Die Geschichte eines Irren
„Mutter, Du trugst sie wohl auf unserem Hochzeitgange? Ich hatte sie selbst heimlich angefertigt, es war ein Art Meisterstück, das ich freiwillig mir auferlegte – denn wir Goldschmiede haben eine freie Kunst und brauchen kein Zunftstück zu machen. Ich legte sie Dir selbst plötzlich um den frischen Nacken. Alle Hochzeitsgäste kamen herbeigesprungen, die schöne Kette zu bewundern, wie sie in der Morgensonne glitzerte. – Ich sah Dir in die Augen, da glitzerte auch etwas, edler und reiner, als das Gold des Geschmeides, das war eine Thränenperle, eine Freudenzähre, welche Dir in dem Auge stand. Ich küßte sie Dir weg, – o, ich weiß es noch wie heute! Es war der letzte glückliche Augenblick. Von Stund’ an zog das Unglück über die neue Schwelle, immer finsterer, immer düsterer – jetzt steht es uns knapp hinter den Füßen und droht, uns jeden Augenblick niederzuschmettern. Nimm die Kette, das treubewahrte Kleinod, und hänge sie hinaus in den leeren Laden, damit doch noch etwas drin hängt. Hätten sie freilich lieber aufbewahrt für die Schwiegertochter, die uns unser Heinrich einmal in’s Haus bringen wird, aber – Noth bricht Eisen.“
Die Frau des Goldschmieds – denn es war der Goldschmied Hartmann im freundlichen Städtchen W., welcher dies sprach – hatte für diese Worte, wie für ähnliche seit längerer Zeit nur Thränen, schwere, langsam rieselnde, von tiefen Seufzern unterbrochene Thränentropfen. Stumm stand sie vom Stuhle auf, holte aus einem verschlossenen Schreine die Hochzeitskette und hing sie im Laden auf.
„Ich will ja Alles gern opfern und wenn’s zuletzt an mein Herzblut gehen sollte, wenn nur das Geschäft unserm einzigen braven Sohne, unserem Heinrich, erhalten wird,“ sagte sie endlich gefaßter.
„Das ist’s eben, Mutter, was mir so an die Seele geht. Wenn wir Beide allein wären, ohne Kind, so könnten sie uns meinethalben noch heute aus unserem Hause hinauswerfen auf die Straße. Die Unbarmherzigen – sie möchten Alles versiegeln und verkaufen, wir zögen dann Beide bettelnd, aber getrosten Muthes von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, bis sie uns, wenn wir des Lebens überdrüssig wären, einmal in einem Flusse auffischten, aber so müssen wir bleiben, müssen uns wehren bis auf den letzten Blutstropfen, denn es ist unsere Pflicht, wir sind es unserem Kinde schuldig.“
„Wie’s ihm wohl jetzt gehen wird in der Fremde?“ sprach die Mutter.
„Ihm geht’s wohl! Er hat einen braven Meister. Ich kenne den Mann von früher her. Ihm geht’s wohl. Er ahnt nichts von dem Unglücke zu Hause. Mag’s ihm auch nicht schreiben, so sauer es mir auch ankömmt, ihm vorlügen zu müssen, es stände Alles gut.“
Dieser abgelauschte Dialog hat uns einen kurzen Einblick in die Verhältnisse der Goldschmiedsfamilie gewährt. Sie sind traurig. Der alte Kampf der menschlichen Combination mit der der äußern Verhältnisse war hier zu keinem harmonischen Abschluß gekommen, vielmehr lief er zu immer weiteren Dissonanzen aus. Die Verhältnisse drohten, jener spottend, den Sieg davon zu tragen. Der Goldschmied hatte sich als Fremdling in dem Städtchen, was ihm durch die Liebe zu seiner jetzigen Frau zur neuen Heimath geworden war, nicht ohne Schwierigkeit und unter sehr ungünstigen Verhältnissen niedergelassen. Ueber alle Bedenklichkeiten ließ ihn die Liebe nur zu leicht und schnell hinwegsehen und seinem redlichen Muthe und seiner Arbeitslust schenkte er ein zu großes Vertrauen. Er ließ sich von der Schuldenlast, die er durch den Ankauf der Concession und des Hauses sich aufbürdete, nicht abschrecken. Er meinte, die übernommenen Hypotheken schon bald zurückzahlen zu können, denn er „hatte etwas gelernt“ und in seinen Händen ein reiches Capital, das nie abnehmen könne, sondern stets wachsen müsse.
Im Anfange, unter der Aegide der Hoffnung, ging in der That Alles recht wohl, trotzdem daß die Concurrenz bedeutend war und der Neuling wenig Kunden hatte wegen Mangel an „Connexionen“. Aber auch die Hoffnung ist keine ewige, sie muß immer von Zeit zu Zeit Nahrung haben, um immer wieder neu fortleben und ihr gesegnetes Kind, den Muth, erhalten zu können. Als diese Nahrung immer mehr ausblieb, als die hereinbrechende Noth der Zeit auch die Nachfrage nach den theuren Luxusartikeln des Goldschmiedladens sehr verringerte, da sank auch immermehr die Hoffnung zusammen und mit ihr auch – die Arbeitslust. Die bedeutenden Zinsen, diese gefräßigen Kinder des Capitals, nahmen einen großen Theil des Einkommens weg. Die Ausgaben der Familie wuchsen daneben mehr, besonders verlangte die Erziehung und Ausbildung des Sohnes nicht geringe Opfer. Auch er hatte die edle Goldschmiedekunst gelernt und war jetzt auf der Wanderschaft. Er hatte nie einen hellen Einblick in den heimlichen Ruin des Hauses gehabt; es war ihm derselbe von seinen Eltern auch immer sorgsam verheimlicht worden. So war er heiter und lustiger Dinge in die Welt hinausgegangen.
Jetzt nahte auf einmal ein entscheidender Moment. Der Hauptgläubiger war gestorben und seine Schuld auf seine Erben übergegangen, welche mit Nachdruck und ohne Rücksicht die Auszahlung der Erbschaftsschuld zur Theilung unter sich forderten. Der alte einzige Gläubiger hatte für Vorstellungen und Bitten ein offenes Herz, jetzt waren es mehrere geworden, es galt also mehrere Herzen zu erobern. Das wollte dem alten Goldschmied nicht gelingen. Durch das durch die Erbschaft herbeigeführte Gemeinschaftsverhältniß hatten die Gläubiger eine Ausrede bekommen, womit sie, ohne ihr Billigkeitsgefühl verleugnen zu müssen, den Schuldner immer auf die Andern wiesen, ohne welche sie als Einzelne nichts unternehmen könnten. Noch um zwei Mal vierundzwanzig Stunden und die Zahlungsfrist war abgelaufen – Haus und Hof, all’ die goldigen Ringlein und Zierrathen verfallen. Wer schaffte da Rath?
„Entweder muß die Hülfe vom Himmel oder von der Hölle kommen,“ sagte am Abend der Goldschmied, unruhig im Zimmer umherwandelnd.
„Vom Himmel wird sie kommen – Hab’ nur Vertrauen zu ihm, er hat brave Leute noch nie verlassen,“ antwortete die Frau.
„Vertrauen? Haben wir ihm nicht schon lang genug vertraut und er hat’s nicht besser werden lassen? Ist’s nicht immer schlimmer geworden, trotzdem daß Du alle Sonntage in die Kirche gelaufen bist?“
„Wie kannst Du so gottlos reden, Mann! Ist die Noth am größten, ist die Hülfe am nächsten.“
„Recht hat sie,“ murmelte der Goldschmied vor sich hin, „aber nicht vom Himmel. Der Teufel bietet sie an. – Frau,“ fuhr er nach einer Weile fort, indem er den Rock anzog und Hut und Stock ergriff, „ich habe noch einen Gang zu thun, einen Gang, der uns vielleicht rettet.“
„So geleite Dich der Himmel! – Aber geh’ nur auf redlichen Wegen –“
Bei diesen Worten, welche einen stillen Vorwurf zu enthalten schienen, wollte er auffahren und die Frau zurechtweisen ob solch’ verletzender Rede, aber er that es nicht, es fehlte ihm der Muth dazu, der Muth, den allein die Wahrheit und Herzenslauterkeit gibt – er hätte ja heucheln müssen. Er ging.
Es war schon ganz dunkel auf der Straße, aber doch noch reges Leben. Scheu wich er dem Strome der Gehenden auf beiden Seiten des Straßentrottoirs aus, er ging gerade in der Mitte, still vor sich niedersehend. Manchmal hielt er dann plötzlich an, warf einen Blick nach dem verlassenen Hause und schien dahin umkehren zu wollen, aber rasch eilte er nach kurzer Ueberlegung in schnelleren Schritten wieder fort. Aber es wiederholte sich dies öfter. Als er an einem Wirthshause vorbeikam, wo er Abends immer einkehrte, hielt es seinen Fuß wieder fest. Er schien zu überlegen, ob er nicht lieber dahin gehen solle, aber kurz vor der Thür kehrte er rasch entschlossen wieder um und setzte seinen Weg fort; bald war er am Erde der Stadt, da „wo die letzten Häuser stehen“, wo das Lichtreich des Gases seine Grenzen hatte. Dichte, wie bodenlose Finsterniß, Alles unheimlich still, nur das Zetergeschrei schleichender Katzen, die sich auf den niedern Dächern umherjagten. Sieh, da kommt’s heran, gerade auf den Goldschmied zu – eine tiefverhüllte Gestalt. Es bleibt stehen und flüstert ihm zu:
[368] „Seid Ihr’s, Meister? – Das ist gescheidt von Euch. ’s war hohe Zeit. Wir wissen, wie’s um Euch steht. Kommt.“
Willenlos, stumm ließ sich der Goldschmied fortführen in die Finsterniß hinein,
„Ihr zittert? Pah! ’s wird schon vergehen, wenn Ihr die blinkenden Häuschen seht. Wir brauchten Euch sehr, Ihr versteht die Sache, kennt die Mischungen – Ihr wollt doch nicht gar wieder umkehren? Ihr wißt wohl nicht, daß Ihr morgen keine Heimath mehr habt, als die der Straße?“
Die Stadt war schon ganz verlassen. Ein Seitenweg, überwuchert von Gestrüpp und Domen, war eingeschlagen. Er führte in den nahen Wald, der sich gleich vor der Stadt auf einer mäßigen Anhöhe ausbreitete. Der Goldschmied strauchelte oft.
„Geduld, wir haben nicht mehr weit, seht Ihr den Glanz nicht durch die Zweige schimmern? Der Ort ist gut gewählt. Dahin dringt kein polizeilich Auge und keine Gensd’armennase hat Spürkraft genug, den Schlupfwinkel zu entdecken, – Paßt auf, Meister, jetzt müssen wir aber hintereinander gehen und uns bücken. Geht Ihr voran. Ihr sträubt Euch?“
„Laßt mich, ich will wieder nach Hause. Meine Frau, mein Sohn –“
„Die werden’s Euch Dank wissen, daß Ihr sie verhungern laßt.“
„O Gott! O Gott! Gibt’s kein anderes Mittel?“
„Ich weiß keins. Uebermorgen ist die Frist abgelaufen.“
„Das Mitleid wird sie noch verlängern. Lebt wohl!“
„Halt, Bursche! Gegen solche Anwandelungen von Schwäche haben wir ein eigenes Mittel.“
Dabei zog der Mann ein Pistol aus dem Mantel hervor und hielt es dem Goldschmied vor die Brust.
„Siehst Du? Entweder – oder –“
„Ich will – ich will – kommt – es geschehe, was da will.“
Und der Weg ging weiter in das Dickicht. Ein Geflüster ließ sich hören, eine Felsenthür ging auf, brodelnd flieg eine weiße Rauchsäule heraus, eine gluthrothe Flamme, welche zischend aus Pfannen und Tiegeln aufstieg, ließ mehrere Gestalten sehen. Die Thür schloß sich gleich wieder. –
Am andern Morgen zahlte der Goldschmied die Schuld in lauter goldenen Münzsorten ab, ein reicher ferner Verwandter habe es ihm vorgeschossen.
Es war ein düsteres Bild, was wir betrachteten, um so freundlicher ist das, was sich jetzt vor uns aufrahmt.
In ein kleines, sauber gehegtes Gärtchen treten wir ein. Es ist in der Stadt B., von der Stadt des Goldschmieds in Mitteldeutschland viele Meilen südlich gelegen. Es ist gerade so Mitte Juli, wo die Blumen ihre größte Pracht entfalten – und Blumen sind es hauptsächlich, womit das Gärtchen besät ist. Sie schlingen sich überall um die Gemüsebeete, als wollten sie mit ihrer Poesie die Prosa verdecken, welche in den Kohlrabi- und Salatpflanzen, den Gurken und Bohnen steckt. Da wechselten rothe und weiße Rosen ab neben blauen Lilien, die schon die Kronen welk zu neigen begannen; Nelken im bunten Farbengesprenkel sandten aus ihrer niedrigen Stellung ihr erquickendes Arom empor. Und die Reseda daneben gab auch ihr Scherflein drein. Ueber all’ dem waltete ein anmuthender Zauber der Ordnung, daß man sich des aufsteigenden Gedankens nicht erwehren konnte, es sei hier irgend eine liebesprudelnde sorgende Menschenhand thätig, die für die holde Blumenfamilie mütterlich sorge.
Wer konnte dies wohl anders sein, als das frische blonde Kind, das dort in der Weinlaube beim Nähzeug sitzt? Neugierig möchten wir wohl näher treten und sie durch die Zweige, welche die Hütte sonnescheuchend überranken, belauschen und betrachten – sie macht es uns aber bequemer – sie tritt eben selbst heraus, Nadel und Scheere auf den Tisch hinwerfend. Sie streicht sich die blonden Haare, welche sich über der Stirne in Löckchen geringelt haben, aus dem Gesichte und schaut nach der Thüre, welche aus dem Garten heraus auf die Straße geht.
„Immer noch nicht? Und es hat doch schon längst sieben Uhr geschlagen? Warum er mich nur heute so lange harren läßt?“ Und ein flüchtiger Schatten der Wehmuth glitt über das frische Gesicht, wurde aber bald wieder durch die unbefangene Heiterkeit verdrängt, welche fast immer eine Zugabe aller blauäugigen und rosenwangigen Blondinengesichter ist.
„Aber nähen“, fährt das liebe Kind in seinem Selbstgespräche fort, „kann ich nicht mehr; ich habe keine Ruhe dazu. Ich will ihm lieber einen schönen Strauß pflücken – er verdiente ihn heute zwar nicht, weil er ungehorsam ist; ich weiß aber, es geht mir doch wie immer; wenn ich mir auch vornehme, mit ihm zu schmollen und ihn recht auszuzanken, ich komme doch nie dazu. Zunächst Rosen,“ fuhr sie fort, Rosen abpflückend; „wenn ich nur Etwas von der Blumensprache verstände – am Ende pflücke ich sonst, ohne es zu wissen, auch Blumen, die Schlimmes bedeuten, mit ab – Rosen können nichts Böses bedeuten und Nelken – ach! die duften ja gar so süß – den blauen Rittersporn darf ich wohl auch mit aufnehmen, ich weiß zwar nicht, was er wohl sagen könnte?“
„Sieh, Dein treuer Ritter naht!“
„Ach!“ rief erschrocken das Mädchen und ließ die Blumen aus den Händen nieder in den Schooß fallen. „Wie Du mich nun auch noch erschrecken kannst, nachdem Du mich so lange hast warten –?“ Weiter konnte sie nicht reden, denn zwei Lippen verschlossen ihr den Mund.
„Hättest Du nur den Rittersporn früher schon gefragt, er hätte Dir gesagt, daß Dein treuer Heinrich nicht ausbleiben würde und daß es nicht seine Schuld war, daß er heute später kommt.“
„Ich will Deine Entschuldigungen gar nicht hören, aber es war recht quälend, so lange warten zu müssen, zumal wenn man so böse Träume die Nacht über gehabt hat.“
„Träume? – Du bist wohl gar abergläubisch?“
„Ach nein! – Ich mag auch nicht glauben, daß in meinem Traume etwas Wahres liegt, aber er war so seltsam und furchterregend. Denke Dir, ich sah im Traume Deine beiden guten Eltern vor mir, wie Du sie mir immer beschriebst, ganz deutlich standen sie vor mir, Deine Mutter im weißen Häubchen und Dein Vater mit seinem schwarzen Sammetkäppchen. Anfangs sahen sie ganz freundlich aus und ich sprach mit ihnen, ich weiß aber nicht mehr was; auf einmal fingen ihre Gesichter an, sich ganz zu verzerren, sie wurden alt und welk und rückten immer weiter von mir weg. Und auf einmal fingen die Gold- und Silberwaaren, die im Fenster zur Schau hingen, an zu schmelzen und in breiten Strömen lief das flüssige Metall aus dem Laden heraus gerade auf die Beiden zu, daß sie bald von demselben umgeben waren, und da schlug noch dazu eine helle Flamme aus dem flüssigen Strome heraus und im Nu stand das ganze Zimmer in Flammen, Deine armen Eltern mitten drin und hinter ihnen tauchte plötzlich eine Gestalt auf – ach! ich kann sie mir gar nicht wieder vorstellen, wie scheußlich die aussah, die lachte und grinste so und nahm Deinen Vater beim Schopfe und tauchte ihn lachend immer tiefer in die glühende Masse. Ich bin vor Seelenangst bald umgekommen, da kamst auf einmal Du und wolltest auf Deinen Vater zu, aber die schreckliche Gestalt hatte ihn Plötzlich ganz untergetaucht. Deine Mutter hatte sich selbst schon hineingestürzt, da fielst Du ohnmächtig hin, ich wollte Dich auffangen – da bin ich erwacht und der schreckliche Traum war fort.“
[378] „Geh, Du närrisches Mädchen,“ rief da Heinrich, der Goldschmiedssohn, und versuchte, über die Furcht des Mädchens zu spotten und zu lächeln, aber er vermochte es nicht, denn es fiel ihm ein, daß er heute gekommen war, um Abschied von seinem Mädchen zu nehmen und ihr anzukündigen, daß er zurück in das Heimathshaus wolle, um dort das Geschäft zu übernehmen und sein Röschen dann als Frau nachzuholen.
Schon seit einem Jahre war er mit Röschen heimlich verlobt. Er hatte seinen Eltern, nichts darüber geschrieben, weil er sie einst selbst mit der freudigen Kunde überraschen wollte. Daß dieselbe freudig aufgenommen wurde, daß er der elterlichen Zustimmung von vornherein gewiß sein konnte, war außer Zweifel, denn er wußte, wie sein Wille seinen Eltern heilig war – auch hätte Niemand gegen die Verbindung Einwendung machen können. Röschen war ein liebevolles, gebildetes Mädchen, die einzige Tochter eines Schullehrers. Der Vater war indeß vor Jahren gestorben und die Mutter deshalb mit der verwaisten Tochter von der Hauptstadt zurück in ihr Heimathstädtchen gezogen, wo ihr von ihren Eltern her noch ein Häuschen und ein Gärtchen blieben. Da lebte sie in stiller Zurückgezogenheit von ihrer Pension und ihrem eigenen Vermögen. Der hübsche junge Goldschmied Heinrich Hartmann hatte sich einen Eingang in das Herz ihres Röschens verschafft und ihr mütterliches Gewissen hatte gegen dieses „Verhältniß“ keine Einwendungen, sie ließ es unter getreuer Ueberwachung sich gründen und bestehen. Es war dem biedern Manne auch wirklich Ernst um seine Liebe – daher das erwähnte Vorhaben.
Die Thräne, welche die Kunde davon in den blauen Augen des Mädchens hervorrief, denn es hieß ja jetzt: Meiden und Scheiden, zerrann bald in dem Gedanken, daß es keine dauernde Trennung, sondern nur eine solche sein sollte, welche, um eine ewige, unauflösliche, innigere Bereinigung herbeizuführen, nothwendig war.
Acht Tage später stand Heinrich wieder im Garten, das Ränzchen auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand – denn das war damals noch in der guten alten Zeit, wo das „Wandern“ noch in Ehren und durch die Eisenbahn noch nicht verdrängt war. Schluchzend hing Röschen an seinem Halse, auch die alte Frau Schullehrerin stand teilnehmend dabei und hatte viel goldene Sprüche und alte weise Lehren im Munde, welche sie dem Wanderer mit auf den Weg gab, auch manch’ schönen Gruß an die Eltern daheim. Des früh verstorbenen Gatten ward dabei auch gedacht, wie ein Schmerz immer wieder die alten alle aus ihren Schlummerhöhlen weckt. Heinrich hatte für alle Worte des Trostes, obwohl es ihm recht schwer zu Herzen ging und er Mühe hatte, die Thränen zurückzuhalten – er fühlte jetzt erst, wie unentbehrlich er der kleinen Familie war, wie er ein nothwendiges Glied derselben geworden, wie sein Scheiden eine Lücke lasten müßte, und jetzt, gerade jetzt flüsterte ihm eine Stimme tief aus einem bisher unaufgedeckten Winkel seines Herzens zu, daß er sich in seiner Zuversicht auf das heimische Glück doch getäuscht haben könnte. Konnte in der Zeit, seit er vom heimischen Heerde geschieden, sich nicht Vieles geändert haben? Aber – fort mit den verwirrenden Gedanken; er drückte das weinende Röschen noch einmal an Mund und Herz, reichte der Mutter die letzte Abschiedshand und –
„Heinrich, Heinrich, mir ist, als wenn wir uns nicht wieder sähen!“
„Wenn nicht hier unten, da droben sicher!“ sagte Heinrich, mit dem Finger gen Himmel weisend. „Lebt wohl!“
Als sich Mutter und Tochter vom ersten Schmerze erholt hatten und aufblickten, war Heinrich schon weit fort; drüben, wo die Landstraße sich erhöht und hinter einem Wäldchen verschwindet, winkte er noch mit seinem Hute, auf welchen die Geliebte ihm den schönsten Strauß Blumen gesteckt hatte.
Mutter und Tochter sanken sich weinend in die Arme. Im Abendwinde nickten die Blumen und beugten sich leise nieder – eine weiße Rosenknospe fiel gebrochen zur Erde.
„Es wird kein Faden so heimlich gesponnen, daß er nicht käme an die Sonnen! – Das Sprüchwort hat sich hier wieder bewährt,“ sprach der Schneider Baldrian zu seinem Nachbar, dem Webermeister Habekorn, der bei ihm auf der Steinbank vor der Hausthüre saß. „Ich hätte es voraussagen können, wenn sie mich gefragt hätten. Wie war der alte Hartmann auf einmal zu dem Gelde gekommen? Und lauter harte Goldstücke? Geerbt? Das ist die gewöhnliche Ausrede. Erbschaften fallen nicht blos so mir nichts, dir nichts vom blauen Himmel herunter. Das mußte eine andere Bewandtniß haben – und die hat’s auch gehabt. Nun ziehen sie ihm die doppelfarbige Jacke an und er muß den Leuten Holz mit vor die Thüre fahren. Ja, unrecht Gut gedeiht nicht.“
„Ei, ei! Was man nicht Alles erleben muß. Wer hätte das gedacht – der Mann war immer so brav und redlich.“
„Nur der arme Junge dauert mich, wenn der heim kommt und sieht das Elend.“
„Ja, auf die Kinder geht der Fluch der Eltern auch mit über.“
„Sieh, sieh, da führen sie ihn vorbei!“
Begleitet von einem Schwarme Kinder kam die Straße herauf ein Gerichtsdiener mit einem Gefesselten. Es war ein überaus bleicher Mann, den Blick schlug er tief zu Boden, die Augen wie geschlossen.
„Es ist Hartmann, der Goldschmied, der Falschmünzer,“ flüsterte es aus Thür und Fenster.
Er war es, gefanglich eingezogen wegen Verdacht der Falschmünzerei. Jener finstere, unheilvolle Gang, auf dem wir ihn begleiteten, führte in den verborgenen Schlupfwinkel einer Falschmünzerbande. Schon lange hatten diese, mit dem trostlosen Zustande des Goldschmieds bekannt, ihn zu sich zu locken gesucht, weil sie ihn seiner Kunst wegen gut brauchen konnten. Die steigende Noth hatte ihn endlich zu ihrem Bundesgenossen gemacht. Sein unbeholfenes Benehmen hatte sie verrathen, ihm fehlte die heuchlerische Routine eines Verbrechers.
Während sie ihn fortführen, treten wir einmal bei ihm ein in’s Haus.
Unheimliche Stille empfängt uns da, weite, dumpfe Leere. Nur der Uhrpendel geht seinen einförmigen Schlag und der Vogel im Bauer hüpft unbekümmert von Sprosse zu Sprosse. Auf dem Sopha sitzt die Frau, die Hände im Schooße gefaltet, die glanzlosen Augen starr nach der Thüre gerichtet, da, wo er hinausging. In ihren Gesichtszügen zuckt der wildeste, tiefste Schmerz. So sitzt sie lange, ihrer selbst nicht bewußt, zur Bildsäule erstarrt von der furchtbaren Gewalt der Ereignisse. Endlich steht sie auf, stumm und starren Auges, wie sie dagesessen. Sie tritt zu dem, Vogel und reicht ihm sein Futter; sie legt Alles im Zimmer in säuberliche Ordnung; – sie thut dies Alles wie mechanisch, wie eine Nachtwandelnde. [379] Sie sieht sich noch einmal im Zimmer um und geht dann hinaus, die Thüre schließend. Ruhig steigt sie die Treppe hinauf in’s zweite Stock, weiter fort die schmale kleine Treppe zum Boden, da setzt sie sich auf eine alte, morsche Kiste, welche hier neben allerhand Geräthe steht. Sie legt wieder die Hände in den Schooß, von Neuem zuckt’s in ihrem Gesichte, ihre Lippen scheinen sich zu bewegen – sie weint. Plötzlich steht sie auf. Sie reißt sich das seidene Tuch vom Halse. Rasch an den Pflock dort und rasch um den Hals geschlungen – noch einige Minuten ein zuckender Todeskampf – nun ist’s geschehen – nun ist der Schmerz begraben.
Es ist schon tief dämmernd und die Nacht hereingebrochen, aber wenn die liebe Heimath so nahe ist, die Heimath, die man seit Jahren nicht wieder gesehen, wer sollte da sich von dem Dunkel zurückschrecken lassen, da macht die Freude die Nacht zum hellen Tage und verleiht den Füßen Flügelkräfte, und es hat auch wieder etwas Schönes, etwas Poetisches, so über Nacht in der Heimath anzukommen, statt so am nüchternen Tage. Es klopft draußen an der Hausthüre. Wer mag das wohl sein in der späten Nacht; gerade zu stören in dem lieben Traume; wir waren gerade bei dem lieben Sohne, der in der Fremde weilt, wir unterhielten uns mit ihm, schlossen ihn in die Arme, nun ist das Glück gestört, nun war es nur ein Traum – doch ist es wirklich ein Traum? Die Stimme da drunten hatte so etwas Bekanntes, regte alte liebe Klänge in uns wieder an. Wir lassen den nächtlichen Besuch ein, leuchten ihm in die Augen – war es denn wirklich kein Traum – die Züge scheinen uns so bekannt – das Gesicht so ähnlich, nur der Bart – doch der kann in der Länge der Zeit schon gekommen sein – wahrhaftig – er ist’s, es ist kein Traum mehr. Da wird schnell Lärm gemacht, das vereinsamte Bett schnell bereitet und ein warm Süppchen gekocht. Wie erwartungsvoll wird dann dem Morgen entgegengesehen, wo eine liebe Stimme mehr das „Guten Morgen“ spricht, als bisher! Man plaudert ein halb Stündchen länger zum Kaffee – und dann geht’s in der Eile zu Muhmen und Basen und all’ den Nachbarsleuten, – die Bäckersfrau hat’s gleich heut Morgen erfahren beim Semmelholen, daß er da ist, der liebe Ersehnte, wohl, frisch und gesund und hübsch, ei, wie hübsch geworden – das Letzte hat besonders der Nachbarin junges Töchterlein aufmerksam vernommen. Wenn man so über Nacht heim kommt, wird man viel früher heimisch zu Hause; die Nacht, der Schlummer hat Heimath und Fremde vermittelt, den Uebergang gleich gebahnt; eh’ wird man nicht heimisch zu Hause, als bis man eine Nacht wieder da zugebracht.
So meinte auch der rüstige junge Wanderbursch, der dort auf der Straße einherschritt. Nur noch eine Stunde weit nach Hause und wegen der hereinbrechenden Nacht noch einmal zu übernachten, noch einmal bei fremden Leuten sich zu betten, während das liebe Elternhaus so nahe – das wäre doch furchtsam und zugleich thöricht gedacht. Nein, rüstig fort bis an’s Ziel, die Zeit mit lieben Erinnerungen ausgefüllt und mit freudigen Bildern der Zukunft ausgeschmückt!
„Was wohl jetzt mein holdes Röschen macht? Sie sitzt vielleicht noch einsam im Gärtchen, in der Laube, um die sich ihr tausend liebe Erinnerungen ranken – so allein, das Mütterchen kann die Abendluft nicht vertragen, doch nein, – nicht allein, sie denkt wohl an mich, den Fortgezogenen, bin ich doch auch nicht allein, geht sie doch stets an meiner Seite – das liebe, liebe Kind. Wie werden meine Eltern sich freuen, wenn ich ihnen von ihr erzähle; es reut mich fast, daß ich sie nicht gleich selbst mitgebracht habe – die Eltern, was sie wohl jetzt vornehmen werden? Nun, der Vater, der Vater sitzt wahrscheinlich im goldnen Lämmlein beim Bierkruge und schmaucht behaglich sein Pfeifchen, denn das hat er früher immer so gehalten, aber die Mutter – die Mutter ist gewiß zu Hause. Sie wird am Fenster sitzen und stricken, am Fenster – ob wohl die Monatsröschen da noch in den Töpfen stehen, die ich einmal dahin gepflanzt? – die Mutter – und die denkt gewiß auch an mich – wie ich sie überraschen will, ich trete zu ihr hin – erscheine wie als Fremder – spreche sie vielleicht um eine Gabe an – sie wird mich nicht gleich wieder erkennen – wie ich mich darauf freue, wenn ich mich dann plötzlich ihr zu erkennen gebe – die gute, liebe Mutter!“ –
„Ein saures Stückchen Brod! Die alten Knochen sind doch noch recht schwer –“ das sagte ein Mann, der einen Karren vor sich her schob durch das Dunkel der Landstraße.
„Guten Abend, Landsmann!“ sagte lustig der junge Goldschmied. „Wo hinaus noch so spät? Was habt Ihr denn da?“
„Muß noch nach J…a. Was ich da habe? Futter für die Herren Mediciner in J., und wenn die es satt haben, bekommen es die Hündlein und die Vögel unter dem Himmel. Sie werden mit ihr nicht viel mehr machen können, es ist eine arme alte Frau, die sich erhängt hat. Ihr werdet ja wohl die Geschichte des Goldschmieds kennen. Er hat gefalschmünzt und sitzt jetzt hinter eisernen Stäben, und sie hat sich aus Gram darüber die Gurgel zugeschnürt. Na, ich hab’ Eile. Gute Nacht!“
„Ein Goldschmied, sagt Ihr? Wie heißt der Mann?“
„Na, wie soll er heißen? Hartmann heißt er.“
Der arme Heinrich hat kein Wort gesagt, er stand noch eine Weile sprachlos, starr, der Wanderstab entfiel seiner Hand, plötzlich erhob er eine furchtbare, weithin schallende Lache, und rannte in wilder Flucht in die Nacht hinein – geraden Wegs durch den Wald, der an der Straße lag.
Am Morgen fanden Holzhacker einen jungen Menschen unter einem Baume im Walde sitzend; er spielte mit Blumen, die er gepflückt hatte. Aus seinen irren Augen starrte der Wahnsinn. Man erkannte aus seinen gebrochenen Worten und aus den Papieren, welche er bei sich trug, daß es der junge Goldschmied Heinrich Hartmann war. Man schaffte ihn in die Irrenheilanstalt zu J. Still und ruhig lebt er dort in der Nacht, die seinen Geist gefangen hält. Mechanisch gehen die Functionen des Körpers fort, er lebt, lebt immer fort, aber sein Geist ist gestorben, todt für alle Zeiten.
Wer das Irrenhaus in J. besucht, kann den armen Heinrich jetzt noch lächeln und spielen sehen.
Und Röschen? – Sie harrte, harrte wie an jenem Abend, harrte Stunden, Tage, Jahre, er kam nicht. Still pflegte sie ihre Blumen, und läßt sich heimlich von ihnen all’ ihre Erinnerungen wieder erzählen, deren Zeugen sie waren. Eine Hoffnung nährt sie noch – die auf droben – da muß sich ihr Harren doch noch einmal erfüllen.