Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon

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Autor: Friedrich Schiller
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Titel: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon
Untertitel:
aus: Thalia - Dritter Band, Heft 11 (1790), S. 30–82
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1790
Verlag: Georg Joachim Göschen
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: UB Bielefeld = Commons
Kurzbeschreibung:
Siehe Lykurg und Solon in der Wikipedia
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[30]
II.
Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon.

Um den Lykurgischen Plan gehörig würdigen zu können, muß man auf die damalige politische Lage von Sparta zurücksehen, und die Verfassung kennen lernen, worinn er Lacedämon fand, als er seinen neuen Entwurf zum Vorschein brachte. Zwei Könige, beide mit gleicher Gewalt versehen, standen an der Spitze des Staats; jeder eifersüchtig auf den andern, jeder geschäftig, sich einen Anhang zu machen, und dadurch die Gewalt seines Throngehilfen zu beschränken. Diese Eifersucht hatte sich von den zwei ersten Königen Prokles und Eurysthen auf ihre beiderseitigen Linien bis auf Lykurg fortgeerbt, daß Sparta während dieses langen Zeitraums unaufhörlich von Faktionen beunruhigt wurde. Jeder König suchte durch Bewilligung großer Freiheiten das Volk zu bestechen, und diese Bewilligungen führten das Volk zur Frechheit und endlich zum Aufruhr. Zwischen Monarchie und Demokratie schwankte der Staat hin und wieder, und gieng mit schnellem Wechsel von einem Extrem auf das andre [31] über. Zwischen den Rechten des Volks und der Gewalt der Könige waren noch keine Grenzen gezeichnet, der Reichthum floß in wenigen Familien zusammen. Die reichen Bürger tyrannisirten die Armen, und die Verzweiflung der letztern äußerte sich in Empörung.

Von innerer Zwietracht zerrissen mußte der schwache Staat die Beute seiner kriegrischen Nachbarn werden, oder in mehrere kleinere Tyrannien zerfallen. So fand Lykurgus Sparta; Unbestimmte Grenzen der königlichen und Volksgewalt, Ungleiche Austheilung der Glücksgüter unter den Bürgern, Mangel an Gemeingeist und Eintracht und eine gänzliche politische Entkräftung waren die Uebel, die sich dem Gesetzgeber am dringendsten darstellten, auf die er also bei seiner Gesetzgebung vorzüglich Rücksicht nahm.

Als der Tag erschien, wo Lykurgus seine Gesetze bekannt machen wollte ließ er dreißig der vornehmsten Bürger, die er vorher zum Besten seines Planes gewonnen hatte, bewaffnet auf dem Marktplatz erscheinen, um denen, die sich etwa wiedersetzen würden, Furcht einzujagen. Der König Charilaus von diesen Anstalten in Schrecken gesetzt, entfloh in den Tempel der Minerva, weil er glaubte, daß die ganze Sache gegen ihn gerichtet sey. Aber man benahm ihm diese Furcht, und brachte ihn sogar dahin, daß er selbst den Plan des Lykurgus thätig unterstützte.

[32] Die Erste Einrichtung betraf die Regierung. Um künftig auf immer zu verhindern, daß die Republik zwischen königlicher Tyranney und anarchischer Demokratie hin und her geworfen würde, legte Lykurgus eine dritte Macht, als Gegengewicht, in die Mitte; er gründete einen Senat. Die Senatoren, 28 an der Zahl und also 30 mit den Königen, sollten auf die Seite des Volks treten, wenn die Könige ihre Gewalt mißbrauchten, und wenn im Gegentheil die Gewalt des Volks zu groß werden wollte, die Könige gegen dasselbe in Schutz nehmen. Eine vortreffliche Anordnung, wodurch Sparta auf immer allen den gewaltsamen innern Stürmen entgieng, die es bisher erschüttert hatten. Dadurch ward es jedem Theile unmöglich gemacht, den andern unter die Füße zu treten; gegen Senat und Volk konnten die Könige nichts ausrichten, und eben so wenig konnte das Volk das Uebergewicht erhalten, wenn der Senat mit den Königen gemeine Sache machte.

Aber einem dritten Fall hatte Lykurgus nicht begegnet – wenn nemlich der Senat selbst seine Macht mißbrauchte. Der Senat konnte sich als ein Mittelglied, ohne Gefahr der öffentlichen Ruhe, gleich leicht mit den Königen wie mit dem Volk verbinden, aber ohne große Gefahr des Staats durften sich die Könige nicht mit dem Volk gegen den Senat vereinigen. Dieser letzte fieng daher bald an, diese vortheilhafte Lage zu benutzen, und einen ausschweifenden Gebrauch von seiner Gewalt zu machen, welches um so mehr gelang, da die geringe Anzahl der Senatoren es ihnen [33] leicht machte, sich mit einander einzuverstehen. Der Nachfolger des Lykurgus ergänzte deswegen diese Lücke, und führte die Ephoren ein, welche der Macht des Senats einen Zaum anlegten.

Gefährlicher und kühner war die zweite Anordnung welche Lykurgus machte. Diese war: das ganze Land in gleichen Theilen unter den Bürgern zu vertheilen, und den Unterschied zwischen Reichen und Armen auf immerdar aufzuheben. Ganz Lakonien wurde in 30,000 Felder, der Acker um die Stadt Sparta selbst in 9000 Felder getheilt, jedes groß genug, daß eine Familie reichlich damit auskommen konnte. Sparta gab jetzt einen schönen reitzenden Anblick, und Lykurgus selbst weidete sich an diesen Schauspiel, als er in der Folge das Land durchreißte. Ganz Lakonien, rief er aus, gleicht einem Acker, den Brüder brüderlich unter sich theilten.

Eben so gerne, wie die Aecker, hätte Lykurgus auch die beweglichen Güter vertheilt, aber diesem Vorhaben stellten sich unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Er versuchte also, durch Umwege zu diesem Ziele zu gelangen, und das, was er nicht durch ein Machtwort aufheben konnte, von sich selbst fallen zu machen.

Er fieng damit an, alle goldnen und silbernen Münzen zu verbieten und an ihrer Statt eiserne einzuführen. Zugleich gab er einem großen und schweren Stück Eisen einen sehr geringen Werth, daß man einen großen Raum brauchte um eine kleine Geldsumme [34] aufzubewahren, und viele Pferde, um sie fortzuschaffen. Ja, damit man nicht einmal versucht werden möchte, dieses Geld des Eisens wegen zu schätzen und zusammen zu scharren, so ließ er das Eisen, welches dazu genommen wurde, vorher glüend in Eßig löschen und härten, wodurch es zu jedem andern Gebrauche untüchtig wurde.

Wer sollte nun stehlen oder sich bestechen lassen, oder Reichthümer aufzuhäuffen trachten, da der kleine Gewinn weder verhehlt noch genutzt werden konnte?

Nicht genug daß Lykurg seinen Mitbürgern dadurch die Mittel zur Ueppigkeit entzog – er rückte ihnen auch die Gegenstände derselben aus den Augen, die sie dazu hätten reitzen können. Spartas eiserne Münze konnte kein fremder Kaufmann brauchen, und eine andre hatten sie ihm nicht zu geben. Alle Künstler, die für den Luxus arbeiteten, verschwanden jetzt aus Lakonien, kein auswärtiges Schiff erschien mehr in seinen Häfen; kein Abentheurer zeigte sich mehr sein Glück in diesem Lande zu suchen, kein Kaufmann kam, die Eitelkeit und Wollust zu brandschatzen, denn sie konnten nichts mit sich hinweg nehmen als eiserne Munzen die in allen andern Ländern verachtet wurden. Der Luxus hörte auf, weil niemand da war, der ihn unterhalten hätte.

Lykurg arbeitete noch auf eine andre Art der Ueppigkeit entgegen. Er verordnete, daß alle Bürger an [35] einem öffentlichen Orte in Gemeinschaft zusammen speisen, und alle dieselbe vorgeschriebene Kost mit einander theilen sollten. Es war nicht erlaubt zu Hause der Weichlichkeit zu dienen, und sich durch eigne Köche kostbare Speisen zurichten zu lassen. Jeder mußte monatlich eine gewisse Summe an Lebensmitteln zu der öffentlichen Mahlzeit geben, und dafür erhielt er die Kost von dem Staat. Funfzehn speißten gewöhnlich an einem Tische zusammen, und jeder Tischgenosse mußte alle übrigen Stimmen für sich haben, um an die Tafel aufgenommen zu werden. Wegbleiben durfte keiner ohne eine gültige Entschuldigung; dieses Gebot wurde so strenge gehalten, daß selbst Agis einer der folgenden Könige, als er aus einem rühmlich geführten Kriege nach Sparta zurückkam und mit seiner Gemahlin allein speisen wollte, eine abschlägige Antwort von den Ephoren erhielt. Unter den Speisen der Spartaner ist die schwarze Suppe berühmt; ein Gericht zu dessen Lobe gesagt wurde, die Spartaner hätten gut tapfer seyn, weil es kein so großes Uebel wäre, zu sterben, als ihre schwarze Suppe zu essen. Ihre Mahlzeit würzten sie mit Lustigkeit und Scherz, denn Lykurg selbst war so sehr ein Freund der geselligen Freude, daß er dem Gott des Lachens in seinem Hause einen Altar errichtete.

Durch die Einführung dieser gemeinschaftlichen Speisung gewann Lykurgus für seinen Zweck sehr viel. Aller Luxus an kostbarem Tafelgeräthe hörte auf, weil man an dem öffentlichen Tisch keinen Gebrauch davon machen konnte. Der Schwelgerei wurde auf immer [36] Einhalt gethan, gesunde und starke Körper waren die Folge dieser Mäßigkeit und Ordnung, und gesunde Väter konnten dem Staate starke Kinder zeugen. Die gemeinschaftliche Speisung gewöhnte die Bürger miteinander zu leben, und sich als Glieder desselben Staatskörpers zu betrachten – nicht einmal zu gedenken, daß eine so gleiche Lebensweise auch auf die gleiche Stimmung der Gemüther Einfluß haben mußte.

Ein ander Gesetz verordnete, daß kein Haus ein andres Dach haben durfte, als welches mit der Axt verfertigt worden, und keine andre Thüre, als die bloß mit Hülfe einer Säge gemacht worden sey. In ein so schlechtes Haus konnte sich niemand einfallen lassen, kostbare Meublen zu schaffen, alles mußte sich harmonisch zu dem Ganzen stimmen.

Lykurgus begriff wohl, daß es nicht damit gethan sey, Gesetze für seine Mitbürger zu schaffen, er mußte auch Bürger für diese Gesetze erschaffen. In den Gemüthern der Spartaner mußte er seiner Verfassung die Ewigkeit sichern, in diesen mußte er die Empfänglichkeit für fremde Eindrücke ertödten.

Der wichtigste Theil seiner Gesetzgebung war daher die Erziehung, und durch diese schloß er gleichsam den Kreis, in welchem der Spartanische Staat sich um sich selbst bewegen sollte. Die Erziehung war ein wichtiges Werk des Staats, und der Staat ein fortdauerndes Werk dieser Erziehung.

[37] Seine Sorgfalt für die Kinder erstreckte sich bis auf die Quellen der Zeugung. Die Körper der Jungfrauen wurden durch Leibesübungen gehärtet, um starke gesunde Kinder leicht zu gebähren. Sie giengen sogar unbekleidet, um alle Unfälle der Witterung auszuhalten. Der Bräutigam mußte sie rauben, und durfte sie auch nur des Nachts und verstohlen besuchen. Dadurch blieben beide in den ersten Jahren der Ehe einander immer noch fremd, und ihre Liebe blieb neu und lebendig.

Aus der Ehe selbst wurde alle Eifersucht verbannt. Alles, auch die Schaamhaftigkeit, ordnete der Gesetzgeber seinem Hauptzweck unter. Er opferte die weibliche Treue auf, um gesunde Kinder für den Staat zu gewinnen.

Sobald das Kind gebohren war gehörte es dem Staat. – Vater und Mutter hatten es verloren. Es wurde von den Aeltesten besichtigt; wenn es stark und wohl gebildet war, übergab man es einer Wärterinn; war es schwächlich und mißgestaltet, so warf man es in einen Abgrund an dem Berge Taygetus.

Die Spartanischen Wärterinnen wurden wegen der harten Erziehung, die sie den Kindern gaben, in ganz Griechenland berühmt und in entfernte Länder berufen. Sobald ein Knabe das siebente Jahr erreicht hatte, wurde er ihnen genommen und mit Kindern seines [38] Alters gemeinschaftlich erzogen, ernährt, und unterrichtet. Frühe lehrte man ihn Beschwerlichkeiten trotz bieten, und durch Leibesübungen eine Herrschaft über seine Glieder erlangen. Erreichten sie die Jünglingsjahre, so hatten die Edelsten unter ihnen Hoffnung Freunde unter den Erwachsenen zu erhalten, die durch eine begeisterte Liebe an sie gebunden waren. Die Alten waren bei ihren Spielen zugegen, beobachteten das aufkeimende Genie, und ermunterten die Ruhmbegierde durch Lob oder Tadel. Wenn sie sich satt essen wollten, so mußten sie die Lebensmittel dazu stehlen, und wer sich ertappen ließ, hatte eine harte Züchtigung und Schande zu erwarten. Lycurgus wählte dieses Mittel, um sie frühe an List und Ränke zu gewöhnen, Eigenschaften, die er für den kriegrischen Zweck, zu dem er sie bildete, eben so wichtig glaubte als Leibesstärke und Muth. Wir haben schon oben gesehen, wie wenig gewissenhaft Lykurgus im Betreff der Sittlichkeit war, wenn es darauf ankam, seinen politischen Zweck zu verfolgen. Uebrigens muß man in Betrachtung ziehen, daß weder die Entweihung der Ehen, noch dieser befohlene Diebstahl in Sparta den politischen Schaden anrichten konnten, den sie in jedem andern Staate würden zur Folge gehabt haben. Da der Staat die Erziehung der Kinder übernahm, so war sie unabhängig von dem Glück und der Reinigkeit der Ehen; da in Sparta wenig Werth auf dem Eigenthum ruhte, und fast alle Güter gemeinschaftlich waren, so war die Sicherheit des Eigenthums kein so wichtiger Punkt, und ein Angriff darauf – besonders wenn [39] der Staat selbst ihn lenkte und Absichten dadurch erreichte – kein bürgerliches Verbrechen.

Den jungen Spartanern war es verboten, sich zu schmücken, ausgenommen wenn sie in das Treffen oder in sonst eine große Gefahr giengen. Dann erlaubte man ihnen, ihre Haare schön aufzuputzen, ihre Kleider zu schmücken, und Zierrathen an den Waffen zu tragen. Das Haar, sagte Lykurgus, mache schöne Leute schöner und häßliche fürchterlich. Es war gewiß ein feiner Kunstgriff des Gesetzgebers, etwas lachendes und festliches mit Gelegenheiten der Gefahr zu verbinden; und ihnen dadurch das schreckliche zu benehmen. Er gieng noch weiter. Er ließ im Kriege von der strengen Disciplin etwas nach, die Lebensart war dann freyer, und Vergehungen wurden weniger hart geahndet. Daher kam es, daß der Krieg den Spartanern allein eine Art von Erhohlung war, und daß sie sich darauf wie auf eine fröhliche Gelegenheit freuten. Rückte der Feind an, so ließ der spartanische König das Castorische Lied anstimmen, die Soldaten rückten in festgeschlossenen Reyhen unter Flötengesang fort, und giengen freudig und unerschrocken nach dem Klange der Musik der Gefahr entgegen.

Der Plan des Lykurgus brachte es mit sich, daß die Anhänglichkeit an das Eigenthum der Anhänglichkeit an das Vaterland durchaus nachstand, und daß die Gemüther, durch keine Privatsorge zerstreut, nur dem Staate lebten. Darum fand er für gut und [40] nothwendig, seinen Mitbürgern auch die Geschäfte des gewöhnlichen Lebens zu ersparen, und diese durch Fremdlinge verrichten zu lassen, damit auch nicht einmal die Sorge der Arbeit oder die Freude an häußlichen Geschäfften ihren Geist von dem Interesse des Vaterlands abzöge. Die Aecker und das Haus wurden deßwegen von Sclaven besorgt, die in Sparta dem Vieh gleich geachtet wurden. Man nennt sie Heloten, weil die ersten Sclaven der Spartaner Einwohner der Stadt Helos in Lakonien gewesen, die sie bekriegt und zu Gefangenen gemacht hatten. Von diesen Heloten führten nachher alle spartanischen Sclaven, die sie in ihren Kriegen erbeuteten, den Nahmen.

Abscheulich war der Gebrauch, den man in Sparta von diesen unglücklichen Menschen machte. Man betrachtete sie als ein Geräthe, von dem man zu politischen Absichten, wie man wollte, Gebrauch machen könnte, und die Menschheit wurde auf eine wirklich empörende Art in ihnen verspottet. Um der spartanischen Jugend ein abschreckendes Bild von der Unmäßigkeit im Trinken zu geben, zwang man diese Heloten sich zu betrinken, und stellte sie dann in diesem Zustand öffentlich zur Schau aus. Man ließ sie schändliche Lieder singen, und lächerliche Tänze tanzen; die Tänze der freigebohrnen waren ihnen verboten.

Man gebrauchte sie zu einer noch weit unmenschlichere Absicht. Es war dem Staat darum zu thun, den Muth seiner kühnsten Jünglinge auf schwere Proben zu setzen, und sie durch blutige Vorspiele zum Kriege vorzubereiten. [41] Der Senat schickte also zu gewissen Zeiten eine Anzahl dieser Jünglinge auf das Land; nichts als ein Dolch und etwas Speise wurde ihnen auf die Reise mitgegeben. Am Tage war ihnen aufferlegt, sich verborgen zu halten; bey Nachtzeit aber zogen sie auf die Straßen und schlugen die Heloten todt, die ihnen in die Hände fielen. Diese Anstalt nannte man die Cryptia oder den Hinterhalt, aber ob Lykurgus der Stifter derselben war, ist noch im Zweifel. Wenigstens folgt sie ganz aus seinem Prinzip. Wie die Republik Sparta in ihren Kriegen glücklich war, so vermehrte sich auch die Anzahl dieser Heloten, daß sie anfiengen der Republik selbst gefährlich zu werden, und auch wirklich durch eine so barbarische Behandlung zur Verzweiflung gebracht, Empörungen entspannen. Der Senat faßte einen unmenschlichen Entschluß, den er durch die Nothwendigkeit entschuldigt glaubte. Unter dem Vorwand ihnen die Freiheit zu schenken wurden einmal während des peloponesischen Kriegs 2000 der tapfersten Heloten versammelt und, mit Kränzen geschmückt, in einer feierlichen Prozession in die Tempel begleitet. Hier aber verschwanden sie plötzlich, und niemand erfuhr, was mit ihnen geworden war. Soviel ist übrigens gewiß und in Griechenland zum Sprüchwort geworden, daß die Spartanischen Sclaven die unglückseligsten aller andern Sclaven, so wie die spartanischen freien Bürger die freiesten aller Bürger gewesen.

[42] Weil den Letztern alle Arbeiten durch die Heloten abgenommen waren, so brachten sie ihr ganzes Leben müßig zu; die Jugend übte sich in kriegerischen Spielen und Geschicklichkeiten, und die Alten waren die Zuschauer und Richter bei diesen Uebungen. Einem Spartanischen Greis gereichte es zur Schande von dem Ort wegzubleiben, wo die Jugend erzogen wurde. Auf diese Art kam es, daß jeder Spartaner mit dem Staat lebte, alle Handlungen wurden dadurch öffentliche Handlungen. Unter den Augen der Nation reifte die Jugend heran, und verblühte das Alter. Unaufhörlich hatte der Spartaner Sparta vor Augen, und Sparta ihn. Er war Zeuge von allem, und alles war Zeuge seines Lebens. Die Ruhmbegierde erhielt einen immerwährenden Sporn, der Nationalgeist eine unaufhörliche Nahrung; die Idee von Vaterland und Vaterländischem Interesse verwuchs mit dem innersten Leben aller seiner Bürger. Noch andre Gelegenheiten, diese Triebe zu entflammen, gaben die öffentlichen Feste, welche in dem müssigen Sparta sehr zahlreich waren. Kriegrische Volks-Lieder wurden dabey gesungen, welche den Ruhm der fürs Vaterland gefallenen Bürger oder Ermunterungen zur Tapferkeit zum gewöhnlichen Inhalt hatten. Sie erschienen an diesen Festen in drei Chören nach dem Alter eingetheilt. Das Chor der Alten fieng an zu singen: In der Vorzeit waren wir Helden. Das Chor der Männer antwortete: Helden sind wir jetzt! Komme wer will, es zu erproben! Das dritte Chor der Knaben fiel ein: Helden werden [43] wir einst, und euch durch Thaten verdunkeln.

Werfen wir einen blos flüchtigen Blick auf die Gesetzgebung des Lykurgus, so befällt uns wirklich ein angenehmes Erstaunen. Unter allen ähnlichen Instituten des Alterthums ist sie unstreitig die vollendetste, die mosaische Gesetzgebung ausgenommen, der sie in vielen Stücken, und vorzüglich in dem Prinzipium gleicht, das ihr zum Grund liegt. Sie ist wirklich in sich selbst vollendet, alles schließt sich darinn an einander an, eines wird durch alles, und alles durch eins gehalten. Beßere Mittel konnte Lykurgus wohl nicht wählen, den Zweck zu erreichen, den er vor Augen hatte, einen Staat nemlich, der von allen übrigen isolirt, sich selbst genug und fähig wäre, durch innern Kreislauf und eigne lebendige Kraft sich selbst zu erhalten. Kein Gesetzgeber hat je einem Staate diese Einheit, dieses Nationalinteresse, diesen Gemeingeist gegeben, den Lykurgus dem seinigen gab. Und wodurch hat Lykurgus dieses bewirkt? – Dadurch, daß er die Thätigkeit seiner Mitbürger in den Staat zu leiten wußte und ihnen alle andern Wege zuschloß, die sie hätten davon abziehen können.

Alles was Menschenseelen fesselt und Leidenschaften entzündet, alles ausser dem politischen Interesse hatte er durch seine Gesetzgebung entfernt. Reichthum und Wollüste, Wissenschaft und Kunst, hatten keinen Zugang zu den Gemüthern der Spartaner. Durch die [44] gleiche gemeinschaftliche Armuth fiel die Vergleichung der Glücksumstände weg, die in den meisten Menschen die Gewinnsucht entzündet; der Wunsch nach Besitzthümern fiel mit der Gelegenheit hinweg, sie zu zeigen und zu nutzen. Durch die tiefe Unwissenheit in Kunst und Wissenschaft, welche alle Köpfe in Sparta auf gleiche Art verfinsterte, verwahrte er es vor Eingriffen, die ein erleuchteter Geist in die Verfassung gethan haben würde; eben diese Unwissenheit mit dem rauhen Nationaltrotz verbunden, der jedem Spartaner eigenthümlich war, stand ihrer Vermischung mit andern griechischen Völkern unaufhörlich im Wege. In der Wiege schon waren sie zu Spartanern gestempelt, und je mehr sie andern Nationen entgegen stießen, desto fester mußten sie an ihrem Mittelpunkt halten. Das Vaterland war das erste Schauspiel, das sich dem spartanischen Knaben zeigte, wenn er zum denken erwachte. Er erwachte im Schooß des Staats, alles was um ihn lag, war Nation, Staat und Vaterland. Es war der erste Eindruck in seinem Gehirne, und sein ganzes Leben war eine ewige Erneuerung dieses Eindrucks.

Zu Hause fand der Spartaner nichts, das ihn hätte fesseln können; alle Reitze hatte der Gesetzgeber seinen Augen entzogen. Nur im Schooße des Staats fand er Beschäfftigung, Ergötzung, Ehre, Belohnung; alle seine Triebe und Leidenschaften waren nach diesem Mittelpunkt hingeleitet. Der Staat hatte also die ganze Energie, die Kraft aller seiner einzelnen Bürger, und an dem Gemeingeiste der alle zusammen entflammte [45] mußte sich der Nationalgeist jedes einzelnen Bürgers entzünden. Daher ist es kein Wunder, daß die spartanische Vaterlandstugend einen Grad von Stärke erreichte, der uns unglaublich scheinen muß. Daher kam es, daß bei dem Bürger dieser Republik gar kein Zweifel statt finden konnte, wenn es darauf ankam, zwischen Selbsterhaltung und Rettung des Vaterlands eine Wahl zu treffen.

Daher ist es begreiflich, wie sich der spartanische König Leonidas mit seinen 300 Helden die Grabschrift verdienen konnte, die schönste ihrer Art und das erhabenste Denkmal politischer Tugend. „Erzähle Wandrer, wenn du nach Sparta kommst, daß wir seinen Gesetzen gehorsam, hier gefallen sind.“

Man muß also eingestehen, daß nichts zweckmäßigers, nichts durchdachter seyn kann, als diese Staatsverfaßung, daß sie in ihrer Art, ein vollendetes Kunstwerk vorstellt, und in ihrer ganzen Strenge befolgt, nothwendig auf sich selbst hätte ruhen müssen. Wäre aber meine Schilderung hier zu Ende, so würde ich mich eines sehr großen Irrthums schuldig gemacht haben. Diese bewundrungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich, und nichts traurigers könnte der Menschheit begegnen, als wenn alle Staaten nach diesem Muster wären gegründet worden. Es wird uns nicht schwer fallen, uns von dieser Behauptung zu überzeugen.

[46] Gegen seinen eignen Zweck gehalten, ist die Gesetzgebung des Lykurgus ein Meisterstück der Staats- und Menschenkunde. Er wollte einen mächtigen, in sich selbst gegründeten unzerstöhrbaren Staat; politische Stärke und Dauerhaftigkeit waren das Ziel, wornach er strebte, und dieses Ziel hat er so weit erreicht, als unter seinen Umständen möglich war. Aber hält man den Zweck, welchen Lykurgus sich vorsetzte, gegen den Zweck der Menschheit, so muß eine tiefe Mißbilligung an die Stelle der Bewunderung treten, die uns der erste flüchtige Blick abgewonnen hat. Alles darf dem Besten des Staats zum Opfer gebracht werden, nur dasjenige nicht, dem der Staat selbst nur als ein Mittel dient. Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer, als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung, daß alle Kräfte die im Menschen liegen, sich entwickeln, hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht, und in ihrer Art noch so vollkommen seyn. Ihre Dauerhaftigkeit selbst gereicht ihr alsdann vielmehr zum Vorwurf, als zum Ruhme – sie ist dann nur ein verlängertes Uebel; je länger sie Bestand hat, um so schädlicher ist sie.

Ueberhaupt können wir bei Beurtheilung politischer Anstalten als eine Regel festsetzen, daß sie nur gut und [47] lobenswürdig sind, in so fern sie alle Kräfte, die im Menschen liegen, zur Ausbildung bringen, insofern sie Fortschreitung der Cultur befördern, oder wenigstens nicht hemmen. Dieses gilt von Religions wie von politischen Gesetzen; beide sind verwerflich, wenn sie eine Kraft des Menschlichen Geistes fesseln, wenn sie ihm in irgend etwas einen Stillstand auferlegen. Ein Gesetz z. B. wodurch eine Nation verbunden würde, bey dem Glaubensschema beständig zu verharren, das ihr in einer gewissen Periode als das vortreflichste erschienen, ein solches Gesetz wäre ein Attentat gegen die Menschheit, und keine noch so scheinbare Absicht würde es rechtfertigen können. Es wäre unmittelbar gegen das höchste Gut, gegen den höchsten Zweck der Gesellschaft gerichtet.

Mit diesem allgemeinen Maasstab versehen, können wir nicht lange zweifelhaft seyn, wie wir den Lykurgischen Staat beurtheilen sollen.

Eine einzige Tugend war es, die in Sparta mit Hintansetzung aller andern geübt wurde, Vaterlandsliebe.

Diesem künstlichen Triebe wurden die natürlichsten schönsten Gefühle der Menschheit zum Opfer gebracht.

Auf Unkosten aller sittlichen Gefühle wurde das politische Verdienst errungen, und die Fähigkeit dazu ausgebildet. In Sparta gab es keine ehliche Liebe, keine [48] Mutterliebe, keine kindliche Liebe, keine Freundschaft – es gab nichts als Bürger, nichts als bürgerliche Tugend. Lange Zeit hat man jene spartanische Mutter bewundert, die ihren aus dem Treffen entkommenen Sohn mit Unwillen von sich stößt, und nach dem Tempel eilt, den Göttern für den gefallenen zu danken. Zu einer solchen unnatürlichen Stärke des Geistes hätte man der Menschheit nicht Glück wünschen sollen. Eine zärtliche Mutter ist eine weit schönere Erscheinung in der moralischen Welt, als ein heroisches Zwittergeschöpf, das die natürliche Empfindung verläugnet, um eine künstliche Pflicht zu befriedigen.

Welch schöneres Schauspiel giebt der rauhe Krieger Cajus Marius in seinem Lager vor Rom, der Rache und Sieg aufopfert, weil er die Thränen der Mutter nicht fließen sehen kann!

Dadurch daß der Staat der Vater seines Kindes wurde, hörte der natürliche Vater desselben auf, es zu seyn. Das Kind lernte nie seine Mutter, seinen Vater lieben, weil es schon in dem zärtesten Alter von ihnen gerissen, seine Eltern nicht an ihren Wohlthaten, nur von Hörensagen erfuhr.

Auf eine noch empörendere Art wurde das allgemeine Menschengefühl in Sparta ertödet, und die Seele aller Pflichten, die Achtung gegen die Gattung, gieng unwiederbringlich verlohren. Ein Staatsgesetz machte den Spartanern die Unmenschlichkeit gegen ihre Sklaven [49] zur Pflicht, in diesen unglücklichen Schlachtopfern wurde die Menschheit beschimpft und mißhandelt. In dem spartanischen Gesetzbuche selbst, wurde der gefährliche Grundsatz gepredigt, Menschen als Mittel und nicht als Zwecke zu betrachten – dadurch wurden die Grundveste des Naturrechts und der Sittlichkeit gesetzmäßig eingerissen. Die ganze Moralität wurde preiß gegeben, um etwas zu erhalten, das doch nur als ein Mittel zu dieser Moralität einen Werth haben kann.

Kann etwas widersprechender seyn, und kann ein Widerspruch schrecklichere Folgen haben als diese? Nicht genug daß Lykurgus auf den Ruin der Sittlichkeit seinen Staat gründete, er arbeitete auf eine andre Art gegen den höchsten Zweck der Menschheit, indem er durch sein fein durchdachtes Staatssystem den Geist der Spartaner auf derjenigen Stuffe fest hielt, worauf er ihn fand, und auf ewig alle Fortschreitung hemmte.

Aller Kunstfleiß war aus Sparta verbannt, alle Wissenschaften wurden vernachläßigt, aller Handelsverkehr mit fremden Völkern verboten, alles Auswärtige wurde ausgeschlossen. Dadurch wurden alle Kanäle gesperrt wodurch seiner Nation helle Begriffe zufließen konnten, in einer ewigen Einförmigkeit in einem traurigen Egoismus sollte sich der Spartanische Staat ewig nur um sich selbst bewegen.

Das Geschäfft aller seiner vereinigten Bürger war, sich zu erhalten, was sie besaßen, und zu bleiben was [50] sie waren, nicht neues zu bewerben, nicht auf eine höhere Stuffe zu steigen. Unerbittliche Gesetze mußten darüber wachen, daß keine Neuerung in das Uhrwerk des Staates griff, daß selbst der Fortschritt der Zeit an der Form der Gesetze nichts veränderte. Um diese lokale diese temporaire Verfassung dauerhaft zu machen, mußte man den Geist des Volks auf derjenigen Stelle fest halten, worauf er bei ihrer Gründung gestanden.

Wir haben aber gesehen, daß Fortschreitung des Geistes das Ziel des Staats seyn soll. –

Der Staat des Lykurgus konnte nur unter der einzigen Bedingung fortdauern, wenn der Geist des Volks stille stünde, er konnte sich also nur dadurch erhalten, daß er den höchsten und einzigen Zweck eines Staats verfehlte. Was man also zum Lobe des Lykurgus angeführt hat, daß Sparta nur so lange blühen würde, als es dem Buchstaben seines Gesetzes folgte, ist das schlimmste, was von ihm gesagt werden konnte. Eben dadurch, daß es die alte Staatsform nicht verlassen durfte, die Lykurg ihm gegeben, ohne sich dem gänzlichen Untergang auszusetzen, daß es bleiben mußte, was es war, daß es stehen mußte wo ein einziger Mann es hingeworfen, eben dadurch war Sparta ein unglücklicher Staat – und kein traurigeres Geschenk hätte ihm sein Gesetzgeber machen können, als diese gerühmte ewige Dauer einer Verfassung, die seiner wahren Größe und Glückseligkeit so sehr im Wege stand.

[51] Nehmen wir dieß zusammen, so verschwindet der falsche Glanz wodurch die einzige hervorstechende Seite des spartanischen Staats ein unerfahrnes Auge blendet – wir sehen nichts mehr als einen schülerhaften unvollkommnen Versuch – das erste Exercitium des jugendlichen Weltalters, dem es noch an Erfahrung und hellen Einsichten fehlte, die wahren Verhältnisse der Dinge zu erkennen. So fehlerhaft dieser erste Versuch ausgefallen ist, so wird und muß er einem Philosophischen Forscher der Menschengeschichte immer sehr merkwürdig bleiben. Immer war es ein Riesenschritt des menschlichen Geistes, dasjenige als ein Kunstwerk zu behandeln, was bisjetzt dem Zufall und der Leidenschaft überlassen gewesen war. Unvollkommen mußte nothwendig der erste Versuch in der schwersten aller Künste seyn, aber schätzbar bleibt er immer, weil er in der wichtigsten aller Künste angestellt worden ist. Die Bildhauer fiengen mit Hermessäulen an, ehe sie sich zu der vollkommnen Form eines Antinous, eines vatikanischen Apolls erhuben; die Gesetzgeber werden sich noch lange in rohen Versuchen üben, bis sich ihnen endlich das glückliche Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte von selbst darbietet.

Der Stein leidet geduldig den bildenden Meißel, und die Saiten die der Tonkünstler anschlägt, antworten ihm, ohne seinem Finger zu widerstreben.

Der Gesetzgeber allein bearbeitet einen selbstthätigen widerstrebenden Stoff – die menschliche Freiheit. [52] Nur unvollkommen kann er das Ideal in Erfüllung bringen, das er in seinem Gehirne noch so rein entworfen hat, aber hier ist der Versuch allein schon alles Lobes werth, wenn er mit uneigennützigem Wohlwollen unternommen, und mit Zweckmäßigkeit vollendet wird.


Solon.

Von der Gesetzgebung des Lykurgus in Sparta war die Gesetzgebung Solons in Athen fast durchaus das Widerspiel – und da die beiden Republiken Sparta und Athen die Hauptrollen in der Griechischen Geschichte spielen, so ist es ein anziehendes Geschäfft, ihre verschiedenen Staatsverfassungen neben einander zu stellen, und ihre Gebrechen und Vorzüge gegeneinander abzuwägen.

Nach dem Tode des Kodrus wurde die königliche Würde in Athen abgeschafft, und einer Obrigkeit, die den Nahmen Archon führte, die höchste Gewalt auf Lebenslang übertragen. In einem Zeitraum von mehr als 300 Jahren herrschten Dreizehn solcher Archonten in Athen und aus diesem Zeitraum hat uns die Geschichte nichts merkwürdiges von der neuen Republik aufbehalten. Aber der Geist der Democratie, der den Atheniensern schon zu Homers Zeiten eigenthümlich war, regte sich [53] am Schluß dieser Periode wieder. Eine lebenslängliche Dauer des Archontats war ihnen doch ein allzulebhaftes Bild der königlichen Würde, und vielleicht hatten die vorhergegangenen Archonten ihre große und dauerhafte Macht mißbraucht. Man setzte also die Dauer der Archonten auf zehen Jahre. Ein wichtiger Schritt zur künftigen Freiheit, denn dadurch daß es alle zehen Jahre einen neuen Beherrscher wählte, erneuerte das Volk den Actus seiner Souverainität, es nahm alle zehen Jahre seine weggegebene Gewalt zurück, um sie nach Gutbefinden von neuem wegzugeben. Dadurch blieb ihm immer in frischem Gedächtniß, was die Unterthanen erblicher Monarchien zulezt ganz vergessen, daß es selbst die Quelle der höchsten Gewalt, daß der Fürst nur das Geschöpf der Nation ist.

300 Jahre hatte das atheniensische Volk einen lebenslänglichen Archon über sich geduldet, aber die zehenjährigen Archonten wurde es schon im 70sten Jahre müde. Dieß war ganz natürlich, denn während dieser Zeit hatte es 7mal die Archontenwahl erneuert, es war also 7mal an seine Souverainität erinnert worden. Der Geist der Freiheit hatte sich also in der zweiten Periode weit lebhafter regen müssen, weit schneller entwickeln müssen, als in der Ersten.

Der siebente der zehenjährigen Archonten war auch der letzte von dieser Gattung. Das Volk wollte alle Jahre den Genuß seiner Obergewalt haben, es hatte die Erfahrung gemacht, daß eine auf 10 Jahre verliehene [54] Gewalt noch immer lang genug daure, um zum Mißbrauch zu verführen. Künftig also war die Archontenwürde auf ein einziges Jahr eingeschränkt, nach dessen Verfluß eine neue Wahl vorgenommen wurde. Es that noch einen Schritt weiter. Weil auch eine noch so kurzdauernde Gewalt in den Händen eines einzigen der Monarchie schon sehr nahe kommt, so schwächte es diese Gewalt, indem es dieselbe unter 9 Archonten vertheilte, die zugleich regierten.

Drei dieser 9 Archonten hatten Vorzüge vor den 6 übrigen. Der Erste, Archon Eponymos genannt, führte den Vorsitz bey der Versammlung, sein Nahme stand unter den öffentlichen Akten, nach ihm nannte man das Jahr. Der zweyte Basilevs oder König genannt hatte über die Religion zu wachen, und den Gottesdienst zu besorgen; dieß war aus frühern Zeiten beybehalten, wo die Aufsicht über den Gottesdienst ein wesentliches Stück der Königswürde gewesen. Der dritte Polemarch war Anführer im Kriege. Die übrigen führten den Nahmen Thesmotheten, weil sie die Constitution zu bewahren, und die Gesetze zu erhalten und auszulegen hatten.

Die Archonten wurden aus den vornehmsten Familien gewählt, und in spätern Zeiten erst drangen sich auch Personen aus dem Volk in diese Würde. Die Verfassung war daher einer Aristokratie weit näher als einer Volksregierung, und das letzte hatte also noch nicht sehr viel dabey gewonnen.

[55] Die Anordnung, daß jedes Jahr neun neue Archonten gewählt wurden, hatte neben ihrer guten Seite: nehmlich Mißbrauch der höchsten Gewalt zu verhüten: auch eine sehr schlimme, und diese war: daß sie Faktionen im Staat hervorbrachte. Denn nun gab es viele Bürger im Staat, welche die höchste Gewalt bekleidet und wieder abgegeben hatten. Mit Niederlegung ihrer Würde konnten sie nicht so leicht auch den Geschmack an dieser Würde, nicht so leicht das Vergnügen am Herrschen ablegen, das sie zu kosten angefangen hatten. Sie wünschten also wieder zu werden, was sie waren, sie machten sich also einen Anhang, sie erregten innere Stürme in der Republik. Die schnellere Abwechselung und die größere Anzahl der Archonten machten ferner jedem angesehenen und reichen Athenienser Hofnung zum Archontat zu gelangen, eine Hofnung die er vorher, als nur Einer diese Würde bekleidete, und nicht sobald wieder darinn abgelößt wurde, wenig oder nicht gekannt hatte. Diese Hofnung wurde endlich bei ihnen zur Ungeduld, und diese Ungeduld führte sie zu gefährlichen Anschlägen. Beide also sowohl die, welche schon Archonten gewesen, als die, welche sich sehnten, es zu werden, wurden der bürgerlichen Ruhe auf gleiche Art gefährlich.

Das Schlimmste dabei war, daß die obrigkeitliche Macht, durch Vertheilung unter Mehrere, und durch ihre kurze Dauer mehr als jemals gebrochen war. Es fehlte daher an einer starken Hand, die Faktionen zu bändigen und die aufrührerischen Köpfe im Zaum zu halten. [56] Mächtige und verwegene Bürger stürzten den Staat in Verwirrung und strebten nach Unabhängigkeit.

Man warf endlich, um diesen Unruhen zu steuern, die Augen auf einen unbescholtenen und allgemein gefürchteten Bürger, dem die Verbesserung der Gesetze, die bis jetzt nur in mangelhaften Traditionen bestanden übertragen ward. Drako hieß dieser gefürchtete Bürger – ein Mann ohne Menschengefühl, der der menschlichen Natur nichts gutes zutraute, alle Handlungen bloß in dem finstern Spiegel seiner eignen trüben Seele sah, und ganz ohne Schonung war für die Schwächen der Menschheit; ein schlechter Philosoph und ein noch schlechterer Kenner der Menschen, mit kaltem Herzen, beschränktem Kopf, und unbiegsam in seinen Vorurtheilen. Solch ein Mann war vortrefflich, Gesetze zu vollziehen, aber sie zu geben konnte man keine schlimmere Wahl treffen.

Es ist uns wenig von den Gesetzen des Drako übrig geblieben, aber dieses Wenige schildert uns den Mann, und den Geist seiner Gesetzgebung. Alle Verbrechen strafte er ohne Unterschied mit dem Tode, den Müssiggang wie den Mord, den Diebstahl eines Kohls oder eines Schaafs, wie den Hochverrath und die Mordbrennerey. Als man ihn daher fragte, warum er die kleinen Vergehungen eben so streng bestrafe, als die schwersten Verbrechen, so war seine Antwort: „Die kleinsten Verbrechen sind des Todes würdig; für die Größern weiß ich keine andre Strafe, als den Tod – darum muß ich beide gleich behandeln.“

[57] Drakos Gesetze sind der Versuch eines Anfängers in der Kunst, Menschen zu regieren. Schrecken ist das einzige Instrument, wodurch er wirkt. Er straft nur begangenes Uebel, er verhindert es nicht, er bekümmert sich nicht darum, die Quellen desselben zu verstopfen und die Menschen zu verbessern. Einen Menschen aus den Lebendigen vertilgen, weil er etwas Böses begangen hat, heißt eben soviel, als, einen Baum umhauen, weil eine seiner Früchte faul ist.

Seine Gesetze sind doppelt zu tadeln, weil sie nicht allein die heiligen Gefühle und Rechte der Menschheit wider sich haben, sondern auch weil sie auf das Volk, dem er sie gab, nicht berechnet waren. War ein Volk in der Welt ungeschickt, durch solche Gesetze zu gedeyhen, so war es das atheniensische. Die Sklaven der Pharaonen, oder des Königs der Könige würden sich endlich vielleicht darein gefunden haben – aber wie konnten Athenienser unter ein solches Joch sich beugen.

Auch blieben sie kaum ein halbes Jahrhundert in Kraft, ob er ihnen gleich den unbescheidnen Titel, unwandelbarer Gesetze gab.

Drako hatte also seinen Auftrag sehr schlecht erfüllt, und anstatt zu nützen, schadeten seine Gesetze. Weil sie nehmlich nicht befolgt werden konnten, und doch keine andre sogleich da waren ihre Stelle zu ersetzen, so war es eben soviel, als wenn Athen gar kein [58] Gesetz gehabt hätte, und die traurigste Anarchie riß ein.

Damals war der Zustand des atheniensischen Volks äußerst zu beklagen. Eine Klasse des Volks besaß alles, die andre hingegen gar nichts; die Reichen unterdrückten und plünderten aufs unbarmherzigste die Armen. Es entstand eine unermeßliche Scheidewand zwischen beyden. Die Noth zwang die ärmern Bürger zu den Reichen ihre Zuflucht zu nehmen, zu eben den Blutigeln, die sie ausgesogen hatten; aber sie fanden nur eine grausame Hülfe bey diesen. Für die Summen die sie aufnahmen, mußten sie ungeheure Zinsen bezahlen, und wenn sie nicht Termin hielten, ihre Ländereyen selbst an die Gläubiger abtreten. Nachdem sie nichts mehr zu geben hatten, und doch leben mußten, waren sie dahingebracht, ihre eigene Kinder als Sklaven zu verkaufen, und endlich, als auch diese Zuflucht erschöpft war, borgten sie auf ihren eigenen Leib, und mußten sich gefallen lassen, von ihren Kreditoren als Sklaven verkauft zu werden. Gegen diesen abscheulichen Menschenhandel war noch kein Gesetz in Attika gegeben, und nichts hielt die grausame Habsucht der reichen Bürger in Schranken. So schrecklich war der Zustand Athens. Wenn der Staat nicht zu Grunde gehen sollte, so mußte man dieses zerstörte Gleichgewicht der Güter auf eine gewaltsame Art wieder herstellen.

Zu diesem Ende waren unter dem Volk drey Faktionen entstanden. Die Eine, welcher die armen Bürger [59] besonders beytraten, foderte eine Demokratie, eine gleiche Vertheilung der Aecker, wie sie Lykurgus in Sparta eingeführt hatte; die andre, welche die Reichen ausmachten, stritt für die Aristokratie.

Die dritte wollte beyde Staatsformen miteinander verbunden wissen, und setzte sich den beyden andern entgegen, daß keine durchdringen konnte.

Es war keine Hofnung diesen Streit auf eine ruhige Art beyzulegen, so lange man nicht einen Mann fand, dem sich alle drey Parteyen auf gleiche Weise unterwarfen, und ihn zum Schiedsrichter über sich anerkannten.

Glücklicherweise fand sich ein solcher Mann, und seine Verdienste um die Republik, sein sanfter billiger Karakter, und der Ruf seiner Weisheit hatte längst schon die Augen der Nation auf ihn gezogen. Dieser Mann, war Solon, von königlicher Abkunft wie Lykurgus, denn er zählte den Kodrus unter seinen Ahnherrn. Solons Vater war ein sehr reicher Mann gewesen, aber durch Wohlthun hatte er sein Vermögen geschwächt, und der junge Solon mußte in seinen ersten Jahren die Kaufmannschaft ergreifen. Durch Reisen, welche ihm diese Lebensart nothwendig machte, und durch den Verkehr mit auswärtigen Völkern bereicherte sich sein Geist, und sein Genie entwickelte sich im Umgang mit fremden Weisen. Frühe schon legte er sich auf die Dichtkunst, und die Fertigkeit, die er [60] darinn erlangte, kam ihm in der Folge sehr gut zu statten, moralische Wahrheiten und politische Regeln in dieses gefällige Gewand zu kleiden. Sein Herz war empfindlich für Freude und Liebe; einige Schwachheiten seiner Jugend machten ihn um so nachsichtiger gegen die Menschheit, und gaben seinen Gesetzen das Gepräge von Sanftmuth und Milde, das sie von den Satzungen des Drako und Lykurgus so schön unterscheidet. Er war ferner noch ein tapfrer Heerführer gewesen, hatte der Republik den Besitz der Insel Salamine erworben, und noch andere wichtige Kriegsdienste geleistet. Damals war das Studium der Weisheit noch nicht wie jetzt von politischer und kriegrischer Wirksamkeit getrennt; der Weise war der beste Staatsmann, der erfahrenste Feldherr, der tapferste Soldat, seine Weisheit floß in alle Geschäffte seines bürgerlichen Lebens. Solons Ruf war durch ganz Griechenland erschollen, und in die allgemeine Angelegenheiten des Peloponnes hatte er einen sehr großen Einfluß.

Solon war der Mann, der allen Parteyen in Athen gleich lieb war. Die Reichen hatten große Hoffnungen von ihm, weil er selbst ein begüterter Mann war. Die Armen vertrauten ihm, weil er ein rechtschaffner Mann war. Der verständige Theil der Athenienser wünschte sich ihn zum Herrscher, weil die Monarchie das sicherste Mittel schien, die Faktionen zu unterdrücken; seine Verwandten wünschten dieses gleichfalls, aber aus eigennützigen Absichten, um die Herrschaft mit ihm zu theilen. Solon verschmähte diesen [61] Rath: „die Monarchie, sagte er, sey ein schöner Wohnplatz, aber er habe keinen Ausgang.“

Er begnügte sich, sich zum Archon und Gesetzgeber ernennen zu lassen, und übernahm dieses große Amt ungern, und nur aus Achtung für das Wohl der Bürger.

Das erste, womit er sein Werk eröffnete war das berühmte Edikt, Seisachtheia oder Erledigung genannt, wodurch alle Schulden aufgehoben, und zugleich verboten wurde, daß künftig keiner den andern auf seinen Leib etwas leyhen durfte. Dieses Edikt war allerdings ein gewaltsamer Angriff auf das Eigenthum, aber die höchste Noth des Staats machte einen gewaltsamen Schritt nothwendig. Er war unter zwey Uebeln das kleinere, denn die Klasse des Volks welche dadurch litt, war weit geringer, als die, welche dadurch glücklich wurde.

Durch dieses wohlthätige Edikt wälzte er auf einmal die schweren Lasten ab, welche die arme Bürgerklasse seit Jahrhunderten niedergedrückt hatten; die Reichen aber machte er dadurch nicht elend, denn er ließ ihnen was sie hatten, er nahm ihnen nur die Mittel, ungerecht zu seyn. Nichts desto weniger ärntete er von den Armen sowenig Dank als von den Reichen. Die Armen hatten auf eine völlig gleiche Ländertheilung gerechnet, davon in Sparta das Beyspiel [62] gegeben war, und murrten deßwegen gegen ihn, daß er ihre Erwartung hintergangen hatte. Sie vergaßen, daß der Gesetzgeber den Reichen eben so gut, als den Armen, Gerechtigkeit schuldig sey, und daß die Anordnung des Lykurgus eben darum nicht nachahmungswürdig sey, weil sie sich auf eine Unbilligkeit gründete, die zu vermeiden gewesen wäre.

Der Undank des Volks preßte dem Gesetzgeber eine bescheidene Klage aus. „Ehmals, sagte er, rauschte mir von allen Seiten mein Lob entgegen; jetzt schielt alles mit feindlichen Blicken auf mich.“ Bald aber zeigten sich in Attika die wohlthätigen Folgen seiner Verfügung. Das Land, das vorher Sclavendienste that, war jetzt frey, der Bürger bearbeitete den Acker jetzt als sein Eigenthum; den er vorher als Tagelöhner für seinen Creditor bearbeitet hatte. Viele ins Ausland verkaufte Bürger, die schon angefangen hatten, ihre Muttersprache zu verlernen, sahen als freye Menschen ihr Vaterland wieder.

Das Vertrauen in den Gesetzgeber kehrte zurück. Man übertrug ihm die ganze Reformation des Staats, und unumschränkte Gewalt, über das Eigenthum und die Rechte der Bürger zu verfügen. Der erste Gebrauch den er davon machte war, daß er alle Gesetze des Drako abschaffte – diejenigen ausgenommen, welche gegen den Mord und Ehebruch gerichtet waren.

Nun übernahm er das große Werk, der Republik eine neue Constitution zu geben.

[63] Alle Atheniensischen Bürger mußten sich einer Schätzung des Vermögens unterwerfen, und nach dieser Schätzung wurden sie in vier Klassen oder Zünfte getheilt.

Die erste begriff diejenigen in sich, welche jährlich 500 Maaß von trocknen und flüssigen Dingen Einkommen hatten.

Die Zweyte enthielt diejenigen, welche 300 Maaß Einkommen hatten und ein Pferd halten konnten.

Die Dritte diejenige, welche nur die Hälfte davon hatten, und wo also immer 2 zusammentreten mußten, um diese Summe herauszubringen. Man nannte sie deßwegen die Zweygespannten.

In der Vierten waren die, welche keine liegenden Gründe besaßen und bloß von ihrer Handarbeit lebten, Handwerker, Taglöhner und Künstler.

Die drey ersten Klassen konnten öffentliche Aemter bekleiden; die aus der letzten waren davon ausgeschlossen, doch hatten sie bey der Nationalversammlung eine Stimme wie die übrigen, und dadurch allein genossen sie einen großen Antheil an der Regierung. Vor die Nationalversammlung Ecclesia genannt, wurden alle große Angelegenheiten gebracht und durch dieselbe entschieden; die Wahl der Obrigkeiten, die Besetzung der Aemter, wichtige Rechtshändel, Finanzangelegenheiten, Krieg und Frieden. Da ferner die Solonischen Gesetze mit einer gewissen Dunkelheit behaftet waren, so mußte in jedem Fall, [64] wo der Richter über ein Gesetz das er auszulegen hatte zweifelhaft war, an die Ecclesia appellirt werden, welche dann in letzter Instanz entschied, wie das Gesetz zu verstehen sey. Von allen Tribunalen konnte man an das Volk appelliren. Vor dem dreyßigsten Jahr hatte niemand Zutritt zur Nationalversammlung; aber sobald einer das erfoderliche Alter hatte, so konnte er ungestraft nicht mehr wegbleiben, denn Solon haßte und bekämpfte nichts so sehr, als Lauigkeit gegen das gemeine Wesen.

Athens Verfassung war auf diese Art in eine vollkommene Demokratie verwandelt; im strengsten Verstande war das Volk souverain, und nicht bloß durch Repräsentanten herrschte es, sondern in eigner Person und durch sich selbst.

Bald aber zeigten sich nachtheilige Folgen dieser Einrichtung. Das Volk war zu schnell mächtig geworden, um sich dieses Vorrechts mit Mäßigung zu bedienen, Leidenschaft mischte sich in die öffentliche Versammlung, und der Tumult, den eine so große Volksmenge erregte erlaubte nicht immer reif zu überlegen und weise zu entscheiden. Diesem Uebel zu begegnen schuf Solon einen Senat, zu welchem, aus jeder der 4 Zünfte, 100 Mitglieder genommen wurden. Dieser Senat mußte sich vorher über die Punkte berathschlagen, welche der Ecclesia vorgelegt werden sollten. Nichts, was nicht vorher vom Senat in Ueberlegung genommen worden, durfte vor das Volk gebracht werden, [65] aber das Volk allein behielt die Entscheidung. War eine Angelegenheit von dem Senat dem Volk vorgetragen, so traten die Redner auf, die Wahl desselben zu lenken. Diese Menschenklasse hat sich in Athen sehr viel Wichtigkeit erworben, und durch den Mißbrauch, den sie von ihrer Kunst und dem leichtbeweglichen Sinn der Athenienser machte, der Republik eben soviel geschadet, als sie ihr hätte nützen können, wenn sie, von Privatabsichten rein, das wahre Interesse des Staats immer vor Augen gehabt hätte. Alle Kunstgriffe der Beredtsamkeit bot der Redner auf, dem Volk diejenige Seite einer Sache annehmlich zu machen, wozu er es gerne bringen wollte; und, verstand er seine Kunst, so waren alle Herzen in seinen Händen. Durch diese Redner wurde dem Volk eine sanfte und erlaubte Fessel angelegt. Sie herrschten durch Ueberredung, und ihre Herrschaft war darum nicht weniger groß, weil sie der freyen Wahl etwas übrig ließ. Das Volk behielt völlige Freyheit, zu wählen und zu verwerfen, aber durch die Kunst, womit man ihm die Dinge vorzulegen wußte, lenkte man diese Freyheit. Eine vortreffliche Einrichtung, wenn die Funktion der Redner immer in reinen und treuen Händen geblieben wäre. Bald aber wurden aus diesen Rednern Sophisten, die ihren Ruhm darein setzten, das Schlimme gut, und das Gute schlimm zu machen. Mitten in Athen war ein großer öffentlicher Platz von Bildsäulen der Götter und Helden umgeben, das Prytaneum genannt. Auf diesem Platz war die Versammlung des Senats, und die Senatoren erhielten [66] davon den Nahmen der Prytanen. Von einem Prytanen wurde ein untadelhaftes Leben verlangt. Keinem Verschwender, keinem der seinem Vater unehrerbietig begegnet, keinem welcher sich nur einmal betrunken hatte, durfte es in den Sinn kommen, sich zu diesem Amte zu melden.

Als sich in der Folge die Bevölkerung in Athen vermehrte, und anstatt der 4 Zünfte, welche Solon eingeführt hatte, 10 Zünfte gemacht wurden, wurde auch die Anzahl der Prytanen von 400 bis 1000 gesetzt. Aber von diesen 1000 Prytanen waren jährlich nur 500 in Funktion, und auch diese 500 nie auf einmal. Funfzig derselben regierten immer 5 Wochen lang und zwar so daß in jeder Woche nur 10 im Amte standen. So war es ganz unmöglich, willkührlich zu verfahren, denn jeder hatte eben so viele Zeugen und Hüter seiner Handlungen, als er Amtsgenossen hatte, und der Nachfolgende konnte immer die Verwaltung seines Vorgängers mustern. Alle 5 Wochen wurden 4 Volksversammlungen gehalten, die ausserordentlichen nicht mit gerechnet, eine Einrichtung, wodurch es ganz unmöglich gemacht ward, daß eine Angelegenheit lange unentschieden blieb, und der Gang der Geschäffte verzögert wurde.

Ausser dem Senat der Prytanen, den er neu erschuf, brachte Solon auch den Areopagus wieder in Ansehen, den Drako erniedrigt hatte, weil er ihm zu menschlich dachte. Er machte ihn zum obersten Aufseher [67] und Schutzgeist der Gesetze und befestigte, wie Plutarch sagt an diesen beyden Gerichten, dem Senat nehmlich und dem Areopagus, wie an zwey Ankern die Republik.

Diese zwey Gerichtshöfe waren eingesetzt, über die Erhaltung des Staats und seiner Gesetze zu wachen. Zehen andere Tribunale beschäfftigten sich mit Anwendung der Gesetze, mit der Gerechtigkeitspflege. Ueber Mordthaten erkannten 4 Gerichtshöfe das Palladium, das Delphinium, die Phreattys und Heliäa. Die zwey erstern bestätigte Solon nur, sie waren schon unter den Königen gestiftet. Unvorsetzliche Mordthaten wurden vor dem Palladium gerichtet. Vor dem Delphinium stellten sich die, welche sich zu einem für erlaubt gehaltenen Todtschlag bekannten. Das Gericht Phreattys wurde eingesetzt, um über diejenigen zu erkennen, welche eines vorsetzlichen Todtschlags wegen angeklagt wurden, nachdem sie bereits eines unvorsetzlichen Mordes wegen ausser Landes geflüchtet waren. Der Beklagte erschien auf einem Schiffe, und am Ufer standen seine Richter. War er unschuldig, so kehrte er ruhig an seinen Verbannungsort zurück, in der fröhlichen Hoffnung einst wieder heimkehren zu dürfen. Wurde er schuldig befunden, so kehrte er zwar auch unversehrt zurück, aber sein Vaterland hatte er auf ewig verloren.

Das vierte Criminalgericht war die Heliäa, die ihren Nahmen von der Sonne hatte, weil sie sich gleich [68] nach Aufgang der Sonne und an einem Orte den die Sonne bestrahlt, zu versammeln pflegte. Die Heliäa war eine ausserordentliche Commission der andern großen Tribunale; ihre Mitglieder waren zugleich Richter und Magistrate. Sie hatten nicht bloß Gesetze anzuwenden und zu vollziehen, sondern auch zu verbessern und ihren Sinn zu bestimmen. Ihre Versammlung war feyerlich, und ein furchtbarer Eid verband sie zur Wahrheit.

Sobald ein Todesurtheil gefällt war, und der Beklagte hatte sich nicht durch eine freiwillige Verbannung demselben entzogen, so überlieferte man ihn den Eilf Männern; diesen Nahmen führte die Commission, wozu jede der Zehen Zünfte einen Mann hergab; die, mit dem Blutrichter Eilf ausmachten. Diese Eilf Männer hatten die Aufsicht über die Gefängnisse, und vollzogen die Todesurtheile. Der Todesarten, welche man den Verbrechern in Athen zuerkannte, waren dreierlei. Entweder man stürzte ihn in einen Schlund, auch in das Meer hinunter, oder man richtete ihn mit dem Schwerd hin, oder gab ihm Schierling zu trinken.

Zunächst der Todesstrafe kam die Verweisung. Diese Strafe ist schrecklich in glückseligen Ländern; es giebt Staaten, aus denen es kein Unglück ist, verwiesen zu werden. Daß es die Verweisung zunächst an die Todesstrafe, und wenn sie ewig war, dieser letztern gleich setzte, ist ein schönes Selbstgefühl des atheniensischen Volks. Der Athenienser, der sein Vaterland [69] verloren, konnte in der ganzen übrigen Welt kein Athen mehr finden.

Die Verbannung war mit einer Confiscation aller Güter verbunden, den Ostracismus allein ausgenommen.

Bürger, welche durch außerordentliche Verdienste oder Glück zu einem größern Einfluß und Ansehen gelangt waren, als sich mit der Republikanischen Gleichheit vertrug, und die also anfiengen der bürgerlichen Freiheit gefährlich zu werden, verbannte man zuweilen – ehe sie diese Verbannung verdienten. Um den Staat zu retten, war man unrecht gegen einen Einzelnen Bürger. Die Idee welche diesem Gebrauche zum Grund liegt, ist an sich zu loben, aber das Mittel, welches man erwählte zeugt von einer kindischen Politik. Man nannte diese Art der Verbannung den Ostracismus, weil die Vota auf Scherben geschrieben wurden. Sechstausend Stimmen waren nöthig, einen Bürger mit dieser Strafe zu belegen. Der Ostracismus mußte seiner Natur nach meistens den verdientesten Bürger treffen, er ehrte also mehr, als er schändete – aber darum war er doch nicht weniger ungerecht und grausam, denn er nahm dem Würdigsten, was ihm das theuerste war, die Heimat. Eine vierte Art von Strafen bey Criminalverbrechen war die Strafe der Säule. Die Schuld des Verbrechers wurde auf eine Säule geschrieben, und dieß machte ihn ehrlos mit seinem ganzen Geschlechte.

[70] Geringere bürgerliche Händel zu entscheiden, waren 6 Tribunale eingesetzt, die aber niemals wichtig wurden, weil dem Verurtheilten von allen die Appellation an die höhern Gerichte und an die Ecclesia offen stand. Jeder führte seine Sache selbst, (Weiber, Kinder und Sklaven ausgenommen). Eine Wasseruhr bestimmte die Dauer von seiner und seines Anklägers Rede. Die wichtigsten bürgerlichen Händel mußten in 24 Stunden entschieden seyn.

Soviel von den bürgerlichen und politischen Anordnungen Solons, aber darauf allein schränkte sich dieser Gesetzgeber nicht ein. Es ist ein Vorzug, den die alten Gesetzgeber vor den neuern haben, daß sie ihre Menschen den Gesetzen zubilden, die sie ihnen ertheilen, daß sie auch die Sittlichkeit, den Karakter, den gesellschaftlichen Umgang mitnehmen, und den Bürger nie von dem Menschen trennen wie wir. Bey uns stehen die Gesetze nicht selten in direktem Widerspruch mit den Sitten. Bei den Alten standen Gesetze und Sitten in einer viel schöneren Harmonie. Ihre Staatskörper haben daher auch eine so lebendige Wärme, die den unsrigen ganz fehlt; mit unzerstörbaren Zügen war der Staat in die Seelen der Bürger gegraben.

Indessen muß man auch hier in Anpreisung des Alterthums sehr behutsam seyn. Fast durchgängig kann man behaupten, daß die Absichten der alten Gesetzgeber weise und lobenswürdig waren, daß sie aber in den Mitteln fehlten. Diese Mittel zeugen oft von [71] unrichtigen Begriffen, und einer einseitigen Vorstellungsart. Wo wir zu weit zurückbleiben eilten sie zuweit vor. Wenn unsre Gesetzgeber unrecht gethan haben, daß sie moralische Pflichten und Sitten ganz vernachläßigten, so hatten die Gesetzgeber der Griechen darin Unrecht, daß sie moralische Pflichten mit dem Zwang der Gesetze einschärften. Zur moralischen Schönheit der Handlungen ist Freiheit des Willens die erste Bedingung, und diese Freiheit ist dahin, sobald man moralische Tugend durch gesetzliche Strafen erzwingen will. Das edelste Vorrecht der Menschlichen Natur ist, sich selbst zu bestimmen, und das Gute um des Guten willen thun. Kein bürgerliches Gesetz darf Treue gegen den Freund, Großmuth gegen den Feind, Dankbarkeit gegen Vater und Mutter zwangsmäßig gebieten, denn sobald es dieses thut, wird eine freye moralische Empfindung in ein Werk der Furcht, in eine sklavische Regung verwandelt.

Aber wieder auf unsern Solon zurückzukommen.

Ein Solonisches Gesetz verordnet, daß jeder Bürger, die Beleidigung die einem andern wiederführe, als sich selbst angethan, betrachten, und nicht ruhen solle, bis sie an dem Beleidiger gerochen sey. Das Gesetz ist vortreflich wenn man seine Absicht dabey betrachtet. Seine Absicht war jedem Bürger warmen Antheil an allen übrigen einzuflößen, und alle miteinander daran zu gewöhnen, sich als Glieder eines zusammenhängenden Ganzen anzusehen. Wie angenehm würden wir überrascht werden, wenn wir in ein Land kämen, [72] wo uns jeder vorübergehende ungerufen gegen einen Beleidiger in Schutz nähme. Aber wie sehr würde unser Vergnügen verlieren, wenn uns zugleich dabey gesagt würde, daß er so schön habe handeln müssen.

Ein andres Gesetz, welches Solon gab, erklärt denjenigen für ehrlos, der bei einem bürgerlichen Aufruhr neutral bleibe. Auch bei diesem Gesetz lag eine unverkennbare gute Absicht zum Grunde. Dem Gesetzgeber war es darum zu thun, seinen Bürgern das innigste Interesse an dem Staat einzuflößen. Kälte gegen das Vaterland war ihm das hassenswürdigste an einem Bürger. Neutralität kann oft eine Folge dieser Kälte seyn; aber er vergaß, daß oft das feurigste Interesse am Vaterland diese Neutralität gebietetalsdann nehmlich, wenn beide Parteien unrecht haben, und das Vaterland bei beiden gleich viel zu verlieren haben würde.

Ein andres Gesetz des Solon verbietet, von den Todten übel zu reden; ein andres, an öffentlichen Oertern wie vor Gericht, im Tempel oder im Schauspiel, einem Lebenden böses nachzusagen. Einen Bastard spricht er von kindlichen Pflichten los, denn der Vater, sagt er, habe sich schon durch die genossene sinnliche Lust bezahlt gemacht; eben so sprach er den Sohn von der Pflicht frey seinen Vater zu ernähren, wenn dieser ihn keine Kunst hätte lernen lassen. Er erlaubte Testamente zu machen, und sein Vermögen nach Willkühr [73] zu verschenken, denn Freunde die man sich wählt, sagte er, sind mehr werth als bloße Verwandte. Die Aussteuer schaffte er ab, weil er wollte, daß die Liebe und nicht der Eigennutz Ehen stiftete. Noch ein schöner Zug von Sanftmuth in seinem Karakter ist daß er verhaßten Dingen mildere Nahmen gab. Abgaben hießen Beiträge, Besatzungen Wächter der Stadt, Gefängniße Gemächer und die Schuldenvernichtung nannte er Erleichterung. Den Aufwand, zu dem der atheniensische Geist sich so sehr neigte, mäßigte er durch weise Verordnungen; strenge Gesetze wachten über die Sitten des Frauenzimmers, über den Umgang beider Geschlechter, und die Heiligkeit der Ehen.

Diese Gesetze, verordnete er, sollten nur auf 100 Jahre gültig seyn – wieviel weiter sah er als Lykurgus! Er begriff daß Gesetze nur Dienerinnen der Bildung sind, daß Nationen in ihrem männlichen Alter eine andere Führung nöthig haben als in ihrer Kindheit. Lykurg verewigte die Geistes-Kindheit der Spartaner, um dadurch seine Gesetze bei ihnen zu verewigen, aber sein Staat ist verschwunden mit seinen Gesetzen. Solon hingegen versprach den seinigen nur eine 100 jährige Dauer, und noch heutiges Tages sind viele derselben im römischen Gesetzbuche in Kraft. Die Zeit ist eine gerechte Richterin aller Verdienste.

Man hat dem Solon zum Vorwurf gemacht, daß er dem Volk zu große Gewalt gegeben habe, und dieser Vorwurf ist nicht ungegründet. Indem er eine [74] Klippe, die Oligarchie, zu sehr vermied, ist er einer andern, der Anarchie zu nahe gekommen – aber doch auch nur nahe gekommen, denn der Senat der Prytanen und das Gericht des Areopagus waren starke Zügel der Demokratischen Gewalt. Die Uebel, welche von einer Democratie unzertrennlich sind, tumultuarische und leidenschaftliche Entscheidungen und der Geist der Faktion konnten freilich in Athen nicht vermieden werden – aber diese Uebel sind doch weit mehr der Form die er wählte, als dem Wesen der Demokratie zuzuschreiben. Er fehlte darinn sehr, daß er das Volk nicht durch Repräsentanten sondern in Person entscheiden ließ, welches wegen der starken Menschenmenge nicht ohne Verwirrung und Tumult und wegen der überlegenen Anzahl der unbemittelten Bürger nicht immer ohne Bestechung abgehen konnte. Der Ostracismus, wobey 6000 Stimmen zum wenigsten erfodert wurden, läßt uns abnehmen, wie stürmisch es bei dergleichen Volksversammlung mag zugegangen seyn. Wenn man aber auf der andern Seite bedenkt, wie gut auch der gemeinste Athenienser mit dem gemeinen Wesen bekannt war, wie mächtig der Nationalgeist in ihm wirkte, wie sehr der Gesetzgeber dafür gesorgt hatte, daß dem Bürger das Vaterland über alles gieng, so wird man einen bessern Begriff von dem politischen Verstand des atheniensischen Pöbels bekommen, und sich wenigstens hüten von dem gemeinen Volke bey uns voreilig auf jenes zu schließen. Alle große Versammlungen haben immer eine gewisse Gesetzlosigkeit in ihrem Gefolge, – alle kleinern [75] aber haben Mühe sich von aristokratischem Despotismus ganz rein zu erhalten. Zwischen beyden eine glückliche Mitte zu treffen, ist das schwerste Problem, das die kommenden Jahrhunderte erst auflösen sollen. Bewundernswerth bleibt mir immer der Geist, der den Solon bey seiner Gesetzgebung beseelte, der Geist der gesunden und ächten Staatskunst, die das Grundprinzipium worauf alle Staaten ruhen müssen, nie aus den Augen verlor: sich selbst die Gesetze zu geben, denen man gehorchen soll, und die Pflichten des Bürgers aus Einsicht und aus Liebe zum Vaterland, nicht aus sklavischer Furcht vor der Strafe, nicht aus blinder und schlaffer Ergebung in den Willen eines Obern zu erfüllen.

Schön und trefflich war es von Solon, daß er Achtung hatte für die menschliche Natur, und nie den Menschen dem Staat, nie den Zweck dem Mittel aufopferte, sondern den Staat dem Menschen dienen ließ. Seine Gesetze waren laxe Bänder, an denen sich der Geist der Bürger frey und leicht nach allen Richtungen bewegte, und nie empfand, daß sie ihn lenkten; die Gesetze des Lykurgus waren eiserne Fesseln, an denen der kühne Muth sich wund rieb, die durch ihr drückendes Gewicht den Geist niederzogen. Alle mögliche Bahnen schloß der atheniensische Gesetzgeber dem Genie und dem Fleiß seiner Bürger auf, der spartanische Gesetzgeber vermauerte den seinigen alle bis auf eine einzige – das politische Verdienst. Lykurg befahl den Müssiggang durch [76] Gesetze, Solon strafte ihn strenge. Darum reiften in Athen alle Tugenden, blühten alle Gewerbe und Künste, regten sich alle Sehnen des Fleißes, darum wurden alle Felder des Wissens dort bearbeitet. Wo findet man in Sparta einen Sokrates, einen Thucydides, einen Sophokles und Plato? Sparta konnte nur Herrscher und Krieger, – keine Künstler, keine Dichter, keine Denker, keine Weltbürger erzeugen. Beide, Solon wie Lykurg, waren große Männer, beide waren rechtschaffne Männer, aber wie verschieden haben sie gewirkt, weil sie von entgegengesetzten Principien ausgiengen. Um den atheniensischen Gesetzgeber steht die Freiheit und die Freude, der Fleiß und der Ueberfluß – stehen alle Künste und Tugenden, alle Grazien und Musen herum, sehen dankbar zu ihm auf, und nennen ihn ihren Vater und Schöpfer. Um den Lykurgus sieht man nichts als Tyranney und ihr schreckliches Gegentheil, die Knechtschaft, die ihre Ketten schüttelt, und dem Urheber ihres Elends flucht.

Der Charakter eines ganzen Volks ist der treueste Abdruck seiner Gesetze, und also auch der sicherste Richter ihres Werths oder Unwerths. Beschränkt war der Kopf des Spartaners, und unempfindlich sein Herz. Er war stolz und hochfahrend gegen seine Bundsgenossen, hart gegen seine Ueberwundenen unmenschlich gegen seine Sklaven und knechtisch gegen seine Obern; in seinen Unterhandlungen war er ungewissenhaft und treulos, in seinen Entscheidungen despotisch, und seiner Größe, seiner Tugend selbst fehlte es [77] an der gefälligen Anmuth, welche allein die Herzen gewinnt. Der Athenienser hingegen war weichmüthig und sanft im Umgang, höflich aufgeweckt im Gespräch, leutselig gegen den Geringen, gastfrey und gefällig gegen den Fremden. Er liebte zwar Weichlichkeit und Putz, aber dieß hinderte nicht, daß er im Treffen nicht wie ein Löwe kämpfte. Gekleidet in Purpur und mit Wohlgerüchen gesalbt, brachte er die Millionen des Xerxes und die rauhen Spartaner auf gleiche Weise zum Zittern. Er liebte die Vergnügungen der Tafel und konnte nur schwer dem Reiz der Wollust widerstehen; aber Völlerey und schaamloses Betragen machten ehrlos in Athen. Delikatesse und Wohlanständigkeit wurden bey keinem Volke des Alterthums so getrieben, als bey diesem; in einem Kriege, mit dem macedonischen Philipp hatten die Athenienser einige Briefe dieses Königs aufgefangen, unter denen auch einer an seine Gemahlinn war; die übrigen alle wurden geöffnet, diesen einzigen schickten sie unerbrochen zurück. Der Athenienser war großmüthig im Glücke, und im Unglücke standhaft; – dann kostete es ihn nichts für das Vaterland alles zu wagen. Seine Sklaven behandelte er menschlich und der mißhandelte Knecht durfte seinen Tyrannen verklagen. Selbst die Thiere erfuhren die Großmuth dieses Volks; nach vollendetem Bau des Tempels Hecatonpedon wurde verordnet, alle Lastthiere, welche dabey geschäfftig gewesen, frey zu lassen, und auf ihr ganzes künftiges Leben auf den besten Weiden umsonst zu ernähren. Eins dieser Thiere kam nachher von freyen Stücken zur [78] Arbeit, und lief mechanisch vor den übrigen her, welche Lasten zogen. Dieser Anblick rührte die Athenienser so sehr, daß sie verordneten dieses Thier auf Unkosten des Staats ins künftige besonders zu unterhalten.

Indessen bin ich es der Gerechtigkeit schuldig, auch die Fehler der Athenienser nicht zu verschweigen, denn die Geschichte soll keine Lobrednerinn seyn. Dieses Volk, das wir seiner feinen Sitten, seiner Sanftmuth, seiner Weisheit wegen bewundert haben, befleckte sich nicht selten mit dem schändlichsten Undank gegen seine größten Männer, mit Grausamkeit gegen seine überwundenen Feinde. Durch die Schmeicheleyen seiner Redner verdorben, trotzig auf seine Freyheit, und auf so viele glänzende Vorzüge eitel, drückte es seine Bundsgenossen und Nachbarn oft mit unerträglichem Stolze, und ließ sich bey öffentlichen Berathschlagungen, von einem leichtsinnigen Schwindelgeist leiten, der oft die Bemühungen seiner weisesten Staatsmänner zunichte machte, und den Staat an den Rand des Verderbens riß. Jeder einzelne Athenienser war lenksam und weichmüthig; aber in öffentlichen Versammlungen war er der vorige Mann nicht mehr. Daher schildert uns Aristophanes seine Landsleute, als vernünftige Greise zu Hause, und als Narren in Versammlungen. Die Liebe zum Ruhme und der Durst nach Neuheit beherrschte sie bis zur Ausschweifung, an den Ruhm setzte der Athenienser oft seine Glücksgüter, sein Leben und nicht selten – seine Tugend. Eine Krone von Oelzweigen, eine Inschrift auf einer Säule, die sein [79] Verdienst verkündigte, war ihm ein feurigerer Sporn zu großen Thaten, als dem Perser alle Schätze des großen Königs. So sehr das atheniensische Volk seinen Undank übertrieb, so ausschweifend war es wieder in seiner Dankbarkeit. Von einem solchen Volke im Triumph aus der Versammlung heimbegleitet zu werden, es auch nur Einen Tag zu beschäfftigen, war ein höherer Genuß für die Ruhmsucht des Atheniensers, und auch ein wahrerer Genuß, als ein Monarch seinen geliebtesten Sklaven gewähren kann, denn es ist ganz etwas anders ein ganzes stolzes zartempfindendes Volk zu rühren, als einem Einzigen Menschen zu gefallen. Der Athenienser mußte in immerwährender Bewegung seyn; unaufhörlich haschte sein Sinn nach neuen Eindrücken, neuen Genüssen. Dieser Sucht nach Neuheit mußte man täglich neue Nahrung reichen, wenn sie sich nicht gegen den Staat selbst kehren sollte. Darum rettete ein Schauspiel, das man zu rechter Zeit gab, oft die öffentliche Ruhe, welche der Aufruhr bedrohte – darum hatte oft ein Usurpator gewonnen Spiel, wenn er nur diesem Hange des Volks durch eine Reyhe von Lustbarkeiten opferte. Aber eben darum wehe dem verdientesten Bürger, wenn er die Kunst nicht verstand, täglich neu zu seyn, und sein Verdienst zu verjüngen.

Der Abend von Solons Leben war nicht so heiter, als sein Leben es verdient hätte. Um den Zudringlichkeiten der Athenienser zu entgehen, die ihn täglich mit Fragen und Vorschlägen heimsuchten, machte er, sobald seine Gesetze im Gange waren, eine Reise durch [80] Kleinasien, nach den Inseln und nach Egypten, wo er sich mit den Weisesten seiner Zeit besprach, den königlichen Hof des Crösus in Lydien, und den zu Sais in Egypten besuchte. Was von seiner Zusammenkunft mit Thales von Milet und mit Crösus erzählt wird, ist zu bekannt, um hier noch wiederhohlt zu werden. Bey seiner Zurückkunft nach Athen, fand er den Staat von drey Parteyen zerrüttet, welche zwey gefährliche Männer Megacles und Pisistratus zu Anführern hatten; Megakles machte sich mächtig und furchtbar durch seinen Reichthum, Pisistratus durch seine Staatsklugheit und sein Genie. Dieser Pisistratus, Solons ehemaliger Liebling und der Julius Cäsar von Athen, erschien einsmals bleich auf seinem Wagen ausgestreckt vor der Volksversammlung und bespritzt mit dem Blut einer Wunde, die er sich selbst in den Arm geritzt hatte. So, sagte er, haben mich meine Feinde um eurentwillen mißhandelt. Mein Leben ist in ewiger Gefahr, wenn ihr nicht Anstalten trefft es zu schützen. Alsbald trugen seine Freunde, wie er sie selbst unterrichtet hatte, darauf an, daß ihm eine Leibwache gehalten würde, die ihn begleiten sollte, so oft er öffentlich ausgieng. Solon errieth den betrügerischen Sinn dieses Vorschlags und setzte sich eifrig, aber fruchtlos dagegen. Der Vorschlag gieng durch, Pisistratus erhielt eine Leibwache, und nicht sobald sah er sich an ihrer Spitze, als er die Citadelle von Athen in Besitz nahm. Jetzt fiel die Decke von den Augen des Volks; aber zu spät. Der Schrecken ergriff Athen; Megakles und seine Anhänger entwichen aus der Stadt und überließen [81] sie dem Usurpator. Solon, der sich allein nicht hatte täuschen lassen, war jetzt auch der einzige, der den Muth nicht verlor; soviel er angewandt hatte, seine Mitbürger von ihrer Uebereilung zurück zu halten, als es noch Zeit war, soviel wandte er jetzt an, ihren sinkenden Muth zu beleben. Als er nirgends Eingang fand, gieng er nach Hause, legte seine Waffen vor seine Hausthüre und rief: Nun hab’ ich gethan, was ich konnte zum Besten des Vaterlands. Er dachte auf keine Flucht, sondern fuhr fort, die Thorheit der Athenienser und die Gewissenlosigkeit des Tyrannen heftig zu tadeln. Als ihn seine Freunde fragten, was ihn so muthig mache, dem Mächtigen zu trotzen, so antwortete er: Mein Alter giebt mir diesen Muth. Er starb und seine letzten Blicke sahen sein Vaterland nicht frey.

Aber Athen war in keines Barbaren Hände gefallen, Pisistratus war ein edler Mensch und ehrte die Solonischen Gesetze. Als er in der Folge zweymal von seinen Nebenbuhlern vertrieben und zweymal wieder Meister von der Stadt wurde, bis er endlich im ruhigen Besitz seiner Herrschaft blieb, machte er seine Usurpation durch wahre Verdienste um den Staat und glänzende Tugenden vergessen. Niemand bemerkte unter ihm, daß Athen nicht mehr frey war, so gelind und still floß seine Regierung, und nicht Er, sondern Solons Gesetze herrschten, Pisistratus eröffnete das goldne Alter von Athen; unter ihm dämmerte der schöne Morgen der griechischen Künste auf. Er starb, wie ein Vater bedauert.

[82] Sein angefangenes Werk wurde von seinen Söhnen Hipparch und Hippias fortgesetzt. Beyde Brüder regierten mit Eintracht, und gleiche Liebe zur Wissenschaft beseelte beyde. Unter ihnen blühten schon Simonides und Anakreon und die Akademie wurde gestiftet. Alles eilte dem herrlichen Zeitalter des Perikles entgegen.