet – es wäre mein Tod!“
„Redet nur, Jolande! Euch nehme ich gewiß nichts übel.“
Da schlug sie die dunklen Augen nieder.
„Ich will Euch übermorgen, wenn Ihr nach Puschlav geht, an der Straße erwarten. Ich trage das Jägerkleid, damit die Leute glauben, ich gehe auf die Jagd, und wir können dann noch ein Stündchen miteinander wandern.“
Sie stotterte es leise in brennender Scham. Fast verlegen nahm Lorenz das rasche Wiedersehen an – jugendliche Abenteuerlust nur besiegte die Bedenken.
Sie war so eigenartig und so schön – Jolande Paltram – die Jägerin.
Und als er am zweiten Tag Pfarrer Taß verlassen hatte, gesellte sich oberhalb Pontresina in funkelndem Morgenschein zu ihm der Jägerknabe, den Filz auf dem Kopfe, das Gewehr an der Schulter.
„Jetzt bin ich Landolo!“ lächelte der schöne Junge.
Der Student aber gab ihm mit einer heißen Beklemmung die Hand.
„Gefalle ich Euch so nicht?“ fragte Landolo mit einem Ausdruck der Angst, und grenzenlose, glühende Scham lag in dem schmalen Gesicht.
„Ich muß mich zuerst daran gewöhnen,“ erwiderte Lorenz in herzlicher Güte.
Jolande wußte plötzlich, sie hätte nicht so vor ihrem jungen Freunde erscheinen sollen – ihr war, als sei das Knabenkleid von Nesseln.
Bald aber kamen sie über die Peinlichkeit der ersten Begegnung hinweg und wanderten und plauderten über die Dinge am Weg. Sie liefen über die Sprudelwellen des Berninabaches zum Morteratsch und ruhten auf den Blöcken am Fuß des Gletschers.
Die Stadt im Eise unterhalb der Verlornen Insel strahlte im Morgenfunkenspiel. Und sie sprachen von der Sage, die im Donnern des Gletschers seufzt.
„Ich würde es nicht wie die Maid von Pontresina halten,“ flüsterte Landolo, „ich würde treu warten – – aber wenn er nicht käme – – – –“
Und in finsterm Sinnen brach sie das Wort ab – in ihren Schläfen hämmerte die Leidenschaft.
Sie war nicht mehr die herbstolze Jolande, nicht mehr der Jägerknabe, dessen Auge zürnte: „Wagt es nicht, mich anzurühren!“ Sie dürstete nach einem guten Wort ihres Kameraden.
Er aber schwieg beklommen – nein, diesen Ausgang des Abenteuers hatte er nicht gewollt!
Sie schob seine verlegene Stille auf ihr Kleid.
Erbarmen – Erbarmen! flehten ihre Augen, sage nichts wegen meines Kleides! Und um ihren Mund zuckte es rührend.
Plötzlich erhob sie sich: „Ich gehe jetzt heim.“
Und vor den Schmerzen Jolandes wurde auch Lorenz weich. Mit lieben Worten bot er ihr die Hand.
Da lehnte Jolande das Haupt auf die Schulter des Jünglings.
Und sie stöhnte: „Lorenz – vergebt mir – in diesem Kleid werdet Ihr mich nie mehr sehen!“
Heiße Thränen rannen ihr über die glühenden Wangen.
Und verwirrt suchte der Jüngling nach Trost für seinen armen Kameraden – ein plötzlicher Einfall – er küßte Jolande.
Da brach aus ihren Thränen hervor ein Leuchten des Glücks.
Sie stammelte in Scham und Liebessturm viel Thörichtes – ein Liebesjubel jauchzte aus den Worten, eine unheimliche Stärke des Gefühles.
Und dennoch war alles, was sie sprach, von ergreifender Reinheit.
Schwer trennten sie sich.
Wie geschlagen und mit wehem Herzen stieg Lorenz Gruber nach Puschlav.
Jolande in Knabenkleidern – o, sie standen ihr gut! Aber was im Mondschein erwacht war, das war weggeflogen wie ein Traum, weggeflogen vor diesem Kleid.
Und sein Kuß war ein Kuß des Erbarmens gewesen.
Das Gewissen ließ ihm keine Ruhe, nach einigen Tagen beichtete er das wunderliche Reiseabenteuer seiner Mutter. Totenblaß hörte sie ihrem Sohne zu.
„Ich danke dir für dein Vertrauen,“ sagte sie, „ich werde, einst, wenn du ein reifer Mann bist, mit dir zu reden haben.“
Dann schwankte sie hinweg.
Wie oft hatte der alte einsame Pfarrer gewünscht, daß der muntere Lorenz nach Pontresina zu Besuch käme – sie aber hatte es immer und unter mancherlei Vorwänden abgelehnt. Seit die beiden Kinder zusammen gespielt, war sie nie ruhig gewesen.
Und nun waren sie doch zusammen durch die Nacht gegangen.
Einige Tage später wandte sie sich wieder an ihren Sohn: „Lorenz – es ist vielleicht für deinen künftigen Beruf nützlich, wenn du die Welt ein wenig ansiehst! Ziehe nach Italien! Hier hast du Reisegeld.“
Markus Paltram ist von Chur mit einem schönen Erlös für die Gemsen und beinahe heiter zurückgekehrt. Die Vorbereitungen für den Zug zum eidgenössischen Schützenfest sind im vollen Gang, in den Wäldern von Zernetz sind die Bären geschossen, über den Gletschern des Palü, wo die Geierhorste sind, will er einen Riesenraubvogel erlegen.
Landolo begleitet ihn – Landolo, der sein Knabenkleid nicht mehr tragen will.
„Thorheiten,“ zürnt der Vater, „man jagt doch nicht im Weiberrock!“ – Und Landolo fügt sich.
Sie wandern über Sassal Masone – in senkrechten blauen Tiefen liegt Puschlav – und der verschwiegene Landolo grüßt in Gedanken Lorenz, der dort unten wohnen muß.
Wann wird er nach Pontresina kommen?
Halb in einer Gletscherspalte verborgen, lauern Markus und sein Knabe stundenlang mit jener Geduld, die der Jäger reichlich üben muß.
Im fernen Blau kreist majestätisch wie der Geist des Gebirges der Geier, er sinkt, er rauscht gegen seinen Horst in der Höhle einer Felsenwand.
Da erspäht er das tote Tier, das ihm Markus Paltram als Lockbeute auf den Gletscher gelegt, er kommt mit ausgebreiteten Flügeln – die Kugel saust – der Vogel fällt und stürzt auf den untersten Rand des Eises nahe bei der grauen Steinhütte von Sassal Masone, die den sonderbaren Schmuck von Tierschädeln trägt.
Landolo jauchzt und klettert aus dem Versteck, er schwingt sich über die Brüche des Gletschers, das Jagdfieber ist in ihm lebendig und er ist behender als eine Gemse.
Gemächlich folgt der Vater. Der Knabe ruft etwas – es tönt wie ein Schreckensruf.
[844] Eiliger steigt Markus Paltram über die Kanten abwärts.
„Ein Gerippe – ein Gerippe, Vater!“ ruft Landolo, und Markus Paltram erbebt und erblaßt.
In dem Trümmerschutt, durch den die Gletschermilch aus dem Eise strömt und wie ein weißes Band in die fernen Tiefen von Puschlav niederflattert, liegen zwischen den goldenen Sternen der Alpenprimeln gebleichte Knochen. Nebenan ruht mit ausgebreiteten Schwingen der mächtige Geier.
Landolo zittert über den Fund am ganzen Leib – in furchtbarer Angst blickt Markus auf seinen Knaben.
„Es wird, denke ich, ein Opfer aus der Franzosenzeit sein.“
Er stößt es angstvoll hervor und der Schweiß perlt auf seiner Stirne. Seine Stimme aber klingt so seltsam erregt und unsicher, wie wenn er sagen wollte: Ich weiß, daß es kein Opfer aus der Franzosenzeit ist.
Er lügt – er lügt um Landolos willen. Sein schöner Jägerknabe soll sich nicht beunruhigen, und mit den starken Bergschuhen, die mit einem Kranz von Nägeln umgeben sind, wühlt er das lose graue Gletschergeschiebe auf, als grübe er ein Grab.
Fast rauh gebietet er Landolo:
„Wirf die Gebeine in diese Grube.“
„Sollten wir sie nicht nach Puschlav oder Pontresina bringen,“ wendet Landolo schüchtern ein, „damit sie in geweihter Erde ruhen können?“
„Wirf sie in diese Grube!“ befiehlt der Vater hart.
Und verwirrt sammelt Landolo die Knochen – da schreit er:
„Vater! Da liegt der Rest eines Gewehrs.“
„Wirf es in diese Grube!“
Aber neugierig nimmt Landolo eine Steinscherbe und kratzt damit den Rost von dem verdorbenen Schloß.
„Vater,“ schreit er, „M. P. steht auf dem Schloß – das Gewehr ist von dir verfertigt!“
Da starrt Markus Paltram den Knaben entgeistert an – es ist ihm, die Stimme rede mit den schrecklichen Tönen des Weltgerichtes.
Und doch ist es die schöne, klangreiche Stimme seines Landolo.
„Vater, da ist Geld! – Vater, da ist eine verrostete Uhr!“
Mit fiebernden Wangen, bebend in Ahnungen steht Landolo.
„Wirf sie in diese Grube!“ knirscht Markus Paltram.
„Vater, um dieses Knöchelchen ist ein schöner goldner Ring.“ Aber der Knabe läßt den Ring, als wäre das Gold feurig geworden, fallen – klirrend hüpft der Reif von Stein zu Stein.
Und der Knabe hat sich auf das Geschiebe geworfen – er schluchzt herzzerbrechend.
„Sei ruhig, Landolo!“
Markus Paltram streichelt in unendlichem Mitleid sein Kind, dem die prächtigen weichen Zöpfe unter dem Hut hervorgeglitten sind.
„Vater,“ wimmert es, „der Name ‚Cilgia Premont‘ steht in dem Ring.“
„Landolo – Landolo!“ stammelt er und hebt den halb ohnmächtigen Knaben empor.
Der taumelt.
„O Vater – fort – fort!“ Halb bewußtlos stöhnt es Landolo.
Sein Kind im Arm, schiebt Markus Paltram mit dem Fuß den Gletscherschutt über die Knochen und Funde. Dann spricht er mit gebrochener Stimme:
„Landolo – sei ruhig – der auf dem Gletscher gerichtet worden ist, ist gerecht gerichtet – so wahr mir Gott helfe – er ist gerecht gerichtet! Er ist der einzige. Er hat mich aus dem Hinterhalt angeschossen – und ich that, was keiner sonst gethan hätte, ich ließ ihm auch den zweiten Schuß. Wenn es einen höhern Richter giebt, dann wird Gruber zeugen müssen, daß er den Tod gewollt hat.“
„Gruber!“ Landolo wiederholt das Wort und seine Augen sind schreckhaft weit.
Es ist, als ringe das Kind mit seinem Leben.
„Vater, gelt, ich darf das Knabenkleid ablegen? Es ist nicht gut, daß ich es trage!“
„Lege es ab!“ erwidert Markus Paltram milde, und bittend fährt er fort: „Jolande – sieh mich nicht so schrecklich an! Weiß Gott, ich habe wegen Gruber ein ruhiges Gewissen – brich mir das Herz nicht mit deinen Augen – brich mir es nicht!“
Gräßliche Angst bebt in seinen Worten.
Da neigt Jolande das junge schöne Haupt an seine Brust und legt in einer unbewußten Liebkosung den Kinderarm um seinen gewaltigen Nacken.
Glockenrein klingt ihre Stimme:
„O Vater – ich weiß, daß du gut bist!“ Und mit einem schmerzlichen Lächeln hebt sie die Augen zu ihm.
Da küßt der graue Jäger sein Kind. Er, der bisher trotz aller brennenden Liebe zu hart war, sein Kind zu küssen.
„Nur von dir, Jolande, möchte ich gut genannt sein, was die Welt von mir spricht, ist mir eins!“
„Vater!“
Und Paltram ergreift die Beute und sie scheiden von dem traurigen Ort – und sie sprechen nicht mehr von dem, was sie gesehen haben. Jolande ist stark. Sie drängt die Thränen zurück und bezwingt das weinerliche Zucken um den Mund, aber sie geht so matt – so matt!
Heute noch Landolo – dann immer Jolande! Und auf die Jagd wird sie nie wieder gehen!
„Auf das Fest kommst du mit – ich kann mich nicht mehr losmachen und noch weniger ohne dich sein!“
„Nein, ich komme nicht, Vater! – o Vater, quäle mich nicht!“
Und alles freundliche Zureden am folgenden Tag ist umsonst, umsonst sein Grollen – er spürt es wohl, das Kind ließe sich eher töten als ein Ja abringen.
Sie hat einen so starken Willen wie er.
Und doch muß er sein Wort halten und mit den andern gehen.
In einer Sternennacht kommt der Abschied. Jolande tritt mit dem Vater noch ins Freie – in heißem Kummer kann er kaum weg von ihr.
Ein herzzerbrechender Abschied! – Warum nur? – In einer Woche wird er wieder da sein.
Aber nun kommen seltsame Tage, so seltsam, daß er kaum den stillen Augenblick findet, an sein Kind zu denken.
Denn das Fest ist seine Ehrung. (Schluß folgt.)
Durchs Fenster blinkt der Sonnenschein,
Am Herd das Kätzchen schnurrt;
Die Alte sitzt im Haus allein.
Ihr Spinnrad summt und surrt.
Fernher Musik und Jubel schallt
Und feierlich Geläut;
Manch junges Paar vorüberwallt –
Im Dorf ist Kirmeß heut’.
Das Rädchen stockt, die Alte sinnt,
Blickt lächelnd vor sich hin;
Mit Silberfädchen leis umspinnt
Erinn’rung ihren Sinn:
Es war wie heut’ ein Sonnentag,
So klar das Himmelszelt,
So voll von Liedern Feld und Hag,
So voll von Glück die Welt;
Es war ein Bursch, frisch wie der Wind,
Vor allen stark und kühn;
Und ihm am Arm ein blondes Kind,
Schön, wie die Rosen blüh’n;
Es war einmal … Das Kätzchen schnurrt,
Der Tagesschein verrinnt,
Die Dämm’rung sinkt … Das Rädchen surrt,
Die Alte sitzt und spinnt …
Ernst Muellenbach.
Deutsch-Samoa.
Der erste Morgenschein leuchtet über der Südsee, die ein Dampfer eilig durchkreuzt. Wie ein köstlicher Opal schimmert die unendliche Flut, im Süden taucht aber wie ein prächtiger Riesensmaragd ein Eiland aus den Wogen des Meeres empor. Berge bilden seine Zinnen, aber kein toter, kahler Fels erglüht auf ihren Gipfeln in den Strahlen der aufgehenden Sonne; die gewaltigen bis 900 m hohen Kuppen, die einst von vulkanischen Kräften aus dem Meeresgrunde emporgetürmt wurden, prangen vom Fuß bis zum Scheitel in dem herrlichsten grünen Mantel üppiger tropischer Vegetation. Also grüßt Upolu, die Perle von Samoa, den Südseereisenden – ein entzückender Anblick!
Näher und näher dampft das Schiff heran, zwischen Brandungen der Korallenriffe sucht es seinen Weg und fährt in die von dem schön gerundeten Apiaberge überragte Bucht. Ueber die Masten der Handels- und Kriegsschiffe schweift das Auge hinüber nach dem Strande. Leichte Holzhäuschen lugen aus dem üppigen Grün hervor; so schmuck, so freundlich ist ihr Anblick, daß der Fremde glaubt, eine neuerstandene Sommerfrische mit schmucken Villen vor sich zu haben.
Im weiten Halbkreise, fast nur eine einzige Straße bildend, hat sich Apia, Samoas „Hauptstadt“, an dem Gestade der Bucht ausgebreitet. In der Mitte liegt die eigentliche Stadt mit den Handelshäusern, Gasthöfen und Schenken; westlich vor ihr sehen wir das Dorf Matafele; deutscher Fleiß Hai es errichtet und zur Blüte emporgebracht; denn in langen Reihen stehen hier die weiten Gebäude der großen Faktorei der „Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee“. Im Osten erblicken wir das Dorf Matautu mit englischen und amerikanischen Konsulatsgebäuden und auf der Landzunge Mulinu, die an Matafele grenzt, haben sich die Eingeborenen in ihren leichten, luftigen Hütten angesiedelt.
Doch die braunen Kinder der herrlichen Insel begrüßen uns bereits. Bevor noch der Anker in die Tiefe rasselt, haben sie schon in leichten Kanoes das Schiff umringt. Da sehen wir keine abstoßenden, häßlichen Wilden. Freundliche Menschen steigen von den Booten auf das Deck des Schiffes; vollendet schön sind ihre Körperformen; ihr Eindruck wird noch gehoben durch die malerische Tracht, ein Hüfttuch und Blätter- und Blumengewinde; ihre Gesichtszüge haben auf klassische Schönheit keinen Anspruch, aber sie sind selbst dem Europäer sympathisch, der sich bald angezogen fühlt durch das freundliche, sich anschmiegende Wesen der bronzefarbigen Gesellen.
Wir lernen ihre Heiterkeit und Sorglosigkeit begreifen, wenn wir mit ihnen ans Land gehen und mit ihrer Heimat vertraut werden. Ewiger Sommer herrscht auf den paradiesischen Eilanden; die Durchschnittstemperatur des heißesten Monats (Dezember) beträgt etwa 27° C., die des kältesten (Juli) 24° C. Die Hitze wird jedoch gemäßigt durch das Meer und die Südostwinde, die von April bis November wehen. Raubtiere giebt es auf Samoa nicht, wohl aber Scharen von Vögeln, namentlich wilden Tauben, und das Meer wimmelt von Fischen. Ueberaus fruchtbar ist der verwitterte vulkanische Boden, und alle Nutzpflanzen der Tropen können in ihm aufs beste gedeihen. Ein besonders schwerer Kampf ums Dasein ward dem Samoaner von der Natur nicht auferlegt. Seit jeher konnte er an Brotfruchtbäumen und Kokospalmen seinen Hunger stillen; Bananen gediehen ihm herrlich, und die Yamswurzel und die Knollen des Taro (Arum esculentum) boten Abwechslung für seine Küche. Citronen und Orangen, sowie Mangobäume erquickten den Insulaner mit ihren Früchten. Die Rinde des Papiermaulbeerbaumes lieferte ihm Stoff für seine Kleider, und wenn er auch Wein und Bier nicht kannte, so lernte er aus einer rankenden Pfefferart. dem Piper methysticum, ein berauschendes Getränk, die Kawa, bereiten.
Trotz der Fortschritte, die im Laufe der letzten Jahrzehnte der Handel, Plantagenbau und das Christentum auf den Samoainseln gemacht haben, lebt noch der größte Teil der Eingeborenen in vieler Hinsicht nach alter Väterart. Betritt man die unter Palmen und Brotfruchtbäumen gelegenen Dörfer der Samoaner, so sieht man überall ihre eigenartigen Häuser. Auf vier bis fünf Fuß voneinander stehenden rund behauenen Holzpfosten wölbt sich ein solides aus Blättern des Zuckerrohres oder der Kokospalme gefertigtes Dach. Tagsüber zeigt das Haus keine Wände, es ist nach allen Richtungen offen und wird von den kühlenden Seewinden durchstrichen; erst für die Nacht werden die aus Palmblattstreifen bestehenden jalousieartigen Wände herabgelassen. Eine Schicht loser, von der See geglätteter Steine bildet den Fußboden; auf ihm werden die Matten ausgebreitet, und die einfache Lagerstätte des Samoaners ist bereit. Kein Herd steht in dem Hause, denn für Kochzwecke sind abseits vom Dorfe besondere Schuppen errichtet, die von mehreren Familien gemeinsam als Küche benutzt werden. Die deutsche Hausfrau würde mit Staunen die einfache Einrichtung dieser Küchen beobachten. Hier giebt es weder Kochtöpfe noch Bratpfannen. In der Mitte des Schuppens befindet sich eine muldenförmige Vertiefung, in welcher ein Haufen faustgroßer Steine aufgeschichtet ist. Sind diese im Feuer erhitzt worden, dann kann das Backen und Schmoren losgehen. Schweinefleisch, Hühner, wilde Tauben, Brotfrüchte, Bananen, Yams und Taroknollen werden in Bananenblätter eingewickelt und zwischen den Steinen geröstet. Selbst flüssige und breiartige Gerichte setzt man in Beutelchen aus Bananenblättern an. Die letzteren dienen auch als Teller und Servietten. Wie auf [847] den benachbarten Tongainseln, so gehört auch auf Somoa die Küche nicht in das Bereich der Frau, die Bereitung der Speisen ist vielmehr Sache der Männer. Die Frau macht sich durch andere Thätigkeit nützlich.
Wandeln wir durch ein samoanisches Dorf mit seinen offenen Häusern, so können wir beobachten, wie unter geschickten Frauenhänden die Bekleidungsstoffe und die Matten für Häuservorhänge, Lagerdecken, Segel u. dgl. entstehen. Die Lava-Lava oder Hüftschurze der Samoaner sind zumeist aus dem sogenannten Tapatuch gearbeitet. Es wird aus geklopften Stücken der weißlichen Rinde des Papiermaulbeerbaums (Morus papyrifera) hergestellt und mit roten und schwarzen Mustern bemalt. Die feineren und feinsten Matten flechten die Frauen aus Pandanusblättern oder der Bastfaser einer Hanfrose (Hibiscus). Sie werden mit bunten Federn besetzt und gelten dann als die feinsten Erzeugnisse der Kunstfertigkeit, die sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben und als eine Art Familienheiligtum behandelt werden. Je älter sie sind, desto wertvoller erscheinen sie dem Samoaner, denn sie sind gewissermaßen Urkunden, die das hohe Alter eines vornehmen Geschlechtes bezeugen.
Wahre Meisterstücke der Handfertigkeit sind auch die Fächer, die man aus Pandanusblättern oder Kokosblattrippen zu flechten versteht. Unsere Abbildungen zeigen uns einen Samoaner mit Tapaschurz und Fächer und Samoanerinnen in feinen Mattenkleidern. Viele von ihnen beginnen europäische Stoffe und Kleider nach europäischem Schnitt zu tragen, aber ihr Haar schmücken sie noch gern mit den zierlichen Kämmen aus Kokosblattrippen, und neben Glaskorallen, die von den Händlern eingeführt worden sind, tragen sie noch Armbänder von roten Federn, Schildpatt, Haifisch, und Schweinezähnen. Ihr liebster Schmuck sind aber duftende vielfarbige Blumen.
Naturgemäß ist das Inselvolk auch auf der See heimisch. Die Samoaner bauen gute Bote und sind treffliche Ruderer. Sie ziehen zum Fischfang hinaus in die Küstengewässer, wo unter dem blauen Meeresspiegel die abeuteuerlichen Korallenbauten wie leuchtendes Silber glänzen. Dann mischt sich ihr rhythmischer Gesang mit dem Rauschen der fernen Brandung. Sind sie mit gutem Fang heimgekehrt, so geht es fröhlich zu in dem Dorfe. Der Kawatrunk wird bereitet: junge Mädchen kauen die Wurzeln des rankenden Pfeffers und thun sie dann in eine aus Holz schön gearbeitete Bowle. Dann kreist der Becher und auf dem Malä, dem Grasplatz des Dorfes, werden die malerischen Nationaltänze aufgeführt, in welchen die schönen Insulanerinnen ihre größten Eroberungen machen. An Gästen fehlt es nicht bei solchen Gelegenheiten, denn der Samoaner übt die Gastfreundschaft in einer fast einzig dastehenden Art. In jedem Dorfe ist ein besonderes Gasthaus für Fremde errichtet, und Besuche gehen hin und her, wobei dem Wirt seine Vorräte aufgezehrt werden, so daß er sich genötigt sieht, auch seinerseits als Gast auf Kosten anderer zu leben.
Dem gemütlichen Charakterbilde des Samoaners fehlen allerdings die Schattenseiten nicht. Diese Insulaner sind leider ungemein arbeitsscheu. Nur das Notwendigste zum Lebensunterhalt pflegen sie zu verrichten und lassen sich durchaus nicht bewegen, in den Pflanzungen zu arbeiten. Eine Geißel, die sie über sich selbst beschwören, sind ihre fortwährenden Kriege, die aus Rivalität der einzelnen Häuptlinge geführt werden. Sie verlaufen zwar nicht besonders blutig, aber die Parteien verheeren gegenseitig ihre Pflanzungen, hauen des Feindes Brotfruchtbäume und Kokospalmen um und brennen die Häuser nieder. So haben diese nutzlosen Scharmützel nur zu oft Hungersnot im Gefolge, die sonst in dem gesegneten Lande völlig unmöglich sein würde. Die europäischen Pflanzer bezahlen dann zum Teil die Kriegskosten, indem die hungrigen Eingeborenen aus den Plantagen allerlei Früchte, namentlich die Kokosnüsse, stehlen. –
Den Europäer, der an der herrlichen Küste von Apia verweilt, lockt es, in das Innere des Landes, zu den waldgekrönten Bergeshöhen zu wandern. Ein solcher Ausflug lohnt die Mühe. Er führt durch wundervolle Wälder, in denen prächtige Farnkräuter den Boden bedecken, während zahllose Lianen zu den hohen Baumwipfeln emporklettern. Kleine Flüsse laden unterwegs zum Baden ein; weiter bergaufwärts rauschen Wasserfälle; [848] den herrlichsten Punkt Upolus bildet aber der Lanutoberg, der sich 780 m über den Meeresspiegel erhebt. Er ist ein alter Kraterberg und birgt auf seiner Spitze einen kreisrunden See, den ein etwa 30 m hoher mit Bergpalmen und Baumfarnen bestandener Felsenkranz umschließt. An diesem bezaubernden smaragdgrünen Gewässer hat der deutsche Lehrer von Apia für sich samoanische Hütten bauen lassen und so eine der lieblichsten Sommerfrischen geschaffen.
Westlich von Upolu liegen zwei kleine Inseln, Manono und Apolima; die erstere ist überaus fruchtbar und gleicht einem einzigen Garten, die andere ist der Rest eines zur Hälfte eingestürzten Kraters, der, malerisch mit Bäumen bewachsen, etwa 150 m über den Meeresspiegel hervorragt. Die westliche Grenze des Archipels bildet Savaii, die größte der Samoainseln, denn ihr Flächeninhalt beträgt 1700 qkm, während Upolu nur 880 qkm umfaßt. Landschaftlich ist Savaii Upolu ähnlich; nur steigen hier die Berge höher empor und die Erhebung des Kraters Mua bei dem Dorfe Aopo wird auf 1600 m geschätzt. Die vulkanische Thätigkeit hat hier länger gedauert als auf Upolu; an manchen Stellen liegen noch Asche und unverwitterte Lavafelder. Rings um die Insel zieht sich ein breiter Streifen überaus fruchtbaren Landes, und auf ihm wohnen etwa 13000 Einwohner in verschiedenen Ortschaften, als deren wichtigste Matautu an der Nordküste zu nennen ist. Völlig unbewohnt ist aber noch das gebirgige Innere, das von üppigen Urwäldern bedeckt ist.
Upolu, Savaii und die an diese grenzenden kleinen Eilande sind nunmehr in deutschen Besitz übergegangen. Ein inniger Wunsch unserer Kolonialfreunde ist damit erfüllt worden, denn deutscher Geist und deutsche Arbeit spielen seit Jahrzehnten die hervorragendste Rolle auf Samoa. Im Jahre 1722 werden die Inseln von dem Holländer Roggeveen entdeckt, und erst nach hundert Jahren, gegen 1830, ließen sich auf ihnen die ersten Missionare nieder. Heute ist die gesamte Bevölkerung wenigstens dem Namen nach christlich. Das Verdienst, auf Samoa regelmäßigen Handel und Plantagenwirtschaft eröffnet zu haben, gebührt dem Hamburger Hause Godeffroy, das in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts mit 32 Handelsschiffen die Südsee beherrschte und später Apia zum Mittel- und Stützpunkt seiner weitreichenden Unternehmungen machte. Nach der Auflösung des Hauses Godeffroy im Jahre 1879 gingen seine samoanischen Besitzungen an die „Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft“ über, die das Kulturwerk mit unermüdlicher Ausdauer fortsetzte. Sie hat bis jetzt gegen 3500 ha Land in mustergültiger Weise mit Kokospalmen bepflanzt. Die reifen Nüsse werden durch farbige Arbeiter, die zumeist auf den Salomoninseln angeworben werden, eingesammelt, von Eseln nach den Wagen getragen und auf diesen durch Ochsen nach den Kopradarren gefahren. Hier werden die Nüsse mit der Axt aufgeschlagen, das weiße „Fleisch“ (Endosperm) wird herausgeschnitten und in den Darren getrocknet. So zubereitet heißt es Kopra, aus dem in europäischen Fabriken Oel gepreßt wird. Außerdem hat die Gesellschaft Kulturen von Kaffee und Kakao angelegt. Sehr ausgedehnt ist auch die Viehhaltung, die sich auf etwa 2000 Stück Rindvieh und etwa 150 Pferde und Esel beläuft. Fünfzig deutsche Beamte stehen in Diensten der Gesellschaft, die gegenwärtig 600 Arbeiter beschäftigt. Früher belief sich die Zahl derselben auf 2000, aber die fortwährenden Wirren auf Samoa zwangen die Pflanzer zur Einschränkung ihrer Thätigkeit.
Nun ist der größte und schönste Teil der Samoainseln deutsch. Dem Pflanzer ist unter dem Schutz des Reiches eine sichere Zukunft gewährleistet. Samoa wird aufblühen, und hoffentlich wird es gelingen, auch das heitere Völkchen der Samoaner wirklich zu kultivieren, indem man ihm die kleinen Kriege unmöglich macht und es nach und nach zur Arbeit erzieht. F.
[849]
Grünes Gras.
So, nun war mein Koffer fertig gepackt! Es war ein großer Koffer, und er enthielt eine ganze Menge Sachen. Beinahe war ich erstaunt darüber, daß ich überhaupt so viele hübsche Dinge besaß; es war mir früher nie so aufgefallen wie jetzt, da einmal alles auf einen Haufen kam. Mutter freilich fand, als sie einen Blick in meine beinahe leere oberste Kommodenschieblade that, in der ich sonst alle meine Kostbarkeiten aufzubewahren pflegte, daß es sehr überflüssig sei, auf eine vierwöchige Reise so viel mitzunehmen.
Wozu ich das Photographiealbum eingepackt hätte, das sicher drei Pfund wöge, fragte sie erstaunt – und wozu das Poesiealbum? Und was ich mit drei oder vier Novellenbüchern, die ich ja doch schon gründlich kannte, auf der Reise beginnen wollte, und was mit meinen sämtlichen Parfümflaschen und allen Handschuhen, Schleifen und Schmucksachen, die ich überhaupt besäße?
Was ich damit wollte? Ja, das konnte ich so in der Geschwindigkeit auch nicht sagen. Aber wozu hat man denn hübsche Sachen, als daß man sie mitnimmt und zeigt, und man kann doch immer nicht wissen, wozu es gut ist. Jedenfalls waren sie nun einmal in meinem Koffer, und zwar ganz unten auf dem Grunde, was ich Mutter mit einem geheimen Triumphgefühl sagte, denn sie konnte doch nicht von mir verlangen, daß ich alles wieder auspacken sollte. So klappte ich den Koffer denn schnell zu und setzte mich mit aller mir zu Gebote stehenden Wucht auf den Deckel, um ihn zuzudrücken, was sonst wohl kaum gelungen wäre. Allerdings war mein Körpergewicht auch nicht übermäßig groß, aber es half doch etwas.
Ich blieb auf meinem Koffer sitzen und schlenkerte mit den Füßen, wobei ich nicht umhin konnte, wieder einmal zu bemerken, daß dieselben doch wirklich recht klein und schmal wären, besonders in diesen zierlichen Spangenschuhen.
Ueberhaupt war ich augenblicklich mit mir und der Welt so recht von Herzen zufrieden, und darüber braucht sich niemand zu wundern, denn ich sollte am nächsten Tage in aller Frühe ganz allein auf eigene Hand eine Vergnügungsreise antreten zu meiner Tante Renate, die mich schon im Frühling eingeladen hatte.
Tante Renate war eine unverheiratete Stiefschwester meiner Mutter, also eine alte Jungfer. Eigentlich klang das ja nicht gerade sehr verlockend, bei einer alten Jungfer auf Besuch gehen zu sollen; Mutter hatte mir aber gesagt, daß Tante gesellig lebte, und überdies sind solche alte Damen ja mitunter recht nett, schenken ihren jungen, hübschen Nichten allerhand Sachen, die wegen ihrer Altmodischkeit jetzt wieder modern sind, und zeigen sich auf andere Weise erkenntlich dafür, daß man ihre einsame Häuslichkeit durch seine Jugend ein bißchen belebt.
Gesehen hatte ich Tante Renate noch nicht, doch hatte sie im vorigen Winter zu meinem ersten Ball ganz aus eigenem Antriebe sehr hübsche Zweige von Heckenrosen geschickt, was ich nett von ihr fand. Ich dachte sie mir so ähnlich aussehend wie Mutter, die ziemlich stark war, deren Haar früher schwarz und dick war, in den letzten Jahren aber dünn und grau geworden ist, die aber ein liebes, gutes Gesicht hat, gerade so, wie ich es mir nur für meine Mutter wünschen kann, obgleich Mutter manchmal recht – na, das ist einerlei und gehört nicht hierher!
„Mutter,“ sagte ich, vergnügt zu ihr emporsehend, wie sie so vor mir dastand, „ist Tante eigentlich so in der Art wie du?“
„Ach bewahre, Kind! Ganz anders! Ich sehe meiner Mutter ähnlich und Renate der ihrigen, wenigstens that sie das früher. Wie sie jetzt aussieht, kann ich, nachdem ich sie seit acht Jahren nicht gesehen habe, freilich nicht wissen.“
„Nein, Mutter, ich meine eigentlich, ob sie im Wesen dir ähnlich ist.“
„Nein, durchaus nicht,“ sagte Mutter wieder. „Unser Lebensgang ist auch so verschieden gewesen, daß es gar nicht möglich wäre.“
Das konnte ich begreifen. Mutter hatte jung geheiratet und immer einen großen Hausstand gehabt. Tante Renate dagegen hatte natürlich als alte Jungfer immer ein sehr bequemes Leben geführt, und gewiß war sie altmodisch und sehr gefühlvoll, obgleich ihre Briefe eigentlich nicht gerade so klangen.
„Mutter,“ fing ich wieder an, „sie ist nett, nicht?“
„Sehr,“ sagte Mutter mit großem Nachdruck, „jedermann hat sie gern. Ich kann nur wünschen, daß du möglichst viel von ihr lernst und ihr recht ähnlich wirst.“
Ich sah erstaunt auf, sagte aber nichts. Es war doch eine absonderliche Zumutung, daß ich mit meinen siebzehn Jahren einer alten Jungfer ähnlich werden sollte. Nach einer Pause fing ich dann doch wieder an:
„Mutter, wie geht es eigentlich zu, daß wir gar kein Bild von Tante Renate haben?“
Mutter lachte ein bißchen. „Wir haben eins gehabt, Kind, eins aus ihrer Jugendzeit. Das hat mir einmal jemand heimlich entführt, der sich damals sehr für sie interessierte. Seitdem haben wir dann keines wieder bekommen. Wenn man älter wird, mein Kind, fühlt man nicht mehr beständig den zwingenden Drang in sich, sein Gesicht vervielfältigen zu lassen. Aus solchen Dummheiten wachsen vernünftige Menschen bald heraus!“
Das sollte natürlich auf mich gehen, und es war ja richtig: ich hatte, seit ich eigenes Taschengeld erhielt, dem Photographen öfter zu verdienen gegeben. Aber, liebe Zeit, wenn man doch gut aussieht und so oft um sein Bild gebeten wird! Es hätte ja allerdings nicht gerade immer Kabinettformat zu sein brauchen, aber der Unterschied im Preise ist ja so gering!
Uebrigens gönnte mir Mutter die Ruhe auf meinem Koffer nicht länger, sondern forderte gebieterisch, daß ich erst mein Zimmer aufräumen und dann für das Abendbrot sorgen sollte, und obgleich mich die eine Beschäftigung ebenso wenig anlockte wie die andere, wußte ich doch, daß kein Entrinnen war, wenn Mutter etwas befahl.
Also räumte ich erst mein Zimmer auf, wozu ich erhebliche Zeit brauchte, sorgte dann für das Abendbrot, trank in aller Geschwindigkeit Thee und schlüpfte darauf noch heimlich aus der Gartenpforte, um Reseda adieu zu sagen. Reseda ist meine allerbeste Freundin! Eigentlich heißt sie Therese, aber ich finde es poetisch, sie Reseda zu nennen. Es hätte wohl im Grunde kein Hindernis vorgelegen, einfach frei durch die Hausthür über die Straße zu ihr zu gehen, doch mich dünkt immer, die kleinen Heimlichkeiten geben der Freundschaft – wenn es nämlich allerbeste Freundschaft ist – ganz besonderen Reiz!
Reseda war aber nicht zu Hause; auch ihre Eltern waren ausgegangen, und nur Wulf, Resis Bruder, saß auf der Bank neben der Hausthür und machte ein schwermütiges Gesicht.
Wulf studierte Forstwissenschaft und war nur auf einige Zeit zu Hause, um seinen kranken Arm zu heilen, den er sich bei einem Sturz vom Fahrrade verletzt hatte und noch in einer Binde trug. Er war sehr hübsch, hatte eine schlanke Figur, braune, gewöhnlich lustige Augen und einen sehr flotten, dunkelblonden Schnurrbart über weißen Zähnen. Als Radfahrer leistete er Vorzügliches, und Karl, mein Bruder, der allerdings vielleicht nicht gerade ein ganz maßgebendes Urteil hatte, behauptete, daß er „phänomenale Kenntnisse“ besäße. „Einfach großartig“, sagte Karl. Davon verstand ich natürlich nichts, und das war auch nicht von mir zu verlangen.
Mich fand Wulf Hegewisch, glaube ich, recht nett, ja, offen gestanden, er fand mich wohl sogar sehr nett.
Doch das wollte ich eigentlich nicht erzählen, es gehört ja auch nicht zur Sache.
„Herr Hegewisch,“ sagte ich teilnehmend, „warum sehen Sie so traurig aus?“
[851] „Fräulein Lafrenz,“ entgegnete er vorwurfsvoll, „können Sie noch fragen?“
„Fragen? ja natürlich, das hören Sie ja! Fehlt Ihnen etwas?“
„Fräulein Lafrenz,“ sagte er und seufzte so tief, daß es mich wirklich rührte, „soll ich vielleicht auch noch Jubellieder singen, wenn Sie morgen in aller Frühe auf so lange verreisen, daß ich Sie ganz gewiß nicht mehr zu sehen bekomme, ehe ich selbst wieder von hier fort muß?“
Jubellieder, nein, da hatte er recht, die brauchte er nicht zu singen. Ich hätte es sogar recht taktlos und unpassend gefunden, wenn er es gethan hätte.
„Ach was.“ sagte ich trotzdem wegwerfend, „das kann Ihnen doch einerlei sein!“
„So?“ Er sah mich an. Es war dumm und lächerlich von mir, aber ich fühlte, daß ich rot wurde.
„Wenn man wenigstens hoffen dürfte, daß Sie manchmal an einen denken, während Sie bei dieser schauderhaften alten Tante sind. Aber darauf ist wohl nicht zu rechnen?“ Er sah mich mit halbgeschlossenen Augen von der Seite an, und ich ärgerte mich, weil das alberne Rot nicht aus meinem Gesichte weichen wollte.
Deshalb kam es auch etwas schnippischer heraus, als ich eigentlich gewollt hatte, nun ich schnell antwortete: „Nein, darauf wird wohl schwerlich zu rechnen sein, und überhaupt –“ und dann wurde ich plötzlich unter seinem Blick verlegen, stotterte etwas von Wiedersehen in den Herbstferien, bis zu denen es ja gar nicht mehr lange hin wäre, machte einen sehr plötzlichen und verunglückten Abschiedsknix und ging davon, ohne ihm die Hand gegeben zu haben.
Als ich hundert Schritte weit gegangen war, wurde mir zu Mute, als wenn ich mich scheußlich benommen hätte, und ich verspürte die größte Lust, wieder umzukehren, irgend etwas sehr Nettes zu sagen und zu thun und – ja, wirklich, einen Augenblick war mir’s so, als möchte ich dem armen Menschen um den Hals fallen und ihm versprechen, daß ich jeden Tag an ihn denken wolle.
Aber natürlich that ich nicht dergleichen. Wie konnte ich denn, Mutters große, wohlerzogene Tochter von siebzehn Jahren! Ich bekämpfte diese ganz unvernünftigen Regungen mit aller mir innewohnenden Vernunft und Seelenstärke und ging meines Weges weiter.
Nein, wie hätte ich denn etwas so Unerhörtes thun können! Ein sonderbares Gefühl freilich war in mir, als wenn es eigentlich sehr hübsch gewesen wäre, ihm um den Hals zu fallen, und als wenn Tante Renate mich wohl auch zu einer anderen Zeit hätte einladen können; aber im Laufe des Abends ging es vorüber, und am nächsten Morgen brachte die Abreise so viel Unruhe mit sich, daß es gar nicht möglich war, an etwas anderes als an diese zu denken.
Reseda brachte eine Tafel Schokolade und einen Rosenstrauß an den Bahnhof. „Von Wulf,“ flüsterte sie heimlich, als sie mir die Blumen gab, und darüber ärgerte ich mich. Wie konnte sie sich da hineinmischen und warum zog er sie ins Vertrauen? Das mochte ich nicht, obgleich Reseda meine allerbeste Freundin war. Darum legte ich die Rosen auch ganz nachlässig und gleichgültig in das Gepäcknetz, und erst, als der Zug in voller Bewegung war, nahm ich sie wieder hervor und roch lange daran. Es waren wirklich sehr schöne Rosen, und es wäre schade gewesen, sie ganz unbeachtet zu lassen.
Die Reise verlief ohne Abenteuer, denn Mutter hatte mich natürlich in eine Damenabteilung hineingestopft, und es war mir also unmöglich, irgend etwas Nennenswertes zu erleben. Die jungen Mädchen in Novellen und Romanen haben wahrscheinlich alle sehr vorurteilsfreie Mütter, denn sie fahren meistens „Nichtraucher“ und erleben auf Reisen immer merkwürdig viel!
Als ich umzusteigen hatte, überlegte ich einen Augenblick, ob ich nicht auch einen solchen Wagen wählen sollte, aber ich weiß nicht, wie es kam: als ich den Fuß schon auf dem Trittbrett hatte, zog ich ihn doch wieder zurück und kroch ganz bescheiden wieder in meine Damenabteilung hinein, in der noch dazu zwei schreiende Kinder saßen, die nachher fast meine ganze Schokolade aufgegessen haben. Das war aber auch alles, was ich auf der ganzen Tagesfahrt erlebte! Doch eins will ich noch bemerken: auf den Bahnhöfen, wo ich stets den Kopf zum Fenster hinausstreckte, wendeten verschiedene Leute sich nach mir um, und mein neuer Hut war ja auch sehr kleidsam zu meinen hellen, krausen Haaren.
Als mein Zug endgültig hielt und ich mit meinem Handgepäck auf den Bahnsteig hinaussprang, spähte ich natürlich sofort nach einer älteren Dame aus. Tante hatte mir nicht geschrieben, woran ich sie erkennen könnte, dagegen hatten wir ihr meinen Reiseanzug geschildert: hellkarrierter Staubmantel und dunkelrot garnierter Rundhut! Ich konnte aber eine tantenhafte und altjüngferliche Dame – halbwegs war ich sogar auf einen mitgebrachten Mops gefaßt gewesen – nirgends entdecken, wenigstens keine, die sich im mindesten um mich gekümmert hätte. Alle Reisenden stiegen aus und eilten dem Ausgang zu, und ich dachte schon, niemand wollte mich in Empfang nehmen.
Da sah ich eine hübsche, schlanke Dame eilig den Bahnsteig betreten und spähend überall umherblicken. Rasch kam sie auf mich zugeschritten, lächelte freundlich und sagte, indem sie mir prüfend ins Gesicht blickte: „Helmi Lafrenz?“
„Ja,“ sagte ich errötend, „die bin ich.“
„Dann bist du also mein erwartetes Nichtchen,“ meinte die Dame und gab mir die Hand, die meine herzlich schüttelnd; „du mußt entschuldigen, liebes Kind, ich bin unterwegs aufgehalten worden und habe mich um ein paar Minuten verspätet. Hoffentlich fühltest du dich nicht schon verlassen!“
Dann winkte sie einem Kofferträger, übergab ihm das größere Handgepäck und machte sich zu Fuß mit mir auf den Heimweg.
Also das war Tante Renate! O, wie ganz, ganz anders war sie, als ich sie mir vorgestellt hatte!
Das Wort „alte Jungfer“ wollte absolut nicht passen; sie sah wirklich nicht aus wie eine solche. Nein – nein, wirklich nicht! Tante Renate sah überhaupt nicht alt aus mit ihrer feinen, schlanken Gestalt, dem klugen, frischen, ovalen Gesichte, den modern, wenn auch ganz einfach frisierten, welligen, dunkelblonden Haaren, den klaren, blaugrauen Augen. Aeltlich gekleidet war sie ebenso wenig wie sehr jugendlich; es schien, als wenn alles, was sie anhatte, gerade so sein müßte, wie es war, und sicher mußte jeder sagen, daß das Ganze entschieden hübsch war.
Komisch, daß ich mir vorher so fest in den Kopf gesetzt hatte, sie müßte ganz anders sein! Ich wußte ja nicht, wie alt Tante war, aber Mutter zählte doch über fünfzig Jahre, und Tante sah nach meinem Dafürhalten aus, als wenn sie etwa ein- oder zweiunddreißig alt sein könnte.
„Du siehst mich so forschend an,“ sagte sie plötzlich lächelnd, „hattest du mich dir anders vorgestellt?“
„Ja, sehr!“ entgegnete ich, ein bißchen verlegen und rot werdend.
„Ja?“
„Aehnlich wie Mutter – wenigstens ähnlich so alt! Du bist ja aber noch –“ ich stockte.
Sie lächelte wieder. „Ach so, du hattest dich auf graue Haare und einen Strickbeutel gefreut, und nun bist du enttäuscht? Das thut mir wirklich leid, Helmi! Ich bin ja aber eine Stiefschwester deiner Mutter und eine ganze Reihe von Jahren jünger als sie. Uebrigens habe ich mir die Welt doch schon eine ziemliche Weile angesehen, Kleine; darüber beunruhige dich nur nicht! Erzähle mir lieber, wie es den Deinen zu Hause geht.“
Das that ich denn, und Tante fragte nach allem so lebhaft interessiert, ging auf alles, was ich erzählte, so freundlich ein, daß ich mich schon ordentlich vertraut mit ihr fühlte, als wir in ihrer Wohnung ankamen.
Hatte etwa noch der letzte Rest einer Vorstellung von einem Altjungfernstübchen in meiner Seele geschlummert, so konnte ich damit jetzt gründlich aufräumen. Tante war ganz modern und sehr hübsch eingerichtet, ganz ohne gehäkelte Schutzdecken und Korblehnstühle, ohne Daguerreotypen an den Wänden und Papierblumen in den Vasen; alles war hell und freundlich mit blühenden Gewächsen in allen Fenstern und zwanglos geordneten Möbeln, [852] viel zierlicher und moderner als bei uns zu Hause, wo manches schon recht verschossen und verblichen war, und dabei war es traulich und heimlich bei ihr! Alles paßte zu Tantes Gesicht, wie ihre Kleider zu demselben paßten.
Als dann Licht angezündet wurde, ich Tante Renate beim Abendbrot gegenüber saß, welches so hübsch angerichtet war wie bei uns nur zu Gesellschaften, und der helle Lampenschein voll auf sie fiel, sah ich dann freilich wohl, daß sich durch die vollen, welligen Haare hier und da ein weißes Fädchen zog, aber nur ganz vereinzelt, und daß quer über die Stirn hin ein paar ganz leichte Fältchen lagen. Aber das alles bemerkte man nur, wenn man recht genau hinsah.
Ueber mein Fremdenstübchen, in welches mich Tante nach dem Abendessen führte, schrie ich fast auf vor Entzücken! Ich weiß nicht, wie Tante es angestellt hatte: eigentlich war der Raum nur eine ganz prosaische Dachkammer mit einem schrägen Fenster, aber mit Hilfe von viel hellem, geblümtem Kattun, weißem Mull und Topfgewächsen hatte Tante etwas ganz Reizendes daraus gemacht, genau das, was man sich bei einem Mädchenstübchen denkt!
Alles in allem gefiel es mir also für den Anfang sehr gut bei Tante Renate, und ich wünschte, sie hätte mich auf etwas länger als vier Wochen eingeladen, was ich auch sogleich auf einer illustrierten Postkarte nach Hause meldete. Ich wollte dasselbe auch an Reseda schreiben, aber zufällig fielen meine Augen dabei auf die Rosen, welche noch recht frisch aussahen, da ließ ich den Nachsatz fort und schrieb nur, es gefiele mir hier ganz gut.
Am nächsten Morgen beim Frühstück fragte Tante mich nach meinen Liebhabereien und Talenten. Nun hatte ich ja sehr vielseitige Interessen, z. B. ich malte, ich sang, ich lief Schlittschuh, ich tanzte, ich würde gern geradelt haben, wenn ich nur ein Rad gehabt hätte, ich las gern, besonders Novellen und Romane, ich ging gern ins Theater, wenn bei uns zu Hause eins gastierte, ich sammelte Ansichtskarten und Autogramme und trieb noch vieles andere mehr. Das zählte ich ihr nun auch alles auf, denn es kam mir ein wenig so vor, als wenn Tante meinte, ich wäre vielleicht hinter meiner Zeit etwas zurückgeblieben, was ich doch in keiner Weise war.
Tante schien auf alles kein rechtes Gewicht zu legen, wenigstens lächelte sie ein bißchen still vor sich hin, während ich erzählte, und nur, als ich sagte, ich malte und zeichnete ziemlich gut, fragte sie lebhaft: „Ach, wirklich? Das ist hübsch. Hast du dein Skizzenbuch mitgebracht, dann zeige es mir doch einmal! Hier ist nämlich mancher sehr schöne landschaftliche Aussichtspunkt, den ich mit dir aufsuchen könnte. Ich selbst habe leider kein Talent für Malerei, aber viel Interesse und wohl auch ein leidliches Auge für Schönheit!“
Skizzenbuch! Was die sich nur dachte! Wer hat denn gleich ein Skizzenbuch? Nach der Natur zeichnen und malen doch nur große Künstler. Vorlagen zum Abzeichnen und Durchpausen hatte ich eine ganze Menge, die genügten doch! Ich sagte darum auch der Wahrheit gemäß, ich male hauptsächlich auf Holz und mit dem Brennstift, und das könne man nur nach Vorlagen, anders ginge es nicht.
Das sah Tante ein. „Ach so,“ sagte sie und lächelte wieder ein bißchen. „Das verstehe ich dann wohl nicht, Helmikind!“
Nein, das verstand sie wirklich nicht!
„Also du zeichnest und malst hübsch. Was kannst du denn noch sonst besonders gut?“
Nun war mir immer gesagt worden, ich hätte eine schöne Stimme, und daß ich sehr fertig Klavier spielte, wußte ich ja selbst. Singunterricht allerdings hatte ich bis jetzt nicht gehabt, aber ich war stets in allen Gesellschaften zu Hause zum Singen aufgefordert worden. Ich antwortete also, besonders hätte ich Talent für Musik, und dabei war keine Prahlerei, das hatte ich wirklich, wie ich denn überhaupt alles Prahlen mit Dingen, die man nicht gründlich kann, sehr häßlich finde!
„Das ist ja sehr hübsch und angenehm,“ sagte Tante wieder erfreut. „Ich bin nämlich selbst etwas musikalisch, besonders singe ich gern, und da ich dir beim Sprechen anhöre, daß du einen ziemlich hohen Sopran hast, ich aber eine Altstimme besitze, werden wir sicher Duette miteinander singen können. Du singst vom Blatt?“
Nein, vom Blatt sang ich nicht; ich mußte sogar immer ziemlich lange üben, ehe ich eine Melodie innehatte. Ich sagte also: nein, daran wäre ich nicht gewöhnt.
Tante nickte freundlich. „Das thut nichts, Helmikind, deshalb kann man doch gut singen, das ist einfach Sache der Uebung und Gewohnheit, wenn man nur sonst Musik in sich hat. Zeit zum Ueben hast du hier ja genug. Ich habe nun im Hause Verschiedenes zu thun, sieh dir inzwischen einmal meinen Notenschrank an, der Schlüssel steckt! Vielleicht findest du etwas, was du schon kannst, oder was dich lockt. Das Klavier steht dir zur Verfügung. Gegen Mittag mache ich dann ein paar Besuche mit dir!“
Damit stand sie auf und ging hinaus, und ich machte mich an den Notenschrank heran.
Nein, was für eine Unmasse Noten Tante Renate hatte! Zahllose Lieder, die mir völlig unbekannt waren, natürlich meist deutsche, aber auch schwedische, dänische, englische und französische, dazu italienische Arien und endlich gar Kirchenmusik, ganz altmodische Kirchenmusik!
Wer singt denn heutzutage so etwas! Dies ist ja gräßlich langweilig. Dann kamen freilich auch Namen, die ich kannte. Ich fand einen Band mit Duetten von Brahms, von dem ich noch nie etwas gesungen hatte, und da er mich lockte, ging ich mit ihm an das Klavier und fing an, mir den Sopran eines Liedes vorzuspielen, um ihn dann nachzusingen.
Eine Weile ging das so. Auf einmal öffnete sich die Thür ein wenig, und Tante steckte den Kopf herein.
„Cis,“ sagte sie lächelnd und zog den Kopf zurück.
Ach so, da hatte ich immer gespielt und das Kreuz vergessen. Ich verbesserte den Fehler, übte ein Endchen weiter und fing wieder von vorn an.
„Cis, Cis!“ rief es wieder von der Thür her und diesmal streckte die Tante nicht nur den Kopf herein, sondern stand in ganzer Person im Zimmer. „Liebstes Kind, es ist ja kaum zu glauben, daß du das nicht hörst!“
Ich schlug das Notenbuch zu und schloß das Klavier. Ich ärgerte mich, und das war mir doch auch nicht zu verdenken. Dabei fühlte ich ordentlich, was für ein heißes Gesicht ich bekam.
Tante trat an das Klavier heran, dessen Deckel nicht ganz so leise zugeklappt war, wie er eigentlich sollte, strich mir über die Wangen und sagte mit einem Lächeln: „Ist das Helmikind vielleicht ein ganz klein wenig empfindlich? Nicht doch, Kind, wir werden trotzdem noch manches hübsche Duett miteinander einüben! Sieh, ich singe ja schon so viele Jahre länger als du, da lernt man achtgeben.“
Nun ja – ich beschloß, nicht weiter böse zu sein, aber mit dem Ueben mochte ich auch nicht wieder beginnen, sondern verschob es auf eine Zeit, wo Tante nicht zu Hause sein würde.
Uebrigens wußte ich eigentlich gar nicht, wie Tante dazu kam, mich so zu hofmeistern. Sie hatte doch nur eine Altstimme und ich einen Sopran!
Vor Tische machten wir dann mehrere Besuche in Familien, wo junge Mädchen ungefähr von meinem Alter waren. Denn, so erzählte mir Tante unterwegs, sie hätte für die nächste Zeit mehrere Einladungen, und man hätte ihr erlaubt, mich mitzubringen, da müßte sie mich vorher in den Familien bekannt machen. Auch würde gegen das Ende der Woche ein größerer gemeinsamer Ausflug mit Picknick unternommen werden, und Tante wünschte, daß ich mich dabei nicht fremd fühlen sollte.
Im stillen wunderte ich mich aber, daß sie, die doch in der großen Stadt wohnte, nicht einmal wußte, daß es jetzt modern ist, bei Besuchen weiße Handschuhe zu tragen. Ihre eigenen waren ziemlich dunkelbraun, und meine weißen sah sie, wie mir schien, ein bißchen befremdet an. Aber ich ließ mich gar nicht beirren. Mit seiner Zeit fortschreiten muß man, sonst wird man gleich für kleinstädtisch gehalten!
Ich glaube, daß ich in dem hellblauen Sommerkleide sehr vorteilhaft aussah, und daß mich die Familien, welche wir besuchten, sämtlich gern leiden mochten, wenigstens waren sie alle sehr liebenswürdig gegen uns. Besonders auch die jungen Madchen thaten gleich freundlich und bekannt, wodurch sie mir diese
[853][854] Besuchsrunde sehr erleichterten, denn natürlich hatte ich mich doch ein wenig davor gefürchtet, zu den fremden Menschen hinzugehen. Ich war das nicht gewohnt. Bei uns zu Hause kamen die fremden Leute zuerst zu uns, da war es leichter, unbefangen zu sein. Die jungen Mädchen waren aber alle so lustig, freundlich und gar nicht steif, daß ich meine eigne Verlegenheit schnell vergaß. Sie freuten sich sämtlich sehr auf das Picknick und sagten, es würden auch viele nette Herren dabei sein, auch glaubten sie, es würde zuletzt getanzt werden.
Tanzen – himmlischer Gedanke!
Nur etwas war beinahe komisch. Alle der Reihe nach fragten: „Ist es nicht entzückend, bei Fräulein Karstadt zu Besuch sein? Ist sie nicht eine reizende Dame? Bei der wäre ich auch gern einmal Logiergast!“ Es wurde zuletzt fast ein wenig langweilig, immer dasselbe zu hören. Denn Tante Renate war ja reizend in ihrer Art, aber davon braucht man doch nicht immer zu sprechen.
Besonders ein junges Mädchen, ganz in meinem Alter, nicht hübsch, aber sehr nett, gefiel mir. Sie hieß Anna Elisabeth Rösingk und wurde von der Familie Anneliese genannt. Ich will hier nur gleich hinzufügen, daß wir uns schon am dritten Tage bei den Vornamen und Du nannten, und daß Anneliese dann meine zweitbeste Freundin, die gleich nach Reseda kommt, geworden ist.
Rösingks waren sehr reich. Jetzt im Sommer, vor und nach der Reisezeit, bewohnten sie eine wunderhübsche Villa am Strande mit einer Veranda und einem Garten; im Winter hatten sie eine Stadtwohnung.
Bei Rösingks war Tante auch zum nächsten Tage eingeladen, und Frau Rösingk wiederholte noch ganz besonders, sie würde sich sehr freuen, wenn ich mitkäme. Es schien ihr wirklich viel daran zu liegen, und ich hatte natürlich nichts einzuwenden.
Es war eine Nachmittagsgesellschaft, so eine Art Fünfuhrthee für Herren und Damen. Alles war eigentlich ganz wie in einer Kaffeegesellschaft, nur daß wir Thee bekamen und daß Herren zugegen waren. Diese letzteren waren alle nicht mehr ganz jung; es waren etwa fünf oder sechs, und drei von ihnen hatten ziemlich kahle Köpfe. Offen gesagt, fand ich es zuerst ein bißchen langweilig. Es wurde über neue Bücher, die ich nicht gelesen, und über Bilder, die ich nicht gesehen hatte, gesprochen, und niemand kümmerte sich um Anneliese und mich, die wir die beiden einzigen jungen Mädchen waren.
Als von den Bildern die Rede war, schienen sich alle dem Urteil eines Herrn unterzuordnen, der sich neben Tante gesetzt hatte und sie besonders oft anredete. Auch er war nicht mehr jung. Er sah aus, als könnte er schon gegen vierzig Jahre alt sein, aber sein Kopf war nicht kahl, sondern ganz voll ziemlich kurz geschorener, dunkler Haare. Auch sein kurz gehaltener dunkler Vollbart war erst ein klein wenig grau, und in seinen braunen Augen blitzte es manchmal ganz jung. Er hatte eine rasche Art, den Kopf zu wenden und einen plötzlich scharf anzusehen, die gar keinen ältlichen Eindruck machte, und seine Figur war schlank und stattlich. Von allen Herren gefiel er mir am besten. Natürlich war mir sein Name bei der Vorstellung genannt worden, doch hatte ich nicht weiter darauf geachtet.
Merkwürdigerweise schienen er und Tante immer einer Meinung zu sein, das heißt: Tante, die ja selbst sagte, daß sie von Malerei nichts verstände, fragte ihn immer um sein Urteil, und das schien sie dann ohne weiteres jedesmal für maßgebend zu halten, jedoch nur, wenn von Bildern die Rede war, bei anderen Dingen merkte man wohl, daß Tante Renate auch ihre eigne Meinung hatte. Er nahm es ihr auch gar nicht übel, und alt genug war sie ja dazu!
Uebrigens wußte ich immer noch nicht, wie alt Tante Renate eigentlich war. Zwar hatte ich auf meiner illustrierten Postkarte mich bei Mutter danach erkundigt, sie hatte aber gar keine Notiz von meiner Frage genommen, als sie antwortete.
Endlich sah wohl Frau Rösingk, wie schmählich Anneliese und ich uns langweilten; sie fühlte ein menschliches Rühren und schickte uns hinunter in den Garten, wo wir sehr bald ganz bekannt und vertraut miteinander wurden und uns sehr, sehr viel erzählten. Nur von Wulf Hegewisch sagte ich noch nichts, dazu war Anneliese mir doch noch zu fremd.
„Aber wer ist eigentlich der Herr, der so viel mit meiner Tante spricht?“ fragte ich so nebenbei.
„Der?“ rief Anneliese und machte begeisterte Augen – „wissen Sie nicht? Der ist ein berühmter Maler – wirklich berühmt! – Harrang heißt er. O, er malt himmlische Bilder! Noch vor kurzem ist hier eine Sonderausstellung von seinen Sachen veranstaltet gewesen – zu schön! Haben Sie von dem noch nicht gehört? Eigentlich wohnt er in München. Was er hier will, weiß ich nicht recht; seit vierzehn Tagen ist er hier. Wir haben ihn durch Ihre Tante kennengelernt, ich glaube, die kannte er ein wenig von früher her. Sonst ist er schwer zu haben, er liebt Gesellschaften nicht. Finden Sie ihn nicht reizend? Berühmte Leute sind doch immer zu interessant! Unverheiratet ist er außerdem auch.“
Ja, wenn er berühmt war! – Vorher wäre ich eigentlich nicht gerade darauf verfallen, ihn „reizend“ zu finden, sondern höchstens war er mir ganz nett vorgekommen, aber wenn er berühmt war –! Nun, da Anneliese es sagte, fand ich allerdings auch, daß er wirklich einen unbeschreiblich genialen und anziehenden Eindruck machte. Ich hatte immer so sehr gewünscht, einmal einen berühmten Künstler kennenzulernen, und ich empfand sofort den brennenden Wunsch, von ihm beachtet zu werden.
Vielleicht konnte ich ihn um einen Beitrag für meine Autographensammlung bitten, die gar nicht recht über die ersten Anfänge hinaus gedeihen wollte, obgleich ich schon an viele Schriftsteller und Künstler heimlich deswegen geschrieben und ihnen sogar Ansichtspostkarten übersandt hatte.
Nun thaten sich mir durch den Besuch bei Tante Renate ja allerhand ungeahnte Perspektiven auf! Was würden zu Hause meine Freundinnen sagen, wenn sie hörten, daß ich hier mit berühmten Malern verkehre!
Nach längerer Zeit, während welcher wir bald in dieser, bald in jener Laube gesessen oder uns in dem Boot, das unten am Strande angekettet lag und Rösingks gehörte, geschaukelt hatten – loslösen durften wir es nicht! – sagte Anneliese, jetzt würde wohl gleich das Eis gereicht werden, und wenn wir nicht leer ausgehen wollten, müßten wir nun auf die Veranda zurückkehren. Auch hatten wir uns jetzt so viel erzählt, daß es vielleicht uns beiden schien, als wäre es vorläufig nun genug.
Jedoch war es noch nicht spät genug für das Eis. Als wir wieder zu den übrigen zurückkehrten, schien gerade eine Pause im Gespräch eingetreten zu sein, und Frau Rösingk sagte: „Jetzt wäre ein bißchen Musik sehr angenehm,“ und dann so halb beiläufig zu mir: „Sind Sie musikalisch, Fräulein Lafrenz?“
Ich sagte Ja, ich spielte und sänge, und Frau Rösingk meinte, dann machte ich der Gesellschaft vielleicht die Freude, etwas vorzutragen. Nachher würden wir hoffentlich auch Tante Renate noch zu hören bekommen!
Tante Renate erhob einen Augenblick die Augen von ihrer Handarbeit, und fast sah es aus, als wenn sie, indem sie mich ansah, ganz leise den Kopf schüttelte, ich weiß nicht, warum. Doch mußte ich mich darin wohl getäuscht haben, denn sie sagte nichts und ließ mich ruhig mit Anneliese in das an die Veranda grenzende Zimmer gehen, zu dem die Thür offen stand, und in welchem sich das Klavier befand.
Ein Weilchen kramten wir in Anneliesens Noten, und ich entdeckte mehreres darunter, was ich kannte und singen konnte. So sang ich denn drei Lieder, von denen ich selbst fand, daß sie mir recht gut gelangen. Dann dachte ich, es möchte unbescheiden sein, unaufgefordert noch mehr zu singen, und ging auf die Veranda zurück, wo ich alle in lebhafter Unterhaltung begriffen fand.
Zu mir sagte niemand etwas, nur Frau Rösingk nickte mir freundlich zu und meinte: „Sehr hübsch, Fräulein Lafrenz, besten Dank! Sie haben wirklich eine niedliche, frische Stimme.“
„Ich hoffe, Helmi kommt vielleicht später einmal für längere Zeit her,“ sagte Tante Renate, „dann will ich ihr hier Stunden [855] geben lassen. In den ganz kleinen Städten ist guter Unterricht oft schwer zu erlangen.“
Das war alles! Ich war empört. Ich weiß ja, daß ich nicht viel Schule habe, aber es ist mir doch immer gesagt worden, ich hätte eine sehr schöne Stimme – und nun war dies alles!
„Vorläufig, Fräulein Karstadt, müssen Sie Ihr Fräulein Nichte ein wenig in die Schule nehmen, da kann sie schon recht viel lernen,“ meinte eine andere Dame, „es wäre doch schade um die niedliche Stimme, wenn sie nicht weiter ausgebildet würde.“
„Helmi und ich wollen Duette miteinander üben; ich hoffe, daran werden wir beide Freude haben,“ sagte Tante, mich freundlich ansehend.
„O,“ rief Anneliese, „das mögen Sie wohl, Fräulein Lafrenz!“ Es klang beinahe ein bißchen neidisch.
„Aber nun, Fräulein Karstadt, bitte, bitte!“ tönte es von allen Seiten.
„Was soll’s denn sein?“ fragte Tante.
„O, was Sie wollen –wonach Sie gerade gestimmt sind!“
„‚Das Veilchen‘,“ sagte Herr Harrang leise, „oder singen Sie das nicht mehr?“
Komisch – Tante wurde rot, sie wurde wirklich rot. Es stand ihr gut, wie die lichte, feine Farbe so langsam bis an ihr hübsches Haar hinaufstieg – aber warum wurde sie rot? Es lag ja gar kein Grund dazu vor.
„Ich habe es sehr, sehr lange nicht gesungen,“ sagte sie leise und sah an uns allen vorbei in den Garten hinunter. Es war etwas sonderbar Sanftes dabei in ihren Augen.
Aber dann stand sie auf, ging ruhig in das Zimmer hinein und setzte sich an das Klavier, erst nur probierend, ob ihr die Begleitung noch geläufig wäre, und dann sang sie „Das Veilchen“ von Mozart, wie es Herr Harrang gewünscht hatte:
„Ein Veilchen auf der Wiese stand,
Gebückt in sich und unbekannt;
Es war ein herzigs Veilchen!“
Es ist ja ein ganz altmodisches Lied, gar nicht auf der Höhe der Zeit. Wenigstens hatte ich das gedacht, als Herr Harrang verlangte, Tante sollte es singen. Ich konnte überhaupt die klassischen Komponisten ebenso wenig ausstehen wie die klassischen Dichter. Aber wie es nun aus dem dämmerigen Nebenraum zu uns herausscholl, meinte ich auf einmal, ein so holdes und anmutiges Lied noch nie gehört zu haben. Ja, hold, das war gerade das richtige Wort, und ich muß es nur gestehen, bei dem letzten wehmütigen:
„Das arme Veilchen!
Es war ein herzigs Veilchen!“
kamen mir Thränen in die Augen.
Was war das nur? War das Lied, welches ich doch gut vorher kannte, an sich allein so entzückend schön, oder war es Tantens Art, zu singen, die es mir auf einmal so neu und lieblich machte? Sicher ist, daß Tante sehr schön sang, ich glaube, so schön wie eine wirkliche Künstlerin. Ich kann nicht sagen, was es war, was einem das Herz so bewegte, nur – es war dasselbe sonderbar Sanfte, was vorhin in ihren Augen gelegen hatte, und das ich nicht verstand.
Dann hörten wir, wie sie den Deckel des Klaviers sachte schloß, aber es dauerte noch ein Weilchen, bis sie zu uns zurückkehrte. Als sie dann kam, sagten alle irgend etwas Schmeichelhaftes, nur Herr Harrang sagte nichts. Ob es ihm nicht gefallen hatte? Ich weiß es nicht. Er saß und sah an uns allen vorbei in den Garten hinab, wie Tante Renate vorhin, und klopfte mit den Fingerspitzen seiner schlanken, kräftigen Hand leise auf die Brüstung der Veranda.
Sie wollten dann alle, Tante sollte noch mehr singen, doch setzte sie sich ohne weiteres wieder auf ihren Platz, und dann kam auch das Eis. Ich aber, – ja, ich fühlte mich für ein paar Minuten ganz klein.
Nachher machten noch alle miteinander einen Spaziergang durch den hübschen Garten, und dann gingen wir nach Hause. Herr Harrang, der sich noch ein wenig Bewegung machen wollte, wie er sagte, begleitete uns, Tante Renate und mich, bis an unsere Thür. Unterwegs sprach er mehrfach mit mir, leider nur ganz unbedeutende Dinge, über das Wetter und dergleichen. Aber er konnte ja noch nicht wissen, daß ich auch andere, tiefere Interessen hatte, z. B. auch selbst malte. Um das Autogramm wagte ich vorläufig noch nicht zu bitten; es eilte ja auch nicht damit. Vielleicht, so dachte ich mir, würde er es mir später von München aus auf einer Ansichtspostkarte schicken, wenn ich mit meiner Bitte wartete, bis wir uns etwas besser kannten.
Beim Abendbrot fragte mich Tante, ob ich mich gut unterhalten hätte, und ich erzählte ihr, wie ich mich freute, nun einen berühmten Maler zu kennen, da ich vorher noch nie einen berühmten Menschen gesehen hätte, ausgenommen einmal Bismarck von der Rückseite – wenigstens glaubte ich, es wäre Bismarck gewesen.
Tante lachte. „Ganz so berühmt wie Bismarck ist Herr Harrang nun allerdings nicht,“ sagte sie und schenkte den Thee ein, „dafür hast du von ihm ja aber auch mehr gesehen als den Rücken.“
„Kennst du ihn schon lange, Tante?“ fragte ich neugierig, „kanntest du ihn schon, als er noch nicht berühmt war?“
„Ja, schon lange – ich kannte ihn ein wenig, als ich jung war, Kind – damals war er nichts weniger als berühmt, und es sind nun viele Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben.“
„Findest du ihn nicht auch reizend?“ fragte ich.
Wieder lachte Tante. „Nein, ich finde durchaus nicht, daß das die richtige Bezeichnung für ihn ist, und es kommt mir auch nicht so vor, als wenn er sich dieses Prädikates gerade sehr freuen würde, wenn er es hörte. Indessen, wissen kann man es ja immerhin nicht.“
Dann fing sie an, von etwas anderem zu sprechen, und ich dachte bei mir, sie wäre doch gerade so altmodisch wie Mutter, die auch immer meinte, daß ich zu überschwengliche Ausdrücke gebrauche. Nun ja, über andere Herren ist man vielleicht besser etwas zurückhaltend, aber wenn jemand berühmt ist, da darf man ihn doch wohl reizend finden.
Natürlich sagte ich aber nichts dergleichen zu Tante. Aeltere Leute haben für die Begeisterung der Jugend so oft kein Verständnis!
Sie fragte mich dann noch, wie mir die anderen Gäste gefallen hätten, und als ich erklärte, die kahlen Köpfe und die Brillen der Herren hätte ich scheußlich und die Gespräche langweilig gefunden, sagte sie belustigt: „Das ist nur natürlich. Eine Vorliebe habe ich auch nicht gerade für Brillen und kein Haar. In mehreren von den kahlen Köpfen steckt aber eine ganz anständige Portion Verstand und Witz, Helmikind! Doch es ist wohl kaum zu verlangen, daß du das schon würdigen solltest!“
O, da irrte sie doch! Ich verstand wohl, Geist und Witz zu würdigen, aber ein wenig Beachtung verlangt man doch von den Menschen. –
Uebrigens zeigte Mutter diesmal auffallenderweise für meine Auffassung der Ausnahmenaturen ein merkwürdiges Verständnis. Am nächsten Tage schickte ich nämlich meinen ersten ausführlichen Bericht nach Hause, wobei ich natürlich auch von Herrn Harrang erzählte, wenn auch vorsichtigerweise in sehr gemäßigten Ausdrücken.
Und siehe da, Mutier antwortete umgehend, und Herr Harrang, den sie offenbar auch von früher her kannte, schien sie außerordentlich zu interessieren. Sie fragte nach allem, was ihn betraf, sehr eingehend, z. B., ob er verheiratet wäre, was er nicht war, und sonst noch mehr, was ich gar nicht beantworten konnte. Außerdem erkundigte sie sich sehr beflissen, wie Tante jetzt eigentlich aussähe, worum sie sich doch früher nie im mindesten beunruhigt hatte. Aber Mutter ist manchmal so eigen.
Ein paar Tage später fand das verabredete Picknick wirklich statt und verlief aufs beste. Mehr als dreißig Damen und Herren, junge und alte bunt durcheinander, hatten sich dazu vereinigt. Ich trug mein weißes Kleid mit rosa Schleifen und den runden Strohhut mit dem Feldblumenkranz. Ich bin nicht eitel, aber ich glaube, daß ich sehr vorteilhaft aussah.
[856] Tante trug ein hellgraues Sommerkleid und einen kleinen Kapotthut mit Rosen, und jeder, der mir ein Kompliment machte – und es thaten mehrere – fügte immer gleich hinzu: „Und Ihr Fräulein Tante sieht ja so jung und reizend aus, als wäre sie eine ältere Schwester von Ihnen.“
Ich kann nicht leugnen, das verdroß mich! Tante hatte doch ihre Zeit gehabt, jung und hübsch zu sein; jetzt war sie aber eine ältere Dame, selbst wenn sie nur ein- oder zweiunddreißig Jahre zählen sollte, und brauchte keine Komplimente mehr herauszufordern. Ich sagte so etwas zu Anneliese, mit der ich mich schon duzte, aber sie verstand mich gar nicht, sondern sagte ganz verwundert:
„Das kann uns doch einerlei sein, Helmi, wenn wir uns nur amüsieren!“
Nun ja – meinetwegen! Es ließ sich ja auch nicht leugnen: wir amüsierten uns. Alles, was jung war – wirklich jung, meine ich – rottete sich zusammen, sowohl zuerst bei der Bootfahrt, wie nachher im Walde. Wir bildeten eine eigene Kolonie, als sich alle zum gemeinsamen Mahl auf dem grünen Moose lagerten, und jeder Herr wählte sich eine Dame, deren Dienst er sich ganz weihte, um sie mit allem Nötigen zu versorgen.
Mich bediente ein hübscher junger Student, der Wulf Hegewisch ein wenig ähnlich sah. Er hatte solches Haar und ebenso weiße Zähne, aber nicht so hübsche Augen, war jedoch sehr nett und aufmerksam und sagte, ich wäre „wie eine Blume, so hold, so schön, so rein“, worüber ich natürlich lachte, obgleich ich glaube, daß er es so meinte.
Anneliesens Ritter war gerade der Herr, welchen sie sich heimlich gewünscht hatte, und sie strahlte deshalb vor Glückseligkeit.
In der Kolonie der Alten hatte sich Herr Harrang freundlich meiner Tante Renate angenommen, war aber ein ziemlich träger Ritter und saß gewöhnlich nur plaudernd auf einem abgehauenen Baumstamm neben ihr. Manchmal blickte er zu uns herüber mit seinen schnellen, lebhaften braunen Augen, und ich dachte mir, er wünschte sich vielleicht heimlich, unter der jungen Gesellschaft zu sein, in der so viele niedliche Mädchen waren.
Ich glaube, bei solchen Picknicks verläuft immer alles ziemlich gleichmäßig: Laufspiele, Gesang, Waldpromenade und so weiter. Wir Jungen waren sehr vergnügt, und um die anderen kümmerten wir uns nicht viel. Endlich wanderten wir alle miteinander bis zu einer Försterei, wo man auf Gäste eingerichtet war, und wo nach einem Klavier und einer Harmonika getanzt werden sollte.
Und da geschah etwas, um das mich hoffentlich alle jungen Mädchen beneidet haben.
Als der erste Tanz beginnen sollte, standen Tante Renate und ich plaudernd nebeneinander; Tante heftete mir eine meiner Schleifen ein wenig fester. Da trat Herr Harrang auf uns zu und verbeugte sich vor Tante.
„Tanzen – ich?“ fagte Tante und sah ihn sehr verwundert an. „Nein, da möchte ich doch lieber verzichten! Die Tanzschuhe habe ich längst ausgezogen, Herr Harrang.“ Und das war vernünftig gesprochen.
„Aber dieses eine Mal könnten Sie sie wohl wieder anziehen. Sie werden schon noch passen!“
„Nein, nein,“ sagte Tante und schüttelte ganz energisch den Kopf, „sie kleiden mich nicht mehr. Wenn Sie aber den unbezwinglichen Drang fühlen, zu tanzen – hier steht mein Nichtchen in voller siebzehnjähriger Lebensgröße; es wird sicher nicht Nein sagen.“
Herr Harrang verbeugte sich tief vor mir, tiefer als vorher vor Tante. „Aber mit dem größten Vergnügen, wenn Fräulein Lafrenz mir die Ehre erweisen will. Ich hätte natürlich ohnehin noch darum gebeten.“ Und dann wandte er sich wieder zu Tante: „Aber einen Plaudertanz werden Sie mir nachher doch schenken?“
„Den können Sie bekommen, der verträgt sich mit meiner Tantenwürde,“ sagte Tante lachend, und dann führte Herr Harrang mich fort.
Ich fühlte mich sehr stolz, denn er hatte ja gesagt, er würde mich ohnehin darum gebeten haben, mit ihm zu tanzen, und mit einem berühmten Manne hatte ich noch nie getanzt. Ich wurde ordentlich rot vor Vergnügen. Und wie tanzte er! Gar nicht, als wenn er gegen vierzig Jahre alt sein könnte, sondern so flott und schwungvoll – ganz wie ein berühmter Mensch muß. Wulf Hegewisch tanzte vielleicht noch etwas besser, wenn ich genau vergleichen wollte, aber viel gewiß nicht.
Als er mich dann zu einem Sitz führte, wollte ich schon mit meiner Bitte um ein Autogramm herausrücken, denn nun kannte ich ihn doch gewiß gut genug dazu; da kam von selbst etwas viel, viel Besseres. Er beugte sich nämlich ein wenig zu mir nieder und sagte: „Fräulein Lafrenz, würden Sie sich wohl freundlich erbitten lassen, mir für ein Bild zu sitzen?“
Wie? – was? – was sagte er? – er wollte mich malen – mich, Wilhelmine Lafrenz? – Ich sollte auf eines seiner berühmten Bilder kommen? Mein Herz klopfte auf einmal ganz schnell.
„Ich sollte –“ sagte ich und mochte nicht vollenden. Ich konnte mich ja verhört haben.
„Ich male an einem Bilde, welches ,Frühling‘ heißen soll und in welches Sie mit Ihrer ganzen Erscheinung vorzüglich hineinpassen würden. Es wäre freilich eine sehr, sehr große Freundlichkeit von Ihnen.“
„Aber ich würde ja stolz darauf sein!“ sagte ich eifrig und glücklich.
„Nun, das ist hübsch von Ihnen; ich danke Ihnen bestens. Da hätte ich also nur noch Ihr Fräulein Tante zu bitten, ob ich zu den Sitzungen in ihr Haus kommen darf, und ob sie überhaupt die ganze Sache billigt.“
Nicht erlauben? Das konnte Tante mir nicht anthun! Wir gingen gleich, als der Tanz zu Ende war, zu ihr hin, und nach einigem Zögern sagte sie Ja. Es wurde gleich für den nächsten Morgen die erste Sitzung verabredet.
Herr Harrang blieb dann bei Tante zurück, und ich eilte zu Anneliese und ihren Freundinnen.
O, wie war ich glücklich und stolz, und wie beneideten mich alle, auch die, welche sagten, sie würden nicht eingewilligt haben an meiner Stelle, ja, die gewiß gerade am allermeisten! Und etwas muß ich noch erwähnen. Wir brachen überhaupt bald auf, aber Herr Harrang tanzte den ganzen Abend nicht mehr, nicht ein einziges Mal, nur mich allein hatte er gewählt, sowohl zum Tanz, wie auch für sein Bild! O, wie war ich stolz! Natürlich zeigte ich es nicht, das thut man ja nicht, aber darum empfand ich es nicht weniger. Auch schrieb ich es gleich am nächsten Morgen früh auf Ansichtskarten nach Hause und an Reseda.
Uebrigens kam es mir halb und halb so vor, als wenn der guten Tante die ganze Sache nicht eigentlich recht wäre, und dafür fehlte mir eine ausreichende Erklärung, denn um neidisch zu sein, dachte sie doch gewiß zu vornehm, das traute ich ihr nicht zu. Freilich, sie paßte in ein Frühlingsbild nun einmal nicht hinein, daran ließ sich nichts drehen und deuteln! Jung ist man nur einmal, und ich war es – Hallelujah!
Mein elegantestes Kleid wollte ich am nächsten Morgen anziehen; aber Tante wollte es nicht gestatten, sondern verlangte, daß ich in meinem gewöhnlichen Anzuge bleiben sollte, bis Herr Harrang in Bezug darauf besondere Wünsche geäußert hätte. Auch konnte sie – ach, wie altjüngferlich! – es nicht unterlassen, anzudeuten, daß es besser wäre, wenn ich mir den Kopf durch diese Angelegenheit nicht gar zu sehr verdrehen ließe. Sie sagte es freundlich und lächelnd, aber sie sagte es doch. Als ob ich überhaupt eitel wäre! Aber doch gar nicht!
Als Herr Harrang kam, bat er, im Garten malen zu dürfen. Tante hatte nämlich ein niedliches Gartenfleckchen. Denn, sagte er, auf dem Bilde würde die Mädchenfigur auch im Freien stehen. Vorläufig sei es nur eine Studie, die er später in passender Weise verwenden würde, und da es ihm vor allem auf den Kopf ankam, brauchte ich auch keine besondere Haltung anzunehmen oder ein anderes Kleid anzuziehen. Nur an meiner Frisur wollte er etwas geändert haben, und ich glaube, eigentlich wollte er das selbst machen; Tante führte es dann aber zu seiner Zufriedenheit aus.
Also gingen wir in den Garten hinunter, damit es ein
[857][858] „Freilichtbild“ würde, und Tante ging mit. Offen gesagt, ich fand das überflüssig, und es wäre mir unendlich viel interessanter gewesen, wenn sie nicht wie eine Ehrenwache dabei gesessen hätte. Herr Harrang natürlich bat es sich in seiner Höflichkeit sogar noch als besondere Gunst aus, was er ja auch eigentlich nicht gut unterlassen konnte, da Tante doch die Dame des Hauses war.
So kam es natürlich, daß er während der ganzen Zeit fast nur mit Tante sprach, die mit ihrer Handarbeit neben mir saß. Denn ich mußte selbstverständlich das Gesicht still halten, da wäre es nicht angegangen, sich viel mit mir zu unterhalten. Noch dazu mußte ich den Kopf halb zur Seite wenden, so daß ich nicht einmal beobachten konnte, wie mein Bild fortschritt. Jedoch konnte Tante das wohl auch nicht.
Am meisten sprach Herr Harrang selbst. O, und wie sprach er! Die halbe Welt hatte er gesehen und auf seinen Künstlerfahrten die interessantesten Dinge erlebt, von denen er uns nun erzählte, während er malte. Manchmal drehte ich unwillkürlich den Kopf herum, um ihn ansehen zu können, wie ich das immer so gern mag, wenn jemand erzählt, der so lebhafte Augen hat, die manchmal das Beste dabei thun, und oft ließ Tante ihre Handarbeit sinken, lehnte sich in den Gartenstuhl zurück und sah träumerisch mit ihren klaren Augen in den Himmel hinein.
Ich sah es, denn mein Gesicht war ihr zugewendet, und einmal ertappte ich mich sogar auf dem Gedanken, daß eigentlich auch sie wohl in ein Bild hineinpassen könnte, gerade so, wie sie in solchen selbstvergessenen Augenblicken aussah. Freilich müßte es nicht „Frühling“ heißen, sondern etwa „Spätsommer“, oder „Erinnerung“ oder „September“, oder so ähnlich.
Wenn sie so stille dasaß, das feine, klare Gesicht gegen das Licht emporgewendet, sah man recht, wie reizend sie gewesen sein mußte, als sie jung war, und gerade der leise Zug von Wehmut, der seit ein paar Tagen immer wiederkehrte, stand ihr gut.
Nach längerer Zeit wurde mir das Stillehalten des Kopfes aber doch lästig und ermüdend, und Tante bemerkte es und bat sofort um eine Ruhepause.
„Mit dem größten Vergnügen,“ sagte Herr Harrang. „Es ist ohnehin für heute genug; ich danke den Damen verbindlichst.“
Dabei fing er an, sein Malgerät ganz geschwind zusammenzupacken.
Natürlich sprang ich auf, schüttelte mich an allen Gliedern nach dem ungewohnten langen Stillehalten und wollte das Bild sehen, und auch Tante trat erwartungsvoll hinzu. Herr Harrang wehrte aber lachend mit beiden Händen ab.
„Heute noch nicht, meine Damen. Es ist eine kleine Eigenheit von mir, daß ich nichts zeige, ehe es einen gewissen Grad von Vollendung erreicht hat. Noch ein paar Sitzungen, und Sie werden dann schon besser urteilen können, ob es ähnlich wird.“
Tante beschied sich sofort, wenn auch sichtlich mit Bedauern; ich aber hätte gar zu gern gesehen, wie ich mich auf der Leinwand ausnahm. Da half jedoch kein Bitten und kein Schmollen; Herr Harrang blieb unerschütterlich, und wir bekamen wirklich nichts zu sehen.
Ehe er ging, erkundigte sich dann Herr Harrang noch sehr lebhaft, ob wir schon zusammen musiziert hätten, und als er hörte, das wäre allerdings geschehen, und wir hätten das Brahms’sche Duett geübt, bat er sehr, es ihm doch vorzusingen. Nun fand ich, daß wir dies sehr gut hätten thun können, denn der Sopran lag ausgezeichnet für meine Stimme, und nur an drei oder vier Stellen war ich noch nicht ganz sicher und mußte die Melodie in der Begleitung mitspielen. Tante aber erklärte, auch sie müßte auf einem gewissen Grade der Vollendung bestehen, ehe sie etwas vortrüge, und dann sang sie auf Herrn Harrangs Bitten, der nun einmal durchaus Musik hören wollte, mehreres allein, was er unter ihren Noten aussuchte.
Mir schienen es lauter unmoderne Sachen zu sein, aber freilich, Tante sang sie sehr schön. Ich hatte jedoch, daß ich’s nur offen gestehe, eine unangenehme Empfindung dabei, als wenn ich, die ich doch bei dieser ganzen Zusammenkunft eigentlich die Hauptperson war, von Tante geflissentlich in den Schatten gedrängt würde.
Nachmittags kam Anneliese und holte mich zum Spazierengehen ab. Sie war unbeschreiblich neugierig, wie alles sich zugetragen hätte, und ich erzählte ihr getreulich bis ins kleinste den ganzen Verlauf des Vormittags.
Anneliese wurde ganz still dabei.
„Helmi,“ sagte sie auf einmal, „glaubst du, daß er sich mit dir verloben wird?“
„Was sagst du, Anneliese?“ rief ich erstaunt, „wer soll sich mit mir verloben?“
„Na, wer anders als Herr Harrang? Denn siehst du, Helmi, er interessiert sich doch ganz offenbar für dich. Daß er dich malen will, ist sicher nur ein Vorwand.“
„Aber ich bitte sehr,“ sagte ich beleidigt, „warum soll er mich denn nicht für sein Bild –“
„Es ist neulich allgemein aufgefallen, daß er ein einziges Mal tanzte – und mit dir, nachher nicht mehr. – Weißt du, Helmi, man liest so oft in Romanen davon, daß einen gereiften Mann eine plötzliche Leidenschaft für ein so junges Mädchen überkommt; das ist gar nichts Seltenes! Wenn er dich nun zu seiner Frau haben wollte, würdest du Ja sagen, Helmi?“
Ich war ganz verblüfft. Dergleichen war mir wirklich noch nicht eingefallen! Aber nun, da Anneliese es sagte, kam es mir auf einmal keineswegs ganz unmöglich vor, daß sie recht haben könnte. Schon viel unwahrscheinlichere Dinge waren geschehen. Warum sollte ich denn einem bedeutenden Mann mit ausgeprägtem Schönheitssinn nicht gefallen? Oder vielmehr, warum sollte er sich nicht in mich verlieben? Denn daß ich ihm gefiel, war ja zweifellos.
„Würdest du Ja sagen?“ wiederholte Anneliese.
Ja – mein Gott – das konnte man doch so in der Eile nicht wissen! Es lag ja auch kein zwingender Grund vor, mich sofort darüber zu entscheiden, vorläufig hatte er selbst mich ja noch nicht danach gefragt. Aber ich kann nicht leugnen, eine ganze Reihe von Möglichkeiten stellte sich plötzlich vor mein geistiges Auge.
„Würdest du es thun, Anneliese?“ fragte ich etwas unsicher zurück.
„Ich? Ja, sofort!“ rief Anneliese begeistert. „Denke doch bloß, er ist berühmt! Eine Künstlersfrau zu sein, denke ich mir überhaupt reizend, aber nun gar die Frau von einem berühmten Künstler, der so himmlisch malt! Ja, gleich thäte ich es! Aber mich beachtet er garnicht. Ich bin ja auch eigentlich nicht hübsch,“ fügte sie bescheiden hinzu.
„Meinst du nicht, daß er sehr viel älter ist als ich?“ erwiderte ich zögernd. Denn bisher schwärmte ich ja auch für ihn, aber in dieser neuen Beleuchtung sah ich ihn doch etwas kritischer an. „Ach, Künstler sind nie alt!“ entgegnete Anneliese schwärmerisch. „Das sind ganz kleinstädtische Anschauungen. Es wäre doch lächerlich, wenn man einem Manne von so viel Geist und Bedeutung die paar Jahre anrechnen wollte. Und wie entzückend schon allein, sich mit siebzehn zu verloben, ganz wie in einem Roman! – Im wirklichen Leben kommt es fast nie vor.“
So redete Anneliese noch lange auf mich ein, ohne daß ich viel dazu gesagt hätte, denn der Gedanke, Herr Harrang könne mich heiraten wollen, war zu überwältigend neu, als daß ich mich gleich in ihm hätte zurechtfinden können. Ja, ich mußte sogar zuerst darüber lachen.
Jedoch denken mußte ich auch nachher, als ich wieder zu Hause war, viel daran, und ich hätte fast Lust gehabt, mit Tante Renate darüber zu sprechen. Die halbe Nacht, oder doch gewiß eine Stunde lag ich wach und wiederholte mir alles, was Anneliese gesagt hatte. Und sonderbar, ganz sonderbar war es, allmählich kam es mir gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor, daß sie recht haben könnte. Man hatte doch schon von viel seltsameren Dingen gehört. Jedenfalls beschloß ich, von nun an mehr auf Herrn Harrangs Benehmen, wenn er mit mir sprach, acht zu geben.
Ob ich Ja sagen würde, wenn er mich etwa fragte? Ich wußte es noch nicht.
[859] Die Frau eines berühmten Mannes sein, in München wohnen, gewiß jedes Jahr große Reisen machen, auf den herrlichen Künstlerfesten glänzen, bewundert, beneidet, angestaunt werden, was ja natürlich geschehen würde – ja, es schien sehr, sehr verlockend! Ich schwärmte ja auch für Herrn Harrang, natürlich – aber stürmisch klopfte mein Herz doch nicht, wenn ich an ihn dachte.
Das freilich stellte ich mir herrlich vor, wenn er mich leidenschaftlich lieb hätte und vor mir auf den Knieen läge und mich anflehte, seine Frau zu werden, und wenn ich dies alles nachher zu Hause Reseda und den anderen erzählen könnte, denn auf eine Ansichtskarte konnte man natürlich so etwas nicht schreiben! Aber ob ich Ja sagen würde, das wußte ich doch noch nicht.
Irgendwo in nebelhafter Ferne schien ein Paar hübscher, junger Augen zu leuchten, die nicht sein waren. Und während ich dies empfand, schlief ich ein.
(Schluß folgt.)
Mit dem Fuße.
Auf Jahrmärkten und Messen oder im Cirkus treten von Zeit zu Zeit Artisten auf, die mit ihren Füßen allerlei Hantierungen verrichten. Sie werden von dem Publikum angestaunt, denn der Fuß wetteifert bei ihnen in der Geschicklichkeit mit der Hand; mehr Befriedigung gewährt es uns allerdings, wenn wir sehen oder erfahren, wie Unglückliche, die ohne Arme geboren wurden oder im frühesten Alter die Hände verloren haben, sich durch einen geschickten Gebrauch der Füße fortzuhelfen wissen. Unter ihnen giebt es sogar nicht unbedeutende Künstler, wie z. B. Maler, deren mit dem Fuße gemalte Bilder selbst einer strengen Kunstkritik standhalten. Bei den Völkern der weißen Kulturrasse bilden die Fußkünstler eine Seltenheit; sie hat darauf verzichtet, den Fuß als Greiforgan auszubilden, und ihn lieber in ein beengendes, unpassendes Schuhzeug eingezwängt.
In anderen Weltteilen denkt man anders darüber. Von verschiedenen Jndianerstämmen Amerikas und einzelnen Negerstämmen Afrikas wird berichtet, daß sie sich zu verschiedenen Hantierungen auch der Füße bedienen. Vor allem aber ist diese Wertschätzung der Ausläufer der unteren Gliedmaßen seit jeher in dem fernen Osten Asiens gewürdigt worden. Dort arbeitet man in verschiedenster Weise mit dem Fuße.
Die vornehme Chinesin allerdings muß der tyrannischen Mode zuliebe ihre Füße verkrüppeln; die Japanerin aber kennt kaum die beengenden Fesseln des Stiefels und erfreut sich eines wohlgeformten und gelenkigen Fußes. Bei den Japanern zeichnet sich die große Zehe durch Beweglichkeit und Kraft aus, sie kann an die Nachbarzehen fest angedrückt werden und verschiedene Gegenstände greifen. So pflegt auch die Japanerin, wenn sie näht, den Stoff mit dem Fuße festzuhalten und zu spannen. Man erzählt auch von den japanischen Schönen, daß sie mit ihren Füßchen recht empfindlich zu kneipen vermögen.
Wandert man in Ostasien an den Ufern eines Stromes, so kann man hin und wieder sehen, wie die Fischer die Angelrute mit dem Fuße halten und mit den Händen irgend eine Arbeit verrichten. In den Werkstätten der Weber und Töpfer überrascht uns dasselbe Bild, der fleißigen Hand kommt behend und geschickt der Fuß zu Hilfe. Nach unserem Geschmacke ist es aber nicht, wenn wir in die Küche treten und sehen, wie der Koch aus der gelben Menschenrasse mit dem Fuß Teller auf den Tisch stellt. Die kleinen gelben Diener in den Hotels sind wahre Fußkünstler. Stühle und Sessel rücken sie zurecht, indem sie dieselben zwischen die Zehen packen; vom Fußboden und Teppich heben sie auch die kleinsten Gegenstände, selbst eine Stecknadel, mit dem Fuße auf. Viele Ostasiaten greifen, wenn sie zu Pferde sitzen, einen Arm des Steigbügels zwischen die Zehen und gewinnen auf diese Weise festeren Halt; von den Matrosen der japanischen Kriegsmarine wird erzählt, daß sie nach Affenart in die Rahen klettern, indem sie die Füße als Greiforgane benutzen. Ja es giebt in Japan Gelehrte und Künstler, die zur Bequemlichkeit und Abwechslung die Hand ruhen lassen und nun mit dem Fuße schreiben, malen oder musizieren.
Dieser eigenartige Gebrauch der unteren Extremitäten ist vor allem in Annam üblich. Schon in uralten Zeiten nannten die Chinesen jenes Land das Reich der Leute mit freibeweglichen Zehen, und die Annamiten bezeichnen sich häufig selbst als Giao-chi, was so viel wie „Freizeher“ bedeutet. Es giebt in China eine Legende über den Ursprung der Annamiten; in derselben wird unter anderem erzählt, daß einer der Stammväter dieses Volkes sich mit der Tochter eines Meerdrachens vermählt habe.
Von dieser Ahnfrau sollen nun seine Nachkommen als Erbteil den Greiffuß beibehalten haben, der an die Krallen des rätselhaften Seegeistes erinnert. In Ko-lau, in “der Landschaft Kham-Chau, befindet sich eine Säule, die im ersten Jahrhundert nach Chr. errichtet wurde, und eine Inschrift auf ihr lautet:
„Dong tru chiet
Giao-chi diet,“
d. h. wenn diese Säule fällt, wird das Volk der Freizeher zu Grunde gehen.
Diese und andere Thatsachen beweisen, daß die Annamiten schon in uralten Zeiten durch ihre Greiffüße in Ostasien Aufsehen erregten. Der französische Reisende Paul d’Enjoy hat neuerdings eine interessante Vermutung ausgesprochen. In dem großen Nationalepos der Inder, „Ramayana“, das in sagenhafter Vorzeit spielt, wird von Kämpfen mit Affenvölkern erzählt. Als König Rama seine Gemahlin Sita aus den Händen des Dämonenkönigs Rawana auf Ceylon befreien wollte, wurde er in den langwierigen Kämpfen von dem Affenkönig Sugriva und dessen Minister Hanumant unterstützt. d’Enjoy meint nun, in der indischen Sage handle es sich um eine dunkle Erinnerung an Begegnungen mit dem Volke der Freizeher, das den Indern als eine Art Vierhänder oder Affen vorgekommen wäre.
Man könnte den alten indischen Dichtern aus einem derartigen Gedankengange keinen Vorwurf machen, denn bis in die jüngste Gegenwart hielten Gelehrte nicht selten derartige mit dem Fuße arbeitende Rassen für Vierhänder unter den Menschen und meinten, daß man in ihnen niedrigstehende Wesen erblicken müsse, denen noch ein Affenerbteil anhafte. Diese Annahme ist jedoch durchaus nicht stichhaltig. Charakteristisch für die Hand ist die Eigenschaft, daß der Daumen den anderen Fingern gegenübergestellt werden kann, wodurch sich eben die Hand zu einem vollkommenen Zangenwerkzeug gestaltet. Bei dem Affenfuß ist diese Fähigkeit des Daumens in hohem Maße ausgebildet, und mit vollem Rechte wird darum der Fuß des Affen Hinterhand genannt. Einige Reisende behaupteten nun, daß bei den Ostasiaten Füße vorkämen, deren große Zehe den übrigen gleichfalls gegenübergestellt werden kann. Diese Beobachtungen beruhten jedoch auf Irrtum. Anatomisch geschulte Forscher konnten bei den betreffenden Volksstämmen eine gegenüberstellbare große Zehe nicht finden, sondern nur eine größere Beweglichkeit derselben im Abspreizen und Beugen feststellen. Der Fuß der Indianer, Neger und Annamiten ist ebenso wie der Fuß der Völker der weißen Rasse gebaut, und alle Kunststücke, welche die Ostasiaten mit ihren Greiffüßen vorführen, könnte nach gehöriger Uebung auch ein mit wohlgeformten Füßen versehener Europäer fertig bringen. So gehören denn „Vierhänder unter den Menschen“ ebenso wie geschwänzte Menschenrassen in das Reich der Fabel. Auch der „wildeste“ Mensch ist von den Affen durch eine ebenso weite Kluft getrennt wie der Europäer. Mit Recht erklärt der berühmte Anthropolog Ecker, „daß nur beim Menschen die Teilung der Arbeit zwischen Vorder- und Hinterextremitäten vollkommen durchgeführt ist: nur der Mensch hat Hand und Fuß*, ein Ausdruck, den der Deutsche bekanntlich zur Bezeichnung hoher oder höchster Vollkommenheit ganz im allgemeinen gebraucht.“
[860]
Airolo und die Stalvedroschlucht.
Der Zug rasselt und prasselt mit metallischem Getöse durch den Gotthardtunnel. Zwanzig Minuten dauert die Fahrt im Unterirdischen. Wir vergegenwärtigen uns, was an Wassern hoch über unsern Köpfen schäumt, an Bergen sich darüber türmt. Erstlich die unter der Teufelsbrücke hindurch polternde Reuß, dann der St. Annagletscher jenseit des grünen Plans von Andermatt, dann die fast 3000 m hohen Gipfel des Kastelhorns und Tritthorns, die sich ungefähr über der Mitte des Tunnels erheben, darauf der in stiller Gebirgsöde träumende Sellasee. Jetzt, nachdem wir schon zwei Drittel des Tunnels zurückgelegt haben, neigt sich der bisher sanft ansteigende Zug, mit leichtem Gefälle geht es dem Tunnelausgang zu, die Räder ersausen über dem Viertelkreis einer Kurve, die die Bahn aus dem von Norden nach Süden verlaufenden schnurgeraden Tunnel in das von Westen nach Osten gerichtete Livinenthal hinausführt. Zwischen hohen Böschungen blitzt der Tag herein – noch zwei Stöße der Lokomotive – wir sind in Airolo, der auf 1144 m Meereshöhe gelegenen Südstation des Gotthardtunnels. Zur Rechten schnellt der junge Tessin an uns vorbei, zur Linken liegt, an die alte Gotthardstraße hingereiht, in etwas erhöhter Lage das Dorf mit echt italienischer Silhouette unter den verwitterten Felsen des Sasso rosso.
Die südliche Bauart der Häuser, die Thürbogen und Loggien und die Sprache der Bewohner sind das einzige, was uns daran mahnt, daß wir in „Südeuropa“ sind. Die Natur des Hochthales aber ist nicht milder als die irgend einer Alpengegend im Norden, höchstens eine stärkere Lichtfülle der Luft giebt der Phantasie der Reisenden recht, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit jenseit des Gotthards gleich Italien „riechen“ wollen. Es kann sogar geschehen, daß über dem Nordportal des Gotthards blendender Sonnenschein fliegt, uns aber Airolo auch im Sommer mit einem Schneegestöber empfängt, das einer deutschen Weihnacht alle Ehre machen würde. Vom Oktober bis in den Mai liegt das Dorf im Schnee, oft unter dem Schnee, denn es fallen hier unglaubliche Massen, so daß manchmal die Schneedämme zu beiden Seiten der Gotthardbahn den Rauchfang der Lokomotive überragen. Dazu giebt es 20 und mehr Grad Kälte. Airolo ist, von der Sonne überleuchtet, ein unvergleichliches Winterbild. Von Zeit zu Zeit aber unterbricht der Schreckensruf des Unglücks die starre Ruhe. Es hat weit und breit im Alpengebiet kaum ein Dorf mit einer so großen Chronik von Lawinen-, Bergsturz- und Brandunfällen aufzuwarten wie Airolo. Im Jahr 1877 ist es fast vollständig abgebrannt, in den ersten Tagen des Jahres 1895 haben Lawinen, in den letzten des Jahres 1898 ein Bergsturz vom Sasso rosso eiueu Teil seiner Häuser und je auch einige Menschenleben vernichtet und der Ort schwebt in ewiger Gefahr.
Umsonst aber hat man den fast 4000 Einwohnern schon den Gedanken nahe gelegt, die Heimstätten preiszugeben und sich nicht weit vom alten, im sicheren Schutz vor Lawinen und Steinschlag, ein neues Dorf zu gründen. Sie hangen an dem Fleck Erde, wo die Eltern und Voreltern gewohnt haben, und ob ihm die Gotthardbahn die ehemaligen Lebensquellen, die mühselige Offenhaltung der Gotthardstraße in Sturm und Schnee und den Fuhrdienst über den Paß, entzogen hat, ob die Naturgewalten es immer und immer wieder schädigen, so versteht es das zähe Bergvolk doch, dem Dorf das Gepräge schöner Wohlhabenheit zu bewahren. Viele Airolesen verdienen in der Fremde mit Fleiß und Sparsamkeit in Jahrzehnten ein kleines Vermögen, das sie später behaglich in ihrer Heimat verzehren, und seit Jahren lockt das sonnige, ruhige und frische Dorf, das aus der Zeit des Paßverkehrs eine Reihe alter guter Gasthöfe besitzt, im Sommer eine wachsende Schar von Bergfreunden an. Es ist Ausgangspunkt für eine Anzahl sehr dankbarer Ausflüge und Bergtouren im schönheitsreichen Gotthardgebiet. Und malerisch belebt sich der Ort hier und da mit Abteilungen der Festungstruppen des Gotthards, von dessen Flanken zwei Forts, Stuei und Fondo del Bosco, auf Airolo niedergrüßen. Die seitwärts auf dem Kopf ruhende baskische Mütze und der starke Bergstock, der sich zu dem Gewehre gesellt, kennzeichnen die braungesengte Mannschaft, die in Sonne und Wind, in Nacht und Wetter einen überaus harten und gefährlichen Dienst verrichtet.
Airolo ist nur ein flüchtiger Augenblick auf der Fahrt über den Gotthard und der Schnellzug hält seinetwegen nicht einmal an. Horcht man genau auf den Schlag der Räder, so singen sie in einförmiger Kraft: „Südwärts – südwärts!“ Nach der Hochgebirgsidylle von Airolo führt uns die Bahn in die Stalvedroschlucht, deren zerklüftetes Gestein in abenteuerlicher Weise die Gestalt riesenhafter Schloßruinen nachahmt und treffliche Theaterdekorationsvorbilder für die Ausstattung von Raubritterstücken liefern kann. Feucht und kühl weht der Wasserstaub des Tessins über kletternde Tannen zu der hohen Brücke empor, auf der der Zug über den nördlichen Eingang der Schlucht setzt, und eine Weile ist uns, die Naturbilder im Süden des Gotthards seien nur eine Fortsetzung dessen, was wir an Schlucht und Fels schon zur Genüge auf seiner Nordseite genossen haben. Doch getrost! Die Stalvedroschlucht ist die letzte nordische Episode der Fahrt, in raschem Flug erreichen wir Gegenden, wo wir nicht nur mit dem geographischen Bewußtsein, sondern mit Auge und Herzen im Süden sind. Bei Faido gelangen wir schon in den Bereich der Walnußbäume und Edelkastanien, bei Giornico klettert schon der Wein an Feigenbäumen empor, und in den Gärten von Bellinzona, das nur eine Schnellzugstunde unterhalb Airolo liegt, behält Konrad Ferdinand Meyer recht:
„Nun, Herz, beginnt die Wonnezeit
Auf Wegen und auf Stegen,
Mir strömt ein Hauch von Ueppigkeit
Und ew’gem Lenz entgegen.“
J. H.
Winterwohnung und Winterschlaf in unserer höheren Tierwelt.
Der rauhe Winter ist ein grimmiger Feind alles Lebens. Viele Tiere suchen ihm darum zu entfliehen; die einen, wie namentlich die Zugvögel, verändern ihre Wohnplätze, andere wieder verfallen während der Winterszeit in einen lethargischen, dem tiefen Schlafe ähnlichen Zustand. Die Schnecken, die meisten Insekten, die Kriechtiere und Lurche halten den Winterschlaf, aber auch unter den höher organisierten Säugetieren giebt es eine Anzahl von Arten, die auf diese Weise in oft kunstvoll gebauten „Wohnungen“ den Gefahren der rauhen Jahreszeit auszuweichen suchen.
Das Treiben dieser Geschöpfe zählt zu den seltsamsten und anziehendsten Abschnitten des Tierlebens, und eine kurze Uebersicht der wichtigsten Vertreter der Winterschläfer in der Heimat wird wohl vielen Tierfreunden unter unseren Lesern willkommen sein.
Zunächst wollen wir die Centralalpen Europas aufsuchen, um einen der längsten und tiefsten Winterschläfer kennenzulernen.
Das Alpenmurmeltier, mit der Schneemaus der letzte Vertreter höheren animalischen Lebens in der Eis- und Schneeregion. hält in unserer Tierwelt den längsten und starrsten Winterschlaf: acht Monate hindurch. Es muß großen Fleiß gegen Ende der kurzen, fröhlichen Sommerzeit anwenden, um sich seine Winterwohnung zu bauen. Das liebenswürdige, drollige Tier hat die Größe eines starken Hasen, ist durch zwei Paar gewaltiger, vorn goldgelber Nagezähne, kräftige Grabfüße, dichte und rauhe Behaarung vortrefflich zu seiner großenteils unterirdischen Existenz ausgerüstet. Den Sommer hat es in den höchsten, einsamsten Regionen verbracht, Ende August zieht es wieder etwas tiefer und legt, immer noch hoch über der Waldgrenze, den Winterbau an. In durchgängig größeren Gesellschaften wühlen die Murmeltiere eine meist sehr lange Hauptröhre bergein. anfangs etwas abwärts, dann geradeaus, oft aber auch in Windungen zwischen Felsen und Gestein dahinführend, am Schlusse dann stets wieder etwas nach oben steigend. Diese Röhre wird kurz nach dem Eingange schon so enge, daß man kaum eine mittlere Mannesfaust durchzwängen kann. An ihrem Schlusse nun erweitert sie sich zu einem geräumigen Kessel, der Wohnung. Die ganze Grabarbeit wird sehr sauber ausgeführt, nur wenig losgewühlte Erde herausgeschafft, zum größeren Teil wird sie in dem langen Gange und einzelnen, scheinbar zwecklosen kurzen Seitengängen verteilt und festgetreten. Die Zahl dieser Seitengänge ist sehr verschieden. Stets ist einer vorhanden, und zwar kurz nach der Einfahrt. Diesem folgen manchmal 2 bis 3, manchmal 10 und mehr kürzere und längere Seitenkanäle, offenbar haben die Tiere hier zu starken Widerstand, wie z. B. Steinboden, gefunden und den Gang dann aufgegeben. Der Kessel, die Winterschlafkammer, liegt etwa 30 bis 40 cm unter dem Erdboden, manchmal auch doppelt so tief, ist gar sauber mit kurzem, trockenem Heu ausgepolstert und enthält einen Vorrat von Gras und Kräutern aufgestapelt, welchen das Murmeltier in wochenlangem, klugem Fleiße eingetragen hat und der oft so groß ist, daß ein Mann ihn nicht wegtragen kann. Selbstverständlich trägt das Murmeltier den Vorrat mit dem Maule zusammen: Plinius ist der Erfinder des lustigen Märchens, das sich bis heute erhalten hat und heute noch geglaubt wird: „die Alpenmäuse (Murmeltiere) schaffen das Futter so in ihre Wohnungen, daß sich
[861][862] eine auf den Rücken legt, mit Heu beladen wird und dasselbe festhält, während andere sie mit den Zähnen am Schwanze packen und in den Kessel ziehen, daher sehe der Rücken so abgerieben aus.“ – Sowie nun, meist schon zu Anfang Oktober, kaltes, rauhes Wetter eintritt, fahren die Murmeltiere ein und verstopfen die Röhre mit einer richtigen Mauer von Heu, Erde und Steinen, welches Material höchstwahrscheinlich von jenem ersten Seitengang kommt, der sich in jeder Winterwohnung findet. Nun schlafen die Tierchen ein und der Schlaf geht bald in Erstarrung über. Die Temperatur im Kessel hält sich gewißlich auf + 8 bis 9° R. Wie sehr diese bewohnte Höhle Wärme ausstrahlt, beweist der Umstand, daß der erste, leichte Schnee auf dem Rasen über ihr nicht bleibt; leider verrät der große grüne Fleck inmitten der Schneedecke dem Murmeltiergräber nun sofort die Stätte seines schlummernden Wildes. – In dieser ganz behaglichen Temperatur liegen die Murmeltiere im völligen Scheintod, es ruhen die Funktionen der Verdauung und Absonderung, schwach, kaum merklich findet Atmen und Blutumlauf statt. Die Blutwärme sinkt auf nur 71/2° R.
Das Erwachen findet meist Ende April statt, bei spätem Frühlingseintritt gar erst Anfang Mai; es bedarf einer ziemlich hohen Temperatur, die Schläfer zu wecken; sie sind nicht sofort mobil, sondern die Glieder sind anfangs starr und steif, die Gehirnthätigkeit erwacht ebenfalls erst allmählich.
Aehnlich fest wie die Murmeltiere schlafen auch die Bilche oder Schlafmäuse, doch tritt jene völlige Erstarrung bei ihnen nicht ein. Der den Obstgärten und der Singvogelwelt so sehr schädliche Siebenschläfer, welcher dem nördlichen Deutschland fehlt, trägt seinen Namen mit vollem Rechte. Kleiner als unser Eichhörnchen, etwa von Rattengröße, ist der hübsche Bursche oben einfach blaugrau, mit dunklerem Ring um die Augen, unten milchweiß, der Schwanz ist wie beim Eichhorn dicht zweizeilig bebuscht. Der Siebenschläfer, gleich seinen Verwandten durchaus Nachttier, ist aus diesem Grunde wenig bekannt; seine gewaltigen Räubereien in den Obstgärten, in den Vorratskammern der Häuser werden meist harmloseren Dieben zugeschrieben, er selbst wird zu wenig verfolgt. Wie häufig habe ich Mäuse, allerlei Vögel, sogar Nachbarsleute und Kinder des frechen nächtlichen Obstdiebstahles verdächtigen hören, während am Boden unter den Obstbäumen die unverkennbaren Zeichen von des Siebenschläfers oder der nahe verwandten Großen Haselmaus Anwesenheit lagen: am Stiele angefressenes und durch Zerbeißen des Stieles vom Baume geworfenes Obst, das auf den benagten Flächen die Doppelfurchen der Nagezähne des Frevlers zeigte. Um ihm das Handwerk zu legen, muß man sich in den Mondnächten mit der Flinte unter dem fruchtreichsten der heimgesuchten Obstbäume regungslos aufstellen, die kleinen Körper der Bilche heben sich scharf von den Aesten ab und lassen sich leicht herunterschießen. Das Heim schlägt der Siebenschläfer in dichten Eichen- und Buchenwäldern mit viel Unterholz auf. In einem hohlen Baume oder im Gestein richtet er seine Vorratskammer ein; zuweilen wählt er auch eine dem Walde nahe gelegene Scheune oder den Dachboden eines Bauernhauses. Ohne alle Kunstfertigkeit legt er an diesen Orten auch die Winterwohnung an, in welcher er sich ein Bett aus weichem Moose zurecht macht. Er hat nicht viel Zeit hierzu, denn die Aufgabe, sich zu mästen, bis er in Fett strotzt, nimmt ihn ganz in Anspruch. Ebenso schnell fertig ist er mit der Wiege seiner Jungen, zu welcher er mit Vorliebe ein großes verlassenes Vogelnest wählt, das er aber stets bis auf das Einschlupfloch überdeckt. Die 4 bis 6 Jungen werden in der ersten Hälfte des Juni geboren. Schon Anfang Oktober beginnt der Winterschlaf, der bis April währt. Im Gegensatz zu dem Murmeltier fällt der Siebenschläfer nicht in völlige Erstarrung, erwacht bei mildem Wetter häufig stundenweise und knabbert dann an seinen Vorräten. Gleich dem Murmeltier aber liebt er es, in Gesellschaft den Winterschlaf zu verbringen.
Im streitsüchtigen, beutegierigen und naschhaften Wesen ihm ganz gleich, in der Gestalt ähnlich, doch etwas kleiner, ist die Große Haselmaus, auch Gartenschläfer genannt. Sie ist oberhalb rötlichbraungrau, unten weiß; von der Oberlippe um die Augen, unter den Ohren bis an die Halsseiten zieht sich ein schwarzer Streifen, vor und hinter den Ohren steht ein weißer, an der Schulter ein schwarzer Fleck. Der buschige Schwanz ist oben rötlich und schwarz, unten weiß. Bei aller Gleichheit der Lebensweise ist die Große Haselmaus viel gewandter als der etwas plumpe Siebenschläfer, auch viel kunstfertiger im Wohnungsbau. Sie erbaut an den gleichen Orten wie der Siebenschläfer ihr Winternest, doch stellt sie dasselbe in der Form einer nur unten abgeplatteten Kugel recht sauber aus Moos, Reiserchen und Würzelchen, Eichen- und Buchenlaub her, polstert es darauf innen weich und tief mit Tierwolle aus. Größere Gesellschaften liebt sie offenbar nicht, meist scheint sie paarweise zu überwintern.
Ganz im Gegensatze zu diesen schädlichen, höchst unliebenswürdigen Bilchen lernen wir eine dritte Schlafmaus in Gestalt der allerliebsten, harmlosen, zutraulichen Kleinen Haselmaus kennen, die merklich kleiner als unsere Hausmaus ist. Von ihrem Sündenregister ist in erster Reihe der Mord junger Singvögel und Eierdiebstahl zu streichen, sie läßt sich beides nicht zu Schulden kommen; ihre Diebereien im Obstgarten sind geringfügiger Natur, nur bei zahlreichem Auftreten kann sie dort empfindlich schaden; ihr nächtliches, fröhliches Leben verbringt sie größtenteils im dichten Haselgebüsch. Hier allerdings haust sie unter den Nüssen, als wären diese nur für die kleinen Haselmäuschen geschaffen. Von Nüssen, wie von Eicheln, sammelt sie auch einen Wintervorrat, versteckt ihn unter dürrem Laub, in Gestein, Erdlöchern. Jedes Mäuschen für sich allein baut sich dann in der Nähe dieses Vorrats, sowie des Oktobers rauhe Tage kommen, ein sehr hübsches Winternest. Das Nestchen hat höchstens 10 cm im Durchmesser, liegt in einer muldenförmigen Erdvertiefung und ist kugelrund, ungemein sauber, nett und zierlich ausgearbeitet. Bandgras, feinzerschlitzte Bastschnüre von weichen Hölzern, fest verkittet mit dem Speichel des Tierchens, halten die Kugel aus Laub, Moos und Tierhaaren zusammen, in welcher gar warm, selbst zu einer kaum 3 cm starken Kugel zusammengeballt, das Mäuschen liegt. Wiederum zeigt dieser Winterschlaf merkwürdige Abweichungen. Obschon das kleine Geschöpf sehr tief schläft und sicher nur in den seltensten Fällen erwacht, hört es doch alles und giebt dies – im tiefsten Schlafe, scheinbar erstarrt – durch sehr wohl vernehmbares Pfeifen kund. Dieses Pfeifen verrät sogar oft den winzigen Schläfer. Setzen wir die schlafende Maus einer Kälte unter 0 Grad aus, vor welcher sie naturgemäß in ihrem warmen Neste geschützt ist, so erwacht sie und frißt sofort; steigern wir die Kälte, so stirbt das Tier. Am allerruhigsten, in 30 Minuten etwa vierzigmal, atmet es bei 12° C. Wärme, dies scheint also die normale Temperatur im Neste zu sein. Bei 18° C. Wärme erwacht das Mäuschen, wird munter, sogar lustig, legt sich aber nach einigen Stunden auf lange Zeit wieder schlafen, doch ist der Schlaf jetzt leise; er vertieft sich, sowie die Wärme sinkt. Den Sonnenstrahlen ausgesetzt, verfällt die schlafende Maus bald in nervöses Zittern, dann bietet sie ihnen, ohne zu erwachen, den Rücken und schläft weiter. Auch im tiefsten Schlafe ist das Empfindungsvermögen, das Schmerzgefühl rege, schon auf Nadelstiche hin äußert sich dasselbe durch Knurren und Zucken.
Eine große Anzahl Sagen, Schwänke, Vorurteile, kräftigstes Jägerlatein knüpfen sich an einen der größten Winterschläfer in der deutschen Tierwelt, an den Dachs. Und dieser Märchenkranz hat sein naturgeschichtliches Bild sehr getrübt. Grimmbart ist wirklich ein „verkannter Freund“; der starke Geselle, einem kräftigen mittleren Hunde an Größe gleich, nährt sich nahezu ausschließlich von Engerlingen, Regenwürmern, Schnecken, gräbt die Hummel- und Wespennester aus, um zu deren larvenreichen Waben zu gelangen, fängt Wald- und Feldmäuse in sehr großer Zahl. Schädlich könnte er nur zur Herbstzeit in Weinbergen werden, da er die reifen Trauben über alles liebt. Vogelnester an der Erde raubt er ohne Zweifel aus, doch nur im Vorübergehen; sicher sucht er nicht nach ihnen. Für diese wenig lohnende Suche ist er zu bequem; höchstens in zahlreichen Rebhühnerbeständen könnte er größeren Schaden anrichten, doch das Rebhuhn liebt die Ebene, der Dachs meidet sie, so kommen sie schwerlich sich zu nahe. Dagegen frißt er im Vorübergehen auch jede Schlange, insbesondere die Kreuzotter; im äußersten Notfalle sucht er Wurzeln. Zu den Märchen gehört, daß er in Waldsaaten Schaden anrichte: der Dachs sucht dort nicht Eicheln und nicht Bucheln, ganz gewiß niemals Fichtensamen; was er [863] nächtlicherweile in der Waldsaat jagt, das sind Würmer, Engerlinge und Mäuse. Jägerlatein ist, daß der Dachs mit seiner Schnauze die Regenwürmer aus der Erde steche, er gräbt sie natürlich mit den scharfen, langen Nägeln der Vorderpfoten aus der Erde, sowie sein scharfer Geruchssinn sie und anderes Gewürm, insbesondere Engerlinge, entdeckt. Im Herbste sammelt der Dachs auch einen nicht sehr großen Vorrat abgefallenen Obstes in seine unterirdische Burg, in die er gewaltige Haufen dürren Laubes für ein möglichst behagliches Ruhebett trägt. Während uns nun Grimmbart in seinem – meist nächtlichen – Lebenswandel den Eindruck eines herzlich stumpfsinnigen, mürrischen, dabei sehr faulen Gesellen macht, ändert sich dies Bild völlig, betrachten wir die Glanzleistung seines Daseins, seine Burg. Mit Ausnahme der sehr kurzen Liebeszeit, die bei jüngeren Dachsen Ende Juli, Anfang August, bei alten Dachsen in den Oktober, niemals später, fällt, lebt der Dachs als Einsiedler.
Das Gebirge, wie das waldbesetzte Hügelland, wo felsige Halden mit zerklüftetem Gestein ihm anziehende Punkte sind, bilden des Dachses Heimat. Dort treibt er, an möglichst wenig gestörten Orten, seinen Bau gewöhnlich 2 bis 3, aber auch 6 bis 8 m weit in die Tiefe. Vorsicht und Tapferkeit sind des Dachses Tugenden, in der Anlage seiner Burg waltet nur die erste. Er kann nicht genug Röhren haben, die in die Tiefe und aus derselben führen, damit ihm ein sicherer, unbemerkter Rückzug aus seiner Burg gewährt sei. Die Röhren führt er auch noch sehr gewunden und verzweigt, um dem Feinde das Eindringen zu erschweren. Außer diesen Einfahrtsröhren legt der Dachs auch noch einen Luftschacht, in sehr großen Bauen deren mehrere, in Gestalt einer engen, senkrechten Röhre an. Der Kessel selbst, „die Burg“, ist sehr geräumig, glatt und sauber ausgearbeitet und weist einen thatsächlichen – Abtritt, ein eigens hierzu gegrabenes Nebenkabinett, auf. Wo viele Dachse sind, entsteht Bau um Bau, die sämtlich durch eigene Röhren miteinander verbunden sind und mit ihren vielen Haupt- und Nebengängen ein unterirdisches Straßennetz bilden. Die als feinsinnige Beobachter des Tierlebens wohl bekannten Gebrüder Müller, denen die älteren Jahrgänge der „Gartenlaube“ so manchen wertvollen Beitrag verdanken, haben den Dachs des öfteren bei seinem Grabgeschäfte beobachtet, sie schreiben darüber: „Er gräbt die Erde kreuzweise mit seinen stark nägeligen Pfoten, mit welchen er, so lange er noch oberflächlich arbeitet, die losgekratzte Erde erst mit den Vorder-, sodann mit den Hinterläufen hinter sich schleudert. Mehr in die Tiefe gedrungen mit der Anlage der Röhre, schiebt er mit seinem breiten Hinterteile den angehäuften Schutt der Röhre rückwärts hinaus. Besondere Mühe und Arbeit verwendet er auf Formgebung und Ausstattung des Kessels. Zur Anlage desselben kommt er beim Graben einer neuen Burg erst nach Wochen. Die durch Graben, Schaufeln und Glätten gehörig ausgeweitete Stelle versieht er im Spätherbste mit einer Auspolsterung von Laub, Moos, Gras und Farrenkräutern, welche Stoffe wir ihn auf die umständlichste und oft possierlichste Weise in den Bau schaffen sahen. Er bringt auf ebenem Terrain gewöhnlich dieses Material mit den Vorderpfoten unter Bauch und Hinterläufe, schreitet so beladen rückwärts nach der ersten Röhre, dreht sich dann um und schiebt die Ladung mit dem Vorderteile vor sich den Bau bis zum Kessel hinunter. An abhängigem Boden verfährt er anders, indem er das vorher zusammengescharrte Laub zwischen die armartig zusammengehaltenen Läufe bringt und damit rücklings nach einer Röhre des Baues rutscht.“
Ist auch diese Arbeit vollendet, so ist der Dachs „eingemoost“, wie der Weidmann sagt; nun braucht nur des Winters Strenge einzusetzen, so verfällt auch der Dachs in Winterschlaf. Er liegt, zusammengerollt, auf der Stirn, den Sohlen und den Fersen seiner Hinterläufe. In strengen Wintern schläft er vom November bis zum Februar, braucht dann keine oder nur wenig Nahrung, die er bei kurzem Erwachen dem aufgestapelten Obstvorrate entnimmt. In milden Wintern unterbricht er seinen Schlaf sehr oft, insbesondere um zu trinken; er kommt dann auch tags zum Vorschein, säuft am Bach oder an einer nahen Quelle und sucht auf nahen Wiesen nach Regenwürmern und Engerlingen. Gesättigt, schläft er wieder tagelang, um, sobald Kälte eintritt, ganz fest weiterzuschlafen.
Des Zigeuners Lieblingsbraten, der treffliche Igel, als Vertilger der Kreuzotter ein gar nützliches Geschöpf – wo diese nicht mehr vorkommt, immer noch als Verzehrer von Mäusen, Engerlingen, allerlei Würmern und Insekten recht nützlich, hat unter unserem Klima schwer zu leiden. Strenge Winter haben ihn schon örtlich ausgerottet, wenn sie früh eintraten. Denn der Igel entschließt sich erst spät zum Winterschlaf, Ende Oktober beginnt er mit der Herrichtung der Winterwohnung. Mit Vorliebe wählt er hierzu einen verlassenen Fuchsbau, die Seitenröhre einer Dachsburg, einen hohlen Baum oder ein Loch im Steingeklüfte – kann er das alles nicht finden, recht dichte Hecken. Und nun wälzt der drollige Kamerad sich auf seinem Stachelrücken im dürren Waldlaube, bis alle Stacheln mit aufgespießtem Laube gefüllt sind, und trägt diese leichte Last zu seiner Ruhestätte. Dort senkt und sträubt er den Stachelpanzer einige Male auf und nieder, und rasch hat er durch dieses Manöver sich seiner Last entledigt. Er trägt in ziemlich kurzer Zeit einen großen wirren Haufen Laub und Moos herbei. Plinius behauptete schon, daß der Igel auch auf Obst sich wälze und so dasselbe heimtrage, in den meisten Naturgeschichten finden wir diese Behauptung wiederholt. Ich habe sehr viele Igel sowohl gefangen gehalten, als auch in den Garten „verpflanzt“ und durch möglichste Verhinderung der Wiederauswanderung oft lange Zeit hier festgehalten, allein ungeachtet der reichlichsten Gelegenheit konnte ich das Anspießen des abgefallenen Obstes nie beobachten, stets fraßen es die Igel ohne weiteres. Auch habe ich in den Winterwohnungen des Igels keinerlei Vorräte entdeckt. Bei kaltem Wetter schläft er sehr fest wie die Schlafmäuse, sowie aber gelindes Wetter eintritt, auch mitten im Winter, entsteigt er seinem sehr warmen Laubbette und sucht eifrigst nach Nahrung, insbesondere nach Mäusen, die er auch ausgräbt; eine schlafende Haselmaus, welche ich Ende Januar in einem großen Obstgarten (am Starnberger See) dem munter herumschnüffelnden Igel in den Weg legte, entdeckte dieser sofort und fraß sie völlig auf. Er schläft wie der Dachs, zusammengerollt, auf der Stirn liegend. Junge Igel erfrieren sehr leicht, jeder Winter tötet viele. –
In ganz anderer Weise als unser guter, drolliger Igel sorgt sein Feind, der so sehr schädliche Hamster für des Leibes Notdurft im Winter. Dieser kurzschwänzige, plumpe Geselle, der schon so manche örtliche Hungersnot verschuldet hat, erreicht nur eine Länge von 20 bis 30 cm, speichert aber Getreidevorräte bis nahe an einen Centner auf! Der Hamster ist das denkbar unliebenswürdigste Tier, voll Bosheit, Niedertracht und Blutgier. Obschon er sich hauptsächlich an die keimende Saat, dann an zarte Pflänzchen und endlich an das Getreide hält, ist er doch Allesfresser und liebt Fleischnahrung sehr. Er fängt gewandt die Mäuse weg, plündert die Nester der Lerchen, Rebhühner, wie überhaupt aller Bodenbrüter, frißt Eidechsen, Blindschleichen, Frösche, alle Käfer, Raupen und Würmer, die ihm in den Weg kommen. Nach herzlich kurzer Liebeszeit fällt das Männchen oft über das Weibchen her und – frißt es nach scharfem Kampfe auf; dieses ist eine lieblose Mutter, sobald ihre Kleinen selbst fressen können. Es baut sich jeder Hamster sein eigenes Heim. In seine eirunde, schön geglättete, mit Stroh ausgelegte Wohnkammer unter der Erde führen zwei Einschlupfröhren: die Hauptröhre führt sanft schräg hinab, ihr entgegengesetzt liegt das Fallloch, das ziemlich tief senkrecht hinabgeht, dann wagrecht zur Wohnung führt. In dasselbe läßt sich der Hamster, insbesondere bei Gefahr, rasch hinabfallen. Mit der Wohnkammer durch eine kurze Röhre in Verbindung steht die viel größere Vorratskammer; alte Hamster legen deren zwei und drei an. Der Hamster trägt seine sprichwörtlich großen Vorräte in den Backentaschen ein, er kann in denselben bis zu 10 g Gewicht tragen. Begegnen sich zwei Hamster, so leeren sie sofort die Taschen und beginnen einen wahrhaft rasenden Kampf, denn jeder will ein bestimmtes Gebiet. Mit vollen Taschen ist er absolut wehrlos, man kann ihn dann ruhig greifen, er sucht sich aber mit den Vorderpfoten möglichst rasch der Last durch Herausstreichen zu entledigen, dann geht er zum Angriff gegen Hunde und Menschen über und beißt sie, „klein, aber teufelhäftig“, ganz gewaltig in die Beine. Von allen Feldfrüchten, die er einträgt, zerbeißt er den Keim; der Inhalt seiner Schatzkammer ist also sehr wohl als Futter noch verwendbar, dagegen für die [864] Aussaat verloren. Ende Oktober, Anfang November verstopft er seine beiden Röhren, frißt sich in der Vorratskammer bis zum Platzen voll und versinkt dann, zusammengekugelt, in den tiefsten Schlaf. Jetzt wird er ausgegraben – ein recht lohnendes Geschäft – seiner Vorräte beraubt, getötet und ihm das schmucke Fell abgezogen, das nicht ohne Wert ist. Südwestdeutschland ist von der Hamsterplage ganz verschont, dagegen haust er oft böse in der mitteldeutschen Ebene und am Rhein.
Wiederum ein sehr schädlicher Geselle, aber ein ganz besonders hübsches Tierchen ist das baumzerstörende, Vögelchen und Vogelbrut vernichtende Eichhörnchen. Wir lieben es alle, und doch muß der Naturkenner seine allzugroße Schonung bedauern; die Jäger dürften ihm schärfer aufpassen, die Herren Sonntagsschützen könnten durch seine Vertilgung sogar nützlich werden. Ein eigentlicher Winterschläfer ist das Eichhorn nicht; der Forstmann kennt die doppelfurchigen Wunden, die es spiralförmig in der Baumrinde zieht, sobald winterliche Nahrungssorge eintritt. Im Frühjahre aber ist der so elegante und gewandte Turner der allergefährlichste Plünderer aller Vogelnester. Einen je nach der Witterung mehrere Wochen, meist aber nur mehrere Tage hintereinander anhaltenden Schlaf hält das Eichhorn aber doch; es baut sich hierzu, insbesonders gern auf verlassenen Krähennestern, oft mehrere, mindestens zwei kugelige Nester, die aus Reisig, Laub und Moos völlig dicht und undurchlässig für Wasser und Schnee ausgestopft sind und während der anhaltenden Regenschauer und Schneestürme, bei Nebel und arger Kälte wohlige Zufluchtsorte bilden. In ihnen verträumt der lustige Geselle des Winters böseste Zeit, in ihnen finden sich auch Vorräte von allerlei Nüssen. Kommt dann der Frühling, wird solch ein Bau auch die Wiege der Jungen (im April und das zweite Mal im Juni).
Ohne alle Vorräte, ohne Wohnungsanlage, lediglich nur nach denkbar klügster Auswahl passender Plätze, verfallen in Höhlen, auf Kirchtürmen, mehr noch in Kellern, Gängen, in Ruinen, in tiefen Ziehbrunnen unsere Fledermausarten in Winterschlaf. Wir haben noch 18 Arten dieser uralten Tierform in Deutschland, finden aber weit mehr und sehr große Arten versteinert im Schwäbischen und Fränkischen Jura aufbewahrt. Die Fledermäuse wandern zu passenden Winterschlafstätten, je nach Verhältnissen recht bedeutende Strecken. Die meisten hängen, wie im sommerlichen Tagschlafe, so auch in der Wintererstarrung, angekrallt am Gebälk, andere aber verkriechen sich zu dem langen Schlafe. Alle sind sie fett von der reichen Insektennahrung, welche der Herbst noch bot, und zehren nun, in fast völliger Erstarrung, langsam von diesem Fette, ohne der Ernährung zu bedürfen. Wohl aber müssen sie einen bestimmten Feuchtigkeitsgrad haben, um dem Tode nicht zu verfallen. Viel zu sehr bedroht dieser die so nützlichen und so merkwürdigen Geschöpfe während des Winters. Starke Kälte räumt ganz fürchterlich unter ihnen auf. Denn sie beschleunigt den Blutumlauf, erweckt das Tier, dasselbe wechselt seinen Platz; wo Hunderte schlafen, entsteht ein verzweifeltes Flattern, viele fliegen in das Freie, eine um die andere fällt tot zu Boden. Solche Lücken schließen sich schwer, denn die Vermehrung der Fledermäuse ist sehr langsam: ein bis zwei Junge, mehr sind nicht möglich, da sie sich gleich nach der Geburt an dem Muttertiere festsaugen und dieses nun mit den Kindern herumfliegen muß. Leider verfolgt auch noch der Unverstand der Menschen sie, die an Nützlichkeit noch die Schwalben übertreffen! Wo Fledermäuse sind, da kommen die schädlichen Nachtfalter nicht auf, unter den Maikäfern wüten sie enorm. Milde Wintertage unterbrechen den Schlaf der kleineren Arten, sie fliegen aus und finden unzweifelhaft Nahrung, wohl Aas- und Mistkäfer, Fliegen und ähnliches. Die harte kleine Mopsfledermaus, ein sanftes, kluges und wirklich liebenswürdiges Geschöpfchen (Plecotus barbastellus), hält die kürzeste und am häufigsten unterbrochene Winterruhe, sie fliegt schon im Februar und verfällt selten vor Mitte November in Dauerschlaf.
Mit den Handflatterern haben wir die Zahl unserer deutschen Winterschläfer aus den Reihen der Säugetiere erschöpft.
Vielleicht findet mancher der freundlichen Leser bei einer aufmerksamen Wanderung durch den wintersstillen Wald, durch verschneite Flur und weißes Feld eine Stätte des geheimnisvoll schlummernden Lebens, die er früher nicht beachtet hätte. Gewährt ihm ihre Erforschung die gleiche hohe Freude wie mir, so fände ich darin den besten Erfolg dieser Zeilen.
Vermißten-Liste der „Gartenlaube“. Wieder sind wir in der glücklichen Lage, eine Reihe von Fällen bekannt zu geben, in welchen es durch Vermittlung der „Gartenlaube“ gelungen ist, Verschollene aufzufinden und, wo dies möglich war, sie ihren Lieben wieder zuzuführen.
„In alle Winde möchte ich es schicken: er lebt, mein lieber Sohn, er lebt! Gott sei gedankt und tausend Dank Ihrem lieben so hochgeschätzten Blatt ,Die Gartenlaube‘,“ schreibt uns die Mutter des unter Nr. 440 unserer Liste von ihr gesuchten Sohnes, von dem wir ihr einen Brief aus Matagalpa in Nicaragua übermitteln konnten.
Dank dem Schreiben des Herrn Kapitän E. de Vedig konnten wir die Schwestern des Seemanns Staberow aus ihrer Ungewißheit über das Los des letzteren befreien.
Auf den Aufruf Gustav Asters aus New York, welcher seine Mutter suchte, gab sein Schwager seine Adresse an und erbot sich, die erwünschte Auskunft zu erteilen.
Friedrich August Mey dankt der „Gartenlaube“, daß er durch sie von seinem Bruder in Buenos Aires endlich wieder ein Lebenszeichen erhalten habe, und spricht seine große Freude aus, daß er nun in Briefwechsel mit dem Bruder treten könne.
Ueber den Tischler Josef Miksch trafen Nachrichten ein, nach denen er leider in Wiskonsin beim Holzfällen von einem Baum erschlagen worden ist.
Auch die Nachfragen nach Albin Rudolf Stüber, sowie den Schwestern Therese Stranski und Marie Markl sind erledigt.
Die quälende Unruhe und Sorge um das Schicksal des geliebten Kindes konnten wir von der Mutter Robert Bremers nehmen, indem wir ihr leider von seinem Tode, der ihn im Hospital zu Bendigo in Australien ereilte, schonend Mitteilung machen mußten.
Ferner hatte der Aufruf Nr. 479 Erfolg, indem Sohn und Tochter der Verschollenen aus Cambridge, Mass., zur Freude ihres Onkels Nachricht gaben.
Die Mutter Peter Meyers, der wir einen Brief ihres Sohnes aus Chile vorzulegen vermochten, schreibt uns: „Das Glück ist zu groß für uns, wir können es kaum fassen, da ich meinen geliebten Sohn schon für verloren hielt.“
Angesichts dieser so erfreulichen Erfolge drängt es uns, allen denen, die uns bei unseren Nachforschungen nach Vermißten beigestanden haben, nochmals unseren herzlichsten Dank zu sagen. Gleichzeitig lassen wir hier eine Fortsetzung unserer Vermißten-Liste folgen und bitten Leser und Leserinnen, auch dieser ihre Aufmerksamkeit zu schenken, damit es mit ihrer Hilfe gelingt, noch recht viele Verlorengeglaubte wieder aufzufinden und dem Kreis ihrer Angehörigen zurückzugeben.
493) Im Jahre 1880 wanderte der am 26. Febr. 1861 zu Esens in Ostfriesland geborene Kaufmann Ferdinand Peter Wilhelm Breske nach Amerika aus und schrieb zuletzt im Jahre 1889 aus Seattle in Washington in Nordamerika. Seitdem ist Breske verschollen.
494) Von seinen alten Eltern wird gesucht der Diener Mathias Waldvogel, der am 10. Febr. 1867 zu Vierthäler, Amt Neustadt in Baden, geboren ist und im Jahre 1890 in Baden-Baden bei einer Herrschaft in der Sternstraße in Diensten stand.
495) Seit 1874, zu welcher Zeit er in Elmira, New York, wohnte, hat der am 21. September 1842 zu Daber, Rgbz. Stettin, geborene Maurer Carl Friedrich August Möde nichts von sich hören lassen. Sein Bruder bittet herzlich, ihm Auskunft über den Verschollenen zu geben.
496) Vor etwa 5 Jahren verließ der am 17. Aug. 1863 zu Wola geistlich in Posen geborene Arbeiter Franz Nawrazki seine Frau, um in Stettin zu arbeiten, und hat seitdem nichts von sich hören lassen. Vom 4. Dezember 1893 bis 2. Januar 1894 war er als Knecht in Spandau beschäftigt.
497) Gesucht wird der Tischler und Instrumentenbauer Andreas Hartstein, geb. am 13. Oktob. 1822 zu Breitendorf bei Löbau in Sachsen.
498) Am Abend des 23. Novemb. 1897 hat sich der zu Bernburg am 24. Oktob. 1882 geborene Präparand Friedrich Wilhelm Emil Elze aus dem Landesseminar zu Cöthen entfernt und ist nicht zurückgekehrt. [865] Elze ist etwa 1,52 m groß, hat braune Augen und dunkelblondes Haar. Sein Anzug bestand aus grauer Lodenjoppe mit schwarzem Sammetstehkragen, grauer Hose und grünsammetner Schülermütze mit Silberstreifen. Der tiefbetrübte Vater bittet herzlich um Nachrichten über seinen Sohn.
499) Von seiner Mutter gesucht wird Heinrich (Henry) Christian Hermann Herzog, der am 14. März 1867 zu Helmsgrün bei Lobenstein, Reuß, geboren ist. Herzog diente 5 Jahre als Soldat in Portland, Maine. Als diese Zeit um war, ließ er sich wieder anwerben und war zuletzt Soldat im 17. Infanterie-Regiment zu Columbus Barracks, Ohio, von wo er aber nach etwa 4 Monaten, am 3. September 1894, desertierte.
500) Der Kaufmann und Brauer Christian Franz Volkholz, geb. am 21. September 1858 zu Vehlitz bei Gommern, Provinz Sachsen, der im Jahre 1872 bei einer englischen Herrschaft in Manchester, New York, bedienstet war und mit dieser nach England zu gehen beabsichtigte, wird von seiner ob des langen Schweigens tiefgebeugten Mutter aufgerufen.
501) Heinrich Gottfried Elias Kobro, geb. am 20. Dezember 1836 zu Schaprode auf der Insel Rügen, wird dringend gebeten, seiner Schwester und Nichte, welche allein noch von seiner Familie übrig geblieben sind, Nachricht zu geben. Sein letzter Brief kam 1869 aus Halberstadt, wo er in der Maschinenfabrik von Dehne als Formermeister thätig war. Vermutlich ist er nach Australien gegangen, da der Wunsch, dort sein Glück zu versuchen, öfter in seinen noch vorhandenen Briefen ausgesprochen ist.
Zur Erinnerung an die Schöpfer des Suezkanals. (Mit Abbildungen.) Am 17. November dieses Jahres wurde in Port Said das Denkmal für Ferdinand de Lesseps feierlich enthüllt. Das von dem französischen Bildhauer Frémiet modellierte und von Babadienne gegossene Standbild erreicht die Höhe von 8 m und stellt den Erbauer des Suezkanals dar in der Haltung, die er bei der Eröffnung des Wasserweges eingenommen hatte; über dem Galafrack wallt ein orientalischer Burnus herab, wie ihn Lesseps während seiner Reisen beim Bau des Kanals zu tragen pflegte.
Lesseps, dessen Ruhm durch die Panamaaffaire verdunkelt wurde, verdient die Auszeichnung, die ihm die dankbare Suezkompagnie bereitet hat; die Pietät gebietet aber, in diesem Augenblicke auch eines Mannes zu gedenken, der als der geistige Urheber der meereverbindenden Straße zu betrachten ist und der dem französischen Diplomaten die Wege gebahnt hat. Dieser Mann ist der Oesterreicher Alois Negrelli. Südtirol war seine Heimat, dort erblickte er zu Primiero im Jahre 1799 das Licht der Welt. Anfang 1819 trat er als Baupraktikant bei der Landesbaudirektion in Innsbruck ein.
Er zeichnete sich besonders bei Straßen- und Wasserbauten aus und folgte bald 1832 einem Rufe nach der Schweiz, wo er zunächst im Kanton St. Gallen und dann als Oberingenieur der Kaufmannschaft in Zürich thätig war. Sein Wirken war hier ungemein ersprießlich; er war es, der die erste Eisenbahn der Schweiz, die von Zürich nach Baden, baute, und er förderte die bauliche Umgestaltung Zürichs derart, daß die Stadt ihm zu Ehren eine goldene Denkmünze prägen ließ. Nach Oesterreich zurückberufen, erwarb sich Negrelli große Verdienste um den Ausbau des österreichischen Eisenbahnnetzes; für seine Thätigkeit an der Moldau und der Elbe wurde er zum Ritter mit dem Prädikat „von Moldelbe“ ernannt. Mit der Frage des Suezkanals beschäftigte er sich seit dem Jahre 1838. Auf Metternichs Anregung trat er der 1845 in Paris gegründeten „Société d’études du canal de Suez“ bei. Zwei Jahre darauf ging er an der Spitze einer österreichischen Ingenieurbrigade nach Aegypten, um gleichzeitig mit einer französischen Expedition die Frage des Kanalbaus an Ort und Stelle zu prüfen. Hier entwarf er einen Plan für die Kanallinie, die später trotz heftiger Anfeindungen, namentlich seitens der Engländer, von der internationalen Kommission als richtig erkannt wurde.
[866] Inzwischen trat der französische Diplomat Ferdinand de Lesseps für den Bau des Kanals ein; es gelang ihm, eine Gesellschaft mit über 200 Millionen Franken Kapital zu gründen und von dem Vizekönig im Jahre 1855 die Konzessionsurkunde zu erlangen. Negrelli sollte die technische Oberleitung beim Bau übernehmen. Eine schwere Krankheit befiel indessen den thatkräftigen Mann. Im Oktober 1858 starb Negrelli in Wien.
Kurz darauf, am 25. April 1859, erfolgte zu Port Said der erste Spatenstich zu dem großen Kulturwerke, dessen Grundzüge er vorgezeichuet hatte.
Die „Deutsche Brücke“ in Bergen. (Zu dem Bilde Seite 865.) Für die deutschen Touristen, die auf ihrer Nordlandreise Bergen besuchen, gilt seit jeher die „Deutsche Brücke“ als eine der anziehendsten Sehenswürdigkeiten der volkreichen norwegischen Handelsstadt; denn lebendig wird an dieser Stätte die Erinnerung an die weitverzweigten Verbindungen und die einflußreiche Macht der einstigen Hansa. Mit dem Namen „Tydskebruggen“ wird eine weite Flucht altertümlicher Häuser bezeichnet, die im Nordosten des Hafens Vaag liegen. „Brygge“ heißt im Norwegischen ein Ausbau im Meere und „Deutscher Quai“ wäre wohl die richtigere Uebersetzung. Alle Häuser, die auf unserem Bilde rechts zu sehen sind, zeigen eine schmale und hohe Front; sie besitzen aber Höfe von bedeutender Tiefe, die mit einem Gewirr von Speichern, Treppen, Leitern und Krahnen angefüllt sind. Die Bauart der Häuser ist durchweg altnorwegisch und die Höfe waren auch ursprünglich im Besitz norwegischer Familien und Klöster. Handelsbeziehungen zwischen Bergen und den deutschen Seestädten bestanden schon im 13. Jahrhundert. Sie nahmen mit der Zeit einen kräftigen Aufschwung, und um das Jahr 1340 gründete in Bergen die Hansa eines ihrer „Kontore“, eine ausländische Handelsfaktorei, die mit besonderen Privilegien ausgezeichnet war. Die Rührigkeit der Hanseaten hatte bald so bedeutende Erfolge errungen, daß der gesamte Handel des nördlichen und westlichen Norwegens von dem „Kontor“ beherrscht wurde. Die betreffenden Höfe gingen allmählich in den deutschen Besitz über. In dem ersten Stockwerk der Häuser befanden sich Räume für Warenlager und Gerätschaften; in dem zweiten lagen die Kanzlei und die Privatzimmer des Hausherrn sowie der Speisesaal, und in dem dritten schliefen die Knechte. Die Zahl der Deutschen in Bergen belief sich zu Zeiten auf etwa 3000. Nach der Auflösung der Hansa im Jahre 1630 ging das Ansehen des deutschen Kontors mehr und mehr herab, und um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde die Faktorei aufgelöst. Ursprünglich belief sich die Zahl der deutschen Höfe in Bergen auf 21. Durch wiederholte Brände wurden sie zerstört, aber immer genau nach altem Muster wieder hergestellt. Heute stehen noch 16 Häuser da, aber ihre Tage sind gezählt. Eine Gesellschaft hat den größten Teil der „Deutschen Brücke“ erworben, sie beabsichtigt, die alten Häuser niederzulegen und an ihrer Stelle moderne Bauten zu errichten. *
Das neue Reichspostgebäude in Straßburg, welches am 12. November in Gegenwart des Staatssekretärs von Podbielski feierlich eröffnet wurde, ist ein Prachtbau von ungewöhnlicher Ausdehnung. Er wurde auf einem zwischen Alt- und Neustadt freigelegenen unregelmäßigen Viereck von rund 11OOO qm aufgeführt, die kleinste Fassade ist 87, die größte 117 m lang, der Grundriß des mehrgeschossig überbauten Raumes umfaßt über 500 qm. Wenn auch die äußere Erscheinung des Baues den Charakter seiner amtlichen, dem Verkehr dienenden Bestimmung keineswegs verleugnet, so verleiht doch die in gotischem Stil erfolgte Anlage und Ausschmückung der Fassaden, Giebel und Ecktreppentürme dem Ganzen eine imposante Wirkung. Besonders malerisch ist der große Jnnenhof mit dem massiven Fernsprechturm, den kleinen Treppentürmchen, der langgestreckten Rampe und den Vorhallen für die Postwagen. Der Plan zu dem Neubau, für dessen Fassaden Vogesensandstein zur Verwendung kam, ist unter Oberleitung des Geheimrats Hake im Reichspostamt aufgestellt worden; die Ausführung wurde geleitet von Postbauinspektor Buddeberg unter Oberaufsicht des Postbaurats Böttcher. Die sechs Kaiserstandbilder, welche den Mittelbau der Hauptfassade an der Königstraße zwischen den großen gotischen Fenstern schmücken, sind aus der Hand des Bildhauers Johannes Rieger in Straßburg hervorgegangen.
Das Denkmal Albrechts des Bären, welches vor kurzem auf dem kleinen Ziegenberge bei Ballenstedt feierlich enthüllt worden ist, hat auf dem Sockel die Inschrift: „Zum ehrenden Gedächtnisse Kaiser Wilhelms des Großen – Zum Preise des wiedererstandenen Deutschen Reiches – Zum Ruhme des Anhaltischen Herzogshauses – Und seines großen Ahnherrn.“
Der große Ahnherr des anhaltischen Herzogshauses, Albrecht der Bär, der ums Jahr 1100 in Ballenstedt als Sohn des Grafen Otto von Ballenstedt und Aschersleben zur Welt kam, wurde unter Kaiser Konrad III Markgraf von Brandenburg. Nachdem er in blutigem Kriege die Wenden unterworfen hatte, berief er in die verödeten Landstriche an der Elbe, Havel und Spree Ansiedler vom Rhein, welche neben anderen Städten der Mark auch Berlin und Kölln gründeten. So hat Albrecht der Bär die Mark Brandenburg germanisiert und dem Hohenzollernhause den Thron gerüstet, über welchem jetzt die deutsche Kaiserkrone schwebt. Diese Beziehung soll das Denkmal feiern, welche das überlebensgroße, in Kupfer getriebene Standbild des kühnen Askaniers kampfgerüstet zeigt, auf dem Haupt die kreuzgeschmückte Ritterhaube. Der granitne Sockel trägt an der Vorderseite die Tafel mit der angegebenen Inschrift. Auf der rechten und linken Seite finden sich die Medaillonbilder Kaiser Wilhelms I und des jetzt regierenden Herzogs Friedrich von Anhalt. Ein drittes Medaillon, auf der Rückseite des Sockels, zeigt vereinigt die Bildnisse von Bismarck, Moltke und Roon. Das Denkmal, ein Werk des Bildhauers Arthur Schulz in Berlin, zeichnet sich durch kraftvolle Einfachheit aus. Von dem Denkmalsplatz, der von Tannenwald umsäumt ist, hat man einen schönen Blick auf das Schloß und die Stadt Ballenstedt.
Eine „Zeichenschule“ zum Selbstunterricht. Im praktischen, besonders auch im gewerblichen Leben erlangt die Kunst, Zeichnungen zu verstehen und selbst zeichnen zu können, eine immer größere Wichtigkeit. In der That, wie oft leistet die künstlerisch unvollkommene Skizze eines Gegenstandes bessere Dienste als die wortreichste Beschreibung, wie unabhängig ist der Arbeiter, der ein Werk aus einer Zeichenvorlage konstruiert, im Vergleich mit dem, der auf die mündliche Anleitung des Meisters angewiesen ist. Darum machen wir an dieser Stelle gern auf ein Buchunternehmen aufmerksam, das uns sehr geeignet erscheint, junge Leute, die eines systematischen Zeichenunterrichts in einer Lehranstalt entbehren, durch Selbstunterricht in der schönen und wichtigen Kunst des Zeichnens zu fördern. Es ist die kürzlich im Verlag von Otto Maier in Ravensburg erschienene „Zeichenschule“ von G. Conz, Professor am K. Katharinenstift in Stuttgart, eine „Anleitung zum Selbstnnterricht“ mit einer Sammlung von Vorlagen für Anfänger und 80 Illustrationen. In dem Werk, das auch in sieben Lieferungen bezogen werden kann, ergreift ein erfahrener, künstlerisch gebildeter Lehrer, der sich über die Erfolge seines Unterrichts und seiner Methode nicht mehr auszuweisen hat, das Wort, um in überzeugender, schlicht und durchsichtig gehaltener Darstellung die Mittel und Wege zu zeigen, auf welchen Schüler durch Selbstunterricht zu der für das Leben [867] wertvollen Fähigkeit zu zeichnen gelangen. Als Ziel dieser Studien betrachtet der Verfasser das Zeichnen nach irgendwelchen körperhaften Gegenständen, also nach der Natur; er legt seinen systematischen und praktischen Anweisungen, aus denen man das eingehende Verständnis für die Bedürfnisse eines Lernenden spürt, einen wohldurchdachten Plan zu Grunde. Beschäftigen sich die ersten Kapitel besonders mit der Technik des Zeichnens, so dringen die spätern um so mehr auf die Ausbildung einer guten Auffassung, auf eine aufmerksame Naturbeobachtung und die Kunst des richtigen Sehens, wobei der Abschnitt über das Zeichnen architektonischer und landschaftlicher Gegenstände nach der Natur mit besonderer Ausführlichkeit behandelt ist. Die dem Werk beigegebenen 48 Tafeln mit Vorlagen für den Anfangsunterricht unterstützen die Darlegungen des Verfassers sehr wesentlich.
Die neuen Denkmäler auf den Schlachtfeldern des Reichslands. (Mit Abbildungen.) Ziemlich kurz hintereinander sind in diesem Sommer auf den berühmten Schlachtfeldern bei Metz und bei Wörth neue Kriegerdenkmäler enthüllt worden, die an hervorragende deutsche Waffenthaten gemahnen. Das eine ist dem Andenken an die Tapferen gewidmet worden, welche vom preußischen 1. Garderegiment z. F. bei St. Privat-la-Montagne in der gewaltigen Entscheidungsschlacht am 18. August 1870 fielen. Auf einem Unterbau von hellbraunen Sandsteinblöcken, der ziemlich 7 m hoch ist, erhebt sich die 5 m messende Bronzestatue des Erzengels Michael, der, wie nach vollendetem Tagewerk, die Hände auf den Knauf des Schwertes stützt, während der Blick friedlich ins Weite sich richtet. Die Vorderseite des Sockels zeigt zwischen Eichen- und Lorbeerranken die Inschrift: „Den braven unvergeßlichen Kameraden – Wilhelm II und sein 1. Garderegiment z. F.“ Die Rückseite meldet: „Das Regiment verlor seinen Kommandeur, 35 Offiziere, 104 Unteroffiziere, 982 Grenadiere und Füsiliere.“ Das Denkmal ist nach einem Entwurf Kaiser Wilhelms II, der auch bei der Enthüllungsfeier am 18. August die Weiherede hielt, von Walter Schott in Berlin modelliert worden. Zwölf Tage vorher hatte das Schlachtfeld von Wörth einen neuen bedeutsamen künstlerischen Schmuck erhalten. Das hier bei dem Dorfe Morsbronn errichtete Denkmal gilt dem Gedächtnis der Braven vom 2. Thüringischen Infanterieregiment Nr. 32, die hier vor 29 Jahren, am 6. August, den furchtbaren Angriff überlegener französischer Reitermassen aushielten und abwiesen. Hier sind sechzehn gewaltige Granitblöcke nach einem Entwurf des Herzogs Georg II von Sachsen-Meiningen, des Chefs des Regiments, in künstlicher Wildheit zu dem Unterbau zusammengetürmt; jeder einzelne trägt als Inschrift den Namen einer der von dem Regimente siegreich geschlagenen Schlachten. Auf der felsigen Höhe thront ein riesiger Adler mit ausgebreiteten Schwingen in kampfbereiter Stellung. Das schöne Denkmal ist von Professor Eberlein in Berlin geschaffen.
Heinrich der Finkler wirbt um Mathildis. (Zu dem Bilde Seite 840 und 841.) Einer der volkstümlichsten unter den deutschen Herrschern ist Heinrich der Sachse, Herr Heinrich, der, wie die bekannte Ballade singt, am Vogelherde saß, als die Franken kamen, ihm die durch den Tod Konrads erledigte deutsche Königskrone anzubieten.
Unser Bild zeigt uns indessen nicht den deutschen König, den Sieger über die Slawen und Ungarn, sondern den jungen Sachsenherzog, der „wie eine Blüte war, welche das Kommen des Lenzes verkündet“. Im kriegerischen Spiel, im Lanzenrennen und ritterlichen Zweikampf war es eine Lust, den stattlichen, hochgewachsenen Mann zu schauen. Zweimal hat er sich unter den schönen Töchtern Sachsens die Gattin erwählt. Seine erste Liebe war Hatheburg, die anmutige Tochter des reichen Grafen Erwin, der zu Merseburg seinen Sitz hatte. Doch diese Ehe wurde wieder geschieden: sie hatte gegen den Willen der Kirche stattgefunden. Hatheburg war schon einmal vermählt gewesen und hatte sich durch ein Gelübde dem klösterlichen Leben geweiht; ihre reiche Erbschaft war dem Kloster bestimmt. Wenige Jahre später bewarb sich Heinrich um die Hand der trefflichen Mathildis, der Tochter Thiederichs, eines reichen und bedeutenden Mannes, der unweit Herford seinen Sitz hatte. Dem edeln Geschlechte Widukinds war sie entsprossen. Mathildis hatte man schon in früher Jugend dem Kloster Herford übergeben; sie wurde hier in der Schrift und in nützlichen Handarbeiten unterrichtet, nicht um dereinst Nonne zu werden, sondern um mit trefflichen Kenntnissen ausgerüstet in das weltliche Leben zurückzukehren. Heinrichs Vater, der alte Otto, wünschte, die Enkelin Widukinds seinem Sohne zu vermählen, und der Sohn widerstrebte nicht dem Willen des Vaters. Mit stattlichem Gefolge begab er sich nach Herford. Zuerst sah er in der Ferne Mathildis in der Kirche, dann hielt er sogleich in feierlicher Werbung bei der Aebtissin des Klosters, der Großmutter Mathildis’, die als Witwe den Schleier genommen hatte, um die Hand der Jungfrau an, und er setzte es durch, daß die Großmutter selbst ohne Vorwissen der Eltern ihm die Enkelin verlobte. Diese Scene der Werbung hat Ferdinand Leeke auf seinem Bilde mit künstlerischer Verteilung charakteristischer Gruppen uns vorgeführt. Zu Wallhausen in der Goldenen Aue wurde die Hochzeit mit einer Pracht, wie sie sonst nur Könige entfalten, feierlich begangen. Die Geschichtschreiber sind einstimmig im Lobe der Fürstin, in welcher Heinrich ein ebenso thätiges wie frommes und liebreiches Weib beschieden war. †
Der Kampf brandenburgischer und spanischer Schiffe bei Kap St. Vincent im Jahre 1681. (Zu dem Bilde Seite 849.) Der Aufschwung, den das deutsche Seewesen in unseren Tagen erlebt, hat auch das Interesse für die Kapitel der deutschen Geschichte erhöht, welche von den ruhmreichen Thaten zur See unserer Vorfahren berichten.
Diesem Interesse kommen zwei schön ausgestattete Werke entgegen, die soeben in J. F. Lehmanns Verlag in München erschienen sind.
„Bilder aus der deutschen Seekriegsgeschichte von Germanicus bis Kaiser Wilhelm II“ hat Vice-Admiral a. D. Reinhold Werner das stattliche Buch genannt, in welchem er im Zusammenhang die Entwicklung des deutschen Seekriegswesens seit den Tagen der Wikinger erzählt. Was hier der erfahrene Fachmann in lebensvoller Schilderung berichtet, das tritt in dem Prachtwerk „Deutschlands Ruhmestage zur See“ unmittelbar vors Auge in 20 Bildern des Marinemalers Hans Petersen. Die Blätter dieser Kunstmappe sind Kupferlichtdrucke nach den Originalgemälden. Das erste Bild stellt die Eroberung Kopenhagens durch die Hansa im Jahre 1312 dar. Blatt 20 hat zum Gegenstand die deutsche Flotte in Kiautschou. Unser Bild giebt in verkleinertem Maßstab eine Probe aus diesem Prachtwerk. Es führt uns in die Zeit der maritimen Bestrebungen des Großen Kurfürsten. Bis zum Jahre 1684 war dieser weitschauende Fürst wegen der beschränken Mittel seines Landes nicht imstande, eine eigene Flotte zu halten, er mußte sich darauf beschränken, die Schiffe von seinem Schiffsdirektor Raule zu mieten. Mit Hilfe solcher Schiffe entriß er Pommern und Rügen den Schweden. Als Spanien anhaltend mit der Auszahlung der Subsidiengelder zögerte, die es dem Kurfürsten aus den französischen Kriegen schuldig war, rüstete er ein Geschwader aus, das die Aufgabe erhielt, auf spanische Schiffe zwecks Repressalien zu kreuzen. Nachdem dies Geschwader bereits 1680 den Spaniern ein Schiff mit sehr wertvoller Ladung genommen hatte, bildete er im folgenden Jahr zwei kleinere Geschwader, dessen größeres aus fünf Fregatten bestand und von Kapitän Alders befehligt wurde. Spanien hatte eine Silberflotte aus Westindien zu erwarten, die bei Cadix landen sollte. Alders wurde mit seinen fünf Schiffen dorthin entsandt, um der Flotte aufzulauern. Seine Ankunft erregte in Spanien großen Schrecken. Nicht weniger als zwölf Kriegsschiffe und zwei Brander wurden ihm entgegengeschickt. Der Brandenburger nahm den Kampf mit der Uebermacht auf. Zwei Stunden lang schlug er sich aufs tapferste, wobei es ihm gelang, zwei spanische Schiffe zum Sinken zu bringen. Dann zog er sich nach Lagos in Portugal zurück, um seine arg zerschossenen Fregatten auszubessern. Die Silberflotte entging ihm freilich, aber seine Tapferkeit begründete den Ruhm des Brandenburger Adlers auf dem Meere.
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Der Turmbläserbrunnen in Bremen. (Mit Abbildung.) Die alte Hansestadt Bremen ist seit einiger Zeit um eine künstlerische Zierde, wie sie ähnlich ihre altersgrauen Patrizierhäuser an ihren Renaissancefassaden in oft verschwenderischer Fülle zeigen, reicher geworden. Zugleich ist in diesem neuen Schmuck eine aus alten Tagen auf uns gekommene und noch heute gern geübte Sitte verkörpert. Allsonntäglich vormittags spielte und spielt man auch heute noch vom Glockenstuhl der Domtürme herab einen feierlichen Choral, unter dessen Klängen die Kirchenbesucher das alte Gotteshaus verlassen, und in dem sogenannten Turmbläserbrunnen, den man jetzt enthüllt hat, ist diese hübsche Sitte in Stein und Bronze festgehalten worden. In der Ecke, die von den Domtürmen und der Fassade des Künstlervereinshauses gebildet wird, hat der Brunnen seinen Platz erhalten; er steht also in der Nähe des Marktplatzes, wo die alten Renaissancehäuser ihre zierlichen Giebel emporstrecken, wo das ehrwürdige Rathaus mit seinem prächtigen Figurenausschmuck an die kunstfrohe Zeit des späten Mittelalters erinnert. Auf einem turmartigen Unterbau aus Sandstein, der sich in seinen Formen an den gotischen Stil des Doms anlehnt, erhebt sich eine Bronzegruppe, drei Turmbläser darstellend. Jeder einzelne von ihnen ist vom Künstler, Max Dennert aus Friedeberg in der Neumark, individuell und gewissermaßen als Träger und Vertreter einer Spezialität unter den Musikanten aufgefaßt. In der Tracht des Rattenfängers sind die drei fahrenden Leute in ungezwungenster Haltung hingestellt und blasen ihr Stücklein ganz offenbar mit der Tendenz: wenn es nur laut klingt. Viel Harmonie würde, wenn sie ihren alten Hörnern und Pfeifen wirkliche Töne entlocken könnten, wohl nicht zu stande kommen, und glücklicherweise blasen die modernen lebenden Turmbläser ihre Choräle nach anderen Prinzipien als diese drei Kumpane. Sonst würde die alte Sitte heute wohl kaum noch so gute Freunde haben, wie es der Stifter des Brunnens, Franz Schütte, ist, einer der bekanntesten bremischen Großkaufleute, der schon oft, wenn es galt, künstlerische oder gemeinnützige Zwecke zu fördern, eine offene Hand gezeigt hat.
Schlittenrennen auf der Theresienwiese bei München. (Zu dem Bilde S. 857.) Wenn der Winter die Wege mit einer Eisdecke überzieht und auf diese eine tüchtige Portion Schnee streut, dann haben wir, was so viele ersehnen, eine richtige Schlittenbahn. So ein Ausflug zu Schlitten, wenn man warm verpackt drinnen sitzt und ein paar flinke Rosse auf der glatten Bahn hurtig ausgreifen, ist wahrlich eines der schönsten Wintervergnügen. Die Leichtigkeit, mit welcher die Pferde ein solches Gefährte dahinziehen, legt aber auch die Versuchung nahe, die Schnelligkeit der Zugtiere möglichst zu erproben.
Dies hat in Altbayern zum Bau einer ganz leichten Art von Schlitten geführt, die von einem Pferde gezogen und von einem Insassen besetzt werden. Man heißt sie „Goaßeln“ (Geißen). Von alters her sind auf dem Land in Oberbayern Wettrennen mit ihnen beliebt und der Brauch hat auch bei den städtischen Pferdebesitzeru Anklang gefunden. Wenn es die Schneeverhältnisse erlauben, so bildet sich alljährlich auch in München ein Konsortium, das auf der Theresienwiese ein solches Schlittenrennen veranstaltet. Das Schauspiel zieht viele Zuschauer an, unter denen auch die Landbevölkerung zahlreich vertreten ist.
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Soeben erschienen:
Das Weihnachtsbuch. Allerlei Weihnachtliches in Vers und Prosa
von Victor Blüthgen.
Gross-Oktav. Mit zahlreichen Illustrationen. Preis elegant gebunden 5 Mark.
Victor Blüthgen, dessen Name schon lange im deutschen Hause einen guten Klang hat, bietet in dieser Sammlung erlesener Weihnachts-Erzählungen, -Märchen und -Gedichte ein Werk, das von einem zarten dichterischen Hauch, wirklichem Weihnachtsduft, übergossen und von Gemütswärme erfüllt ist. Der Inhalt ist abwechselungsreich. Teils sind es rührende, teils strahlend heitere Geschichten und Gedichte, von denen einige schon den Beifall der Gartenlaubeleser gefunden haben. Des Dichters Absicht war, daraus ein festliches Geschenkwerk zu binden wie zum Kranze, ein weihnachtliches Erbauungsbuch für die Familie, für jung und alt, und eine Fundgrube für Vorlesungen in der Weihnachtszeit.
Das eigenartige in festlichem Gewande erscheinende Buch wird jedem Weihnachtstisch zur Zierde gereichen.
Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen.
Druck von Juliun Klinkhardt in Leipzig.
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Poetische Prosa zum Weihnachtsfest. „Schenkt mir nur nichts Unpraktisches!“ Diesen Ausspruch hört man vom Hausherrn und von der Hausfrau des öfteren vor Weihnachten und „ein Paar Hausschuh und Strümpfe, ein solider Schinken oder dergleichen sind mir lieber als allerlei hübsche, aber unnütze Sachen“ lautet der Schluß des Satzes. In solchen Fällen die geäußerten Wünsche unberücksichtigt zu lassen, wäre sehr unrichtig, denn es gilt doch vor allem, Freude zu bereiten. Wo man aber solche prosaische Liebesgaben auf den Weihnachtstisch legen muß, da sollte es nur in anmutiger Umhüllung, mit reizvollem, weihnachtlichem Ausputz geschehen, am Christfest soll auch die Prosa poetisch geschmückt werden. Kleine Anregungen zu solchem Ausputz wollen die folgenden Zeilen geben:
Ein Paar Hausschuhe lassen sich zum allerliebsten Zwillingspärchen ausputzen, wobei man auf jedes Schuhblatt erst ein zusammengefaltetes rauhes Waschläppchen als Kopfkissen heftet und hierauf einen Puppenkopf befestigt. In jeden Puppenkopf steckt man ein längliches Stück Seife, legt nun mehrere Waschläppchen bis zum Hals der Puppenköpfe als Wickelkissen herum und umbindet das Ganze kreuzweise mit dunkelrotem fingerbreiten Atlasband. Oben und unten werden zwei Schleifen als Schmuck befestigt, die so ausstaffierten Schuhe dann nebeneinander auf einen passenden, mit Tannenzweigen dicht besteckten Pappdeckel gelegt und zuletzt um diesen nochmals ein rotes Seidenband geschlungen.
Zwei Schneemänner lassen sich aus allerhand praktischen Sachen bilden. Ein dicker, allerdings ein wenig plumper Schneemann hat einen Rumpf aus dicht zusammengelegten selbstgestrickten Strümpfen, die erst in Seidenpapier gewickelt und mit farbigem Band umwunden werden, bevor sie die Watteumhülluug erhalten. Die Beine werden aus zwei länglichen Pergamentpapiertüten mit Thee gebildet, der Kopf aber aus einem dicken Knäuel Bindfaden und die Arme aus eingehüllten Cervelatwürsten hergestellt. Man nimmt nun ein Brettchen, durchbohrt es zweimal und zieht ein Stück dicken Draht durch die Löcher, mit beiden Enden nach oben gerichtet. Hieran wird der Schneemann gut befestigt, wobei jedes einzelne Glied mit loser Watte gut umwickelt wird. Der Kopf wird mit Augen, Mund, Nase und Bart angemalt und ein Cylinderhütchen ihm recht schief aufgestülpt, während noch ein Bund Stricknadeln, die gut mit silberner Schnur zusammengebunden werden, ihm als Stock in den einen Arm geschoben wird. Der ganze Schneemann kann zuletzt mit Christbaumschnee bestreut werden. Schlanker wird der zweite Schneemann gehalten, der ebenfalls auf einem dünnen Brettchen befestigt wird. Hier aber bohrt man die beiden Löcher nicht ganz durch und steckt zwei dicke Stricknadeln recht fest hinein. Man steckt auf die Nadeln je zwei Rollen Maschinengarn und bindet nun eine Flasche Tokayer mit dem Hals fest an die Nadeln, die dabei oben zusammengefaßt werden. Der Kopf wird aus einer runden Schachtel, die mit allerhand Nähsachen gefüllt wird, gebildet und die Arme aus mit Draht umwundenen Taillenstäben hergestellt. Ist alles so weit hergerichtet, so wird jeder Körperteil mit Watte umwickelt und der Kopf angemalt. Eine Stange Siegellack bildet den Spazierstock, die Bretter werden, wo sie sichtbar sind, mit Leim bestrichen und mit Tannengrün dicht belegt.
Ein alter, hübsch ausgeschmückter Spankorb mit Henkel giebt einen echt weihnachtlich ausschauenden Behälter für eine ganze Menge einfacher Putz- und Staubtücher, die man sogar aus alten Stoffresten herstellen kann, wenn man sie mit farbigem Garn umsticht und sonstwie mit einfachen Zierstichen versieht. Auch allerhand zum Putzen und Scheuern nötige Geräte: Bürsten, Staubwedel, Pinsel und dergleichen, birgt der Korb, dessen Inhalt für eine praktische Hausmutter eitel Wonne ist. Der glatte Korb wird innen mit Krepppapier ausgelegt, dagegen außen mit rosafarbigem Tüll bauschig bekleidet und an den Ecken mit rosa Bandschleifen verziert. Der Inhalt wird mit einem rosafarbigen Deckchen verhüllt und weiße und lichtgelbe Papierrosen auf dem Deckchen wie an den Außenwänden des Korbes hin und wieder befestigt. Der Henkel des Korbes wird mit rosa Tüllstreifen umwunden und mit einer Rosenguirlande verziert. Zuletzt malt man auf ein breites weißes Seidenband mit Goldbronze einen Weihnachtsspruch und spannt dies Band glatt von einer Seite des Korbes schräg bis zum entgegengesetzten Ende des Henkels aus, wo man es zu einer vollen Schleife bindet.
„Etwas Besonderes“ verlangt gerade an Festtagen der allen kulinarischen Genüssen wohlgeneigte Eheherr von seiner Eheliebsten, die seufzend die Erfüllung dieses Wunsches zusichert, auch wenn er ihr zu aller Weihnachtsarbeit noch neue Last bringt, aber sie weiß es nur zu wohl: die Liebe des Mannes geht durch den Magen. So wird unsere geplagte Hausmutter es hoffentlich mit besonderer Freude begrüßen, wenn die beiden folgenden „besonderen“ Festgerichte rasch und leicht herzustellen sind.
Schweriner Rindslende. Die gehäutete und gespickte Rindslende, welche auf gewöhnliche Art gebraten wird, richtet man auf folgender Unterlage an. Drei geschälte und zerschnittene Knollen Sellerie schwitzt man mit etwas zerschnittenem rohen Schinken und Pfefferkörnern und einer Zwiebel durch, giebt einige Löffel Fleischbrühe hinzu und dämpft ihn weich. Der Sellerie wird dann durchgestrichen, in Butter etwas Mehl geschwitzt und dann die Mehlschwitze mit dem Sellerie und einem Löffel Tomatenbrei sowie einer Messerspitze Liebigs Fleischextrakt zu dickem Brei gekocht. Die zerschnittene Rindslende wird auf dem Brei angerichtet und mit Häufchen junger, in Butter geschwenkter Büchsenerbsen und gerösteten Kartoffeln garniert. Diese Rindslende ist als Gericht für den Abend des ersten Weihnachtstages sehr empfehlenswert.
Französischer Käseauflauf, als appetitanregendes leichtes Gericht für den zweiten Weihnachtstag zu empfehlen. Man rührt zu ihm 120 g Mehl in 1/3 l Sahne glatt, giebt 60 g Butter, 6 Eigelb, Salz und eine Prise Pfeffer dazu und rührt die Masse auf gelindem Feuer zu einer feinen Creme. Man läßt sie kalt werden, schlägt noch 2 Eigelb dazu, mischt 125 g geriebenen Parmesankäse darunter und zieht den steifen Schnee von 6 Eiweiß darunter. In einen großen oder mehrere kleinere Papierkästchen, die man fertig kaufen kann und vor dem Einfüllen mit Butter bestreicht, füllt man die Masse, die im Ofen eine Viertelstunde gebacken wird und dann sofort
angerichtet werden muß. L. H.
Zusammensetzungsaufgabe.
Aus den Buchstaben je zweier der nachstehenden Wörter ist immer ein drittes neues Wort zu bilden. Sind alle neuen Wörter richtig gefunden, so nennen deren Anfangsbuchstaben, von oben nach unten gelesen, den Titel einer beliebten Oper. Man bilde also aus:
1. Tisch und Aden einen Berg der oberösterreichischen Alpen,
2. Reh und Barde einen württembergischen Herzog,
3. Aar und Silbe einen französischen Satiriker,
4. Dorn und Wahl ein Blasinstrument,
5. Laie und Saturn einen Erdteil,
6. 6olf und Main einen Vogel,
7. Ebro und Falun einen Minnesänger,
8. Stein und Rabe einen vielverspotteten Kurpfuscher,
9. Talg und China einen Afrikareisenden,
10. Rolle und Atlas einen italienischen Volkstanz,
11. Inn und Esche einen Volksstamm in Asien,
12. Nerv und Noah eine preußische Provinz,
13. Grad und Lima eine Dichtungform,
14. Seil und Alba eine spanische Königin,
15. Rhein und Speer eine Pflanze,
16. Rang und Oder eine Truppengattung.
Umstellrätsel.
Mandel, Ostern, Ikarus, Goslar, Pansen, Ostsee, Athene, Martin, Riesen, Odense, Lauban.
Durch Umstellung der Buchstaben ist unter Hinzufügen je eines Buchstabens aus jedem dieser Wörter ein neues Wort zu bilden, so daß die mittelsten Buchstaben der neuen Wörter einen Roman von W. Heimburg nennen. Die Wörter bezeichnen: 1. ein Bergwerk in Spanien, 2. einen Fluß in Syrien, 3. eine Stadt in der Türkei, 4. eine Landschaft auf dem Peloponnes, 5. ein europäisches Reich, 6. eine Person aus Goethes „Iphigenie“, 7. eine Stadt in Persien, 8. ein Metall, 9. ein europäisches Königreich, 10. ein Nordseebad, 11. eine Stadt in Sibirien. A. 8t.
Anagramm.
Wenn es getrennt der Frau gebricht,
Ist dies ein Mangel, den man gern verzeiht,
Besitzt vereint sie’s aber nicht,
Fehlt ihr der Zauber echter Weiblichkeit.
Oscar Leede.
Silbenrätsel.
a an ar ben er is ker ker la mi ne pen sa sen sor spei ton.
Aus diesen 17 Silben sind 8 Wörter von der Bedeutung unter a. zu bilden; dann füge man zu jedem Wort einen passenden Buchstaben hinzu und bilde durch Umstellen der Buchstaben aus dem Worte unter a. ein anderes von der Bedeutung unter b. Beispiel: a. Nestor, b. Orontes. – Die Anfangsbuchstaben der b–Reihe müssen einen griechischen Dichter nennen. Die Bedeutung der Wörter ist folgende: 1. a. eine Stadt in Rußland, b. ein Schlachtfeld bei Wien; 2. a. ein Gefäß. b. ein englischer Physiker und Mathematiker; 3. a. eine Stadt in Thessalien, b. eine Stadt am Golf von Salerno; 4. a. ein Nebenfluß der Donau, b. ein Titel; 5. a. ein Metall, b. eine Stadt in der Nähe des Vesuv; 6. a. eine Stadt in der Rheinpfalz, b. eine Stadt in Ungarn; 7. a. ein slavischer Volksstamm, b. ein Schloß der Königin Viktoria von England; 8. a. ein Sinnbild der Hoffnung, b. ein Nebenfluß des Rhein. A. 8t.
[868 b]
Scherzrätsel.
Ihn zwangen durch des Feuers Gluten
Zu manchem Dienst der Menschen Hände,
Doch sonderbar, ist er am Ende,
So eilt er durch des Wassers Fluten.
Rätsel.
Manch Gebild aus Marmelstein,
Von des Künstlers Hand geschaffen,
Ruht auf mir jahraus, jahrein; –
Nimmer siehst du mich erschlaffen.
Nimmst du mir zwei Zeichen fort,
Schuf mich erst der Zeiten Wandel,
Heute fast an jedem Ort,
Fördre ich Verkehr und Handel.
Oscar Leede.
Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 25.
Der Gang der Partie war: I. A 6/6, B 6/0, C 0/5; II. A 5/2, B 2/4, C 4/5; III. A 5/1, B 1/4, C –; IV. A 4/0, B –, C 0/2; V. A. 2/6 (= 70).
Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 25.
Des Lebens Kunst ist leicht zu lernen und zu lehren;
Du mußt vom Schicksal nie zu viel begehren;
Der, welchem ein bescheidenes Los genügt,
Hat einen Schatz, der nie versiegt.
Dem Unersättlichen in jeglichem Genuß
Wird selbst das Glück zum Ueberfluß. L. Bechstein.
Ge – dich – t, Ge – sich – t.
Auflösung der Zusatzaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 25.
A Dach, B Dachs
A Juli, B Julia
A Gero, B Gerok
A Lena, B Lenau
A Delphi, B Delphin
A Dollar, B Dollart
A Halm, B Halma
A Base, B Basel
A Thor, B Thora
= „Sakuntala“.
Radler, Adler.
Auflösung des Inschrifträtsels „Feindschaft“ auf dem Umschlag von Halbheft 25.
Wenn man alle Buchstaben, die von den Dornenranken durchzogen sind, zuerst, und zwar erst die linke, dann die rechte Seite, und zuletzt die übrigbleibenden Buchstaben ebenso abliest, erhält man den Spruch:
1) Kein Haß ist so groß und schwer,
2) als der aus Lieb’ ist kommen her.
Schikaneder (Textdichter der „Zauberflöte“).
1. friedfertig, 2. ernst, 3. rüstig, 4. nachteilig, 5. sparsam, 6. pünktlich,
7. reichlich, 8. echt, 9. christlich, 10. heimlich, 11. eckig, 12. redselig.
„Fernsprecher.“
Baß, Haß, Naß, Faß.
Auslösung der Verschiebungsausgabe auf dem Umschlag von Mlvyest 26.
Sonneberg.
Distel, Fistel, Mistel.