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Die Gartenlaube (1899)/Heft 28

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[868 c]

28. Heft.  Preis 10 cents. 30. Dezember 1899.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cleveland, Ohio.

[868 d]

Inhalt.
Seite
An des Jahrhunderts Neige. Gedicht von Max Haushofer 869
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer. (Schluß) 870
Der große Geburtstag. Eine Silvesterbetrachtung von Ernst Muellenbach. 875
Grünes Gras. Eine Backfisch-Geschichte von Eva Treu (Lucy Griebel). (Schluß) 876
Ueber Nervenschutz und Nervenstärkung. Von Geh. Med.-Rat Professor Dr. Albert Eulenburg 880
Ein Sonntag im Hamburger Hafen. Von Gustav Kopal. Mit Bildern von H. Haase 890
Ludwig XVII. Mit Abbildungen 894
An unsere Leser. 897
Blätter und Blüten: Der Anfang des Jahrhunderts. S. 895. – Der Kleine Teich im Riesengebirge. Von Dr. Baer. (Zu dem Bilde S. 881.) S. 895. – Der Säulensturz im Ammontempel zu Karnak. (Zu dem Bilde S. 885.) S. 896. – Vesperbrot des Orang-Utan „Rolf“ im Zoologischen Garten zu Berlin. Von Dr. O. Heinroth. (Zu dem Bilde S. 889.) S. 896. – Wotanszug. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 896.
Kleiner Briefkasten: S. 896.
Illustrationen: Der Trinkspruch auf das neue Jahr. Von W. Gause. S. 872 und 873. – Der Silhouettenschneider. Von J. Hamza. S. 877. – Der Kleine Teich im Riesengebirge. Von Paul Linke. S. 881. – Im Tempel zu Karnak: Ansicht einer der jüngst umgestürzten Riesensäulen. S. 885. – Vesperbrot des Orang-Utan „Rolf“ im Zoologischen Garten zu Berlin. Von Ludw. Hartig. S. 889. – Abbildungen zu dem Artikel „Ein Sonntag im Hamburger Hafen“. Von H. Haase. Fischverkauf am Sonntagmorgen auf den Fischerkähnen. S. 890. Angler an den „Duc d’Alben“. Lesestündchen. S. 891. An einer Kasse der St. Pauli-Landungsbrücke. „Vadder slöppt!“ S. 892. – Der Sohn Ludwigs XVI bei Simon im Gefängnis. Von L. Ch. Spriet. S. 893. Der Dauphin Ludwig XVII. Von L. P. Deseine. S. 894. – „Prosit Neujahr!“ Von Karl Gehrts. S. 896. – Neujahrsbild 1900. Von St. Grocholski. S. 898.


Hierzu Kunstbeilage XXVIII: „Wotanszug“. Von E. Herger.




Kleine Mitteilungen.


Steinfressende Bacillen. Das Antlitz der Erde ist steten Veränderungen unterworfen. Wir wissen, daß diese unaufhaltsam vor sich gehen, daß chemische, physikalische und mechanische Kräfte dabei thätig sind. Wir sehen, wie Regen und Schnee, Frost und Hitze einwirken, Felsen sprengend, Berge abtragend und dabei die Erdkruste zersetzend und lösend und Humus bildend. An dieser letzteren Thätigkeit sind nun aber, außer diesen Faktoren, auch Organismen, so Tier wie Pflanze, beteiligt. Die Regenwürmer spielen als Humusbildner eine Rolle, von Pflanzen seien die Flechten angeführt, nun kommen nach Berichten der Pariser Akademie auch noch Mikroben hinzu.

Daß die Bacillen im Haushalt der Natur eine außerordentlich wichtige Rolle spielen, daß sie überall zu finden sind, und nichts vor ihnen sicher ist, das ist seit Jahrzehnten bereits bekannt; daß sie aber sogar Steine fressen, oder doch wenigstens zerfressen und diese dabei umwandeln, das ist eine Entdeckung der allerjüngsten Zeit. Bis jetzt feierte man stets die Flechten, diese Doppelwesen, die einer Symbiose, einem Zusammenleben von Alge und Pilz ihre Existenz verdanken, als die Pioniere der Vegetation. Wo kein Lebewesen sonst existieren konnte, auf den höchsten Berggipfeln, am Rande der Wüsten, da lebten sie, unaufhaltsam sich ausbreitend, trotz Eis und Schnee, größter Hitze und Dürre, und den Boden vorbereitend für spätere, nach ihnen kommende Vegetation. Nun ist es bekannt geworden, daß sie in einem Bacillus einen Konkurrent besitzen.

Ein französischer Gelehrter hat diese Mikroben entdeckt. Er fand sie auf Felsen, die allem Anschein nach infolge ausschließlich atmosphärischer Einwirkung zerfallen waren. Wie sehr die kleinsten Lebewesen aber an dieser Zersetzung beteiligt waren, ging daraus hervor, daß das verwitterte Gestein stets von organischen Substanzen bedeckt war, die, wie leicht nachzuweisen war, von diesen Mikroben herstammten.

Ihre Hauptthätigkeit entwickeln sie im Sommer, während sie im Winter in eine Art Winterschlaf verfallen. Infolge ihrer Kleinheit dringen sie in die feinsten kapillaren Spalten der Felsen ein, so Zerstörung und Verderben bis in erhebliche Tiefen derselben tragend. Man kann häufig ganz tief im Innern von äußerlich scheinbar völlig gesundem Gestein, wie Schiefern, Graniten und Kalken, durch solche Bacillen zersetzte Stellen finden. So sollen sie auch an der Zerstörung des Faulhorns, die man bisher nur durch Verwitterung herbeigeführt glaubte, beteiligt sein.

In rein mineralischen Lösungen sind sie auch bereits künstlich gezüchtet worden.

Indem diese Mikroben nun, insofern sie das Gestein zersetzen, dasselbe zugleich auch umwandeln, werden sie aus Zerstörern zu Erhaltern des Lebens, und da sie ihren Leib aus der Kohlensäure und dem in der Luft enthaltenen Stickstoff-(Ammoniak-)Verbindungen aufbauen, so düngen sie bei ihrem Zerfall den Boden mit dem für die Pflanzen so wertvollen Stickstoff.

Aber nicht allein den steinernen Gebilden der Natur sind die Mikroben gefährlich, nein, auch den Schöpfungen unserer Ingenieure, wie einige Berichte bedeutender Chemiker melden. Diesen Herren wurden Proben von Cement eingesandt, mit welchem die Sammelbassins einiger großer städtischer Wasserleitungen ausgekleidet waren, mit dem Ersuchen, den Cement zu prüfen. Dieser Cement nämlich, der mehrere Jahre dauernd mit dem Wasser in Berührung gewesen war, hatte, anstatt fester zu werden, sich nach und nach unter Bildung eines bräunlichen Schlammes gelöst. Die Untersuchung ergab, daß er allmählich völlig arm an Kalk geworden war und daß, außer dem kohlensäurehaltigen Wasser, Bakterien, die in dem auf dem Bassinboden befindlichen Schlamm reichlich sich fanden, dies zum großen Teil verschuldet, den Cement zersetzt hatten. So sehen wir den Einfluß dieser kleinsten Lebewesen überall, selbst dort, wo Leben scheinbar völlig unmöglich, ja zwecklos erscheint. Vielleicht bringt uns in dieser Hinsicht die Zukunft nocb manche Ueberraschungen.
Dr. –t.

Dichter in Gefangenschaft. Die Weltlitteratur erzählt von sehr vielen Dichtern, welche die Bekanntschaft mit den traurigen Gefängniszellen

machen mußten. Der Dichter des „Befreiten Jerusalem“, Torquato Tasso, war mehrfach in Haft und interniert, Voltaire saß sechsmal in der Bastille, der deutsche Stürmer und Dränger und Tyrannenhasser Schubart zehn Jahre auf Hohenasperg. Rouget de Lisle, der Dichter der französischen Volkshymne, kam durch Robespierre in den Kerker. Silvio Pellico, der italienische Patriot, schmachtete auf dem Spielberg, seine Memoiren über seine Gefängnishaft gehören zu den Kleinodien der italienischen Litteratur. Der Leipziger Dichter Mahlmann wurde 1813 von den Franzosen nach Erfurt abgeführt und dort in Haft gehalten. Christian Contessa, ein beliebter Romandichter, mußte 1797 in Spandau für allzuscharfe Kritik der damaligen politischen Zustände in Preußen Buße thun. Von den zahlreichen Opfern der Demagogenverfolgung nennen wir Fritz Reuter, der sieben Jahre Festungshaft erlitt. Die beiden jungdeutschen Schriftsteller Gutzkow und Laube wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt: der erstere wurde wegen seiner „Wally“, einer Novelle mit kühnen Aeußerungen, in Mannheim eingekerkert, der letztere saß wegen des „Jungen Europa“ in der Berliner Haus- und Stadtvogtei und dann in „Hausarrest“ bei dem ihm befreundeten Fürsten Pückler in Muskau. Der Königsberger Humorist Walesrode verbüßte seine Freiheitsstrafe in Graudenz, während der Freiheitskämpfer von 1848, der rheinische Dichter Kinkel, anfangs zum Tode verurteilt, im Zuchthause zu Naugard saß, bis ihn der spätere nordamerikanische Staatsmann Schurz befreite. Von den „Berliner Freien“ hat Edgar Bauer eine mehrfache Gefängnisstrafe abgebüßt. Der französische Volks- und Freiheitssänger Béranger war zu dreiviertel Jahren Gefängnis verurteilt; der englische Satiriker Leigh Hunt büßte zwei Jahre für seine Spottverse. Der spanische Dichter Quintana war sechs Jahre lang eingekerkert. Doch die schönsten Kerkerpoesien rühren von Dichtern her, die nicht eigene Erlebnisse besangen: wir meinen hier Lord Byrons „Gefangenen in Chillon“, Anastasius Grüns „Schutt“ und Saintines „Picciola“.

Veteranen des Maschinenbaus. Die älteste englische Dampfmaschine, und damit wohl überhaupt die älteste noch existierende, wurde im Jahre 1898 von der Birmingham-Gesellschaft, für welche sie volle 120 Jahre gearbeitet hatte, außer Dienst gestellt und wird seitdem von ihren Eigentümern als technische Reliquie aufbewahrt. Sie war von der ältesten Dampfmaschinenfabrik, Watt und Boulton in Soho, im Jahre 1777 für die genannte Gesellschaft geliefert, um die obere Haltung eines Schiiffahrtskanals bei Smethwick mit Wasser zu füllen. Sie hatte einen aufrechtstehenden Cylinder von 2½ m Höhe und 80 cm Durchmesser und gehörte dem System der sogenannten atmosphärischen Maschinen an. Ihr Kolben wurde, während sich der Cylinder mit spannungslosem Dampf füllte, durch das Gewicht des Pumpengestänges gehoben und dann nach dem Einspritzen von Wasser durch den atmosphärischen Luftdruck wieder hinabgepreßt, wobei die Pumparbeit sich vollzog. Die Konstruktion war einfach genug, ein hölzerner Balancier, an dessen einem Ende das Pumpengestänge, am anderen der Dampfkolben durch Ketten aufgehängt war, das wär alles.

Auch Deutschland besitzt noch einige Dampfmaschinen ehrwürdigen Alters, die älteste wohl, die 1897 ihr hundertjähriges Jubiläum feierte, in den Salzwerken zu Königsborn im Regierungsbezirk Arnsberg. Die Maschine ist zwar 1867 umgebaut, doch arbeitet sie noch heute mit dem alten Cylinder, der ersten Kondensation und Steuerung. Sie hebt vermittels 5 an den Balancier gehängten Pumpen die Salzsoole auf das Gradierwerk und steht in einem altertümlichen, mehr einer Kirche als einem Maschinenhaus ähnelnden Bau.
Bw.
[868 e]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München

WOTANSZUG
Nach dem Gemälde von E. Herger

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 28

[869]

Halbheft 28.   1899.


An des Jahrhunderts Neige.

Wenn mit dem zwölften mitternächt’gen Schlag
Sich zum Vergehen das Jahrhundert wendet
Und müde seinen allerletzten Tag
Im Dunkel eines Wintertraumes endet:

5
Dann schwingt sich, wo ihn keiner sehen mag,

Ein Riesendämon, dessen Glutblick blendet,
Und dessen Stimme laut wie Donner gellt,
Herüber zur verschlaf’nen Menschenwelt.

Tiefschattend über beide Pole breiten

10
Sich seine Flügel, schwarz, verhängnisschwer;

Gebietend ruft er, und aus Grüften gleiten
Gehorsam des Jahrhunderts Kinder her;
Als menschenähnliche Gebilde schreiten
Sie vor sein Äuge, mehr und immer mehr;

15
Dann spricht er – und es tönt bald wie Posaunen,

Bald so, wie Tote aus den Gräbern raunen:

„Verderben hab’ ich reichlich ausgesandt
In jeden Teil der Welt seit hundert Jahren;
Aus jedem Abgrund hab’ ich losgebannt,

20
Was drunten schlief an Schrecknis und Gefahren;

Nun will ich, zur Vergangenheit gewandt,
Hier Heerschau halten über meine Scharen!
Was ich der Welt an Not und Grausen schuf,
Das steig’ empor, gehorsam meinem Ruf!

25
Und sieh – ein Zug undeutlicher Gestalten

Zieht langsam her, der wie von Eisen klirrt;
Es träuft wie Blut von ihrer Mäntel Falten,
Ihr Hauch ist Mord, ein Schwarm von Raben schwirrt
Um sie; das Schwert, das ihre Fäuste halten,

30
Ist schartig; ein unheimlich Blitzen irrt

Aus ihrem Blick; der Dämon aber spricht:
„So grüß’ ich euch vor meinem Angesicht!“

„Ich schuf den Völkerhaß; der mag nicht weichen;
Höchst glorreich fing er das Jahrhundert an;

35
Das stand schmerzstöhnend unter seinem Zeichen;

Auf hundert hartumkämpften Feldern rann
Das Blut von Tapfren unter seinen Streichen,
Und in die fernste Zukunft reicht mein Bann,
Denn aus dem Jammer meiner alten Thaten

40
Erwachsen immer neue Unheilsaaten!


So ließ ich Millionen Thränen rinnen;
Es ist kein Volk, dem ich nicht Wunden schlug!
Wer Sieger war – ich konnte nur gewinnen!
Selbst über Meere flog ich grausen Flug!

45
Und neues Mordzeug denk’ ich zu ersinnen,

Es schlägt mein Schwert mir noch nicht scharf genug,
Mit breit’ren Waffen will ich mähen, mähen,
Und als Zermalmer durch die Zukunft gehen!

Verschwindet, Schatten! Laßt uns weiter schauen!

50
Trotz alles Schweißes seh’ ich blasse Not,

Gebeugte Männer, arbeitsmüde Frauen;
Zerlumpte Kinder balgen sich um Brot!
Auf Stroh in Winkeln kauern Schmutz und Grauen,
Und Scharen treibt der Hunger in den Tod,

55
Indessen haßerfüllt nach ihren Zielen

Der Anarchisten blanke Dolche spielen!

Dann seh’ ich, wie trotz aller Wissenschaft
Die Seuchen sich in Riesenstädten fristen;
Ich sehe, von den Gassen aufgerafft,

60
Giftstoffe sich in alle Häuser nisten;

Mit hohlen Augen und gelähmter Kraft
Seh’ ich die Säufer und die Morphinisten;
Ein ganz Geschlecht von Krüppeln, Irren, Siechen
Seh’ ich zermürbt in frühe Gräber kriechen!

65
Und was die Krankheit nicht zu Ende brachte,

Das ist dem seelischen Verfall geweiht,
Der dies Jahrhundert schier zur Dirne machte
Mit seinem Sumpf von hohler Eitelkeit,
Von Spottsucht, die das Heiligste verlachte,

70
Von Strebertum, Genußsucht, Schimpf und Streit,

Von Volksverderbern und von Lasterzüchtern!
Von feilen Blättern und bestoch’nen Richtern!

Doch daß der armen Menschheit nicht allein
Die Schuld an ihrem Niedergang verbleibe,

75
Rief ich den Zufall, daß er helfend sein

Wahnwitzig Spiel mit ihrem Unheil treibe,

[870]

Daß er bei seiner Werke Feuerschein
Ein Buch voll Grausen und voll Schrecken schreibe,
Daß er die blinde, angstverstörte Masse

80
Zermarternd mit den Teufelsfäusten fasse!


Ihn hieß ich tief im heißen Kohlenschacht
Erstickend seine gift’gen Dämpfe schlagen,
Ich hieß ihn mitten in der Städte Pracht
Die Häuser brechen und den Brand hintragen,

85
Ich hieß ihn – und er that’s – in Sturmesnacht

Die Riesendampfer auf die Klippen jagen,
Ich hieß ihn Berge stürzen, hieß ihn Brücken
Und Wagenzüge mitleidslos zerstücken!“

So spricht der Herr des Uebels zu den Seinen;

90
Die Schatten stöhnen; doch auf einmal fällt

Von Sonnenaufgang her mit lichtem Scheinen
Ein sternenklarer Glanzstrom in die Welt.
Ein Götterbild mit einem milden, reinen
Gesichte schwingt sich niederwärts, das hält

95
Die Hände segnend über diese Erde

Und spricht mit hehrer, schirmender Gebärde:

„Will sich zum Hingang das Jahrhundert neigen.
So sei ein Segensspruch noch sein Geleit!
Was das Verderben sprach: heut’ soll es schweigen!

100
Den Gang nach aufwärts ging auch diese Zeit!

Und gegenüber dem gespenst’gen Reigen
Des Unheils steh’n in lichter Herrlichkeit
Errungenschaften da, die nicht vergehen,
Die siegreich mit der Nacht den Kampf bestehen!

105
War auch der Krieg nicht aus der Welt zu schaffen,

Gemildert hat ihn doch die Menschlichkeit,
Es folgt das Rote Kreuz dem Weh der Waffen,
Das heiße Mitgefühl dem blut’gen Streit.
Es regt sich alles, Recht und Schutz zu schaffen;

110
Fürsorge ist für jede Not bereit;

In immer eng’ren Bann zwingt man das Schlechte.
Und immer stärk’re Form gewinnt das Rechte!

Aus allen Winkeln will der Reichtum sprossen,
Dem Völkerwillen wich die Tyrannei,

115
Im Frieden sammeln sich die Werkgenossen

Und jedem steht das Wort zur Rede frei.
Ein Schatz von Allgemeingut ward erschlossen,
Der immer wachse, jedem dienstbar sei;
Rings um den Erdball braust in frohem Streben

120
Von Jahr zu Jahr verstärktes Völkerleben.


Wohl, ruhmreich ist, was dies Jahrhundert that!
Gespalt’ne Berge können das verkünden!
Die Schöpfung warf man in ein Feuerbad,
Um neuen Stoff und neue Kraft zu finden;

125
Um Gletscher schlang man luft’gen Eisenpfad

Und schöpfte Licht aus Nacht und Felsengründen;
Nie flogen so wie heute die Gedanken
Wie Blitze über längstverjährte Schranken.

Und machtvoll kämpft mit ihren reinen Händen

130
Für alles Herrliche die Wissenschaft;

Ihr gilt es, helfen, retten, Schmerzen enden,
Dem Weltverderben nimmt sie seine Kraft;
Zum Heil und Segen will sie Krankes wenden;
Nie rückwärts weicht sie, sondern prüft und schafft.

135
Indessen ihr zur Seite, stets begeistert,

Die Kunst des Lebens rohe Stoffe meistert.“

So spricht der Geist des Lichts. Und segnend breitet
Er seine Flügel, wie ein Lenzhauch weht
Es von ihm her; der andre aber gleitet

140
Fort in die Winternacht, wo er zergeht.

Die Wetuhr schlägt. Ihr großer Zeiger schreitet
Voran, sein Gang ist schicksalsreich und stät;
Der Menschheit Hoffnung aber und ihr Segen,
Sie geh’n mit ihm der Zukunft froh entgegen!
 Max Haushofer.


Der König der Bernina.

Roman von J. C. Heer.
(Schluß.)


19.

Eine alte Stadt an einem blauen Fluß und am Ufer ein großes buntes Fest – überall wogende Wimpel.

Ein Taumel durchbraust die Straßen, aber so vielen Bannern man zujauchzt, keinem doch mehr als dem des fernen Engadins, seinen drei Wagen voll Wild, seinem Bären, der auf Tannenreisern liegt. „Hoch, Engadin – hoch!“ – überall läuft der Ruf vor den starken Männern des Gebirgs, die, von schönen Frauen und lieblichen Mädchen begleitet, in so stattlichen Scharen niedergestiegen sind.

Und vor ihnen schreitet einer hoch und breit und gewaltig wie ein Held der Vorzeit, wie der lebendig gewordene Fels des Gebirgs. Er trägt sein Banner, das Steinbockbanner, mit unvergleichlicher Würde und Vornehmheit. Und obgleich er kein Jüngling mehr ist, fliegen ihm von den Erkern herab die Blumen der Mädchen und Frauen zu und die Tücher winken. Und überall ertönt der Ruf: „Der König der Bernina! Der König der Bernina, der so viele Menschen aus den Lawinen gerettet hat!“ Wer kannte ihn nicht aus Bildern und Kalendern!

Eine Art Ehrfurcht breitet sich um den stolzen, freien Mann, der in der Reife der Kraft dahinschreitet.

Der Ehrung der Bündner war ein besonderer Tag gewidmet. Da verkündete der Herold von der Tribüne: „Adam Näf von Aarau hat das Wort.“ Und der Redner steht. Fast trocken, doch mit weittragender Stimme spricht er: „Es ist ein Mann unter uns, unter euch, ihr Bündner, der ist verleumdet worden! Die, die Uebles wider ihn redeten, haben nicht einen Zeugen, hier aber steht einer, der es erlebt hat, wie Markus Paltram ein Held ist. Und zweiunddreißig Zeugen aus weiter Welt will ich euch noch melden. Folgende Personen hat er aus den Lawinen gezogen.“

Er entfaltet ein Papier – in der reichgeschmückten Hütte, wo viele Hunderte tafeln, ist es so still, daß man die Wasser des blauen Flusses vorüberrauschen hört.

Und Name folgt auf Name.

Jeder ruft dröhnenden Jubel hervor, wie aber der Ludwig Georgys durch den Raum dahinschwebt, erheben sich Stimmen: „Er ist hier!“ und hundert tragen den überraschten, zappelnden Maler auf die Tribüne, zu Adam Näf.

Gewaltiger Jubel erbraust an allen Ecken und Enden.

Endlich, endlich ist die lange Liste gelesen – auf den Schultern trägt man Markus Paltram auf die Tribüne.

[871] Der gewaltige Jäger steht zwischen zweien, die er gerettet hat.

Das Volk erhebt sich in Freudenrufen, mit entblößten Häuptern grüßt ein ganzes Land den einzelnen Mann. Die Musik spielt und das Vaterlandslied rauscht durch die uralten Baumkronen, die ihre Aeste in den Fluß neigen.

Markus Paltram sagt: „Es ist zu viel“; er macht sich los, er kehrt erschüttert zu den Seinigen zurück.

Aber nun erklingt der Männergesang des Rhätischen Bunds, das romanische Lied:

„Mein Engadin, du Heiligtum,
Im Schneeland nur ein grüner Strich –
Doch bist du unser Glück und Ruhm,
Ich liebe dich, ich liebe dich!“

Auf die Tribüne hebt man Konradin von Flugi, der dem Ladin die Flügel des Gesanges verliehen hat.

Dann spricht Luzius von Planta im Namen des Engadin, erzählt von Niedergang und neuem Glück.

„Der große Verkehr zwischen Nord und Süd ist uns wohl für immer verloren, aber in unsern Dörfern blüht schönes Sommerleben, und unser Volk ißt nicht mehr das Brot der Selbstverbannung.

Kommt ins Engadin und seht: Wir sind auferstanden!“

Da trägt man Körbe auf die Bühne, und man giebt dem Redner aus feuchtem Moos herrliche Kränze.

„Einen Gruß soll ich auch bringen aus dem verlorensten Winkel der Schweiz – von Puschlav!

Mit den Blumen einer wackern Bündnerin umkränze ich das Wappen des gemeinsamen Vaterlandes.

Ihr andern Schweizer seid stolz auf die neugegründeten Pestalozzischulen – die erste aber besaß Puschlav!

Die Gründerin ist die Frau, die diese Blumen schickt.“

Unendlicher Jubel!

Drei Tage noch blieben die Bündner, die Engadiner an dem Feste, und ihre Schützen errangen manchen schönen Preis. Doch wurde der „König der Bernina“ nicht der Schützenkönig des Schweizerlandes – aber überall war für ihn Ehre!

„Ich habe nicht gut geschossen – statt der Scheiben sah ich immer Jolande. Daß das Kind nicht mitgekommen ist!“

Niemand drängte heimwärts wie er – und wie sie wieder im Bündnerland waren, niemand ins Engadin hinüber wie er.

Das im Thal gebliebene Völkchen erwartet seine ruhmreichen Schützen auf dem Albula und kredenzt ihnen im Strahl der weißen Berge die Becher.

„Warum ist mein Kind nicht unter euch?“ fragt Markus Paltram.

„Wir haben Jolande gesucht, aber nicht gefunden.“

Da reißt der gewaltige Mann die Feder vom Hut, da wirft er das Banner dem nächsten zu und löst sich aus dem festlichen Zug und weint wie ein Kind.

Die Leute aber verstehen ihn nicht. „Jolande wird sich schon wieder finden!“

Seine Züge sind verzerrt in Angst, allen voran eilt er nach Pontresina.

„Jolande!“ geht sein Ruf in die nächtlichen Berge.

Und Schwereres ist im Engadin nie erlebt worden. In den Schluchten und auf den Höhen suchen Hunderte Jolande Paltram – die Jägerin – und beim Schein der Laternen kommen die Abteilungen der Sucher entmutigt zurück.

Geheimnisvoll verschwunden ist Jolande – so geheimnisvoll wie einst Sigismund Gruber.

Zuletzt sucht nur noch einer.

Und entsetzt horchen die Bergamasker in die Nacht des Gebirges.

„Jolande – Landolo!“ schreit eine Stimme, daß es an den Firnen wiederhallt – stundenweit durch das Schweigen der Berge klingt die Stimme.

So Nächte, so Wochen!

Und der einsame Sucher schläft nicht, er ißt nicht – die große Teilnahme des Volkes und der Gäste lassen ihn kalt. Sein ganzes Leben ist der Ruf: „Jolande – Landolo!“

Und doch weiß er: die silberne Stimme seines schönen Kindes wird nie mehr antworten: „Vater!“

Seit er erfahren hat, daß Jolande mit dem jungen Lorenz Gruber in Sonne und Mond über den Albula gewandert ist, kennt er ihr Schicksal. In dem Jüngling kreist das Blut Cilgia Premonts, in Jolande kreist das Blut Paltrams. Und was Paltram heißt, muß, was von Premont kommt, lieben! Zwischen den jungen Herzen aber stand das Gerippe Grubers auf. Und Jolande ist an ihrer hoffnungslosen Liebe vergangen.

Zuletzt hat man sie an der Berninastraße sitzen sehen, wie wenn sie auf jemand warte, und es geht ein Gerücht, noch einmal sei Jolande als Landolo in die Berge gegangen, man habe sie mit einem Bündel in der Hand in der Abenddämmerung auf dem Weg nach Puschlav gesehen.

Aber es ist alles so unbestimmt – was soll das Bündel?

Eines Tages scharrt Markus mit dem Fuß auf der Stelle, wo die Gebeine Grubers lagen. Er wühlt und findet sie nicht mehr!

Da weiß er: Jolande, das seltsame Kind, hat sie nach Puschlav hinübergetragen und in geweihter Erde bestattet.

Durch das Gebirge gellte sein Ruf: „Jolande – Landolo!“

Eines Tages aber, wie es schon in den September geht, verstummt der Ruf. Konradin von Flugi steht mit Gästen am Morteratsch und sie bewundern die herrlichen Farbenspiele des Gletschers, die hohen weißen Wände der Bernina.

Da schreitet über die funkelnde Kante des Gletschers eine machtvolle Gestalt und trägt eine andere leichte Gestalt, und wunderlich hebt sich die dunkle Gruppe vom Silber des Piz Bernina ab.

Sie kommt die Furchen des Gletschers herab – es ist Markus Paltram, der graue Jäger.

Es ist der König der Bernina, er trägt seine tote Tochter im Arm. Er steht still – er küßt sie – er steigt herab.

Und die Spähenden schluchzen vor Weh – er aber lächelt.

„Seht! – seht! Jolande ist wie lebend – sie hat noch Farbe in den Wängelchen. Sie ist nicht Hungers gestorben, denn neben ihr lag noch ein Bissen Brot. – Sie ist ohne Schmerzen geschieden, denn seht, mit einem Lächeln auf den Lippen ist sie erstarrt!“

An der Isola Persa, an der verlorenen Insel, wo sich der Gletscher mit Türmen und Brücken zu einer Stadt erbaut, wo die geheimnisvollen Azurlichter traumwandeln, wo die Maid von Pontresina auf Aratsch wartet, hat er sie entdeckt – nicht eine Leiche, sondern eine Schlafende.

„Sie hat noch Farbe in den Wängelchen!“

Sonderbar! – Er wußte so beredt den sanften Tod zu schildern, der denen beschieden ist, die im Eise sterben: „Ein leises Frieren – eine Müdigkeit – die Lider sinken. Seht! Jolande wollte noch das Stückchen Brot heben – da, mitten in der Bewegung, schlummerte sie ein – und schöne Träume füllten ihr Herz.“

Schöne Träume! – Er hätte sagen können: „Ein Liebestraum!“

In den Reif an den Wänden der Gletscherspalte hatte sie mit dem Finger den Namen „Lorenz“ geschrieben.

Den Namen „Lorenz“, nicht das Wort „Vater!“

O, wie ihn das mit einer unendlichen Wehmut erfüllt! Aber er versteht sein heißes, keusches Kind – die dunkle Gewalt, die sie dorthin getrieben hat, wo die Maid Aratsch, den Geliebten, erwartet.

Die Liebe, die Liebe – eine junge Lenzliebe! Und der Reif ist darüber gegangen – daran ist Jolande gestorben.

Nun haben sich alle Geschicke erfüllt.

Wie der Name der Maid ist der Name Paltram erloschen.

Und die Missethat des Vaters hat sich gerächt am Kind. Nun muß nur noch Cilgia kommen.

Denn vor dem Weltuntergang dürfen sie einen Tag wandeln.

„Ob sie wohl kommen wird? Aber sie müßte rasch kommen!“

Markus Paltram weiß es, er ist ein gebrochener Mann. Die Sorge um sein Kind hat die felsenen Kräfte verzehrt, er wird nie wieder in die hochherrlichen Berge gehen, der letzte Schuß ist gethan und auf den Piz Bernina wird er nie steigen.

Der König der Bernina hat sein Königreich verloren. Durch den Abend trägt er sein schlafendes Kind.

20.

Die Glocken von Pontresina läuten in einen hellen Tag. Sie läuten dem schönen Jägerknaben Landolo ins Grab.

[872]

Der Trinkspruch auf das neue Jahr.
Nach einer Originalzeichnung von W. Gause.

[873] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [874] Von den Dörfern strömt die schwarzgekleidete Menge nach Pontresina, die malerischen Bergamasken steigen von den Bergen und die letzten Sommergäste von St. Moritz mischen sich unter das einheimische Volk.

Frau Cilgia geht in der Schar.

Zum Kirchlein Santa Maria empor tragen Jünglinge den schwarzen, mit Alpenblumen bedeckten Sarg. Die Sterne des Edelweißes leuchten aus tiefblauen Enzianen und die glühenden Bergnelken funkeln.

Die man begräbt, war keusch wie das Edelweiß, sie war voll reichen Schweigens wie der Enzian, ihr Herz so feurig wie die Bergnelke.

Hinter dem Sarg schreitet Markus Paltram, der Furchtbare, der Gewaltige – der Herr der Bernina. Erhobenen Hauptes, doch mit tiefen Furchen im ehernen Antlitz, in erhabener Trauer schreitet er mit der letzten Kraft.

Und wie die Jünglinge den Sarg auf dem Kirchhof von Santa Maria abstellen, die Gemeinde sich mit entblößten Häuptern im Kreise sammelt, da fliegen ihm die scheuen Blicke des Volkes zu. Jedermann spürt es: der Tod Jolandes ist kein zufälliger, höhere Hände haben über dem einsamen Sterben des Kindes gewaltet – sein Tod ist der letzte Stempel auf den Losen Markus Paltrams.

Wer aber mag ihn richten, den Helden, den Retter? Gewältig groß ist die Bergwelt mit den weißen Flammen der Firne, mit den dunklen, ringenden Gestalten der Arve auf den Felsen, mit den Gletscherspalten, in denen die Wasser geheimnisvoll verklingen, mit dem unergründlichen Sternhimmel über blassen Gipfeln, mit den zuckenden Blitzruten der Wetternächte, mit den Sagen des friedlosen Ritters und des Liebespaares, dem am Ende der Tage zu wandeln beschieden ist.

Muß da nicht von Zeit zu Zeit einer aufstehen, in dem die Kräfte des geheimnisreichen, in Lawinen donnernden, in dunklen Lauten seufzenden Gebirges Schicksal werden?

In Markus Paltram ist die Urgewalt der Berge Mensch geworden. Und was auch im Tode Jolandes gerächt worden sei, was auch das große Gebirge mit seinem Schweigen an schweren Ereignissen verhüllen mag – die Verteidigungsrede des Lebens ist stärker als die Anklage des Todes.

Dreiunddreißig hat Markus Paltram aus dem Verderben gerettet – und aus seinen Thaten erblühte das frische Leben eines ganzen Thales.

So urteilt die trauernde Schar von Santa Maria.

Am Sarge Jolandes betet der greise Pfarrer Jakob Taß. Und er spricht mit der hoffnungsreichen Zuversicht des Mannes, der stets an ein letztes schönes Ziel alles Daseins geglaubt hat: „Ueber den Sternen hält die Liebe Wort!“

Da schluchzt Markus Paltram vor allem Volke auf und schwankt – und die nächsten müssen ihn halten – der felsenfeste Mann ist schwach geworden.

Mächtig erschüttert das Bild, es ergreift die Herzen wie Schicksalswende.

Und es ist Schicksalswende! –

Im lichten, goldenen Gebirgsabend schreitet vom Pfarrhaus eine hohe Frauengestalt durch die alten Gassen von Pontresina gegen das graue Kirchlein Santa Maria empor. Und die Dörfler grüßen ehrfurchtsvoll.

„Cilgia Premont,“ flüstern sie.

Und sie erzählen von dem schönen, lebensfreudigen Fräulein, das vor vielen Jahren mit dem Lateinbuch nach Santa Maria emporgeschritten sei und die Geißen abgeholt habe.

„Man wußte schon damals, daß sie eine Besondere sei; aber daß sie helfen würde, St. Moritzbad zu gründen, daß sie eine ganze Gemeinde heben und ihr Gedeihen geben würde, das dachte niemand!“

So sprechen sie hinter der Schreitenden.

Sie ist kein junges Mädchen mehr – statt in gelehrten Büchern hat sie im Buch des Lebens gelesen, das schwerer ist, und die grauen Fäden haben sich darüber in die Kastanienhaare gemischt. Aber ihre Haltung ist stolz wie einst, der Gang leicht und anmutsvoll, und die goldbraunen Augen haben ihren Glanz bewahrt und schauen, allerdings sanfter und von Schicksalen umflort, immer noch gläubig siegreich in die Welt.

Aber es ist doch eine wohlthuende Gestalt mit der Schönheit eines überlegenen Sinns und vornehmer Güte, eine Gestalt, von der Leuchten und Wärme ausgeht.

Ein Schein der Jugend ist immer noch über Cilgia Premont, wie das Licht am Firn, wenn der Tag schon vergangen ist.

Sie träumt auf der Bank am alten Thor von Santa Maria, dem Ort, der schön und stimmungsvoll ist, wenn sich die Gipfel der Bernina röten.

Aus dem Bergwald kommen, von einer jungen Hirtin geführt, mit Geschell die Ziegen.

Da weckt ein Ton Cilgia aus dem Bilderzug der Erinnerungen.

Malepart, der Wolfshund Markus Paltrams, das alte schäbige Tier, heult am Gitter des Kirchhofs.

„Er sucht seine junge Herrin.“ Cilgia öffnet ihm das Thor – sie tritt selber in das stille Reich der Toten.

Da – am frischen Grabhügel kniet, den Kopf in die Blumen gebeugt, Markus Paltram.

Sie zagt einen Augenblick – sie tritt näher – sie flüstert: „Markus!“

Er rührt sich, stöhnend will er das Haupt erheben – es geht nicht. Sie stützt ihn, und erst jetzt sieht er sie.

„O, Cilgia, der Untergang ist da – die Liebenden dürfen wandeln – aber nur einen Tag – Cilgia – nur einen Tag!“

Und sie blickt in ein verfärbtes Gesicht. „Soll ich Hilfe holen, Markus?“

„Nein – bleibe bei mir, Cilgia!“ bittet er flehentlich. Er erhebt sich plötzlich – er steht schwankend. „Gute Nacht, Jolande – du mußt nicht lange warten. Ich komme, Kind!“

Und wie ein Trunkener geht er gegen das Thor. Sie stützt ihn. Langsam schreitet das Paar in der Dämmerung gegen die Hütte mit dem Wasserrad.

Am Morgen verbreitet sich die Nachricht: Markus PaÜran, der König der Bernina, ist am Sterben – Cilgia Premont, mit der er vor vielen Jahren einmal verlobt war, wartet ihn zu Ende.

Sie wartet ihn zu Ende!

Und zusammen wandeln, die sich liebten, noch einmal den langen schmerzensreichen Weg des Lebens hinab von der Bergzinne von Fetan bis an diesen letzten Tag.

Markus Paltram stöhnt:

„Ich schlug dich und unterlag – du liebtest, du siegtest – o, Cilgia, du bist stärker als Katharina Dianti! Du hast die dunkle Seele des Camogaskers mit Licht erfüllt – du hast mir die Kraft zu ein paar guten Thaten gegeben – die Flamme wollte ich dir holen vom Bernina – aber, ach, meine Hände waren nicht rein genug, und ich mußte Gruber schlagen! Das war die schwerste Stunde – da wußte ich: das Schicksal ist über mir! Ich trug den Blutschein, den mir das Volk gegeben hat, wie eine Strafe. – Und deinen Sohn klage ich nicht an – es ist geschehen, was geschehen mußte: die Ueberhebung, die Untreue hat Frucht getragen – und meine Landola ist im Gletscher vergangen.“

Die Thränen Cilgias benetzen seine eingefallenen Wangen, und ihre Hand hält die seine umschlungen.

Erst nach einer Weile spricht er wieder:

„Ist das nicht sonderbar, daß ich im Bette sterben muß – ich, der Jäger – ich meinte, ich würde einst in den Felsen enden – aber es ist eine große Güte – und du bist da, Cilgia!“

„Still – still – Markus, es giebt nur ein Unglück in meinem Leben – es ist das, daß ich dich nicht habe glücklich machen können, du mein wilder Markus!“

Ein Strahl kommt aus den Augen Markus Paltrams – er wird ruhiger – und der Tag will sinken.

Da horch – von ferne tönt ein weiches Lied.

Die Freunde des ehemaligen Jugendbundes sind zusammengekommen – ohne einen Abschiedsgruß soll Markus Paltram nicht scheiden. Ihre Gesänge rauschen wie Traum aus der Ferne. Und die Berge der Bernina glühen, als blühten die Alpenrosen bis zu ihren Gipfeln – nein, als brächen lebendige Flammen hervor!

In überirdischem Glänze stehen Gebirge und Thal – und die Lieder klingen.

[875] Eine Stunde später verbreitet sich die Kunde: Markus Paltram ist gestorben, sanft und ruhevoll ist er dahingegangen.

Das Engadin hatte keinen Größern zu verlieren. Er war sein großer Jäger, sein Retter, sein Arzt. Und sein friedliches Scheiden beruhigte.

Er war besser als sein Ruf – und eine Blutschuld hat nach seinem Tod das Engadin nie auf Markus Paltram kommen lassen.

Cilgia Premont aber sah ihren Sohn zum Manne werden und erlebte an ihm Freude.

Nur eine schwere Stunde war ihr noch beschieden.

„Mutter,“ sagt der ernste, zu männlicher Schönheit erblühte Lorenz, „es war ein alter halbgelähmter Bettler da – er nennt sich der lange Hitz – er wünschte Geld, und er sprach von meinem Vater. Mutter, rede, was weißt du vom Vater?“

Und vor dem Sohne schließt die Mutter das große Geheimnis ihres Lebens auf.

„Warum thatest du so, Mutter?“ fragt er in heißen Schmerzen.

„Ich wollte, daß kein Leid auf das sonnige Haupt meines Sohnes komme – sein Name ohne Makel sei!“

Da küßt er in tiefer Bewegung die Stirne der Frau.

Und Cilgia hat noch wundersame Tage gesehen.

Sie erlebte es noch, wie der langsame Andreas Saratz von Pontresina mit andern wackern Männern Bündens den Piz Bernina erstieg und das kühne Haupt sich unter dem Tritt der Menschen beugte. Sie erlebte es noch, wie tausend und aber tausend sommerfrohe Menschen das einst so einsame Engadin durchstreiften, jubelten über die reinen Seen, über das kindliche Licht, und zu Berge stiegen und das Thal als eine unvergleichliche Schönheitsoffenbarung der reichen Erde priesen.

Nur das Wunder des heutigen Engadins hat sie nicht mehr gesehen.

Denn ein Wunder ist das jetzige Engadin.

Zwischen weißen Bergen nur ein grüner Strich, wo kurzes Gras und Alpenblumen wachsen, besitzt es drei blühende Städte – Samaden, St. Moritz, Pontresina – und was schön ist, was die Menschen erfreut, giebt es in seinen reichen Palästen! Sie haben sich mit Kunst geschmückt, in reichen Büchereien stehen die Dichter in Reih’ und Glied, und der Wanderer komme, aus welchem Lande er will, so grüßen ihn jung und alt in seiner Heimatsprache.

Aber das hochgebildete Volk hat noch eine Herzenssprache – das Ladin, die Dichtersprache Konradins von Flugi.

So lange die innigen Seen strahlen, werden seine Lieder klingen. So lange die Alpen grün werden, wird das Volk der Bergamasken am Herdfeuer die Sagen von Markus Paltram erzählen und in die Nacht horchen, ob er nicht gegangen kommt. Denn sie glauben, der Sohn des Camogaskers, der König der Bernina, durchwandere immer noch sein Reich.

Er ruht aber zu Santa Maria bei Pontresina.

Und die weiße Flamme der Bernina hütet das stille Grab und das des schönen Jägerknaben Landolo.




Der große Geburtstag.
Eine Silvesterbetrachtung von Ernst Muellenbach.

Vor dreizehn oder vierzehn Jahren war es, als wir mal wieder zur Silvesterfeier auf der „Kneipe“ beisammen saßen, die in solchen Stunden häuslicher Feierstimmung dem heimatfernen Studenten, manchmal auch dem ortsansässigen, noch unbeweibten „Alten Herrn“ das Familienzimmer ersetzen muß. Das neue Jahr hatte soeben unter einem donnernden „Salamander“ seinen Einzug gehalten, die ersten Glückwünsche waren auch erledigt, und über der zuvor so lauten „Corona“ lag das verlegene Schweigen, das auf den Ausbruch einer allgemeinen fröhlichen Rührung manchmal folgt. In diese fast commentwidrige Stille schlug plötzlich eine wunderliche Frage herein …

Wir hatten damals unter den älteren Aktiven unserer Korporation einen prächtigen blonden Hünen aus einem der allernördlichsten Gaue des Reiches, tüchtig, treu und trinkfest, aber ein wenig mit dem behaftet, was man in der Studentensprache eine lange Leitung nennt, das heißt, sein Denken ging einen etwas langsamen, bedächtigen Schritt. Er ließ zuweilen den besten Witz gelassen an sich vorüberlaufen, um ihn etwa nach einer halben Stunde einzuholen und mit einem verspäteten Gelächter zu begrüßen, wenn die anderen schon gar nicht mehr daran dachten. Seine eigenen Einfälle verarbeitete er ganz im stillen, mit einer gewissenhaften Gründlichkeit; das Ergebnis kam dann um so plötzlicher und durch Wortkargheit eindrucksvoller heraus. Aber selten hatte er einen so verblüffenden Eindruck erzielt, wie in jener Silvesternacht, als er mitten in das große Rührungsschweigen, mit einem ganz ernsthaften Rundblick aus seinen blauen Sachsenaugen, die Frage hineinwarf: „Warum feiert man eigentlich Silvester?“

Etliche lachten, andere starrten ihn ganz erschrocken an. Ehe aber von uns Aelteren einer sich auf eine Antwort besonnen, scholl vom unteren Ende der Tafel eine sehr helle und frische Stimme: „Weil dann die Menschheit ihren großen Geburtstag hat.“

Der das rief, war ein blutjunger Fuchs, aus der Gegend, wo man den besten Pfälzer Wein baut. Dieser Fuchs wurde darauf hin vom Fuchsmajor in die Kanne geschickt, „wegen Vorspiegelung von Intelligenz“, und das allgemeine Gelächter begrub ihn wie eine Meereswoge. Ich sehe ihn im Geiste noch, wie er unter diesem Sturzbad mit seinen quicken Pfälzeraugen hervorguckte, zugleich beschämt und befriedigt über den ungeahnten Heiterkeitserfolg. Wenn er mir aber jetzt leibhaft gegenüber säße, würde ich sehr gern mit dem gestrengen Herrn Oberlehrer ein Glas Punsch auf seine damalige Fuchsweisheit trinken und ihr bei einigen weiteren Gläsern auf den Grund zu kommen suchen.

Thatsächlich giebt es für beinahe jeden unter uns in einem Kalenderjahr zwei Tage, an denen sich für ihn ein neuer Jahresring an die Kette schließt. Den einen Tag teilt er mit einer Anzahl von Mitmenschen, von denen er aber doch im besten Falle nur einen oder einige näher kennt. Den andern teilt und feiert er mit der Gesamtheit aller, die nach demselben Kalender rechnen wie er – das heißt also in unserem Falle: mit dem weitaus größten Teile der civilisierten Menschheit. Am Geburtstag heißt es: „Jetzt bin ich wieder ein Jahr älter!“ In der Silvesternacht begrüßen wir einander: „Jetzt sind wir wieder ein Jahr älter!“ In diesem „wir“ liegt der moralische Berechtigungsbrief für die gemeinsame Feier der Neujahrsnacht, als notwendiges und löbliches Gegengewicht zu der egoistischen Geburtstagsfeier. Ein erwachsener und civilisierter Mensch, der nur sich zum Geburtstag Gutes wünscht und nicht auch der Menschheit zum neuen Jahr, wäre zu bedauern und auch einigermaßen zu beargwöhnen. Ich glaube aber, daß dieser Mensch verhältnismäßig selten vorkommt; denn die allgemeine Rührung wirkt wenigstens auf ein Weilchen erwärmend auch auf kalte Herzen, zumal wenn man ihr mit heißem Punsch und anderen guten Sachen nachhilft.

In einer merkwürdigen Ausnahmslage befinden sich nur diejenigen, deren Wiegenfest mit dem Anfang eines neuen, bezw. dem Ende eines alten Menschheitsjahres zusammenfällt. Denen bleibt nichts übrig, als sich und der Menschheit in einer Sitzung Glück zu wünschen. Sollten sie dabei des Guten zu viel thun, so wird man ihnen doch mildernde Umstände zuerkennen müssen. Ich habe einen von dieser Sekte gekannt, bei dem der Fall noch besonders verwickelt lag. Er war nämlich in einer Silvesternacht geboren, ob aber vor oder nach Mitternacht, darüber bestand in seiner Verwandtschaft ein nie beglichener Glaubenszwist. Schule und Staat stützten die eine der beiden Auslegungen, aber die häusliche Gegenpartei ließ sich selbst dadurch nicht herumkriegen, sie behauptete, der junge Mann gehöre erst in die nächste Jahresklasse, und enthielt ihm ihre Glückwünsche mit Vorliebe bis in die späteren Nachmittagsstunden des 1. Januar vor. Er wurde dadurch mit der Zeit selber ganz irre, und als er mir nach Jahr und Tag wieder begegnete – als Studiosus der Medizin –, war es schon so weit mit ihm, daß er seine Geburtstagsfeier mit

[876] einem Frühschoppen am 29. Dezember anfing und mit einem Grogabend am 2. Januar beschloß, um nur ja keinen vor den Kopf zu stoßen. Während dieser Zeit war er ausnehmend weich und philosophisch gestimmt, gewiß ein Beweis, daß er über seinem eigenen nicht den „Geburtstag der Menschheit“ vergaß.

Um aber darauf zurückzukommen: daß diese Bezeichnung wirklich noch lange nicht das Dümmste war, was ein Fuchs vorbringen kann, erhellt ganz deutlich aus der Art, wie man Silvester feiert – nämlich nach Möglichkeit gerade so wie einen Geburtstag. Der mehr oder minder redlichen „Rückschau, Einschau und Umschau“, die der einzelne am Schlusse des Lebensjahres hält, entsprechen am Schluß des „bürgerlichen Jahres“ die „Rückblicke“ der Zeitungen und Zeitschriften. Auch sie dienen einem wirklichen Bedürfnis des Gewissens. Die Neuzeit hat den bewußten Anteil des einzelnen an Wohl und Weh, an Leben und Weben der Allgemeinheit in allen ihren Formen, von der Dorfgemeinde bis zum Ganzen der Menschheit, ganz unvergleichlich gesteigert. Das bleibt unbestritten, auch wenn man bereitwillig auf der anderen Seite einen recht hohen Posten von gedankenloser Neuigkeitssucht in Rechnung stellt. Denn diese Sucht gab es gerade so reichlich, als statt der Zeitungsweiber der fahrende Spielmann herumzog und seine Nachrichten von der Welt Begebenheiten in schlechten Reimen herunterorgelte. Wenn aber heutzutage z. B. die erste Nachricht von einer großen Erfindung, oder vom Tode eines hervorragenden Mannes sogleich rund um die Erde auch die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen findet, für die der Mann unmittelbar gar nichts gethan hat oder die von der Erfindung zunächst gar nichts haben, so spielt dabei eine sehr ernsthafte „Neugier“ mit. Das öffentliche Wissen oder Ahnen von der Bedeutung des einzelnen Ereignisses für die Allgemeinheit ist lebendiger geworden, und damit auch das öffentliche Gewissen. Die Allgemeinheit fängt an zu merken, daß sie ebensowenig wie der einzelne Erwachsene ein Recht hat, gedankenlos ins neue Lebensjahr hinüberzubummeln. Sie hält Zwiesprach mit ihrem Gewissen, das ja, ob mehr, ob minder vollkommen, durch die Presse zu ihr spricht, und läßt sich noch mal Gewinn und Verlust, Täuschungen und Lehren des abgelaufenen Jahres durch den Kopf gehen – am „großen Geburtstag“, wie es der einzelne an dem seinen thut oder doch thun sollte.

Wenn aber der Mensch solchermaßen Einkehr in sich gehalten, die allerbesten Vorsätze gefaßt und sich in seinen eigenen Augen moralisch veredelt hat, so erwartet er auch, daß man ihm zum neuen Lebensjahre Glück wünscht und womöglich recht viel Nettes schenkt. Die Menschheit empfindet für ihren großen Geburtstag den gleichen Wunsch und erfüllt ihn nach Möglichkeit, indem sie diesen Tag zur Würde eines allgemeinen Geschenkfestes erhebt. Darauf ist sie sogar sehr früh und überall gekommen; schon bei den antiken Völkern so gut wie bei Chinesen und Indern war die Jahreswende, was sie noch heute z. B. bei den Franzosen ist, die Zeit der allgemeinen „Gebelaune“. In der deutschen Familie hat sich diese Bedeutung, im Verfolg einer sehr schönen und wahrhaft frommen Auffassung, allmählich auf den Christabend übertragen. Außerhalb der Familie aber erwartet und erhält auch bei uns der „dienende Geist“ in allen Verkörperungen, vom Stammtischkellner bis zum Laternenanzünder, noch heute sein „Neujöhrchen“, wie man bei uns am Rhein sagt. Umgekehrt war es und ist es noch vielfach am Rhein – und auch wohl in anderen deutschen Gauen – Brauch, daß Wirte, Bäcker, Metzger, Krämer etc. zur Jahreswende ihren Kunden etwas Gutes umsonst zukommen lassen. Diese Sitte finde ich besonders sinnig, weil sie vor den Neujahrsrechnungen herwandelt wie ein milder Oktobertag vor den Novemberstürmen.

Das beliebteste Geburtstagsgeschenk – wenigstens seitens der Geber – sind bekanntlich fromme Wünsche. Sie machen sich gut, kosten kein Geld und können dennoch für den Empfänger mehr als Geldeswert haben, je nachdem er zu dem Geber steht. Sie sind auch das üblichste Geschenk am „großen Geburtstag“ – ja, es ist dies vielleicht der einzige Fall, wo alle Welt wetteifert, eher zu geben als zu nehmen und in dem Vorrang beim Geben einen Lohn zu sehen, den man dem andern „abgewinnt“. Man beschränkt sich dabei auch nicht auf den Kreis der eigenen Lieben, Freunde und Bekannten. Durchaus im Sinne eines Festes der Menschheit, beseelt von dem Schillerschen „Diesen Kuß der ganzen Welt!“, ruft man auf Gassen und aus Fenstern seinen Glückwunsch allen unbekannten und unsichtbaren Ohren zu, sobald der bedeutsame Augenblick da ist, und manchmal noch früher – es ist merkwürdig, wie verschieden, selbst innerhalb eines Hauses, die Uhren in der Silvesternacht gehen! Indes kommt am Ende nicht so viel darauf an, wenn man bedenkt, daß die deutschen Uhren ja erst seit einigen Jahren verpflichtet sind, sämtlich zugleich ihre beiden Zeiger auf der Zwölf zu vereinigen, und daß z. B. ihre belgischen Kolleginnen dasselbe erst eine knappe Stunde später thun dürfen. In Neutral-Moresnet, das Belgien und Preußen gemeinsam gehört, gelten beide Zeiten, und es hat mich dort sehr angesprochen, wie sinnig die Eingeborenen diesen Umstand benutzen: sie gehen nach der deutschen Uhr ins Wirtshaus und nach der belgischen heim, und das steht ihnen merkwürdig solid. Gleicherweise dauert dort unter Verwendung zweier Uhren verschiedener Staatsangehörigkeit der vielberufene „Augenblick“ zwischen zwei Jahren eine kleine Stunde, und man kann sich dort im leeren Zeitraum zwischen zwei Jahrhunderten verloben, was sich in der Erinnerung gewiß romantisch genug ausnehmen wird.

Wann diese Verlobung stattzufinden hätte, ob in der Silvesternacht 1900 oder 1901, darüber hat sich die Menschheit ja nachgerade genug herumgezankt. Die Mathemattk spricht für 1901, aber die schönere Rundung der Zahl für 1900. Nach meiner ketzerischen Meinung kommt am Ende auch darauf nicht viel an. Für die deutsche Welt giebt es allerdings einen ganz besonders ernsten und „großen Geburtstag“, aber der liegt noch ziemlich fern und mitten im Kalenderjahrhundert – nämlich, wenn das Jahr 1970 anhebt.

In so ferne Zeiten ist der Ausblick verwehrt und selbst das Träumen Vermessenheit. Wohl aber sollen wir heuer und alljährlich am „großen Geburtstag“ auch dem Vaterlande unsere besten Vorsätze weihen. Dann dürfen wir ihm auch zum neuen Jahre wünschen, wie es in einem der Silvestergedichte des alten Nürnberger Meistersingers Hans Folz treuherzig heißt:

„Got wol Dir geben als vil er’n,
Als der himel hat manig stern,
Und so vil gute zeit,
Als vil sandkörnlein im mere leit!“




Grünes Gras.
Eine Backfisch-Geschichte von Eva Treu (Lucy Griebel).
(Schluß.)

Am nächsten Tage machte ich mich aber doch für die Sitzung recht niedlich. Tante merkte es wohl, doch sagte sie nichts. Es geschah dann auch ganz von selbst, daß ich etwas lebhafter und entgegenkommender war als sonst, so daß ich sogar ein paarmal gebeten wurde, den Kopf ruhiger zu halten. Und als Herr Harrang, der uns auch diesmal wieder nicht zeigen wollte, was er gemalt hatte, ging, da fand ich, daß er mich wirklich in sehr deutlicher Weise ausgezeichnet hatte, obschon er natürlich wieder mehr mit Tante sprechen mußte als mit mir. Mir schien, es lag ein so eigener Ausdruck in seinen Augen, wenn er mich ansah.

Ob Tante es auch bemerkte? Mir kam es so vor. Als er fort war, sagte sie mit einem ernsthaften Lächeln: „Du bist ja so aufgeregt heute, Helmikind – warum denn?“

Ich wurde rot. „Ich? o gar nicht, Tante, kein bißchen!“ sagte ich schnell.

Tante sah mich an, als wollte sie etwas sagen, etwa: „Sei es auch lieber nicht, Kleine, das Kokettieren steht dir nicht,“ oder so etwas Aehnliches, aber sie schwieg. Tante hatte manchmal eine sehr beredte Art, zu schweigen, und in mir lehnte sich etwas gegen sie auf. Ich wußte schon selbst, was ich zu thun hatte, und brauchte keine Hofmeisterin.

[877]

Photographie im Verlag von Viktor Angerer in Wien.

Der Silhouettenschneider.
Nach dem Gemälde von J. Hamza.

[878] Nun gerade, nun erst recht wollte ich gegen Herrn Harrang freundlich sein; Tante sollte sehen, daß ich ihm gefiel, Tante, die alles besser wußte, konnte und machte als ich, die immerfort in meiner Gegenwart gelobt und gepriesen wurde, als wenn ich gar nichts wäre! Sie sollte es sehen und merken, daß in einem Dinge ich ihr doch himmelweit überlegen war: ich war jung, und sie konnte es nie wieder werden! Und in mich konnte sich deshalb ein großer Künstler verlieben, in sie nicht – merken sollte sie’s!

Was dann schließlich daraus wurde, darauf kam es ja augenblicklich noch nicht an, und ich brauchte nicht gleich einen Entschluß zu fassen, aber fühlen sollte sie, daß wir Jungen es sind, denen die Welt gehört. Am liebsten sollte sie uns gerade überraschen, wenn Herr Harrang vor mir kniete. Es war mir auf einmal, als ob dieser Triumph fast das beste von der ganzen Sache sein würde, denn dann konnte ich mich niemals wieder klein neben Tante fühlen, wie ich es jetzt zu meinem Aerger so oft that.

In den nächsten Tagen war ich sehr nett gegen Herrn Harrang – sehr! und er gefiel mir immer besser und besser und war sehr aufmerksam gegen mich. Einmal brachte er mir ein Heft Vorlagen für Brandmalerei. An einem anderen Tage bat er wieder um das Brahms’sche Duett, welches wir diesmal auch wirklich sangen, obgleich es noch nicht völlig sicher ging, und zur nächsten Sitzung brachte er mir dann einen Band reizender bayrischer Volkslieder mit Goldschnitt. Zweimal schenkte er mir auch Bonbons in einer eleganten Schachtel und ein anderes Mal eine ganze Menge Ansichtskarten. Kurz, es wurde mir von Tag zu Tag offenbarer, daß Anneliese sich nicht geirrt hatte.

Ich kann es nicht leugnen, ich wurde innerlich sehr aufgeregt. Ich sagte mir, nun müßte ich mich bald entscheiden, ob ich Ja oder Nein sagen wollte, und das war doch nicht so leicht, wie man denken sollte. Aber immer deutlicher sagte es nach und nach in mir: „Ich thu’s!“ – wenigstens bei Tage, wenn die Sonne schien. Nur manchmal in der Nacht, wenn ich unvermutet aufwachte, war es mir auf einmal, als wenn alles weit von mir zurückweiche und nur die anderen jungen Augen aus der Ferne zu mir herübersähen, und ich sagte unwillkürlich laut zu mir: „Nein!“ Und merkwürdig war es, dann fühlte ich mich immer so ruhig und leicht. Anneliese sagte ich nichts davon, denn sie sah ich ja immer nur am Tage, und ihr mußte ich versprechen, daß, wenn ich heiratete, sie mich in München besuchen dürfte, wohin sie immer gern einmal gewollt hatte.

Endlich zeigte uns Herr Harrang auch, was er gemalt hatte. Ich war aber sehr enttäuscht, denn es schien mir unbegreiflich, daß er zu dem Wenigen, was bis jetzt auf der Leinwand stand, so viel Zeit hatte brauchen können. Ich hatte mir vorgestellt, einem großen Künstler ginge die Arbeit schneller von der Hand. Auch Tante schien erstaunt. Doch Herr Harrang sagte, der erste Entwurf wäre mir nicht ähnlich geworden, deshalb hätte er noch einmal neu begonnen. Aehnlich wurde dieses zweite Bild, das sah man, so wenig fortgeschritten es auch bis jetzt war. Nun ging es aber auch schnell damit vorwärts, und er zeigte uns die Arbeit jetzt jeden Tag.

Tante war seltsam in dieser Zeit; sie wurde immer stiller. Manchmal hatte ich sie auf einmal schrecklich lieb. Das war in solchen Augenblicken, wo ihr Gesicht den sonderbar sanften, fast wehmütigen Ausdruck annahm, den es mitunter hatte. Nie tadelte sie mein lebhaftes Wesen, nur mitunter sah sie mich so still an, wenn ich sehr liebenswürdig gegen Herrn Harrang war, aber sobald ich es bemerkte, wandte sie die Augen ab. Ich fühlte wohl, ich gefiel ihr nicht besonders, aber nie sagte sie etwas.

Natürlich mochte es ihr nicht ganz angenehm sein, zu sehen, wie die Jugend triumphierte.

Eines Tages kramte ich in Tantes Bücherschrank, der schrecklich viel langweiliges Zeug enthielt, und da machte ich eine große Entdeckung. Ich fand Tantes Gesangbuch, ein hübsches, in schwarzen Samt gebundenes Buch mit silbernen Beschlägen, und auf dem ersten Blatte stand unter einem Bibelspruch:

„Meiner lieben Renate zur Konfirmation
 von ihrer treuen Mutter.“

Darunter das Datum. Oh! – wer hätte es glauben sollen! nimmermehr wäre ich, so wie Tante aussah, darauf verfallen! Ich rechnete wieder und wieder nach, zweimal, dreimal, aber es war nicht anders möglich, nach der Jahreszahl mußte Tante, wenn sie, wie es Brauch war, mit fünfzehn konfirmiert war, siebenunddreißig Jahre zählen!

Siebenunddreißig – sage und schreibe siebenunddreißig Jahre! Und dabei trug sie Kapotthüte mit Rosen und helle Sommerblusen und – und – ja und sah so aus, als wenn sie einunddreißig wäre!

Ich fand es förmlich empörend, geradezu eine Art von Betrug. Mit siebenunddreißig ist man doch eine alte Jungfer, wenn man dann noch nicht verheiratet ist, und muß sich auch so kleiden; so gehört es sich! Es war lächerlich, sich dann noch so zu gebärden, als wenn man alle möglichen Ansprüche an das Leben zu stellen hätte. Ich war ganz einfach außer mir, und als ich nachher wieder mit Tante zusammen war, schien sie mir auf einmal viel älter und lange nicht so anmutig auszusehen wie sonst. Die einzelnen weißen Fäden in ihrem Haar mußten doch jedem auffallen, der nur sehen wollte, und wenn man recht zusah, bemerkte man auch zwei oder drei Runzelchen, ja man konnte sie gar nicht übersehen, auch wenn man wollte.

„Was siehst du mich so an, Kind?“ sagte Tante freundlich. „ist etwas an mir unordentlich?“ und sie strich sich mit der Hand über das Haar.

„Nein, Tante, ich dachte nur, du hast doch eigentlich schon recht graues Haar.“

„Nun, nun,“ sagte Tante und strich noch einmal über ihren welligen Scheitel, „bis jetzt sind es ja wohl nur erst einzelne Silberfädchen!“

„Aber man sieht sie doch sehr, Tante. Soll ich sie dir ausrupfen?“

Tante schüttelte leise den Kopf. „Laß mich nur in Ehren grau werden, Helmikind, sie würden ja doch wohl wieder nachwachsen. – Ja, jünger wird man leider nicht mit der Zeit,“ und dann seufzte sie, wie unwillkürlich, ganz leise, und der feine Ausdruck von Wehmut kam wieder.

Ich fühlte wohl, es war nicht schön von mir gewesen. das zu sagen, aber ich kann es nun einmal nicht ausstehen, wenn man sich jünger macht, als man ist.

Das war die erste große Entdeckung des Tages. Nachmittags aber kam eine zweite, die war noch viel verblüffender, ja, ich kann wohl sagen, noch empörender. Anneliese kam nämlich, um mich zu einer Bootfahrt abzuholen; durch beharrliches Betteln hatte sie die Erlaubnis erlangt, daß wir selbst rudern durften. Als wir an den Strand kamen, sahen wir jemand dort sitzen und malen, und wir unterschieden schon von ferne, daß es Herr Harrang sein mußte.

„Still,“ sagte Anneliese leise, „er soll uns nicht anreden; ich habe einen so unkleidsamen Hut auf, daß er sich bei seinem fein entwickelten Schönheitssinn darüber entsetzen würde. Laß uns so gehen, daß er uns den Rücken zuwendet. Oder willst du gern mit ihm sprechen?“ und sie sah mich schalkhaft an.

„Ach, bewahre!“ sagte ich wegwerfend, obgleich ich in Wahrheit Anneliese, die uns seit dem Picknick nie wieder zusammen gesehen hatte, sehr gern einmal den Beweis geliefert hätte, daß ich nicht übertriebe, wenn ich sagte, er wäre liebenswürdig gegen mich. „Ach, bewahre – was liegt denn mir daran? Ich sehe ihn oft genug, beinahe zu oft!“

„Du wirst aber schrecklich rot.“

Natürlich wurde ich rot, aber ebenso natürlich leugnete ich es ab. Wir schwiegen also still, damit er nicht aufmerksam auf uns werden möchte, obgleich ich überzeugt war, daß Anneliesens Hut ihm ganz gleichgültig sein würde.

Da der Pfad aber schmal war, mußten wir Herrn Harrangs Rücken fast streifen, und dabei warfen wir selbstverständlich einen Blick auf das Bild, an dem er malte.

In demselben Augenblick entschlüpfte uns beiden gleichzeitig ein Laut der Ueberraschung.

Denn was stellte das Bild dar? Meine Tante Renate, lässig und anmutig – ich kann kein anderes Wort finden, obgleich sie so alt war – in einen Gartenstuhl zurückgelehnt, die Hände leicht verschränkt, den Blick träumerisch, fast wie sehnsüchtig, in die Ferne gleiten lassend, so, ganz so, wie ich sie im Garten hatte sitzen sehen, während Herr Harrang malte und erzählte; in demselben einfachen, hellen Kleide. Nur der Hintergrund war anders. Das Meer bildete ihn, und über das strahlende Wasser hin flogen die weißen Möwen.

[879] Nichts an dem Bilde war fertig; an dem Vordergrunde malte Herr Harrang eben.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, Tantens Erscheinung wäre idealisiert gewesen. Nein, man sah auf dem Bilde, wie im Leben, daß sie nicht mehr jung war, dennoch – ja, ich will die Wahrheit sagen – es war trotzdem ein sehr schönes Bild!

„Aber das ist ja –“ rief Anneliese unwillkürlich laut und blieb, ihren unkleidsamen Hut vergessend, stehen, hielt auch mich am Arme zurück. Ich fühlte mich tief gekränkt. Also Tante hatte Herr Harrang heimlich gemalt in den ersten Tagen, als er uns seine Arbeit nicht zeigen wollte, während er mich hatte glauben lassen, es wäre ihm nur um mich zu thun! Besonders schämte ich mich über die Maßen vor Anneliese, obgleich diese den Zusammenhang offenbar noch gar nicht begriff.

Herr Harrang aber hatte den Ausruf gehört. Er wandte sich schnell um, sah uns, sprang von seinem Feldstuhl empor, und es war, als wenn er die Hand verbergend über das Bild breiten wollte, welches aber viel zu groß war, als daß er es hätte bedecken können. Er grüßte verbindlich, aber ich sah wohl, daß er peinlich überrascht war, und dazu hatte er auch allen Grund, denn sein Betragen gegen mich war doch wirklich ganz unerklärlich gewesen.

„Ja, Fräulein Helmi,“ sagte er und lachte ein bißchen unnatürlich, „nun sind Sie doch hinter mein kleines Geheimnis gekommen! Sie müssen mir schon vergeben und mich vorläufig Ihrer Tante noch nicht verraten; es wird sich besser machen, wenn ich sie selbst um Verzeihung bitte. Ich wußte aber, auf andere Weise würde es mir schwerlich gelingen, sie zu einer Sitzung zu bewegen, so habe ich ein klein wenig Komödie gespielt, um die Damen beide in meinen Besitz zu bringen.“

Steif und beleidigt stand ich da. Ich fühlte, daß ich sehr wenig anziehend aussähe in dem Augenblick, aber es war mir einerlei. Ich war zu sehr verletzt, um mir etwas daraus zu machen, und das konnte ich wohl auch sein!

„Sie dürfen nicht böse sein,“ sagte er, mir die Hand hinstreckend, „wenn ein Maler ein Gesicht für sein Bild braucht, scheint ihm jede List erlaubt.“

„Aber ich bitte Sie, es ist mir doch ganz gleichgültig,“ entgegnete ich, ohne die Hand zu nehmen, frostig. Es war mir durchaus nicht gleichgültig, aber es war nur verdiente Strafe, wenn ich ihn glauben ließ, es wäre so. „Sehr hübsch das Bild, wirklich – es sieht aus, als wenn es gut werden würde,“ fügte ich absichtlich kühl hinzu.

Er lächelte; beinahe sah er aus, als wenn er sich belustigte. „Verbindlichen Dank für das nachsichtige Urteil! Sie verstehen sich ja auf die Sache, da Sie ‚brandstiften‘. Mein ‚Frühling‘ wird Ihnen aber vielleicht noch besser gefallen!“ Er lächelte noch mehr in einer Art, über die ich vor erneutem Aerger rot wurde, obgleich sie sehr liebenswürdig und höflich war. „Aber nun, meine jungen Damen, erlauben Sie vielleicht, daß ich weiter male, das Licht ist gerade günstig.“ Sprach’s, setzte sich ohne weiteres wieder vor seine Staffelei und beachtete uns nicht weiter.

Ich biß mich vor Zorn auf die Lippe und zog Anneliese mit fort. Daß auch gerade sie hatte daneben stehen müssen!

Fragend sah sie mich von der Seite an.

„Du,“ sagte sie nach einem Weilchen ein bißchen flau, „den habe ich mir eigentlich anders gedacht in seinem Verkehr mit dir! Das war ja zuletzt eine sonderbare, herablassende Art zu sprechen. Ist er immer so?“

„Nein,“ sagte ich kurz, „er ist noch niemals so gewesen.“

„Nämlich – weißt du – das klang eigentlich nicht gerade so, als ob – du selbst warst aber auch merkwürdig, Helmi! So spricht man doch nicht mit jemand, den man gern hat!“

„Ich ihn gern?“ sagte ich zornig, „das braucht er sich nicht einzubilden, so wie er gegen mich gewesen ist! Nein, ich denke nicht daran!“

Anneliese lachte, aber es kam nicht so recht unbefangen heraus. „Na, weißt du, was sich liebt, das neckt sich. Nimm dir’s nicht zu Herzen! Was war das aber eigentlich mit dem Bilde? Du sagtest mir doch immer, er malte dich? Dies war doch ein Bild von deiner Tante – und ein reizendes Bild, das muß ich sagen, ganz so, wie sie in Wirklichkeit ist. Malt er dich gar nicht? Wie hängt das zusammen?“

„Ach, natürlich malt er mich, es wird sehr schön,“ sagte ich ungeduldig, „oder doch sehr ähnlich! Die Sache mit Tantens Bild kann ich dir jetzt nicht erklären, es ist ein Geheimnis, ich will es dir später einmal sagen. Du darfst auch nicht davon sprechen, und wenn wir jetzt noch rudern wollen, müssen wir uns beeilen.“

Das thaten wir denn auch. Wir hatten aber eine ziemlich stille und wenig vergnügte Fahrt. Ich blieb verstimmt, und Anneliese meinte, zart mit mir umgehen zu müssen, obgleich sie nicht recht begriff, warum. So waren wir denn beide schweigsam, und doch hatten wir uns auf diese Kahnfahrt lange vorher gefreut.

Am nächsten Morgen, als die Zeit für Herrn Harrangs Sitzung kam, sagte ich zu Tante Renate, ich hätte Kopfschmerzen und könnte heute das lange Stillehalten nicht vertragen. Mir fehlte durchaus nichts, aber in irgend einer Weise wünschte ich ihm mein Mißfallen doch anzudeuten. Wenn ich ihn heiratete – und es schien mir auf einmal äußerst zweifelhaft, ob ich mich dazu verstehen würde – sollte er von vornherein empfinden, daß ich mir Rücksichtslosigkeiten irgend welcher Art nicht gefallen ließ. Davon konnte nicht die Rede sein.

„Wenn du aber Kopfschmerzen hast, wäre es besser gewesen, es früher zu sagen, Helmikind,“ meinte Tante, „jetzt ist es zum Abbestellen zu spät.“

Ich zuckte mit den Schultern, nahm meinen Hut und ging fort. Wahrscheinlich sah Tante, die ja von dem ganzen Zusammenhang nichts ahnte, mir erstaunt nach, aber das ließ mich ganz kalt. Seit gestern hatte sich ein großer, schwerer Groll gegen sie in mir angesammelt. Denn alles kam schließlich doch nur daher, daß sie sich nicht ihrem Alter entsprechend benommen hatte, und kokette alte Jungfern konnte ich nun einmal nicht leiden.

Also begab ich mich angeblich auf den Weg, um Besorgungen zu machen. Als ich aber ein paar Straßen weit gegangen war, fiel mir ein, daß ich eigentlich gar nichts zu besorgen hatte und mir lieber ein Buch holen und an den Strand gehen wollte, um zu lesen.

Gedacht, gethan! Ich kehrte wieder um, fand unsere Etagenthür unverschlossen und erblickte sofort auf dem Flur Herrn Harrangs Hut. Aha – er war also schon da! Leise trat ich in das kleine Eßzimmer, in welchem der Bücherschrank stand, und fing an, geräuschlos darin zu suchen. Nebenan im Wohnzimmer hörte ich Herrn Harrang und Tante Renate sprechen, man war also nicht im Garten. Durch die herabgelassene Portiere verstand ich jedes Wort. Ob er nicht wenigstens bedauerte, daß ich nicht da war? Ich horchte auf.

Eben sagte Tante: „Nein, böse bin ich Ihnen deswegen nicht. Das Kind hätten Sie aber in dieser Weise doch nicht zum Besten halten sollen. Das war nicht hübsch von Ihnen! Ich fürchte, Sie sind nahe daran gewesen, das ohnehin ein wenig eitle Köpfchen ganz zu verdrehen. Auch kann ich gar keinen Grund für diese Heimlichkeiten einsehen. Ich selbst dachte sogar manchmal –“ Da stockte sie.

Ich fühlte, daß ich rot bis an das Haar wurde, obgleich mich niemand sah. „Das ohnehin ein wenig eitle Köpfchen ganz zu verdrehen –.“ So, Tante Renate, das sollst du mir büßen!

„Was sollte ich denn machen?“ hörte ich Herrn Harrang halb lachend sagen. „Einen Weg zu Ihnen finden mußte und wollte ich! Daß Sie mir nicht gestatten würden, hier täglich ein und aus zu gehen ohne einen harmlos scheinenden Grund, der auch Sie täuschte, das einzusehen, dafür kannte ich Sie lange und gut genug. Dem Kinde habe ich doch nur eine Freude damit gemacht, daß ich es malte – was weiter? Auch will ich das niedliche Köpfchen wirklich benutzen; es wird in den ‚Frühling‘ hineinkommen, wie ich sagte, wenn ich das ursprünglich auch nicht beabsichtigt haben mag. Ich mußte aber wissen, ob für Sie tot und begraben sei, was einst lebte, oder ob ich es wieder aufzuwecken vermöchte! Schlimmsten Falles wollte ich mir wenigstens Ihr Bild erobern, wie damals. Renate –“

Wie? – was? – Dieser Auftritt hier sollte sich wohl gar so entwickeln, daß er Tante Renate – meiner Tante Renate – eine Liebeserklärung machte? Das ging zu weit! Ich war so behandelt worden, daß ich meine Rache haben wollte. Vielleicht wußte der Mann auch gar nicht, was er that. Er hielt Tante Renate wahrscheinlich für ein halbes Dutzend Jahre jünger, als [880] sie war; das Ansehen, als wenn sie es wäre, verstand sie sich ja zu geben. Hier mußte etwas geschehen.

Rasch entschlossen griff ich nach dem Gesangbuch, welches ich gestern gefunden hatte, klappte dann die Thür des Bücherschrankes geräuschvoll zu, trat ganz unbefangen durch die Portiere und rief: „O Tante!“ – dann stockte ich, als bemerkte ich Herrn Harrang erst jetzt. Ich begrüßte ihn flüchtig und fuhr dann, eifrig gegen Tante gewendet, fort:

„Tante, nein, das ist doch wohl nicht möglich! Ist dies wirklich dein Gesangbuch? Das kann doch nicht sein!“

„Warum denn nicht?“ sagte Tante erstaunt. Mein plötzliches Erscheinen beglückte sie offenbar nicht übermäßig, „du hast ja gesehen, daß ich es mit in die Kirche nahm!“

„Aber nein, Tante! Dann wärest du ja schon vor zweiundzwanzig Jahren konfirmiert! Sieh, hier steht es! Du kannst doch unmöglich siebenunddreißig Jahre alt sein! Das glaube ich nicht. Können Sie sich das denken, Herr Harrang?“

„Warum sollte ich es mir nicht denken können?“ sagte Herr Harrang ganz unbefangen. „Allerdings kommt es mir nie in den Sinn, aber ich weiß es ja; warum sollte ich es also nicht glauben? Mein verehrtes kleines Fräulein, ich kenne Ihre Tante seit vielen Jahren; wir sind zusammen ganz jung gewesen. Interessiert vielleicht auch mein Alter Sie? Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Uebrigens, wer Ihre Tante sieht, dem kommt wohl schwerlich der Gedanke, nach ihrem Taufschein zu fragen; Ihnen und mir wenigstens ist er gewiß ganz gleichgültig, nicht wahr?“ Dabei blitzten seine braunen Augen mich an, so daß ich die meinen senken mußte.

Tante Renate aber zog meinen Kopf leise zu sich nieder:

„Grünes Gras, was prahlst du so?
Jeder Halm wird endlich Stroh,“

sagte sie mit einem halben Lächeln und sah mir in die Augen. Dann küßte sie mich auf die Stirn und ließ mich los.

„Stroh!“ rief Herr Harrang, „den Ehrgeiz lassen Sie fahren, das werden Sie nie!“

Tante Renate sah ihn an und schwieg; es war ein ernsthafter, beinahe trauriger Blick. Ich nahm mein Buch und ging langsam durch die Portiere wieder dahin, woher ich gekommen war. Im anderen Zimmer stand ich still und schöpfte tief Atem. Nebenan schwiegen beide.

Ich weiß nicht, ob ich mich eigentlich schämte! Ich glaube beinahe. Wenigstens war mir furchtbar unbehaglich zu Mute. Und doch auch wieder fühlte ich fast etwas wie Erleichterung. Im Grunde war es vielleicht doch wohl ebensogut, wenn Herr Harrang mein Onkel wurde. Zweiundvierzig Jahre – und ich zählte siebzehn! Das heißt, ich würde ja auch ohnehin Nein gesagt haben. Eigentlich hatte Anneliese mir die ganze Sache nur eingeredet, und es freute mich jetzt recht, daß ich gestern in ihrer Gegenwart so unfreundlich gewesen war.

Und wenn er nun wirklich vor mir gekniet hätte, wer weiß, ob ich nicht in der Aufregung mich mit ihm verlobt hätte und nachher schauerlich unglücklich geworden wäre? Während ich dastand und mich ärgerte und schämte und doch auch beinahe freute, sah ich plötzlich wieder wie aus nebelhafter, weiter Ferne die jungen Augen, die ich in der letzten Zeit mitunter nachts gesehen hatte, wie im Traum.

Etwas wie Heimweh überkam mich auf einmal. Nach Hause wollte ich – fort!

Die beiden drinnen mochten wohl denken, ich wäre fortgegangen, denn jetzt fing Herr Harrang wieder an.

„Renate!“ – Wie sanft es klang! „Renate – Liebe! Mir lieb und teuer wie einst vor so viel Jahren! Sie und ich wissen, was vor Zeiten zwischen uns trat, wie es damals nicht sein durfte trotz allem und allem! Der Weg liegt jetzt frei und offen vor uns, wir dürfen handeln, wie wir wollen, ohne nach jemand zu fragen! Renate, wir durften nicht das miteinander sein, was die Menschen jung nennen, und doch sind wir es beide auf unsere Art auch jetzt noch. Wollen wir nicht zusammen wandern, treulich Hand in Hand, bis wir alt miteinander werden?“

„Ich bin es ja schon,“ sagte Tante Renate ganz leise; es klang, als wären Thränen in ihrer Stimme. „Ich habe es gerade in der letzten Zeit oft so schwer empfunden. Manchmal dachte ich, es wäre das Kind mit seiner frischen Jugend, was Sie hierher zöge. – Siebenunddreißig – siebenunddreißig! – Ulrich! mein Haar wird grau. Und Sie – nein, es wäre ein Glück mit Furcht und Zittern! Es könnte ein Tag kommen, an dem Sie es bereuten, und das ginge über meine Kraft! Nein, Ulrich, ich bin nicht mehr, was ich war, es ist zu spät geworden.“

Ich atmete kaum. Vergessen war mein Groll. Wie lieb war Tante Renate doch! In dem Augenblick wünschte ich nichts sehnlicher, als daß Herr Harrang nun vor ihr knien möchte. Ich hatte sie lieb! Wie hatte ich je anders gekonnt? Ganz, ganz behutsam schob ich die Portiere ein wenig auseinander und blickte durch die schmale Spalte. Ob er nun kniete?

Nein. Er neigte nur seinen Kopf – es war doch ein schöner, stolzer Kopf, trotz der zweiundvierzig Jahre, und in diesem Augenblicke war er es mehr als je – zu ihr nieder, strich sich mit der Hand über den Bart und sagte: „Sieh, da sind auch weiße Haare!“

Sie antwortete nicht. Sie legte nur leise ihre Hand auf seinen Arm, die Thränen rannen ihr langsam über das Gesicht, aber sie lächelte. Da legte er sanft den Arm um ihre Schultern.

„Du meine lang’ Geliebte – du meine Jugend!“ sagte er leise, „was quälst du dich mit Gespenstern? Sollten wir denn um der wenigen Silberfädchen willen in die alte Einsamkeit zurücksinken? Was kümmern sie uns? Und wenn dein und mein Haar schneeweiß wäre – was ginge es uns an?“ Und er bückte sich und küßte ihr sachte die Thränen von den Wimpern.

Ich aber ließ den Vorhang zusammenfallen und schlich davon. Ich war doch kein Dieb, daß ich so etwas länger hätte belauschen mögen.


Ueber Nervenschutz und Nervenstärkung.

Von Geh. Med.-Rat Professor Dr. Albert Eulenburg.

Wer an sommerlichen Gebirgs- und Seeaufenthalten als stiller Beobachter seinen Mit- und Nebengästen die gebührende Aufmerksamkeit widmet, der wird aus den ihn umschwirrenden Gesprächen der Kurgäste und Sommerfrischler kaum etwas so häufig heraushören als das Wort „Nerven“, und mit dem wiederkehrenden Beisatze, daß Sprecher – oder gewöhnlich Sprecherin – zur Stärkung besagter Nerven an den betreffenden Kurplatz gekommen oder ärztlich verschickt sei. Ob der angestrebte Zweck bei der Lebensweise, die die bedauerlichen Inhaber (und Inhaberinnen) dieser stärkungsbedürftigen Nerven zu führen pflegen, in allen Fällen auch wirklich erreicht wird, darüber dürften einige gelinde Zweifel gestattet sein. An der Ernsthaftigkeit der gehegten Absicht ist dagegen selbstverständlich kein Zweifel zulässig und es könnte böswilligerweise höchstens die Frage aufgeworfen werden, ob die Nerven unserer lieben Zeitgenossen und Zeitgenossinnen schon von Natur so „schwach“ angelegt seien, um einer solchen periodischen „Stärkung“ so dringlich zu benötigen, oder ob dieses Schwächegefühl sich nur alljährlich um die Zeit der Sommersonnenwende und der Hundstagshitze mit einer der regelmäßigen Wiederkehr der Sternschnuppenschwärme vergleichbaren Periodicität einstellt? – Aber wenn wir diese letztere Hypothese auch als einer ernsteren Begründung entbehrend vorläufig zurückweisen, so muß der rührende Anblick so vieler männlichen und weiblichen Nervenschwäche eine andere nahe liegende Gedankenverbindung in uns wachrufen. Das „Schwache“ bedarf vor allem des Schutzes – „schwache“ Nerven wohl nicht minder als andere Organe, für deren Schwächezustände wir bereitwillig den Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit anerkennen: schwache Augen, schwache Herzen, schwache Mägen! Wie verhält es sich nun in dieser Hinsicht mit den „schwachen“ Nerven? Bedürfen sie mehr des Schutzes oder mehr der Stärkung, oder beider vereint? Und wie und in welchem Umfange lassen sich

[881]

Photographie im Verlag von C. T. Wiskott in Breslau.
Der Kleine Teich im Riesengebirge.
Nach dem Gemälde von Paul Linke.

[882] Nervenschutz und Nervenstärkung überhaupt miteinander vereinen? Was könnte, was sollte, was müßte geschehen – wie müßten wir selbst, wie müßte unsere Umgebung sich verhalten – in welchem Milieu, nach welchen Grundsätzen müßten wir leben, um unsere Nerven zu schützen – und wie, um sie zu stärken?

Fangen wir mit dem „Nervenschutz“ an, so scheint es freilich auf den ersten Blick, als könne der Einzelne zu diesem Zwecke überhaupt nichts oder doch recht wenig ausrichten, und als seien wir den tausendfachen und millionenfachen Plagen und Schädigungen, die den übercivilisierten heutigen Daseinsformen nun einmal untrennbar anhaften, in dieser Hinsicht fast machtlos und rettungslos überliefert. Vielleicht müßte demnach der Staat, dem man ja in unserer Zeit alle möglichen Obliegenheiten zuweist und in dessen Pflichtenkreis ja bekanntlich gerade die Beschützung der Schwachen in erster Reihe gehören soll, auch das Schutzamt über die schwachen Nerven offiziell übernehmen? An Anlaß dazu würde es gewiß nicht fehlen; hat doch vor nicht langer Zeit in öffentlicher Reichstagssitzung einer unserer höchsten militärischen Beamten die Ablegung der bisherigen Nervosität im öffentlichen Interesse dringend befürwortet! Thun könnte der Staat ja vielleicht manches in diesem Sinne – aber was er thäte oder durch seinen Behördenapparat, vor allem durch die hochlöbliche Polizei in dieser Richtung thun ließe, würde sich vermutlich in den meisten Fällen kaum eines ungeteilten Beifalls zu erfreuen haben. Von dieser Art staatlich-polizeilicher Fürsorge bekommen wir ja dann und wann einen kleinen Vorgeschmack, und wir danken es der fürsorglichen Behörde in der Regel recht schlecht, wenn sie z. B. zum Schutze unserer bedrängten Nerven dem nächtlichen Treiben in gewissen Vergnügungslokalen oder der Entfaltung des Sportlebens auf öffentlichen Verkehrswegen strengere Grenzen zieht, oder wenn sie uns durch sorgsame Uebung der präventiven Theatercensur und durch gründliche Reinigung der Bahnhofslektüre vor gefährlichen Aufregungen pflichtmäßig behütet. Zu dieser Beschützung von Staats wegen läßt sich nun einmal kein rechtes Vertrauen gewinnen. So bleibt denn der Einzelne – und die aus diesen Einzelnen sich zusammensetzende Gesellschaft – auch hier, wie bei so vielen anderen Dingen, auf den langsamen und beschwerlichen, aber sicherer zum Ziele führenden Weg der Selbsthilfe ausschließlich angewiesen. Um ihn mit Erfolg zu betreten, ist es freilich unerläßlich, das Uebel selbst genauer zu kennen und seinen Ursachen, seinen Erscheinungen, den zur Abhilfe gebotenen Maßregeln ein gewisses Verständnis entgegenzubringen.

Nun scheint die Erlangung dieses Verständnisses ja auch keine besonders schwer erfüllbare Aufgabe zu sein. Im Gegenteil! – bilden doch die nervösen Schwächezustände, um die es sich hier vorzugsweise handelt, und ihre Bekämpfung ein allbeliebtes Modethema, worüber die meisten Bescheid zu wissen glauben, nachdem sie so schrecklich viel davon gehört und gelesen haben. Wie es mit diesem Gehörten und Gelesenen seiner Beschaffenheit nach zumeist bestellt ist, und was die auf solche Weise eingesogenen Kenntnisse demzufolge für einen thatsächlichen Wert haben und haben können – darum pflegt sich die ungeheure Mehrzahl in der Regel blutwenig zu kümmern. Es ist für den Kundigen geradezu mitleiderregend, aus was für abgestandenen, trüben und sumpfigen Quellen Unzählige ihren Durst auf den Gebieten der Gesundheits- und Krankheitslehre Tag für Tag löschen, und was für vergiftete und ekelhafte Gebräue sich ihnen zur Befriedigung dieses Durstes betrügerisch anbieten. Naturheilschriften von ehemaligen Schlossern, Tischlern, Barbieren u.s.w. werden in vielen Tausenden, ja in Hunderttausenden von Exemplaren abgesetzt und gelesen; die oft den hellen Wahnwitz atmenden medizinischen Offenbarungen von Heilmagnetiseuren und Somnambulen, Hygieïsten und Hygieinologen, von Gesundheitsaposteln aller möglichen Sorten, von Schäfern und Seelenhirten aller Konfessionen werden von unserem sonst so „aufgeklärten“ Publikum mit stupender Wundergläubigkeit hingenommen. Es ist ja durchaus natürlich und menschlich, daß jeder um das, was ihm das Wichtigste und Teuerste ist, die Erhaltung und Herstellung seiner Gesundheit, sich eifrig bekümmert. Gegen das Streben an sich ist gewiß nichts einzuwenden – desto mehr aber, wie gesagt, gegen die der Zeitrichtung entsprechende, überhastete und vielfach bedenkliche Art seiner Befriedigung. Der Altmeister ärztlicher Wissenschaft und Kunst, Hippokrates, hat seinen „Aphorismen“ den vielcitierten Weisheitspruch vorangestellt: „Die Kunst ist lang, das Leben kurz, die Erfahrung ist trügerisch, das Urteil vorschnell.“ Nun, wie „trügerisch“ die Erfahrung noch immer ist, davon wissen auch wir Aerzte der heutigen Zeit, trotzdem wir es nach der Meinung mancher so herrlich weit gebracht haben, gerade so gut wie der Koische Weise vor 2300 Jahren ein Wörtchen zu sagen; und wie „vorschnell“ das Urteil ist, darüber läßt uns das Publikum durch seine ebenso ungerechten wie schonungslos geäußerten Kritiken unseres ärztlichen Könnens und Wissens auch heute zuweilen nicht im unklaren. Darf man sich da über die Früchte wundern? Darf man sich wundern, daß das Publikum selbst in seinen vermeintlich „höchsten“ und „gebildetsten“ Schichten in allen sanitären und hygieinischen Fragen eine bedauerliche Unwissenheit oder ein oft noch viel bedauerlicheres Falschwissen und „Besserwissen“ bekundet? – und daß ihm insbesondere auch auf dem Gebiete des Nervenlebens selbst die elementarsten Anforderungen einer vernünftigen Nervendiätetik und Nervenhygieine nur zu oft vollständig fremd sind?

Gehen wir also etwas näher auf die Fragen ein: Was sind „gesunde“ und „kranke“, was sind „schwache“(oder geschwächte) Nerven? und was muß der auf Schutz und Stärkung seiner Nerven Bedachte im Interesse der Erhaltung und Herstellung eines normalen Nervenlebens thun und vermeiden?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit dem die gesamte Gesundheits- und Krankheitslehre beherrschenden Begriffe der Reizung, der Reizauslösung und Reizwirkung einigermaßen bekannt machen.

Alle, die winzigsten wie die größten, die unscheinbarsten und alltäglichsten wie die ungewöhnlichsten Vorkommnisse des inneren und äußeren Lebens wandeln sich, indem sie auf das unendlich feine Nervengeflecht unseres Organismus treffen, für uns in Reize und wirken als solche nervenreizend, nervenerregend. Die Gesamtheit dieser durch die Pforten der Sinnesnerven unablässig eingehenden und durch die höheren, komplizierten Apparate des centralen Nervensystems ebenso unablässig verarbeiteten Reizeindrücke bildet das Material, liefert die zahllosen Bausteine, aus denen sich in unserem Innern allmählich und unbewußt ein Weltgebäude musivisch zusammenfügt, wie unter den Klängen von Amphions Leier die Steine zur thebanischen Mauer geordnet zusammenrückten. In der Bewältigung dieser unabsehbaren Massen von inneren und äußeren Eindrücken, in ihrer Aneignung, Unterbringung, passenden Einordnung und Verknüpfung ist gerade eine der Hauptfunktionen des menschlichen Nervensystems und die wesentliche Grundlage jedes höheren Seelenlebens zu suchen. – Wirken nun also die äußeren und inneren Vorgänge auf unseren Organismus in der Form nervenerregender Reize, so rufen sie demgemäß entsprechende Gegen- und Folgewirkungen, Reizwirkungen, Reaktionen im Nervensystem hervor, deren Stärke, Ausbreitung und Verlaufsweise durch zwei Umstände wesentlich bedingt wird. Einmal natürlich durch die Art und Beschaffenheit der auslösenden Reize; sodann aber, hiervon ganz abgesehen, auch durch die gegebene besondere individuelle Beschaffenheit und Veranlagung des reizaufnehmenden Nervensystems selbst. Eben in dieser individuell so außerordentlich verschiedenen Stärke und Ablaufsweise der vom Reiz erzeugten Gegenwirkungen, der Reaktionen, auch bei ursprünglich ganz gleichartiger Beschaffenheit der auftreffenden Reize – eben hierin liegt im tiefsten Grunde das Geheimnis des Individuums, der Persönlichkeit als solcher; eben hierin aber auch, gerade im Hinblick auf Nerven- und Seelenleben, das Geheimnis von Gesundheit und Krankheit, von Stärke und Schwäche, Leistungsfähigkeit und Erschöpfung. Es giebt nun eine ansehnliche – und in unserer Zeit in bedenklichem Maße stetig anwachsende – Zahl abnorm veranlagter Persönlichkeiten, bei denen diese Vorgänge nicht in der gewöhnlichen, dem Durchschnitt entsprechenden Weise sich abspielen, vielmehr das Verhältnis zwischen Reiz und Reizwirkung mehr oder weniger erheblich verändert und in einer für den Bestand der körperlichen und geistigen Integrität ungünstigen Weise gestört ist. Dieses „Gestörtsein“ bezieht sich, um das nochmals ausdrücklich hervorzuheben, nicht bloß auf das den veränderten Nervenfunktionen [883] angepaßte körperliche, sondern ebensosehr auf das seelische Verhalten der betreffenden, als „nervös“, „neuropathisch“, „degenerativ“ oder mit ähnlichen Ausdrücken gekennzeichneten Individuen. Es fällt dem Nichtarzte in der Regel einigermaßen schwer, sich mit der – vom wissenschaftlichen Standpunkte im Grunde selbstverständlichen – Wahrheit vertraut zu machen, daß Nerven- und Seelenleben der Beobachtung als ein untrennbar zusammengehöriges Ganzes entgegentreten, das in gesunden und kranken Tagen den gleichen gemeinschaftlichen Gesetzen gehorcht und sich in seinem normalen und anomalen Verhalten wechselseitig bestimmt und beeinflußt. Es sei zum Verständnisse nur an die Thatsache erinnert, daß auf rein seelischem Wege körperliche Krankheitserscheinungen der verschiedensten Art, namentlich schwere Nervenstörungen, Krämpfe, Lähmungen u. dgl. überaus häufig entstehen, und daß umgekehrt derartige Krankheitszustände durch rein seelische Beeinflussung, wie sie u. a. in den Formen der Wachsuggestion und hypnotischen Suggestion sich vollzieht, zum Verschwinden gebracht werden.

Die bei diesen Formen nervös-seelischen Andersseins, Andersgeartetseins – ich spreche absichtlich noch nicht von eigentlichem Kranksein – zumeist hervortretende Abweichung macht sich nun in zweifacher Richtung, in abnormer Reizbarkeit und in abnormer Erschöpfbarkeit aller oder nur einzelner Abschnitte des Nervensystems, vorzugsweise bemerkbar.

Die abnorm gesteigerte Reizbarkeit, die Ueberempfindlichkeit, Hypersensitivität solcher Individuen bekundet sich darin, daß körperliche und seelische Reize, die für gewöhnlich die Schwelle des Bewußtseins nicht merklich überschreiten, schon mehr oder weniger stark empfunden, und zwar in der Regel ihrem Gefühlswerte nach als unlusterregend, schmerzerregend empfunden werden – und daß überhaupt die einwirkenden Reize Gegenwirkungen von abnormer Stärke, Ausbreitnng und Dauer, daher meist mit dem Charakter der Schmerzhaftigkeit auslösen. Das gilt, wie gesagt, auf körperlichem sowohl wie auf seelischem Gebiete; für rein sinnliche Wahrnehmungen und Eindrücke, wie für Affekte und Willensmotive. Dinge, die der „Gesunde“ kaum beachtet, mit denen er jedenfalls leicht und spielend fertig wird, können bei dem in solcher Weise anomal Veranlagten schon zur Quelle schwerster und anhaltender Erregungen, gewaltsam eindringender Vorstellungen und motorischer Entladungen werden. Körperlich betrachtet sind das die Leute von so verfeinerter und „differenzierter“ Empfindung, daß ihnen eine Farbe Zuneigung oder Abscheu einflößt, daß sie Töne sehen oder auch schmecken und riechen; die Leute, bei denen wir Erröten und Erblassen, Schwäche- und Ohnmachtanwandlungen, Zittern, Krämpfe, Ernährungs- und Absonderungsstörungen der verschiedensten Art auf kaum bemerkbaren äußeren Anlaß – ja, wie es dem Fernstehenden däucht, oft ganz ohne Anlaß, spontan, eintreten sehen. Seelisch betrachtet sind es die „Minderwertigen“, die „problematischen Naturen“, denen alles schwer wird, die überall Hindernisse sehen und finden, denen jeder Maulwurfshügel ein unübersteiglicher Berg ist; die Naturen, denen Gleichmut, Ruhe, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung unbekannte und ewig fremde Dinge sind, die weder selbst leiden noch andere leiden sehen können, die über die Fliege an der Wand außer sich geraten und durch die Mücken- und Nadelstiche des alltäglichen Lebens bis zur Besinnungslosigkeit, bis zu blinder Wut, bis zu Selbstmordanwandlungen nicht selten heimgesucht werden.

Ich darf das Bild hier nur andeuten, nicht weiter ausführen; jeder wird sich aus eigener Erfahrung leicht dahingehörige, ergänzende Züge selbst Herbeitragen können. Die Kehrseite der geschilderten übermäßigen Reizbarkeit ist nun die abnorme Erschöpfbarkeit, die auf die gesteigerte Erregung und den damit verbundenen Kraftverbrauch rasch folgende Ermüdung und Abspannung, die sich in jähem Abfalle bis zu völliger Leistungsunfähigkeit auf dem körperlichen sowohl wie auf dem seelischen Arbeitsgebiete gleichermaßen bekundet. Das Leistungsvermögen solcher Individuen ist daher im ganzen genommen stets bedeutend unter der Norm, da sie wohl durch die gesteigerten Erregungen zu kurzer Energieäußerung aufgestachelt werden, sehr bald aber nachlassen und erschlaffen oder in völlige Passivität und Abstumpfung verfallen. Alle Ziele, deren Erreichung nicht bloß eine flüchtige Kraftanstrengung, sondern Zähigkeit und Ausdauer, stetiges und zielbewußtes Wollen und Handeln erheischt, sind für Naturen dieser Art schlechterdings unerreichbar; und aus der mit ihrer Eigenart zusammenhängenden Arbeits- und Berufsuntüchtigkeit ergeben sich für ihre gesamte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz oft verhängnisvolle Folgen! Und wenn ein gnädiges Geschick sie von vornherein weich genug bettet, um ihnen solche Kraftproben zu ersparen, so sind es – in Palästen und Bürgerhäusern – die aus der rauhen Wirklichkeit flüchtenden einsamen Träumer und Gefühlsschwelger, die phantastischen Schwächlinge und perversen Genußlinge, die „müden Seelen“, Aestheten und Mystiker – Typen, wie sie uns eminent moderne Autoren, ein Huysmans, Barres, Maeterlink, ein Arne Garborg und Strindberg, ein Gabriele d’Annunzio und andere mit Meisterschaft schildern.

Die Kombinatton dieser beiden sich gegenseitig bedingenden Erscheinungsreihen, der gesteigerten Sensitivität und der Schwäche, ist es nun eben, die dem nervös-seelischen Verhalten derartiger Individuen sein charakteristisches Gepräge verleiht, und die wir in ihren höheren Graden als reizbare Schwäche, auch wohl mit einseitig gefärbtem Ausdruck als Nervenschwäche (Neurasthenie), als nervöse Erschöpfung etc. bezeichnen. Diese nervösen Schwächezustände, zumeist angeboren, häufig ererbt, fallen nicht unbedingt unter den Begriff der Krankheit im engeren und eigentlichen Sinne, sondern halten sich in ihren leichteren Formen vielfach auf der einer genauen Abmessung schwer zugänglichen Uebergangsbreite zwischen Gesundheit und Krankheit. Sie können freilich in jedem einzelnen Falle zu ausgesprochener Krankheit werden, wie ja auch sonst die angeborene Konstitutionsschwäche leicht zu wirklicher Erkrankung hinüberleitet. Ob dies bei der nervösen Konstitutionsschwäche geschieht oder nicht, das hängt einerseits von der Schwere der angeborenen und ererbten Veranlagung ab, andererseits von den mehr oder weniger begünstigenden Einflüssen von Umgebung, Erziehung, Lebenslage, Beruf – von dem ganzen Milieu, worin sich die betreffenden Individuen von früh auf bewegen, und wodurch auch im Einzelfalle die besondere Form und Richtung der sich entwickelnden krankhaften Störung in maßgebender Weise bestimmt wird. Aus der verwirrenden Fülle und Mannigfaltigkeit der individuellen Krankheitsbilder hat man seit längerer Zeit der erleichterten Uebersicht halber gewisse Haupttypen dieser nervösen Schwächezustände herausgegriffen, zu denen, wenn wir von den schwereren Formen funktioneller Seelenstörung absehen, ganz besonders die als Neurasthenie im engeren Sinne, als Hypochondrie und als Hysterie bezeichneten Krankheitsbilder gehören. Indessen dürfen wir niemals vergessen, daß der einzelne Kranke ein in dieser Art nur einmal vorhandenes krankes Individuum, daß er ein leidendes Ich – und nicht der zufällige Träger einer theoretisch ausgeklügelten, schematischen und schattenhaften Krankheitsabstraktion ist. Die lange mit überängstlicher Sorgfalt abgezirkelten und gehüteten Grenzen zwischen den verschiedenen nervös-seelischen Anomalien beginnen sich bei fortschreitender Einsicht und Erfahrung mehr und mehr zu verwischen, da alle diese krankhaften Zustände auf der gleichen, eben geschilderten Grundlage beruhen und ihre Verschiedenheit mehr in zufälligen, durch die äußeren Umstände und Gelegenheilsanlässe oder durch die besonderen Einflüsse von Geschlecht, Alter etc. bedingten Abänderungen wurzelt. So ist, um nur bei den drei obigen Haupttypen zu bleiben, die „Neurasthenie“ im engeren Sinne durch das Vorherrschen mannigfaltiger, ohne ersichtlichen Grund eintretender, quälender Angstempfindungen und Angstvorstellungen als sogenannte „Angstneurose“ vielfach gekennzeichnet, während es sich bei der reinen Hypochondrie um eine besondere Form dieser Angstvorstellungen, um eine zumeist aus krankhaften Organempfindungen entspringende, aber allerdings ihrer Schwere nach zu diesen außer allem Verhältnisse stehende Krankheitsfurcht (Nosophobie) und daraus hervorgehende Gemütsverstimmung handelt. Bei der Hysterie endlich haben wir es mit einer in dieser Besonderheit vorwiegend dem weiblichen Geschlechte eigenen Form krankhafter Nerven- und Seelenstörung zu thun, wobei übrigens die Disposition nicht, wie man von alters her irrtümlicherweise gemeint hat, in den organischen Geschlechtscharakteren, vielmehr in der besonderen seelisch-geistigen Veranlagung und Entwicklung des Weibes, in der Eigenart seines Nerven- und [884] Gemütslebens offenbar in weit höherem Grade zu suchen sein dürfte. Knüpfen wir also an die beiden gemeinschaftlichen Hauptmerkmale aller dieser nervösen Schwächezustände – die krankhaft gesteigerte Reizbarkeit und die abnorme Erschöpfbarkeit – an, so lassen sich daraus die allgemeinen Grundgedanken, die für die Behandlung dieser Zustände im Sinne des Nervenschutzes und der Nervenstärkung maßgebend sein müssen, ohne Schwierigkeit herleiten. Krankhaft reizbare, „überreizte“, „überempfindliche“ Nerven bedürfen als solche des „Schutzes“ in Form der schonenden Fernhaltung von schädigenden Reizen: der Passivität, der Ruhe. Schwache, krankhaft ermüdbare und erschöpfbare Nerven andererseits bedürfen in entsprechendem Grade der „Stärkung“, durch methodische Zuführung geeigneter Reizerregungen, d. h. durch Uebung, durch vorsichtig gewählte, den individuellen Verhältnissen sich anpassende Beschäftigung, mit einem Worte durch Thätigkeit. Ruhe und Thätigkeit – darin haben wir die beiden Pole des gesunden und kranken Nervenlebens und die unverrückbaren Grundpfeiler einer jeden, den mannigfachen Störungsformen dieses zarten Mikrokosmos gerecht werdenden, rationellen Behandlung. Ruhe und Thätigkeit – das scheinen auf den ersten Blick freilich Gegensätze zu sein, die sich wechselseitig ausschließen; in Wahrheit liegen darin aber nur zwei für jede Art organischer Funktion gleich wichtige Prinzipien, die sich gegenseitig ergänzen und fordern. Wie die schwachen, stärkungsbedürftigen Organe in der Regel zugleich auch die krankhaft reizbaren, schutzbedürftigen sind, so ist auch das Bedürfnis der methodischen Anwendung von Ruhe und Thätigkeit bei krankhaften Organstörungen meist gleichzeitig gegeben, und es kann sich nur darum handeln, beiden Forderungen in geeignetem Umfange, in der richtigen Auswahl und Kombination, in dem richtigen Mischungsverhältnisse verständnisvoll zu genügen. Nach dieser Richtung hin ist freilich oft genug gesündigt worden, indem unter der Herrschaft einseitiger Theorien und wechselnder Modeströmungen zeitweise bald das Prinzip der Ruhe und Schonung, bald das der kräftigenden Uebung und Thätigkeit in unstatthafter Uebertreibung zur Herrschaft gelangte. Wir haben das ja u. a. bei den Herzkranken erlebt, als vor ungefähr fünfzehn Jahren die sogenannten Terrainkuren aufkamen, und diese Kranken, die man bis dahin aufs peinlichste geschont und als noli me tangere betrachtet hatte, nun auf einmal turnen, marschieren, bergsteigen, später radfahren sollten, und es ja auch wirklich thaten, bis dann doch gegen die zu weit gehende Ueberspannung dieser Richtung der natürliche Rückschlag sich allmählich geltend machte und uns mit der Zeit auf einen gesunden Mittelweg der Behandlung zurückführte. Aehnliche Einseitigkeiten machen sich auch auf dem Gebiete der nervös-seelischen Störungen hin und wieder deutlich bemerkbar. Während man lange genug das Schutz- und Pflegebedürfnis, das Prinzip der Ruhe in allzuängstlicher Weise übertrieb, den Kranken vor jedem Luftzuge des Lebens, jedem Wellenschlage anregender und erfrischender Thätigkeit fast hermetisch abzusperren beflissen war – möchte man dann wieder einmal, mit der unserer Zeit überhaupt eigenen Launenhaftigkeit und sprunghaften Veränderlichkeit, die Sache plötzlich beim ganz entgegengesetzten Ende anfassen. Da kommt der und jener Modeheilkünstler und läßt die Insassen seiner Anstalt im Schweiße ihres Angesichts Holz sägen und klein machen und es mit noch größerem Schweißverluste die Treppen hinauf- und wieder herabschleppen; der andere sucht sie mit Garten- und Feldarbeit in mehr idyllischer Art zu beschäftigen; der dritte verweist sie auf das von der Mode sanktionierte Gebiet sportlicher Künste, wobei freilich auch manche Verkehrtheit mit unterläuft und die gedanken- und kritiklose Nachtreterei oft mehr Unheil als Nutzen anstiftet. Natürlich giebt es unter Aerzten und Nichtärzten passionierte Ruhe- und Bewegungsfreunde, ja Ruhe- und Bewegungsfanatiker – und der selten völlig ausgeglichene und überbrückte Gegensatz dieser beiden Strömungen macht sich dem Besucher der von Nervenkranken bevölkerten Kuranstalten öfters in recht drastischer Weise bemerkbar. Noch auf meiner vorjährigen Sommerreise in der Schweiz hatte ich Gelegenheit, zwei diese beiden Richtungen recht lebhaft veranschaulichende Bilder unmittelbar hintereinander in mich aufzunehmen. In einer übrigens bekannten und altrenommierten Anstalt war man eben mit der Errichtung geräumiger Liegehallen beschäftigt, die, mit den einzelnen Krankenzimmern in Verbindung stehend, deren Bewohnern Gelegenheit bieten sollten, sich auf den eigens dazu verschriebenen bequemen Triumphstühlen malerisch hingelagert dem ungetrübtesten dolce far niente im Anblick und Genusse des großartigsten der Schweizer Seeen kurmäßig zu überlassen. Also, wenn man will, eine Art von Ruhe- oder Liegekur, da ja doch heutzutage alles, um zu imponieren, den Namen einer „Kur“ tragen und mit diesem Zeichen gestempelt sein muß. – Ein ganz anders geartetes Bild trat mir am nächsten Tage entgegen. Da besuchte ich die seit wenigen Jahren errichtete Anstalt des Herrn Grohmann in Hirlanden (einer Vorstadt von Zürich), die eine kleine Anzahl meist jugendlicher Nervenkranker als Pensionäre beherbergt, um sogenannte „Arbeitskuren“ oder „Beschäftigungskuren“ bei ihnen anzuwenden. Die Kranken werden zu dem Zwecke mit verschiedenen mechanischen Arbeiten, namentlich mit gröberer und feinerer Tischlerei, und mit typographischen Arbeiten, wie Zeichnen und Modellieren, hier und da auch mit Gartenarbeiten in einer den individuellen Neigungen und Befähigungen möglichst angepaßten Weise unter der fortwährenden Aufsicht des Anstaltleiters planmäßig beschäftigt – ein Verfahren, wodurch in geeigneten Fällen schon recht erfreuliche Resultate erzielt wurden. Es liegt mir völlig fern, gegen die relative Berechtigung der einen wie der anderen Methode irgendwelchen Einwand zu erheben. Beide können und werden, an richtiger Stelle angewandt und in richtiger Weise gehandhabt, unzweifelhaft nützlich wirken; beide werden aber auch bei verkehrter Auswahl der Fälle und unzweckmäßiger, den Einzelverhältnissen nicht genügend angepaßter Durchführung leicht Schaden stiften. Aufgabe des denkenden Arztes muß es eben sein, das dem Einzelfalle Angemessene herauszufinden und ohne jede Voreingenommenheit für oder wider, vor allem ohne jede Schablonisierungssucht die Auswahl zu treffen. Sache des Kranken sollte es dann freilich auch sein, dem erkorenen Arzte das zu erfolgreicher Einwirkung unentbehrliche Vertrauen entgegenzubringen und zu bewahren, und sich seinen Anordnungen, auch wo sie dem eigenen Verständnisse entrückt sind oder mit den eigenen Neigungen und Liebhabereien in Kollision geraten, widerspruchslos zu fügen! Nach dieser Seite hin erfahren wir leider nur zu oft schmerzliche Enttäuschung.




Nachdem wir in dem ersten Teil unserer Ausführungen einen flüchtigen Blick auf die aus der Natur der nervösen Schwächezustände sich ergebenden Behandlungsprinzipien geworfen haben, wollen wir nun der noch ungleich wichtigeren Frage uns zuwenden, was zur Verhütung derartiger Erkrankungen bei nervös veranlagten Individuen zu thun und zu lassen ist. Denn der wirksamste Nervenschutz und zugleich die wirksamste Art der Nervenstärkung bewährt sich in vorbeugender Richtung, in einer von früh auf nach hygieinischen Grundsätzen geregelten Nervenpflege und Nervendiätetik. Freilich „von früh auf“ – in frühester Kindheit muß damit begonnen werden und das oft schwierige Werk durch alle Klippen des Jugendlebens, durch die gefährlichen Krisen der Pubertätsentwicklung und darüber hinaus fortgeführt werden.

Ich muß mich der überwältigenden Fülle des Stoffes gegenüber natürlich auch hier mit flüchtigen Andeutungen begnügen. Ganz allgemein gesprochen dient und wirkt im Sinne einer vernünftigen Nervenpflege alles, was die harmonische Entwicklung des Organismus in allen seinen Teilen begünstigt und fördert. Eine gute Ernährung des Nervensystems und seiner Centralorgane, vor allem des Gehirns, durch reichliche Zufuhr normal beschaffenen Blutes bildet für Aufbau, Stoffersatz und richtige Funktion der Nervensubstanz die erste und wesentliche Bedingung. Um eine solche zu schaffen und zu unterhalten, dazu bedarf es unter anderem einer gesunden und reichlichen, aber alles Ueberflüssige und Aufreizende verschmähenden Nahrung, einer auf Entwicklung der Muskulatur, vor allem der Herz- und Atmungsthätigkeit Bedacht nehmenden systematischen Uebung, einer den Bedürfnissen des heranwachsenden Organismus angepaßten Kleidung, reichlichen und rechtzeitigen Schlafes, angemessenen Wechsels von körperlicher und geistiger Arbeit, von Arbeit und Erholung. Selbstverständlich ergänzen sich diese

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Im Tempel zu Karnak: Ansicht einer der jüngst umgestürzten Säulen.
Nach einer photographischen Aufnahme.

[886] positiven Vorschriften durch negative von ebenso großer oder noch größerer Wichtichkeit – wie ja fast überall im Leben die Verbote eine noch wichtigere Rolle spielen als die Gebote, und bekanntlich schon die zehn Gebote der Mehrzahl nach aus Verboten bestehen. Die Liste alles dessen, was im Interesse einer vernünftigen Nervenhygieine schon im kindlichen und jugendlichen Alter zu „verbieten“ wäre, dürfte vielleicht so lang werden wie Leporellos Register. Was gehört da nicht alles hinein! – oder vielmehr was gehört nicht alles an Unvernünftigem und Unhygieinischem aus der Kinder- und Jugendsphäre heraus! – von dem nachgemachten „Tokayer“, den man kaum einjährigen Kindern als vermeintliches Stärkungsmittel kredenzt, herauf bis zum Biertrinken und Tabakrauchen der Gymnasiastenjahre! – vom Korset, in das thörichte Mütter schon die unreifen Körper ihrer sechs- oder siebenjährigen Töchter einpressen, bis zu den verfrühten Theater-, Konzert- und Ballgenüssen des kaum aus der Pubertätsentwicklung heraustretenden Backfisches! – Muß schon unter gewöhnlichen Umständen, bei normal veranlagten Kindern, Haus und Familie aufs peinlichste die gebotenen Pflichten erfüllen, alles thun und vermeiden, um bedrohlichen Schädigungen vorzubeugen, so gilt das selbstverständlich in noch weit höherem Grade überall da, wo es sich um angeborene, ererbte, krankhafte nervös-seelische Veranlagung handelt. Und gerade hier versagt die häusliche Erziehung am leichtesten und häufigsten – nur allzubegreiflich, weil eben Eltern und Anverwandte dieser krankhaft veranlagten Kinder auch ihrerseits der zu erzieherischer Einwirkung unumgänglichen Eigenschaften nur zu häufig ermangeln!

Unter solchen Umständen soll nun die obligatorische Schulerziehung ergänzend und ersetzend eintreten. Kann sie das? Erwägen wir doch, um was es sich handelt! Charakterbildung – Entwicklung des Denkens, des Verstehens und Urteilens und eines daraus entspringenden festen, selbständigen Wollens – das ist es, was wir brauchen und was wir als Schutzwehr gegen die früher oder später hereinbrechende Flut der Nervosität bei unserer Jugend aufrichten müssen; nicht aber einseitige Anhäufung von Kenntnissen, von allerlei, innerlich fern und fremd bleibendem Wissensstoff oder gar totem Gedächtniskram, wie ihn die heutige Schule leider nur zu massenhaft bietet! Es läßt sich nicht verkennen – so ungern ich dies auch ausspreche – daß die Schule teils durch die ihr vielfach anhaftenden hygieinischen Mängel, teils durch die Art und Weise des üblichen Lehrbetriebs in gewissem Sinne eine wahre Brutanstalt für künstliche Züchtung und Hervorrufung von Nervosität darstellt – wie denn auch die in verschiedenen, zum Teil recht schweren, typischen Formen auftretende „Schulnervosität“ ein den Nervenärzten längst bekannter und geläufiger Begriff ist.[1] In- und ausländische Statistiken ergeben an manchen Orten, namentlich in Großstädten, eine geradezu schreckenerregende Häufigkeit derartiger Zustände, die wesentlich auf die von einsichtsvollen Aerzten und Pädagogen längst dargelegten Mängel des Unterrichtsbetriebs zurückgeführt werden müssen. Ich will die vielbesprochene „Ueberbürdungsfrage“ hier nicht weiter berühren. Gewiß läßt sich zu Gunsten der Schule den oft erhobenen Anschuldigungen gegenüber manches entlastende Wort sagen; eine Einschränkung der Ziele, ein Ziehen festerer und engerer Grenzen den einmal angenommenen Bildungsansprüchen gegenüber ist schwer durchzuführen; der Erwerb dieser „Bildung“ und der damit nach unseren Lebensanschauungen verknüpften Rechte und Privilegien erheischt und verdient Opfer. Aber auf Kosten der körperlichen und geistigen Gesundheit der nachwachsenden Generation sollten und dürften diese Opfer doch nicht gebracht werden; sonst müßte das damit Errungene in den Augen unverblendeter Beurteiler als zu teuer erkauft gelten! Das schulmäßige Wissen ist, wie die Dinge heutzutage liegen, für den Einzelnen wie für die Gesamtheit jedenfalls weit entbehrlicher als bestimmte, oft nur auf Kosten des Wissensumfanges zu erwerbende Charaktereigenschaften, als Mut, Entschlossenheit, Energie, deren Vorhandensein dem Leben des Einzelnen wie dem nationalen Gesamtleben erst höheren Wert giebt. Es ist ein treffendes, wenn auch zum Populärwerden in unserer bildnngswütigen Zeit nicht sehr geeignetes Wort Bismarcks, daß man unter Umständen auch den Mut der Unwissenheit haben müsse! Wenn nun das Haus seine Erziehungspflichten nur zu oft sträflich verabsäumt, die Schule vielfach sich auf bloße Wissensspendung beschränkt, so liegen die Aussichten in dieser Beziehung, wie es scheint, ziemlich trübe. Freilich wird sich der Hoffnungsfreudige auch darüber hinaus noch weiter vertrösten können. Nicht bloß Haus und Schule erziehen ja an uns, sondern als Dritter in diesem Bunde vor allem das „Leben“! Das ist ebenso unbestreitbar wie andrerseits die Erfahrung, daß das „Leben“ nur zu vielen von uns ein recht schlechter, ein jedenfalls sehr grausamer und harter Lehrmeister ist, der mit der überwiegenden Mehrheit seiner Zöglinge wenig Ehre einlegen kann und so manchen von ihnen in Nerven- und Geisteszerrüttung, nicht wenige in Verzweiflung und freiwilligen Tod treibt. Die stetig anwachsende Ziffer der Nerven- und Geisteskranken, die Häufung der schwersten Formen von Geisteskrankheit im jugendlichen Alter und beim weiblichen Geschlechte, die anschwellende Statistik der Selbstmorde bekunden deutlich genug, was wir von den Einflüssen des modernen Lebens nach dieser Richtung zu halten haben. Wer hier nicht schon mit sicheren Schutzwaffen ausgerüstet hereintritt – oder von der gütigen Fee nicht das alles ausgleichende und ersetzende Patengeschenk des Glücks in die Wiege gelegt erhalten hat – der hat bei den immer höher geschraubten socialen und wirtschaftlichen Anforderungen, in dem immer erbitterter geführten Daseinskampfe wenig Aussicht, sich zu behaupten und ohne die schwersten Wunden und Narben sein Lebensziel zu erreichen. Um so größere und dringendere Veranlassung also, diese Schutzwaffen schon beizeiten zu rüsten und beständig zu schärfen!

Aber noch ungleich gefahrvoller als die ringsum drohenden äußeren Schwierigkeiten und Hindernisse sind die von uns selbst heraufbeschworenen inneren Kämpfe und Stürme, die Qualen der Leidenschaft, die Sorgen und Aufregungen, Zweifel und Reue – alle die verwüstenden und zerstörenden, negativen Mächte, für die leider in unseren Tagen keine tröstende und aufrichtende, positive Weltanschauung das Gegengewicht bildet. Denn von einer solchen sind wir, trotz aller Versuche und Anläufe, ferner als je. Wir haben uns längst damit abgefunden, daß eine allgemein giltige, objektive Wahrheit nicht existiert oder uns wenigstens nicht zugänglich ist, und daß jeder Weltanschauung, wie hoch- oder tiefstehend sie uns auch erscheine, doch im Grunde nur eine einzelpersönliche, subjektive Bedeutung zukommt. Diese subjektive Bedeutung ist für ihren Träger allerdings hoch genug zu bewerten; dem Einzelnen kann seine Ueberzeugung, sein Glaube, je nach dessen Stärke und Beschaffenheit, entweder zu einer unversiegbaren Quelle lebendiger Kraft und innerer Freudigkeit oder zur Ursache düsterer Trostlosigkeit und Enttäuschung werden. Leider ist nun die in unserer Zeit in weiten Kreisen vorherrschende Weltanschauung – soweit man ein solches Wort auf die gangbaren Ansichten und Meinungen überhaupt anwenden darf – weit geeigneter zur Erzeugung schlaffer Resignation und hoffnungsloser Verzagtheit als schwellenden Kraftgefühls und hochgemuter Befriedigung. Die „Decadence“-Stimmung, die „fin de siècle“-Stimmung, und mit was für anspruchsvollen Ausdrücken wir sonst noch das uns nur zu oft beschleichende, niederdrückende Gefühl innerer Schwäche und Haltlosigkeit in selbstgefälliger Epigoneneitelkeit herausputzen – dieses ganze traurige Selbstbekenntnis nervös-seelischen Siechtums verweist deutlich auf eine in den höchsten Regionen des Geisteslebens aufzufindende Lücke. Aus dem Mangel an tiefwurzelnden Ueberzeugungen und Idealen, aus der Glaubens- und Autoritätslosigkeit unseres modernen Bewußtseins entspringt jene unselige innere Leere und Oede, die so viele Existenzen zur Zerrissenheit und Ohnmacht verurteilt, das Leben so vieler zu einer großen Lüge oder bestenfalls zu einer Kette von Halbheiten und Kompromissen, von verfehlten Anläufen und nichtigen Aufregungen gestaltet. Unsere Zeit hat nicht bloß mit ihren technischen Fortschritten die alten Naturgewaltcn überwunden und in ihren Dienst gezwungen, sondern sie hat auch ungeheure Gedankenernten eingebracht, sich ganz neue und ferne Geisteswelten erobert – ohne freilich bisher für eigene innere Befreiung und Befriedigung davon Nutzen zu ziehen. Vorläufig liegen noch rings herum die Ruinen aller gestürzten Gedankengebäude der Vergangenheit aufgehäuft, mit ihrem Schutt- und Trümmergeröll ein unerfreulicher, das Gemüt [887] bedrückender und die Phantasie qualvoll beschäftigender Anblick! Auf diesem Schüttboden, in dieser noch von keinem Lichtstrahl einer neuen Zukunft erhellten trüben Atmosphäre müssen die Keime krankhaften Nerven- und Seelenlebens leicht und üppig emporschießen. Charakteristisch für die moderne Decadence-Stimmung ist ja genau dasselbe, was die Neurasthenie, die reizbaren Schwächezustände, charakterisiert: der schreiende Gegensatz von Empfinden und Thun, von Wollen und Können, die bis zur Krankhaftigkeit verfeinerte und verzerrte Sensitivität bei krankhaft gebrochenem, unlustigem und versagendem Wollen. „Sie möchten gern und können nicht. Die Decadence ist der Renaissancetraum der psychisch und physisch Geknickten“ – so charakterisiert ein jüngerer kritischer Dramaturg[2] recht zutreffend dieses Epigonentum in der Litteratur, allerdings unter besonderer Bezugnahme auf eine gewisse Neu-Wienerische Abart; und wer möchte diesem Zeugnisse nicht in der That für die Geistesprodukte einzelner – übrigens feinsinniger und talentbegabter – Autoren eine gewisse Berechtigung zugestehen, ohne dabei zu verkennen, daß diese Autoren zumeist in ausländischen, skandinavischen, französischen, italienischen Mustern ihre Ur- und Vorbilder finden? Wer möchte überhaupt so manchem Produkte der heutigen Litteratur, der bildenden Künste und selbst der Tonkunst das gleiche bedenkliche Prädikat innerer Krankhaftigkeit, das Prädikat der Schwäche bei hochgesteigerter und unglaublich verfeinerter Sensitivität – mit einem Worte, das neurasthenische Ursprungszeugnis versagen? Selbst an den höchsten und mit Recht verehrtesten Kunstschöpfungen unserer Zeit macht sich dieser pathologische Zug nur zu oft auffällig geltend – so sehr, daß wir ihn schon fast als ein notwendiges, zur Steigerung der Wirkung unentbehrliches Ingrediens hinzunehmen geneigt werden. Ich vermeide es, Beispiele zu nennen; jeder wird sie aus der eigenen Lektüre, aus dem Besuche unserer Theater, unserer Konzertsäle und Kunstausstellungen leicht genug herausholen.


Fragen wir uns nun nach den vorausgegangenen Erörterungen: wenn denn doch die Krankheitsursachen und die Mittel und Wege der Heilung so offen liegen, woher kommt es, daß dieses aufs innigste zu wünschende Ziel dennoch so überaus häufig verfehlt und nur bei einer kleinen Minderheit von Nervenkranken thatsächlich erreicht wird? Gerade mit dieser praktisch so wichtigen Frage beschäftigt sich eine vor kurzem erschienene kleine Schrift, die, von einem selbst nervenleidenden Arzte herrührend, wohl berufen erscheint, auch Nichtärzte mit dem Gegenstande vertraut zu machen und ihnen, soweit es dessen bedarf, die richtigen Wege zu weisen.[3] Ich möchte dieses sehr beachtenswerte Schriftchen um so mehr zur Lektüre empfehlen, als ich selbst nur kurz auf die Frage hier einzugehen imstande bin. Es sind der Klippen äußerst viele, an denen eine erfolgverheißende Behandlung Nervenkranker nur zu häufig scheitert; und man muß leider sagen, daß daran keineswegs bloß die Schwere der Krankheit und die Unvollkommenheit der zu Gebote stehenden Heilverfahren schuld trägt – sondern in noch höherem Grade die von den Kranken selbst und von ihrer Umgebung begangenen Fehler und Mißgriffe.

Zunächst wird – wie der Verfasser der genannten Schrift mit Recht hervorhebt – oft viel zu spät mit der Kur begonnen, sei es aus Leichtsinn, sei es aus der den Kranken dieser Art überhaupt eigenen Energie- und Entschlußlosigkeit; sei es endlich, weil die Kranken sich überhaupt gar nicht krank, oder doch nicht krank genug, oder durch ihre Krankheit sogar besonders interessant fühlen. Kommt es dann doch endlich zu Kurversuchen, so fehlt es an der zu ihrer Durchführung erforderlichen Ausdauer; der mit diesen nervösen Schwächezuständen so eng zusammenhängende Mangel an Stetigkeit und zielbewußter Folgerichtigkeit des Wollens und Handelns macht sich auch hier in verhängnisvoller Weise bemerkbar. Die Kranken sind schon enttäuscht und verzweifelt, wenn ein Heilerfolg, der doch in der Regel nur das Ergebnis ausdauernder, viele Wochen und Monate fortgesetzter Bemühungen sein kann, sich nicht augenblicklich einstellen will; sie ziehen von einer Anstalt zur andern, von einem Arzte zum andern, oder noch häufiger vom Arzte zum Wunderthäter, zum Magnetiseur und Kurpfuscher; sie erwarten überhaupt in fatalistischer Weise alles von den gegen ihr Leiden zu Hilfe gerufenen fremden Einflüssen und Einwirkungen, statt, wie es die Sache erforderte, vor allem die eigene Selbstthätigkeit im Kampfe gegen das Leiden mit aufzubieten. Fast ebenso zu fürchten wie die Unstetigkeit und Veränderungssucht der meisten dieser Kranken ist es übrigens, wenn sich einmal ein Kranker – oder in diesem Falle gewöhnlich eine Kranke – an den Arzt zu sehr attachiert und dann die Krankheit behält, um nur den Arzt nicht zu verlieren! – Beinahe noch schlimmer als das Ausbleiben des erhofften Erfolgs muß es bei dem Temperament mancher Kranken auch wirken, wenn sich im Beginn einer neuen Behandlung oder, wie nicht selten, bei veränderter Lebensweise sofort eine über die Erwartung hinausgehende Besserung bekundet. In solchem Falle wähnen die Kranken nur zu leicht, schon über alle Schwierigkeiten hinaus zu sein, und werden durch die bei der Natur ihres Leidens und zumal bei der Rückkehr in ungünstige Außenverhältnisse unausbleiblichen Rückfälle ganz und gar niedergeworfen und entmutigt. Kaum minder groß ist natürlich die Enttäuschung derer, die auf irgend ein marktschreierisch angepriesenes Universalheilmittel, eine wunderthätige Panacee, hereinfallen, wie sie die Anzeigeblätter täglich zu vielen Dutzenden im unverschämtesten, aber auf die Kritiklosigkeit und naive Gläubigkeit des Publikums wohlberechneten Reklamestil ihren Lesern vorführen. Gescheite und auf „Bildung“ Anspruch machende Leute sollten von Rechts wegen wissen oder doch ahnen, daß man sie betrügen will, wenn man ihnen von Universalmitteln und Allheilverfahren überhaupt redet, und wenn man ihnen im unfehlbaren Prophetentone sichere und baldige Heilung bei so schweren, jeder Berechnung spottenden, von Veranlagung und äußeren Lebensverhältnissen in so hohem Grade abhängigen Krankheitszuständen ankündigt. Die Heilungsmöglichkeit hat überhaupt doch ihre nicht überschreitbare Grenze! So manche Kranke dieser Art müssen sich von vornherein klar machen – oder es müßte ihnen rechtzeitig klar gemacht werden –, daß sie darauf angewiesen sind, sich mit ihrem Zustande abzufinden, mit ihren „Nerven“ ein Kompromiß zu schließen; sie müssen sich die dafür erforderliche Lebensweisheit, die Ergebung in das Unvermeidliche anzueignen versuchen; sie müssen auf mancherlei Gewinne und Ziele, die dem normal Veranlagten offen stehen, freiwillig Verzicht leisten, um für die noch verbleibenden Glücksaussichten und bescheidenen Befriedigungen freien Spielraum zu schaffen. Das ist freilich sehr viel gefordert; sehr mächtige und keineswegs an sich unberechtigte und unrühmliche Triebfedern der menschlichen Natur wirken solchen schroff hingestellten Forderungen nur zu häufig entgegen. Nicht bloß der Ehrgeiz, nicht bloß das Hängen an gesellschaftlichen Eitelkeiten aller Art, sondern auch Gefühle der Pflichterfüllung, des Ausharrens auf dem einmal eingeschlagenen Lebenswege, des intimen Verwachsenseins mit einer zum Bedürfnis gewordenen Thätigkeit, der Amts- und Berufstreue. Dem Drängen des ärztlichen Beraters auf Fernhaltung seelischer Aufregungen, auf Absperrung aller dazu führenden Quellen in Berufsarbeit und gesellschaftlichem Leben wird häufig entgegengehalten, daß das Leiden ja doch ein rein körperliches sei und mit Gemütsaffekten, mit seelisch-geistigen Alterationen nicht im Zusammenhange stehe. Wie irrig diese Vorstellung ist, haben wir schon früher gezeigt; sie ist aber nicht nur in der Laienauffassung begründet, sondern wird hier und da selbst von Aerzten, die z. B. die Erscheinungen der Hysterie in einseitiger Weise auf Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsphäre zurückführen, bestärkt und befördert.

Dem gegenüber muß nochmals entschieden betont werden, daß seelisch-geistige Beruhigung gerade das Erste und Notwendigste ist, was im Interesse derartiger Kranken zu geschehen hat, und was für alle sonstigen Einwirkungen erst den unentbehrlichen Untergrund hergiebt. Es darf also damit nicht gewartet werden, bis das oft mühsam aufrecht erhaltene Gebäude jählings [888] zusammenfällt und eine Katastrophe hereinbricht, die in vollendeter Zerstörung alles körperliche und geistige Leben unter ihren Trümmern verschüttet. Freilich müssen zu dem Zwecke oft schwere und schmerzliche Opfer gebracht werden! Ich rechne dahin nicht in erster Reihe die materiellen Opfer – so schwer auch diese wohl oft ins Gewicht fallen – sondern noch weit mehr die ideellen, wie lange, oft jahrelange Trennung von Haus und Familie, Auseinanderreißung der nächsten Angehörigen, Ortswechsel, Reisen, unerwünschte Anstaltsaufenthalte, vorübergehende oder selbst dauernde Verzichtleistung auf Thätigkeit und Berufstellung. So schmerzlich das alles ist, die Forderung ist unerbittlich und macht sich, je länger man ihre Erfüllung hinausschiebt, nur um so ungestümer und unaufhaltsamer geltend. Es ist da wie mit dem Kaufpreis der sibyllinischen Bücher. Wohl dem also, der rechtzeitig nachgiebt, und der sich freilich auch in der günstigen Lage befindet, diese Nachgiebigkeit ohne allzu drückende Einbuße materieller und ideeller Art üben zu dürfen!

Ein die Heilung besonders erschwerender und oft vereitelnder Uebelstand ist weiterhin der, daß gerade Nervenkranke in einem überaus hohen, alle anderen Kranken bei weitem übertreffenden Prozentsätze unwissenden Pfuschern und Charlatanen in die Hände geraten und so statt vernunft- und naturgemäßer Behandlung zum Gegenstande roher und betrügerischer Ausbeutung werden. Es ist nicht ganz leicht, den Ursachen dieser befremdenden Erscheinung nachzuspähen, zumal oft sehr verschiedenartige Umstände dabei zusammenwirken. Es ist doch von vornherein kaum begreiflich, daß selbst hochgebildete und auf der gesellschaftlichen Stufenleiter hochstehende Personen sich Schwindlern und Betrügern schlimmster Sorte blindlings verschreiben und diesen Leuten mit einer Hingebung und Vertrauensseligkeit gegenüberstehen, von der sie dem Arzte niemals die geringste Probe zu liefern bereit wären. Zum Teil wirkt dabei das von anderen Leidens- und Schicksalsgenossen gegebene Beispiel und deren natürlich jeder wissenschaftlichen Basis ermangelnde kritiklose Empfehlung; zum Teil spielt dabei auch der Einfluß der Verwandten und Angehörigen mit, namentlich der so leicht und leider so oft an unrechter Stelle sich begeisternden weiblichen Familienratgeber; zum Teil endlich sind es die schon früher geschilderten suggestiven Wirkungen der Lektüre, der magische Einfluß von bedrucktem Papier in der Form von Zeitungsreklamen, Prospekten, Cirkularen, Broschüren und jener ganzen Schundlitteratur, die sich unter dem Aushängeschild sogenannter Naturheilverfahren oder unter der Ankündigung neu erfundener Heilmethoden, mit verblüffenden Titeln und Illustrationen und mit allerlei mehr auf die Phantasie als auf den Verstand wirkenden Reizmitteln dem vertrauenden Publikum anbietet. Die schlauen Verfasser dieser Geistesprodukte kennen oder befolgen wenigstens sehr genau das Goethesche Wort, daß, wenn man die Welt betrügen will, man es „nur nicht fein“ machen muß; und je gröber sie es treiben, desto größer scheint nur die Zahl der Gimpel zu werden, die ihnen ins Garn laufen. Wie vollkommen sie ihren Zweck erreichen, dafür hat, was die Behandlung Nervenkranker durch Pfuscher und Quacksalber anbetrifft, der Verfasser der vorerwähnten kleinen Schrift, Dr. Engler, einen interessanten statistischen Beitrag geliefert. Nach seinen Berechnungen muß man annehmen, daß ungefähr neunzig Prozent der Nervenkranken sich keiner geordneten ärztlichen Behandlung unterziehen, höchstens gelegentlich einmal einen Arzt befragen, ohne jedoch seinen Ratschlägen zu folgen. Und doch bedürften, aus den schon erörterten Gründen, Nervenkranke noch weit mehr als andere eines ständigen, zuverlässigen, ärztlich hygieinischen Beraters und Führers. Daß bei einem solchen vielerlei nur selten in der wünschenswerten Vereinigung auffindbare Eigenschaften zusammentreffen müßten, ist für die Auswahl eines solchen Ratgebers selbst unter Aerzten häufig genug ein erschwerender Umstand. Liebe zur Wissenschaft und Humanität, Takt, Gewandtheit, Welterfahrung, Energie, Ausdauer, Charakterstärke, Begeisterung – ein hochgesteigertes Wissen und Können müssen sich dazu die Hände reichen. Und derartige Eigenschaften soll man beim Kurpfuscher voraussetzen, dessen Betrieb höchstens den Spürsinn und die Pfiffigkeit des „geriebenen“ Geschäftsmannes erwarten läßt, der auch mit den Mitteln eines solchen zu arbeiten gezwungen ist und in Ausübung seines Gewerbes auf den Charakter als Gentleman nicht selten schon im voraus verzichtet? Auch selbst die einzelnen Besseren, Begabteren und Uneigennützigen unter den zahllosen Mitgliedern dieser Gilde müssen trotzdem Schaden stiften, weil es ihnen ganz und gar an der unumgänglichen wissenschaftlichen Schulung gebricht – ein Mangel, der selbst durch die hervorragendste praktische Befähigung nur in sehr unvollkommener Weise ersetzt wird.

Man sollte meinen, das alles müßte sich gerade den in mancher Beziehung so empfindlichen, so fein- und scharfsinnigen Kranken dieser Art ganz besonders aufdrängen. Aber weit gefehlt! Der blinden Vorliebe dieser Kranken für jede Art von Kurpfuschertum entspricht nur der ebenso blinde und unbegreifliche Widerwille so vieler von ihnen gegen jede ärztliche Einwirkung und Behandlung. Unzählige Nervenkranke sind gegen alles, was Arzt heißt, nicht bloß von Abneigung, sondern von einer fast als wahnsinnig zu bezeichnenden Erbitterung erfüllt: man kann das nur mit der Erbitterung vergleichen, wie sie Geisteskranke, die ja im Grunde auch nur Nervenkranke erster Klasse sind, gegen die sie behandelnden Aerzte so oft an den Tag legen. Es ist das in der That auch nichts als eine „fixe Idee“. Die absurdesten Verleumdungen und Anschwärzungen ärztlicher Thätigkeit durch Wort und Schrift von kurpfuscherischer Seite werden von diesen Verblendeten auf Treu und Glauben hingenommen und bereitwillig nachgesprochen, z. B. die kindische, aber trotz ihrer Abgeschmacktheit immer wieder aufgewärmte Behauptung, daß die „Schulmedizin“ alle Krankheiten fast nur mit Arzneien oder vielmehr mit „Giften“ kuriere – wobei die nämlichen Kranken, die diesen Unsinn nachbeten, sich von den Wundermännern ihres Vertrauens lächerliche und zum Teil ekelhafte Kräutermischungen und Absude als vermeintliche Allheilmittel unter pomphaften Titeln für teuren Preis aufschwatzen lassen!

Alles das muß man häufig mit ansehen, ohne abhelfen zu können; denn auf Kranke dieser Art durch Belehrung umstimmend, überzeugend einzuwirken, ist in der Regel unmöglich – oder es gelingt erst, wenn ein schweres Lehrgeld bezahlt, wenn es für den Erfolg schon zu spät ist.

Aber die Nervenkranken leiden nicht bloß allzuoft unter ihren eigenen Fehlern, sondern fast ebensosehr unter den Fehlern ihrer Umgebung. Zu einem richtigen Verkehr mit Nervenkranken und vollends zu einer angemessenen Pflege gehört neben vielem anderen ein hohes Maß von Einsicht, Selbstverleugnung und Geduld, wie es dem Durchschnitt der Menschen versagt ist und wie es natürlich auch die nähere und fernere Umgebung dieser Kranken höchstens ausnahmsweise darbietet. Die schwersten und schädlichsten Begehungs- und Unterlassungssünden sind hier ganz alltäglich. Auf der einen Seite werden die Kranken durch eine übertriebene Rücksichtsnahme verwöhnt und verhätschelt; ich erinnere nur an die oft ganz unverzeihliche Duldsamkeit so vieler Eltern und an die bekannte Schwäche der Ehemänner von hysterischen Frauen, die den Aerzten die Durchführung ihrer Aufgaben so unendlich erschweren. Auf der anderen Seite findet man leider auch das Gegenteil: übertriebene Strenge und Härte, Lieblosigkeit der Eltern, ja mitunter förmlichen Haß gegen ihre belasteten, mangelhaft begabten oder geradezu schwachsinnigen und idiotischen Nachkommen, deren Existenz sie als einen beständig lastenden Vorwurf und als eine ihrer Selbstliebe zugefügte Kränkung schmerzlich empfinden. Ich habe davon oft genug traurige Beispiele beobachtet.

Am allerschlimmsten ist es aber, wenn von einer thörichten Umgebung die Leiden und Klagen der Nervenkranken als „eingebildet“ betrachtet werden, wenn man ihnen die Rolle der „malades imaginaires“ zuweist und kurzweg Beherrschung, Ueberwindung ihrer Leiden von ihnen verlangt – eine Forderung, die so unbillig und unvernünftig ist, als wenn man von einem fiebernden Typhuskranken forderte, sein Fieber durch eigene Anstrengung zu überwinden, und deren Erfüllung ganz und gar der Münchhausenschen Leistung des Sichherausziehens am eigenen Zopf gleichkommen würde!

Auch das so oft empfohlene „harte Anfassen“ der Nervenkranken ist nur zum kleinsten Teile berechtigt, insofern diese Kranken allerdings wie Kinder einer festen Haltung und Führung zu ihrem eigenen Schutze nicht selten bedürfen. Dagegen darf von wirklicher Härte ihnen gegenüber doch niemals [889] [ gemeinfrei erst ab 2025] [890] die Rede sein! Es handelt sich, wie nicht vergessen werden darf, doch um Kranke, und zwar um höchst mitleidswürdige Kranke, die ohnehin den Mangel an Teilnahme und Verständnis ganz besonders schwer und bitter empfinden, und denen jedes lieblose, rohe, brutale Entgegentreten vielleicht eine kaum gutzumachende Schädigung zufügt. Der Mangel an echtem Mitgefühl und Verständnis, den diese Kranken meist sehr schnell herausfühlen, ist für sie schon deswegen in hohem Grade nachteilig, weil er sie nur zu leicht zu einer extravaganten Steigerung ihrer Klagen, zu allen Arten unbewußter Uebertreibung und pathetischer Ausschmückung veranlaßt, womit sich bei der psychologischen Eigenart dieser Kranken eine wirkliche, qualvolle Zunahme ihrer Krankheitsempfindungen und Krankheitsvorstellungen unvermeidlich verbindet. Wir können das nicht nur bei Hysterischen, wo es allerdings am offensten hervortritt, sondern auch bei Neurasthenischen, Hypochondern, bei der großen Zahl der sogenannten Unfallsnervenkranken nur zu häufig beobachten. Es ist doppelt schmerzlich, zu sehen, wie nicht nur die Kranken selbst sich so manchen Schaden unnötigerweise zuziehen, sondern auch die zu ihrem Schutze vorzugsweise berufenen Personen durch Unkenntnis oder Unachtsamkeit manche Schutzmaßregel stören, manchen erfolgverheißenden Stärkungsversuch oft im voraus vereiteln!


Kommen wir nun am Schlusse dieser schon etwas weit ausgesponnenen Betrachtung auf den Ausgangspunkt zurück. In allem, was über Verhütung und Heilung von Nervenkrankheiten hier bruchstückweise bemerkt wurde, finden sich die Aufgaben von Nervenschutz und Nervenstärkung unauflösbar vereinigt. Nicht das eine oder das andere – sondern eines und das andere! Die „ideale“ Forderung dürfte lauten: „Stärkt eure Nerven beizeiten, damit sie möglichst wenig des Schutzes bedürfen, und schützt eure Nerven in so wirksamer Weise, daß sie eine nachträgliche Stärkung in möglichst geringem Grade erheischen!“ Nur wenn wir diese theoretische Forderung uns ganz zu eigen machen und ihr mit vollem Verständnisse ihrer Bedeutung auch praktisch nachleben – nur dann dürfen wir hoffen, für uns und für die nach uns kommenden Generationen das zu verwirklichen, was uns nicht bloß im persönlichen Interesse, sondern ebensosehr im Interesse unserer nationalen Wohlfahrt, zur Erhaltung und Förderung unserer Volkskraft als höchstes Ziel vorschweben muß: ein an Körper und Geist gesundes, willensstarkes und wagemutiges, seiner selbst frohes Geschlecht, dem auch nach außen hin die Befriedigung erwachsen wird, die harmonischem Fühlen und Denken und thatkräftigem Wollen niemals versagt bleibt!


Ein Sonntag im Hamburger Hafen.

Von Gustav Kopal. Mit Bildern von H. Haase.


Den Hafen müssen Sie an einem Wochentage sehen,“ rät der Hamburger wohlmeinend dem ihn besuchenden Fremden; „dann ist alles im vollen Betriebe. Sonntags ist nicht viel los.“

Das stimmt aber nur bedingungsweise. Wohl breitet sich auch eine Art Sabbathruhe über den umfangreichen Verkehrsmittelpunkt des Welthandelsplatzes aus. Kaufmann und Reeder lassen dann ihre Leute nur arbeiten, wenn’s dringend erforderlich wird, erstens weil löbliche Polizei sich den „Ablaßzettel“ zur teilweisen Aufhebung der Sonntagsruhe mit schwerem Gelde bezahlen läßt, und zweitens, weil Schauermann (Auflader) und Ewerführer höheres Entgelt verlangen, wie’s ihr Gewerkschaftstarif vorschreibt. Aber bei „hiller Zeit“ (d. h. wenn’s viel zu thun giebt) und sobald günstige „Tiden“ (Ebbe- und Flutverhältnisse) benutzt werden müssen, hilft alles nichts, denn auf den Liegeplatz des beladenen Dampfers am Quai wartet schon ein anderer Oceanriese, der wegen Ueberfüllung der Häfen einstweilen „im Strom vertäut“ ist. Bei dem gewaltigen Geschäftsaufschwung der letzten Jahre gilt die Ueberfüllung als Regel, nicht als Ausnahme, trotzdem fort und fort Rat und Bürgerschaft Dutzende von Millionen zur Anlage neuer Hafenbecken bewilligen.

Also laßt die Luken aufklappen, die Krähne sich schwenken und ihre Ketten sich senken, um zu laden oder zu „löschen“ (das Schiff zu entleeren) auch am heiligen Tage, wohlzumerken mit Ausnahme der Stunden der Hauptpredigt, 91/2 bis 111/2! Während dieser ist alle geräuschvolle Thätigkeit völlig untersagt. – Auch am Anlegeplatz der Fischereifahrzeuge herrscht beschränkte Sonntagsruhe; für des Leibes Nahrung sorgen muß der Mensch auch am Sonntag, und nur „frische Fische, gute Fische“ sagt das Sprichwort. Schon um 5 Uhr in der Frühe drängen sich auf den Ewern und Jollen der Finkenwärder und Blankeneser und anderer Bewohner des Elbufers die Käufer, fast sämtlich Vertreter der „zweiten Hand“, welche die im Schiffsraum zappelnden Aale, Schollen und Butten in größeren Mengen, schock-, stieg- oder korbweise, erstehen, um sie dann auf dem Markte oder im Hausverkauf zu „verhökern“; die Hausfrau steht so zeitig nicht auf. Viel gesprochen wird hier beim Feilschen nicht; die Fischer sind wortkarg, und für den Händler ist Zeit Geld, heute gilt’s besonders schnelle Einigung, das wissen beide Teile. Schon nach einigen Stunden werden alle die beschuppten Bewohner der Tiefe auf den Herd gewandert sein, weitaus die meisten als leckeres Sonntagsgericht für den „kleinen Mann“. Aber am besten schmeckt doch, was man selbst gefangen hat. So pilgert denn schon beim ersten Sonnenstrahl der Sonntagsangler dem Hafen zu nach seinem Lieblingsplätzchen zwischen den „Duc d’Alben“, den Anlegepfählen, „wo es am besten beißt“.

Fischverkauf am Sonntagmorgen auf den Fischerkähnen.

Fragt man die Hamburger, [891] woher die Bezeichnung „Duc d’Albe“ stamme, so versichern sie guten Glaubens in hundert Fällen neunundneunzigmal, daß der Herzog von Alba bei seinen Kriegsfahrten in den Niederlanden solche Zusammenstellungen riesiger in den Stromgrund eingerammter Baumstämme erfunden habe. Das ist aber gar nicht der Fall. Der spanische Feldherr unangenehmen Angedenkens hatte ganz andere Dinge im Kopf; ihn gelüstete jedenfalls nicht nach Lorbeeren auf dem Gebiete der Wasserbaukunde. „Dalle“ oder „Dolle“ ist die altniederdeutsche Bezeichnung für einen Pfahl; die Pflöcke am Bordrand des Bootes, zwischen denen die Ruder sich bewegen, heißen noch heutzutage an der norddeutschen „Wasserkante“ Dollen. „Diek“ ist Deich. Aus „Diekdollen“, Deichpfählen, ist seltsamerweise das französisch klingende Wort „Duc d’Alben“ gebildet worden. Wiederholte Versuche selbst sehr einflußreicher Männer der Hansestadt, diesem Ergebnis der Sprachforschung Geltung zu verschaffen, blieben gänzlich fruchtlos: die „Duc d’Alben“ behielten im Hamburger Hafen das im Laufe von Jahrhunderten nun einmal erworbene Bürgerrecht. – Viel gefangen wird aber keineswegs in ihrer Nachbarschaft. Nach stundenlangem Harren und Lauern lohnen den Sonntagsangler kaum einige winzige Weißfischchen, Rotaugen oder sonstiges Fischgesindel; nur höchst selten entzückt ihn „en ord’ntlichen Brassen“ (Barsch), der der Zubereitung daheim wert erscheint. Schadet nichts, es ist doch zu herrlich, nach angestrengter Alltagsarbeit hier gemütlich auf die gelbe Flut zu starren, dabei im „Brösel“ (Pfeifchen) den „shag“ (kurzgeschnittenen, sehr starken Tabak) zu schmauchen und das bunte Gewimmel auf der Fährbrücke daneben an sich vorüberziehen zu lassen.

Angler an den „Duc d’Alben“.

Selbst das Scherzwort des hinzutretenden guten Bekannten: „Na, Tetje, du leerst woll de Metten dat Swemmen?“ (Nun, Theodorchen, du lehrst wohl die Regenwürmer das Schwimmen?) beantwortet der Sportfreund höchstens mit dem althamburgischen Wahlspruch unverwüstlichen Phlegmas: „Reg di man nich op!“ (Reg’ dich nur nicht auf!)

Gleiche Weisheit dürfte auch die Lebensrichtschnur des wackern Alten sein, der, auf dem Heck seines Ewers sitzend, die Füße auf die „Gangspill“ (Ankerwinde) gestützt, die schönen arbeitsfreien Stunden benutzt, um einmal wahrzunehmen, wie es „auf dem festen Wall“ (am Lande) aussieht, denn das interessiert ihn mehr als der ungeheure Dreimaster hinter ihm, den das Schwimmdock aufs Trockene gehoben hat, damit der Rumpf kalfatert und mit neuen Platten versehen werde. Was mag der Schiffsmann lesen? – Je nun, seine Geistesnahrung ist höchst verschiedener Art. Sie wird ihm unentgeltlich geliefert. An dem einen Sonntag „wrickt“ ein Kahn heran (wricken heißt die Fortbewegung des Fahrzeuges durch ein einziges schraubenartig am Bug gedrehtes Ruder), aus dem ein Mann mit roter Halsbinde ein Flugblatt an Bord wirft, das den „Arbeitsbruder“ feurig beschwört, „sich zu organisieren“, oder ihn dringend ermahnt, ausständigen Genossen nicht in den Rücken zu fallen, vielmehr ein Scherflein zu ihren Gunsten zu spenden. An dem andern Sonntag überreicht aus der vom Benzinmotor getriebenen Missionsbarkasse ein schwarzgekleideter freundlicher Herr mit weißer Krawatte ein christliches Wochenblatt oder eine Erbauungsschrift für die, denen der Kirchenbesuch unmöglich ist. So berühren sich die Extreme. Der Alte studiert sicherlich beide Litteraturerzeugnisse mit gleich großem Bedacht von Anfang bis zu Ende; was wüßte er heute, am Ruhetage, besseres anzufangen!

Lesestündchen.

Nichts gekostet haben auch die Pläne von Hamburg nebst Vergnügungsanzeiger, die die soeben von Orten der Umgegend angekommenen Ausflügler in den Händen halten; auf der letzten Eisenbahnstation sind solche Empfehlungen in Masse gratis in alle Wagen geschleudert worden. Zum Hafen sind die Besucher glücklich gelangt; wo ist aber nun der Abfahrtsort der Vergnügungsdampfer? Die kleinen „schnuddeligen“ Dinger da unten beim Baumwall können’s doch nicht sein? „Nein, lieber Herr,“ meint höflich der um Rat gefragte Schutzmann, „das sind Schlepper. Die spannen sich wochentags vor die großen Segelschiffe oder vor die mit Waren beladenen Schuten und bugsieren sie dahin, wo es gewünscht wird. Heute ruhen sie aus. Sehen Sie ’mal: hier immer längs der Wasserkante, bei den alten Häusern da mit den spitzen Giebeln, führt der Weg. Nach und nach kommen dann die Landungspontons. Dort steht auf Tafeln, wohin es geht: Hafenfähre, Hafenrundfahrt, Harburg, Neumühlen, Oevelgönne, Nienstedten, Dockenhuden, Blankenese, Stade, Glückstadt, Cuxhaven, Helgoland.“

„Hurra, da können wir nicht fehlen!“ ruft der flotte Junge. So geht es denn entlang den „Vorsetzen“, an den beflaggten Masten vorbei – am Sonntag muß jedes Schiff mindestens die Flagge seines Landes hissen, so will es der Brauch. Staunend betrachten die Kinder namentlich auch die Erdgeschosse der [892] Häuser, meist Fachwerkbauten aus vergangenen Jahrhunderten, mit den vielen Läden und Wirtschaften, die mehr Inschriften in englischer Sprache haben als in deutscher; ist doch die Sprache Albions nun einmal das Seemannslatein, und „Wine, beer and 8pirits“ oder „Ship-Chandler“ (Händler für Schiffer) oder „Barber-Shop“ (Barbierladen) versteht auch der Schwede und der Portugiese. Die „seebefahrene Menschheit“ Deutschlands, die dort wohnt oder verkehrt, ist übrigens trotz ihrer vielsprachigen Eigenart so kerndeutsch und gut reichstreu wie nur irgend ein deutscher Stamm.

An einer Kasse der St. Pauli-Landungsbrücke.

Da legt die Hafenfähre an; nur zehn Pfennige die Person kostet es, und man sieht so ziemlich dasselbe wie auf den etwas hübscher ausgestatteten Dampfern der Hafenrundfahrt, die in mancherlei Abstufungen bedeutend teurer sind. Die Fährdampfer berühren alle „Höfte“ (Spitzen, Kopfenden) der Quais; die Rundfahrtdampfer fahren weiter in die vielen Hafenbecken hinein, so daß man die Schiffe, die Elbbrücken, die Krähne etc. bequemer besichtigen kann. Wer aber die Hamburger Hafenbevölkerung in der Nähe kennenlernen will, der gehe auf den Fährdampfer! Dort wird unverfälschtes richtiges Plattdeutsch gesprochen. Fein genug ist heute aber auch hier die Toilette der meisten Passagiere; wenn „Jan Maat“ (so nennt sich der Matrose am liebsten, der Ausdruck älterer Romane „Teerjacke“ ist ihm völlig fremd) sonntäglich an Land geht, versteht er ebenso gut, sich „aufzudonnern“, wie die Mutter dieses schönen Worts, die Berliner Köchin.

Das Hamburger Sonntagspublikum aber wendet sich weder der „Fähre“, noch der „Rundfahrt“ zu; es wallt in immer stärker werdenden Scharen nach den Kassen an den Eingängen zu den langgestreckten Pontons der St. Pauli-Landungsbrücke, dem Hauptanlegeplatze aller der größeren und kleineren Flußdampfschiffe, die nach den vielen Vergnügungsorten der Stromufer fahren, meist elbeabwärts belegen. Denn zwischen Altona und Blankenese bietet das bergartig aufsteigende rechte Elbufer mit seinen unzähligen Landhäusern und -häuschen inmitten grüner Gärten, seinen von wundervollen Parkanlagen waldartig umgebenen prächtigen Palästen „königlicher Kaufleute“ einen entzückenden Reiz; es ist die Freude der auswärtigen Besucher, der Stolz der Einheimischen! Und während der Dampferfahrgast das majestätische Panorama an sich vorüberziehen läßt, umfaßt sein Blick zugleich den breiten Strom, belebt von Fahrzeugen aller Art, von den zierlichen Gighs und Wherries der Ruderklubs an bis zu den „Windhunden des Weltmeeres“, den schwimmenden Hotels der Amerika-, Asia- und Afrikalinien, oder den Fünfmaster-Seglerkolossen der neuesten Zeit, alles bunt beflaggt, und von manchem Bord tönen die Klänge des von einem Verein mitgenommenen Musikkorps oder einer Stewardkapelle! So viel Schönes für so wenig Geld, daß es auch der kinderreiche Familienvater sich „zähmen“ kann: darum auf „mit Kind und Küken“ nach dem Hafen! Macht der „Sonntag“ seinem Namen nur einigermaßen Ehre mit schönem Wetter, so wimmelt es bald auf dem Anlegeplatz beim Hafenthor von Hunderten, die sehnsüchtig der Beförderung harren.

„Vadder slöppt!“

Doch dies Harren hat auch seine Klippen, die selbst erfahrene Seestadtbewohner nicht immer zu meiden wissen. „Man ümmer sinnig, wir kommen je alle Mann noch mit,“ hatte der biedere Hamburger Bürger zu seiner besseren Hälfte gesagt, als sie mit den Kindern vorwärts drängte und in erster Reihe stehen wollte; „komm, Mama, setz’ dir bei mich auf der Bank, ich ruh’ noch en büschen aus, is’ Zeit überleidig genug, nich?“ Die Gattin jedoch erklärt, sofort Plätze auf Deck belegen zu wollen, „da kriegt man am besten was zu sehen,“ und verharrt am Rande des Pontons. Als endlich der Dampfer anlegt, entsteht ein furchtbares Gedränge; mühsam wehren die Beamten der „Hafenrunde“ der Ueberfüllung des Fahrzeuges und ordnen dessen sofortige Abfahrt an. Die Trossen (Haltetaue) werden gelöst, die Schaufelräder peitschen das Wasser … Da entsteht

[893]

Der Sohn Ludwigs XVI bei Simon im Gefängnis.
Nach dem Gemälde von L. Ch. Spriet.

[894] Geschrei an Bord: „Vadder, Vadder, wo büst du denn?“ – „Harrjees, Vadder slöppt! (schläft)“ ruft eines der Kinder. Das Haupt der Familie, das leider den lobenswerten Bestrebungen der Gesellschaft vom blauen Kreuz sich anzuschließen niemals geneigt war, ist sanft und selig entschlummert. „Man nich so iilig (eilig),“ brummt er, als der Brückenwärter ihn weckt; „is de ‚Primus‘ nu endlich dar?“ – Ja, da ist er, dort, einige Klafter südwärts auf freier Elbe, und wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen, man lacht den Pechvogel noch gehörig aus. „Mit’n nächsten Dampfer komm’ ich nach!“ ruft er mit Stentorstimme den sich entfernenden Lieben noch zu und richtet dann seine Schritte zum Fährpavillon, dessen „nordische Maibowle“, nämlich ein sehr süßer, sehr heißer und sehr „steifer“ Grog, ihm soeben den bösen Streich gespielt hat. „Noch eenen, Herr Möller?“ fragt dienstbereit der Kellner. „Nee, Fritz, lieber en Selters!“ erwidert trübselig der Sitzengebliebene, der kommenden Gardinenpredigt gedenkend. Aber das lebhafte Getriebe auf der von Menschen wimmelnden Straße vor ihm heitert ihn rasch wieder auf, und bald murmelt er vergnügt: „Is doch zu nett, so’n Sonntag in unserm lieben Hamburger Hnfen!“




Ludwig XVII.
(Mit dem Bilde S. 893.)

Der Dauphin Ludwig XVII.
Nach der Büste von L. P. Deseine.

Auf dem Bilde L. Ch. Spriets sehen wir den Dauphin Ludwig XVII, den Sohn der unglücklichen Marie Antoinette und des schwachen, gutmütigen Ludwig XVI, welche beide als Opfer des Volkshasses hingerichtet wurden. Wir erblicken den unglücklichen Prinzen fiebernd auf elendem Lager, während der Freund Robespierres, der Schuster Simon, dem er zur Bewachung anvertraut worden ist, ihn zur Arbeit ruft und mit Schlägen bedroht.

Der wütende Jakobiner war trotz seiner 57 Jahre noch rüstig, von großer, vierschrötiger Figur, mit bronzenem Teint, rohen Zügen und einer rohen Stimme, buschigen Brauen und wirr herunterhängenden schwarzen Haaren. So schildern ihn die Zeitgenossen – und nur mit Bezug auf die Haarfarbe ist der Künstler von der Ueberlieferung abgewichen; er gab dem eingefleischten Fanatiker Silberhaar, wohl um den Kontrast zwischen der Milde, die man dem Alter zuschreibt, und so wilder Gesinnung um so mehr hervorzuheben.

Der Dauphin, den wir in diesem Bilde vor uns sehen, ist nicht nur der junge Held einer langen Leidensgeschichte, welche mit zweifelloser Klarheit von vielen Zeugen derselben dargestellt wurde; er ist auch der Held rätselhafter Vorgänge, über welche noch heutzutage die Meinungen weit auseinander gehen. Louis Charles war der zweite Sohn Ludwigs XVI und am 27. März 1784 in Versailles geboren; ein älterer Bruder erlag schon 1789 einem skrofulösen Leiden. Er selbst war gesund und frisch, von geradem Wuchs, kein Schmerzenskind wie der Bruder, hatte ein graziöses Wesen, eine blühende Gesichtsfarbe, große blaue Augen, eine von Intelligenz strahlende, etwas gewölbte Stirn, eine nur wenig gekrümmte Adlernase, einen feingezeichneten, lächelnden Mund, Grübchen im Kinn, einen langen biegsamen Hals, und das reizende Gesichtchen umrahmten Haare von aschfarbenem Blond, welche in dichten Ringeln auf die Schultern herabfielen. Dies sympathische Gesichtchen zeigt uns außer der Büste von L. P. Deseine noch ein erhaltenes reizendes Pastellbild der Madame Vigée-Lebrun. Der junge Prinz hatte Esprit. Eines Tags, als er seine Lektion studierte, begann er zu pfeifen; die Königin kam dazu und tadelte ihn. „Ich konnte meine Lektion so schlecht,“ sagte er, „daß ich mich selbst ausgepfiffen habe.“ Später einmal, in den Tuilerien, als die Banden Sauterres sie überfluteten, stand er mitten im großen Saale neben seiner Mutter, welche die Deputierten der Gironde zu schützen suchten. Hatte sich die Menge etwas verlaufen, so examinierten sie den Knaben besonders in der Geschichte. Einer von ihnen war so taktlos, von der Bartholomäusnacht zu sprechen: ein anderer rügte dies und meinte: „Es giebt hier ja keinen Karl IX“; „aber auch keine Katharina von Medici,“ setzte der Prinz hinzu, ein glückliches Impromptu, welches bald die Runde durch den Saal machte. Bei den Schicksalsschlägen, welche Vater und Mutter trafen, war der Knabe meist als Augenzeuge zugegen; ja bisweilen spielte er selbst dabei eine kleine, wenn auch nur passive Rolle. In den stürmischen Tagen von Versailles, als die wilden Megären ins Schloß einbrachen, erschien die Königin, ihn und die Tochter an der Hand haltend, im innern Marmorhofe des Palais. Während der traurigen Fahrt von Versailles nach Paris schlief das Kind meistens im Arm seiner Gouvernante. Auf der Terrasse der Tuilerien war ihm ein kleiner Garten eingerichtet, wie früher auf der Terrasse von Versailles. War sein königlicher Vater in den Mußestunden Schlosser gewesen, so sollte der Prinz Gärtner werden, und er hantierte tapfer mit Hacke, Schaufel, Rechen und Gießkanne umher und zog schöne Blumen für seine Mutter. Auf die Terrasse der Tuilerien wurde er stets von Nationalgarden begleitet, die sich freundlich mit ihm unterhielten, ein kleines Regiment du Dauphin wurde von jungen Parisern geschaffen und für ihn uniformiert. Bei dem Föderiertenfest auf dem Marsfelde, wo der König der Verfassung den Schwur der Treue leistete, hob Marie Antoinette unter stürmischen Zurufen den Dauphin in die Höhe und zeigte ihn dem Volke mit den Worten: „Seht meinen Sohn, er teilt meine Gesinnungen!“ Bei der Flucht des Königs nach Varennes und der Gefangennahme desselben war der junge Prinz wohl zugegen; doch verschlief er diese weltgeschichtlichen Ereignisse. Beim Sturm auf die Tuilerien flüchtete der König, die Königin und der Dauphin in die Reitbahn, wo die Nationalversammlung tagte; ein Grenadier hatte den jungen Prinzen, um ihn vor der aufgeregten Menge zu schützen, in die Arme genommen und über die Häupter derselben fortgetragen. Jetzt begann bereits die Greuelherrschaft der Kommune; mächtiger als die Versammlung der Volksvertreter, hatte sie es durchgesetzt, oaß der König und seine Familie im Temple gefangen gehalten werden sollten.

Dieser imposante, düstere, verwitterte Temple gab die Schlußscenerie ab für die Tragödie des französischen Königtums, die sich hier keineswegs gleichmäßig abspielte, sondern nach einer anfänglichen erträglichen Idyllik allmählich ins Grausenhafte überging. Diesen Wechsel hatte besonders der Dauphin zu empfinden, der ja die dem Tod geweihten Eltern noch einige Zeit überlebte. Der Dauphin wohnte anfangs bei der Königin; er durfte an den einstündigen Spaziergängen im Garten des Temple teilnehmen, in dessen Kastanienalleen er sich durch allerlei Bewegungsspiele ergötzte. Die Tafel war luxuriös und königlich und sie blieb es bis zum Tode der Königin. Nach der Uebersiedelung aus dem kleinen Turm des Temple in den großen wohnte der Dauphin bei seinem Vater, der sich schon früher mit seiner Erziehung beschäftigt, ihm Stunden in der französischen Grammatik, in Latein, in Geographie und Geschichte gegeben hatte. Das alles änderte sich, nachdem der König in Anklagestand versetzt worden war. Noch kurz vorher hatte der Dauphin mit dem Vater Vialli gespielt, ein Spiel, bei dem die Kegel durch einen Kreisel umgeworfen wurden. Der Dauphin verlor beständig und konnte es zumal nicht über die Zahl 16 hinausbringen. „Jedesmal, wenn ich bis zur 16 gekommen bin, verliere ich die Partie,“ sagte er ärgerlich; der Könia schwieg, doch bemerkte es der treue Diener Clévy, der dem Dauphin stets zur Seite stand und in seinem Journal alles Denkwürdige aus jener Zeit aufgezeichnet hat.

Nach der Hinrichtung des Königs wurde der Prinz zunächst in die Obhut seiner Mutter gegeben. Doch dies währte nicht lange Zeit. Mehrere Verschwörungen zur Befreiung der Königin wurden entdeckt, und die republikanischen Machthaber beschlossen, der Sohn müsse von der Mutter getrennt, in einem abgesonderten Gemach untergebracht und einem durch die Kommune ernannten Aufseher anvertraut werden. Die Königin wehrte sich verzweifelt gegen die Ausführung dieses Beschlusses. „Ihr sollt mich töten,“ rief sie, „ehe ihr meinen Sohn mir entreißt!“ Vergeblich!

Nun begann für den Prinzen seine erste, aber noch nicht die schlimmste Märtyrerstation. Der Schuhflicker Simon traktierte den Dauphin oft genug mit Schlägen; er ließ sich von dem Prinzen bei Tisch bedienen: dieser mußte die Teller abwaschen und die Stube kehren. Er wurde in einen Kittel von grobem, rauhem Tuch gesteckt und man setzte ihm eine rote phrygische Mütze auf; er mußte die Marseillaise und Carmagnole lernen und im Prozeß gegen seine Mutter aussagen – und er that dies mit entschiedener Feindseligkeit, so leidenschaftlich er früher an ihr hing; zum Teil mochte er nicht verstehen, was er sprach. Von der Hinrichtung der Mutter erfuhr er jedoch nie ein Wort. So sehr ihn Simon indes mißhandelte und zu einem kleinen „roten Prinzen“ dressierte, sorgte er doch auch für seine Unterhaltung, spielte mit ihm Billard, schaffte einen Vogelkäfig mit Zeisigen herbei, mit denen der kleine Gefangene spielte, führte denselben oft in den Garten und auf den Turm. Doch als die luxuriöse Tafel der Königin aufhörte, an welcher Simon und Frau tapfer mitgespeist hatten, wurde dieser seines Dienstes überdrüssig. Aber es dauerte nicht lange, da mußte er selbst, zugleich mit seinem Herrn und Meister Robespierre, das Schafott besteigen.

Nun begann die traurigste Märtyrerstation für den Prinzen: er wurde wie ein gemeiner Verbrecher hinter Schloß und Riegel gehalten, erhielt Nahrung nur durch die kleine Oeffnung der schwerverschlossenen Thür; Ratten, Mäuse und Ungeziefer aller Art tummelten sich in dem [895] schmutzigen Gemach; allmählich erkrankte er, wurde schlaff und matt; es zeigten sich Geschwülste an den Beinen. Nach sechs Monaten öffnete sich zum ersten Male die schwere Kerkerthüre, als General Barras mit einigen Konventsmitgliedern den Prinzen besuchte. Der klägliche Zustand desselben flößte ihm Mitleid ein; er erteilte Befehl, daß der Kleine morgens und abends im Garten des Temple spazieren gehen solle, daß man ihm einen Krankenpfleger zur Seite stelle, und vertraute einem Kreolen, Laurent, seine Bewachung an. Später wurde ihm der Bürger Garien an die Seite gestellt – beide waren von milder Sinnesart. Doch das Befinden des Prinzen verschlimmerte sich immer mehr. Der Konvent entsandte drei seiner Mitglieder, die über den Zustand desselben Bericht erstatten sollten. Einer von ihnen war Garmond, der am 14. Juni 1795 bei dem Tode des jungen Capet zugegen war. Vorher wurden zwei berühmte Aerzte zu ihm geschickt; der eine, Desault, kam mehrere Male, erkrankte dann aber und starb noch vor dem Prinzen; der andere, Pelletan, konnte nichts mehr zur Rettung desselben thun. Zwei Tage nach dem Tode fand die Sektion der Leiche statt; sie wurde am Kirchhof zu Sainte-Marguerite in der gemeinschaftlichen Grube begraben.

Das ist die Darstellung der düsteren Vorgänge, wie sie in die meisten Geschichtswerke übergegangen ist. Daneben aber erhielt sich bis auf den heutigen Tag eine Ueberlieferung, welche hinter diese Schilderungen kritische Fragezeichen macht und den Beweis zu liefern sucht, daß der junge Capet nicht im Temple gestorben, sondern aus ihm entkommen ist. Daß das verstorbene Kind nicht der Dauphin gewesen sei, war nach der Mitteilung mehrerer Angehörigen des Arztes Desault die Ueberzeugung desselben; daß dieser bald darauf starb, führte zu dem Glauben, der Konvent habe ihn vergiften lassen. Das Sektionsprotokoll der vier Aerzte spricht nur von dem Leichnam eines Kindes, von dem die Kommissare ihm gesagt hätten, es sei der Sohn des verstorbenen Ludwig Capet. Das hat selbst Napoleon I befremdet, der sich dies Protokoll geben ließ. Bis dahin hielt er die Flucht des Dauphins aus dem Temple für Weiberklatsch, auch das, was ihm seine Gattin Josephine erzählte, die selbst als Mithelferin bei der Flucht im Geheimnis gewesen sein wollte. Auch heißt es in dem Protokoll der Aerzte, die Krankheitszeichen seien ohne Frage die Wirkung eines skrofulösen Leidens, welches seit langer Zeit bestand; schon diese Worte mußten nach der Ansicht eines späteren Arztes für immer die Ansicht beseitigen, es handle sich um Ludwig XVII. Um die Anlage zu Skrofeln bei einem gesunden Kinde zu erwerben oder bis zu tödlichem Ausgang zu entwickeln, sei die Zeit zu kurz gewesen. Ebenso empfängt man den Eindruck, daß es sich um ein taubstummes Kind gehandelt habe. Der wirkliche Dauphin schwieg allerdings oft lange aus Trotz und Eigensinn, brach jedoch, bei milder, freundlicher Anrede, sein Schweigen; der vermeintliche Dauphin sprach aber nie ein Wort. Die Nachricht von dem Tode desselben, doch jedenfalls ein epochemachendes Ereignis, wurde vom Konvent sehr kühl aufgenommen, zu einer Zeit, wo die Bretagne und die Vendée für den Dauphin in den Waffen standen; der Totenschein wurde erst vier Tage nachher ausgestellt. Die Herzogin von Angoulême, die Schwester des Prinzen, die im Temple noch weilte, wurde nicht zur Leichenschau zugezogen; die Aussagen der letzten Wächter widersprachen sich; sie kannten den Prinzen von früher nur aus dunkler Erinnerung, jetzt war er durch die Krankheit entstellt. Auch die Begräbnisstätte auf dem Kirchhof von Sainte-Marguerite wurde verschieden angegeben; bei den Ausgrabungen fand man nämlich einen leeren Sarg. Ludwig XVIII wollte in Saint-Denis für Ludwig XVII ein Hochamt halten lassen; doch als schon die Basilika dazu geschmückt war, weigerte sich der Klerus: er könne Totenfeierlichkeiten nur für die Fürsten veranstalten, die in der Kirche selbst begraben seien: zweifelte er am Tode Ludwig XVII?

So viel Unerklärtes, so viel Widerspruchsvolles ist in allen diesen Vorgängen, daß man sich nicht wundern darf, wenn in der Folge jene Prätendenten auftauchten, die sich für den Erben Ludwigs XVI ausgaben, über welche die „Gartenlaube“ schon früher des näheren berichtet hat.


Blätter und Blüten.

Der Anfang des Jahrhunderts. Die Frage, wann ein neues Jahrhundert beginnt, hat seit alten Zeiten Anlaß zu Streitigkeiten gegeben. Dennoch führt die chronographisch-rechnerische Entscheidung der Frage unzweiselhaft zu dem Schluß, daß das Jahr 1900 das letzte des 19. Jahrhunderts ist und erst am 1. Januar 1901 streng genommen das 20. Jahrhundert beginnt. Am 1. Januar 1900 würde das neue Jahrhundert wirklich anfangen, wenn unsere Zeitrechnung mit einem Jahre 0 beginnen würde, wenn es also hieße, Christus sei im Jahre 0 geboren. Die christliche Zeitrechnung kennt aber kein Jahr 0. Dieselbe wurde im 6. Jahrhundert u. Chr. von dem Abte Dionysius Exiguus eingeführt, indem er den Anfang seiner Zeitrechnung oder die Epoche der christlichen Aera auf den 1. Januar festsetzte und als das erste Jahr dasjenige bezeichnete, in welches nach seiner Berechnung die Geburt Christi fiel. Die Kirche nahm die von Dionysius Exiguus aufgestellte Aera bald an. Karl der Große war der erste Fürst, der sich ihrer in Urkunden bediente. Von da ab verbreitete sie sich in Europa und wurde bei allen abendländischen Völkern gebräuchlich.

Trotz dieser Thatsachen regt sich in unseren Tagen das allgemeine Bedürfnis, bereits beim Schlüsse des letzten Jahres, dessen Zahl mit 18 anhob, die bevorstehende Jahrhundertwende zu feiern. Am 1. Januar 1900 erscheint die Zahl des kommenden Jahrhunderts zum erstenmal im Kalender: das teilt sich dem Volksbewußtsein unabweisbar mit als der Beginn einer neuen Aera! Wie sich dieser Zwiespalt am besten lösen läßt, dafür haben vor hundert Jahren unsere großen Dichter Schiller und Goethe ein klassisches Beispiel gegeben. Als im Jahr 1799 in Weimar die Frage strittig wurde, wann das 18. Jahrhundert zu Ende gehe, folgten beide Dichter dem natürlichen Gefühl und traten auf die Seite derer, die das Ende auf den Silvester 1799 setzten. Der Abend des letzten Dezembers 1799 sah die beiden Dichter in Weimar festlich vereinigt. Am Neujahrsmorgen 1800 schrieb Goethe an Schiller: „Ich war im stillen herzlich erfreut, gestern abend mit Ihnen das Jahr und, da wir einmal Neunundneunziger sind, auch das Jahrhundert zu schließen.“ Und Schiller gratulierte: „Ich begrüße Sie zum neuen Jahr und neuen Seculum!“ Das hinderte aber beide Dichter am Schlusse des Jahres nicht, für den 1. Januar 1801 Festlichkeiten vorzubereiten, welche der Begrüßung des neuen Jahrhunderts galten. Aehnlich werden es viele unserer Leser am Schlusse dieses Jahres wie am Schlusse des nächsten halten. Ein neues Jahrhundert ist etwas so Großes, daß eine doppelte Begrüßung wohl am Platz ist. Und schaden kann es gewiß nichts, daß schon jetzt die ernsten Betrachtungen unser Leben befruchten, zu welchen der Rückblick auf das zur Rüste gehende, der Ausblick auf das nahende Jahrhundert veranlaßt. Darum begrüßt auch die „Gartenlaube“ heute mit herzlichen Wünschen ihre Leser nicht nur zum neuen Jahr, sondern auch zur Jahrhundertwende, welche dem ganzen nächsten Jahr seinen Charakter geben wird!


Der Kleine Teich im Riesengebirge. (Zu dem Bilde S. 881.) Das Riesengebirge steigt auf seiner nördlichen, Schlesien zugehörigen Seite als eine ziemlich steile Wand mit leicht geschwungener wellenförmiger Umrißlinie aus dem weiten, teilweise flachen Hirschberger Thalkessel auf. Die Böschung dieser Wand hat auf 8 bis 9 km Breite etwa 1000 bis 1250 m Höhe. Aber nur bei dämmriger Hochsommerluft erscheint sie flach und ungegliedert; bei durchsichtiger Atmosphäre und seitlicher Stellung der Sonne, also am Morgen und Abend, belebt sie sich mit einer reichen Plastik; da springt aus dem Rückgrat des Hauptkammes eine Menge von Bergrippen hervor, die tiefeingeschnittene Thäler zwischen sich fassen, worin sich die beliebten Sommerfrischen angesiedelt haben.

Aber diese Thäler reichen doch nur bis zu einer gewissen Höhe hinauf und die letzte, steilste Erhebung des Gebirgsmassivs würde ziemlich eintönig erscheinen, wenn hier oben nicht eine ganz merkwürdige Bildung von cirkusartigen grotesken Felsmulden sich geltend machte, die das Riesengebirge vor andern deutschen Mittelgebirgen voraus hat. Man nennt diese schroffen Kessel, die Wiegen vorhistorischer Gletscher, „Gruben“ und betrachtet als die hervorragendsten derselben die beiden Schneegruben im westlichen Flügel des Gebirges. Doch die Natur, welche das Riesengebirge mit einer wunderbaren Symmetrie aufgebaut hat, verlieh auch seinem östlichen Flügel ganz ähnliche Schaustücke in den beiden „Teichen“, hochgelegenen Seen, die, in kolossalen Nischen eingebettet, nur durch einen vorspringenden Felsengrat voneinander unterschieden sind.

Gerade der kleinere Teich, den uns heute der Holzschnitt nach dem großen Oelbilde des Malers P. Linke in Breslau vorführt, hat die großartigere Umgebung; seine Nische gräbt sich etwa 2 km weit in den Steinkörper des Hauptkammes ein, und seine Oberfläche liegt 220 m tiefer als der obere Rand seines Felsenrahmens.

Wenn man da oben auf glattem Kiesweg das ausgedehnte nur mit Gras und Knieholz bedeckte Hochplateau (1400 m Seehöhe) durchschreitet, das nur von den Gipfeln der Schneekoppe und des Brunnenberges überragt wird und kaum einen Blick auf den fernen, verschwimmenden Horizont gestattet, macht es einen überraschenden Eindruck, wenn uns der Weg plötzlich an jenen oberen Rand der Felsennische führt und wir nun mit einem Male aus der Tiefe den blauen Bergsee und seine turmgeschmückte Holzbaude heraufschimmern sehen.

Und reißt der Blick sich von der schillernden Wasserfläche los, so fällt er auf emporstarrende turmartige Felsen, aus deren Ritzen im Frühling das rote Habmichlieb (Primula minima) und der weiße Teufelsbart (Anemone alpina) sprossen, er gleitet über die unzähligen Rinnsale, welche dazwischen das schäumende Naß hinabführen in den ungeheuren Trichter, er folgt dem mäandrisch geschlängelten Bach, der sich aus dem Seebecken, einen Moränenwall durchbrechend, losringt und dann in dem unermeßlichen Nadelwalde der Vorberge verschwindet, er durchspäht das Thal mit seinen Dörfern und Städten, Kirchen, Burgen und Straßen und ruht dann endlich aus auf der weiten schlesischen Ebene, die mit dem Himmel in einem grauen Dunststreifen sich vermählt.

Aber noch schöner vielleicht ist es, das großartige Schaustück der Natur von unten zu genießen, und wir möchten jedem, der nach der Schneekoppe aufsteigen will, raten, unter den vielen Wegen denjenigen zu wählen, der durch das Felsenthal des Kleinen Teiches führt. In [896] Krummhübel (550 m) verlassen wir die Eisenbahn, steigen über Brückenberg nach der alten nordischen Kirche Wang, wandern durch den Fichtenwald nach der Schlingelbaude und treten nun, nachdem wir die Große Lomnitz, den Abfluß beider Teiche, überschritten haben, in die steinerne Nische ein, deren Wände, je weiter wir schreiten, immer steiler, immer massiger, immer zerrissener sich erheben. Der Wald verschwindet und macht niedrigen Sträuchern Platz, zwischen denen in immer feuchter Luft riesige Stauden saftiger Kräuter wachsen und die gefiederten Stengel des Enzians schwanken. Endlich überschreiten wir einen Wall aus Steintrümmern und vor uns liegt das Bild, das der Maler dargestellt hat: ein riesiger runder Felsenkessel, der See mit dem klaren, grünlichen Wasser, das gastliche Blockhaus, das nur in den Mittagsstunden des Sommers die Sonnenstrahlen auffängt, und die grünen Rasenflächen, auf denen eine Herde brauner Kühe weidet.

Links ab von der Baude führt ein kurzer Zickzacksteg hinauf zur Hampelbaude, der ältesten Gaststätte des Gebirges, auf die freie Höhe und auf den Weg, den die Schlesier schon vor Jahrhunderten zu frommer Wallfahrt nach der Laurentiuskapelle auf dem Gipfel der Schneekoppe beschritten.
Dr. Baer.


Der Säulensturz im Ammontempel zu Karnak. (Zu dem Bilde S. 885.) Aus Oberägypten kam vor kurzem eine bedauerliche Nachricht. In dem Säulensaale des berühmten Ammontempels zu Karnak stürzte eine 27 m hohe Säule ein und riß zehn andere mit sich um. Jahrhundertelang bauten einst an diesem Tempel die ägyptischen Könige. Wo jetzt Karnak und andere Dörfer liegen, breitete sich früher die Hauptstadt Theben aus. Deren Lokalgott Ammon wurde mit der Zeit für Aegypten zum „König der Götter“. Um ihn zu verherrlichen, baute schon um 2100 v. Chr. König Usertesen I an der Stelle eines alten Heiligtums einen Tempel. Die Nachfolger Usertesens erweiterten die Anlage, um welche Höfe, Kapellen und Pylonen entstanden. Unter Ramses I, Seti I und Ramses III entstand ein großartiger Säulensaal. Spätere Geschlechter bauten weiter an dem Tempel, bis das ägyptische Reich zusammenbrach. Bald wurde die verlassene heilige Stätte der Verwüstung preisgegeben. Die Araber zerstörten die heidnischen Tempel. Unablässig nagten auch an den Steinbauten die Naturgewalten. Wiederholt hat der Ammontempel unter Erdbeben gelitten; die Nilüberschwemmungen unterwuschen seine Grundpfeiler. Unsere Zeit bemühte sich, die Ruinen vor weiterem Verfall zu schützen und, soweit möglich, die Bauwerke wiederherzustellen. 1895 begann der Franzose Legrain im Auftrage der ägyptischen Regierung mit Arbeiten zur Erhaltung des Tempels von Karnak. Schwankende Säulen stützte man und richtete die gestürzten Statuen auf. Im Anfang dieses Jahres schritt Legrain an die Restaurierung des Säulensaales. Gefahr drohte dem Saal von einer Säule, deren Einsturz man befürchtete. Stück für Stück wurden ihre Hunderte von Centnern schweren Kapitäle, Architraven und Trommeln abgetragen. Da ereignete sich das Unglück: in dem herrlichen Bauwerk gähnt eine Lücke, an deren Stelle der Boden mit den Trümmern der elf gestürzten Säulen bedeckt ist. Eine Kommission, die von der ägyptischen Regierung zur Untersuchung des Unfalls an Ort und Stelle entsendet wurde, meint, daß der Einsturz die Folge eines Erdbebens gewesen sein könne. Doch wird die Schuld auch auf den Nil geschoben.

Trotz vorhandener Dämme sickern seine Wasser zur Zeit der Ueberschwemmung durch den Erdboden und auch in diesem Jahre stand das Wasser in dem Säulensaal 21/2 m hoch.
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Vesperbrot des Orang-Utan „Rolf“ im Zoologischen Garten zu Berlin. (Zu dem Bilde S. 889.) Wenige Tiere unserer Zoologischen Gärten erfreuen sich eines so allgemeinen Interesses seitens der Besucher wie die Menschenaffen, die, wenn sie verständig behandelt und jung in die Gewalt des Menschen gekommen sind, mit der Zeit geradezu populär werden können. Unser Bild zeigt uns den jetzt leider verstorbenen „Rolf“, ein Tier, welches im April 1895 etwa fünf- bis sechsjährig als Geschenk des Herrn Dr. Dohr von Sumatra in den Besitz des Zoologischen Gartens in Berlin kam und sich dort vortrefflich hielt und entwickelte, bis eine Lungenentzündung seinem Leben im Mai dieses Jahres ein Ende setzte.

Trotzdem sein Aeußeres wegen der vorstehenden Lippen, der langen Arme und der kurzen Beine keineswegs das war, was man nach menschlichen Begriffen etwa als „chic“ und „anmutig“ zu bezeichnen pflegt, so wußte er sich doch durch sein Thun und Treiben häufig genug die entschiedenste Zuneigung selbst der eleganten Damenwelt zu sichern. In seinem Gelasse des neuen Berliner Affenhauses schon beständig von Schaulustigen umlagert, kam er doch erst zur vollen Geltung, wenn er vom Wärter ru seinen Mahlzeiten in dessen Zimmer abgeholt wurde. Hand in Hand gingen sie durch das Affenhaus, und im Wärterraum angelangt, bestieg „Rolf“ den an der Wand stehenden Tisch, setzte sich nach orientalischer Sitte mit untergeschlagenen Beinen auf diesen und musterte das andrängende Publikum. Inzwischen bedeutete er seinem Wärter durch eine Handbewegung in der Richtung auf den Speiseschrank, daß er wohlgeneigt sei, eine Tasse Thee zu sich zu nebmen. Nachdem er das leere Gefäß empfangen, hielt er es hin, um sich dasselbe füllen zu lassen, wobei er bereits in lüsterner Freude im Vorgenusse schwelgend den Mund spitzte. Unser Bild zeigt diese Scene in vollendeter Weise, allerdings nicht im Wärterzimmer, sondern in der Behausung des Affen selbst. Nachdem „Rolf“ seinen Thee mit Behagen geschlürft, die Tasse wieder zurückgegeben, eine Frucht, ein Stück Weißbrot oder etwas ähnliches verzehrt hatte, war er zu Scherz und Spiel aufgelegt.

Geduldig ließ er sich einen alten Schifferhut aufsetzen und spielte mit dem biedersten Gesichte den „ollen ehrlichen Seemann“, auf die Frage: „Wie, groß bist du?“ stellte er sich in voller Höhe auf die Füße. Stürmisch umarmte er seinen Wärter als Antwort auf die Frage: „Wie lieb hast du mich?“, und wenn einer der Anwesenden nicht glaubte, daß ein Orang lachen könne, so wurde er hier von dem Gegenteil seiner Ansicht überzeugt, denn „Rolf“ lachte, außer wenn er sich freute, auch auf Befehl aber das ganze Gesicht, allerdings ohne jede Lautäußerung. Unser Orang hatte nichts von der leider bei uns so häufigen Kränklichkeit seiner Brüder, er war ein strammer und munterer Bursche, auch war es kein chronisches Leiden, das ihn dem Leben entriß.
Dr. O. Heinroth.


Wotanszug. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Gemälde Edmund Hergers, welches durch den Kontrast zwischen dem scheuenden, bäumenden Roß, das der wilde Jäger am Zügel hält, im Vordergrunde und dem Geisterzug im Hintergrund eine wahrhaft packende Wirkung ausübt, illustriert ein Kapitel aus Julius Wolffs Dichtung „Der wilde Jäger“. Mit „Wunsch“ und „Wille“, seinem getreuen Hund und Roß, jagt Graf Hackelberend durch den Forst, einem Hirsch nach, einem stolzen königlichen Tier; die wilde Jagd saust wie eine Windsbraut durch den Wald. Da auf einmal hemmt der Hengst den rasenden Lauf; nicht Sporn, nicht Rufen bringt ihn vorwärts, der Graf muß absteigen.

Da naht Wotans Heer: vor dem Zuge mit langem Stabe ein freundlich ernster Mann, dann Wotan selbst auf seinem Streitroß, von zwei Raben umflogen, die göttliche Gemahlin an seiner Seite, den Wocken in der Haud, dahinter hünenhafte Recken. In gespenstischer Beleuchtung erscheint der Wotanszug auf dem Bilde des Malers, dessen Phantasie diejenige des Dichters wirkungsvoll ergänzt.

Kleiner Briefkasten.

L. St., Berlin. Ihrem von zahlreichen Abonnenten der „Gartenlaube“ geteilten Wunsch wird im neuen Jahrgang entsprochen werden. Durch Aufstellung neuer Maschinen in der Buchbinderei können von Neujahr ab die Nummern, Halbhefte und Hefte der „Gartenlaube“ geheftet und beschnitten ausgegeben werden. Wir freuen uns, damit einem bis jetzt nicht zu beseitigenden Uebelstande im Sinne unserrr Abonnenten abhelfen zu können.


„Prosit Neujahr!“
Nach einer Originalzeichnung von Karl Gehrts.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[897]
An unsere Leser.

Die „Gartenlaube“ beschliesst mit diesem Hefte den Jahrgang 1899.

Seit nahezu fünfzig Jahren im ganzen deutschen Vaterlande, ja in der ganzen Welt, wo irgend Deutsche wohnen, verbreitet, ist die „Gartenlaube“ unter all den zahlreichen, neu auftauchenden Blättern das Lieblingsblatt des deutschen Hauses geblieben.

Sie verdankt dies dem treuen Festhalten an ihrem alten bewährten Programm:
Der deutschen Familie ohne Unterschied des Standes und der Konfession eine ungetrübte Quelle anregender Belehrung, fesselnder Unterhaltung zu bieten.

Bei Durchführung dieses Programmes erfreut sie sich der ständigen Mitwirkung einer stattlichen, sich immer wieder erneuernden Schar hervorragender Mitarbeiter auf allen Gebieten des Wissens und des dichterischen Schaffens.

Auch der Jahrgang 1900 wird davon Zeugnis ablegen. – Wir werden denselben mit zwei besonders anziehenden erzählenden Werken eröffnen:

„Im Wasserwinkel“ von W. Heimburg.
„Der Schutzengel“ von Paul Heyse.

Von weiteren Romanen und Novellen aus unseren Mappen nennen wir folgende:

„Der Dorfapostel“ von Ludwig Ganghofer.

„Am Webstuhl der Zeit“ von J. E. Heer.

„Samum.“ Eine Erzählung aus der Wüste von R. Stratz.

„Joachim Heinrichs Abenteuer“ von Karl Busse.

„Kampf ums Glück“ von Paul Robran.

„Im Teufelsmoor“ von Luise Westkirch.

„Glück ohne Aber“ von R. Artaria.

„Die Königin der Geselligkeit“ von Ernst Eckstein.

„Mutter“ von Eva Treu (Lucy Sriebel).

„Söhne des Reichslands“ von Herm. Stegemann.

Ferner können wir Romane und Erzählungen in Aussicht stellen von Hans Arnold, Marie Bernhard, Victor Blüthgen, Ida Boy-Ed, V. Chiavacci, Ernst Clausen, R. Greinz. Ernst Muellenbach, Charlotte Niese, Anna Ritter, Heinrich Seidel, R. Skoweonnek, O. Verbeck, H. Villinger, Richard Voss, E. Werner, Ernst Wichert, Adolf Wilbrandt, Karl Wolf u. a.

Aus der reichen Fülle von Beiträgen aus den Gebieten der Naturwissenschaft und Medizin, der Hygieine, der Technik, der Geschichte und Länder- und Völkerkunde seien nur folgende hier aufgeführt: An des Jahrhunderts Wende von Max Haushofer. – Aus Rom von Marie v. Ebner-Eschenbach. – Die Reform der Frauenkleidung von Prof. Dr. Eulenburg. – Das Rote Kreuz zur See von Dr. Reinhold Ruge. – Das Blondhaar von Wolfgang Kirchbach. – Reisen in den Mond von C. Falkenhorst. – Maria Mancini von L. v. Bodenhausen. – Kleine Künstler unter Masser von Prof. Dr. Kurt Lampert. – Ueber Krankenernährung von Prof. Dr. E. H. Kisch. – Die flüssige Luft von W. Berdrow. – Das Thorner Blutbad von R. v. Gottschall. – Herzwunden und Herznaht von Dr. J. H. Raas. – Die Südpolarexpedition von Prof. E. v. Drygalski. – Die Mafia von Woldemar Kaden. – Das Jahrhundert des Verkehrs (Erd- u. Weltverkehr. Weltmarktverkehr. Reiseverkehr. Verkehrsfortschritte. Völkerverkehr. Wanderverkehr. Geschäftsverkehr. Gesellschaftsverkehr.) von Paul Dehn.

Ueber das grosse Ereignis äes Jahres 1900, die Pariser Weltausstellung, wird ein Mitglied der Redaktion, das sich zu diesem Zwecke nach Paris begiebt, eingehende Berichte liefern.

Unseren Traditionen getreu, werden wir auch weiter mit besonderer Sorgfalt darauf bedacht sein, die Erinnerungen zu pflegen, welche die vielen Deutschen im Auslande mit der alten Heimat verbinden. Die Vermissten-Liste der „Gartenlaube“, durch welche allein im letzten Jahrzehnt wieder Hunderte von Verschollenen in den entferntesten Gegenden der Erde ermittelt und ihren bekümmerten Angehörigen zugeführt wurden, soll im Geiste ihrer segensreichen Bestimmung fortgesetzt werden.

Auf den für den neuen Jahrgang eingeführten besonderen Beilagen sollen die Leser in Wort und Bild geschilderte Tagesereignisse finden, ferner Werke der Kunst und Technik, Porträts interessanter Persönlichkeiten, Winke und praktische Ratschlage für Hauswirtschaft und Küche, Blumenpflege, für Kinder- und Krankenstube, für Pflege von Liebhaberkünsten und allerlei Handfertigkeit in Frauenarbeiten, für Spiele im freien und im Zimmer etc.

Eine reiche Illustration, vermehrt durch feine Kunstbeilagen, wird den neuen Jahrgang noch mehr als die früheren schmücken.

So dürfen wir wohl hoffen, dass die „Gartenlaube“ mit ihrem reichen Inhalt auch im kommenden Jahre überall freudig aufgenommen werden und ihren alten Ehrenplatz im deutschen Hause behaupten wird.

Glückauf zum Neuen Jahre!
Leipzig, im Dezember 1899.
Redaktion und Verlag der „Gartenlaube“.
[898]

Nach einer Originalzeichnung von St. Grocholski.
[Neujahrsbild 1900]


  1. Vgl. meinen Aufsatz „Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung“, „Gartenlaube“ 1896, Seite 176.
  2. „Hans Sittenberger, Studien zur Dramaturgie der Gegenwart. Erste Reihe: Das dramatische Schaffen in Oesterreich.“ München, C. H. Beck.
  3. „Warum werden die Nervenkranken nicht gesund? Eine kurze allgemeine Belehrung für die Kranken und deren Umgebung von Dr. med. Engler.“ Landsberg a. d. Warthe, Selbstverlag des Verfassers, 1899.