Die Handschuh-Stuhlwirkerei
Die Handschuh-Stuhlwirkerei.
Das waldreiche sächsische Erzgebirge bietet der landschaftlichen Reize unendlich viele. Wer nur einmal den abwechslungsreichen Thälern der Schwarzen Pockau, der Flöha, der Zschopau mit den prächtigen Punkten am Katzenstein, bei Schloß Augustusburg und am Harrasfelsen einen Besuch abgestattet, wer eine Wanderung vom reizend gelegenen Wolkenstein nach Wilischthal, von Olbernhau nach Rübenau und am Schwarzwasser von Schwarzenberg nach Johanngeorgenstadt unternommen, oder wer die herrliche Fernsicht von dem Fichtelberg, Bärenstein, Kuhberg, Spiegelwald, den Greifensteinen aus genossen hat, der vergißt die gewonnenen Eindrücke gewiß sobald nicht wieder.
Einfach und bescheiden sind die Bewohner dieses Landes. Der Boden ernährt sie nicht gut. Der Landwirt aus der fruchtbaren Niederung wird sie sicher bemitleiden beim Anblick der dürftigen Ackererzeugnisse. Oftmals zieht der Winter ein, wenn das Wenige, was auf der Flur erwuchs, noch nicht abgeerntet ist, weil die nötige Reife fehlt. Der Erzgebirgler aber ist genügsam und thätig; was Mutter Erde ihm versagt, sucht er durch seiner Hände Arbeit zu erringen
So kommt es, daß das Erzgebirge äußerst gewerbsfleißig ist. Die fallreichen Gebirgswasser bringen die treibende Kraft zahlreichen Spinnereien, Schneidemühlen, Holzstoff- und Papierfabriken. Wem diese keine Beschäftigung bieten, der findet sie in der durchs ganze Erzgebirge verbreiteten Hausindustrie. Hoch oben in Seiffen, Olbernhau bis hinunter nach Grünhainichen arbeiten Hunderte von Familien bis spät in die Nacht in der Holzspielwarenerzeugung. Weiter nach Westen hin, in Marienberg, Annaberg, Geyer, Ehrenfriedersdorf, Eibenstock giebt die Gorlnäherei und Posamentenherstellung ganzen Ortschaften Brot; während von Thum, Lößnitz, Stollberg ab bis nach dem schornsteinreichen Chemnitz und dem Fuße des Gebirges die mächtige Strumpfwarenindustrie seit der Einführung des Wirkstuhles in langgedehnten Dörfern ihr Heim aufgeschlagen hat. Die tausend und abertausend Dutzende von Strümpfen, welche in ihren geschmackvollen Farbenzusammenstellungen ebenso die leichtlebige Pariserin wie die stolze Nordamerikanerin und die glutäugige Indierin entzücken – sie stammen – fast alle aus diesem kleinen Teile des großen Deutschen Reiches.
Wenn der Reisende im Dampfwagen auf der Linie München–Dresden die kurze Strecke Hohenstein–Chemnitz durcheilt, betrachtet er wohl gern die schmucken Ortschaften, welche sich rechts und links der Bahn einander anreihen, als ob sie ein zusammenhängendes Ganzes bildeten. Im übrigen wird er an den weißgetünchten, zuweist aus Erd- und Obergeschoß bestehenden, ziegel- oder schiefergedeckten Häusern mit ihren Vor- und Seitengärtchen wenig Auffälliges finden. Hier ist der Hauptsitz der Erzeugung des ältesten sächsischen Handschuhes, der gewirkten Stuhl- oder Einnaht-Finger-Handschuhe. Die Herstellungsweise dieser Handschuhe, die in ihren besseren Mustern dem Kunstgewerbe zuzuzählen sind, ist sehr interessant, aber auch sehr mühsam, und die schöne Trägerin, die sich der kunstvollen Arbeit ihres Handschuhes freut, würde gewiß nicht glauben, daß dieser in solch bescheidener Umgebung entsteht und daß soviel Arbeit, soviel peinliche Sorgfalt zu dessen Fertigstellung erforderlich ist.
Zu unserer Reise benutzen wir von Chemnitz aus den Bahnzug, indem wir nach dem in 15 Minuten erreichbaren Siegmar fahren, dessen gefällige Häuser in dem Besucher einen freundlichen Eindruck hervorrufen. Von hier aus wenden wir uns westwärts der Landstraße entlang und nach wenigen Schritten befinden wir uns mitten in der Wirkerei. Fast aus jedem Hause und aus jeder Stube tönt uns das eigentümliche Schnurren des Wirkstuhles entgegen, ab und zu sitzen vor den Häusern Kinder, mit kleinen Arbeiten an Handschuhen beschäftigt.
Treten wir ein in ein solches Haus, aus dem uns das lebhafte „Raazen“ der Maschine schon von ferne regsame Thätigkeit verkündet. Wir befinden uns in einer niedrigen, nicht zu großen Stube mit einem dem Garten und zwei der Straße zugewandten kleinen Fenstern. Sie dient augenscheinlich gleichzeitig als Küche, Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer, da in der Regel der Wirker außer einem kleinen Alkoven nebenan oder einer Kammer im Dachgeschoß nur über diesen einen Raum verfügt.
Vor dem Ofen, der zum Kochen wie zum Heizen dienen muß, hat eine niedrige Bank ihren Platz, dahinter an der Wand hängt ein Brett mit dem wenigen für die Familie erforderlichen Geschirr. Ein Haussegen über der Thür und einige billige Bilder schmücken die einfach gestrichenen Wände. Ein viereckiger Tisch, ein paar Holzstühle, eine Kommode mit darüber befestigtem Spiegel und eine Schwarzwälder Wanduhr vervollständigen die dürftige Ausstattung. Blankgescheuerte Dielen, weiße Vorhänge und einige kleine Blumenstöcke an den Fenstern geben dem engen Raume einen freundlichen Anstrich. Ein Vogelbauer fehlt auch hier nicht, wie in der That fast in jeder Wirkerstube ein Hänfling, Zeisig oder Rotkehlchen zu finden ist.
Der beste Platz dicht am Fenster ist dem Wirkstuhl angewiesen. Dieser besteht in der Hauptsache aus Holz, einzelne Teile aus Eisen. Seine Bauart ist auch heute noch von der vor hundert Jahren gebräuchlichen kaum merklich verschieden. Der Stuhl gehört fast immer dem Fabrikanten – oft auch „Faktor“ genannt – der ihn dem Arbeiter zur Miete giebt. Dieser verarbeitet darauf das vom [573] Fabrikanten erhaltene Material und zahlt für den Stuhl je nach seiner Beschaffenheit und der Art der Beschäftigung für die Woche 10 bis 50 Pfennig Zins.
Wir sehen auf dem unten abgebildeten Stuhle schon ein geteiltes Stück Ware zu zwei Paar Handschuhen mit durchbrochenem, kunstvoll gearbeitetem Anfang, der auf einem anderen Stuhle gemacht worden ist. Alle möglichen Muster finden wir in diesen Anfängen vertreten, sämtlich mit der Hand frei aus dem Gedächtnis in die Ware hineingearbeitet: Blumen, Ranken, Blätter, Bäumchen, Guirlanden, Sterne, Streifen, Puffen, Vier-, Sechs-, Achtecke etc., deren ansprechende Zusammenstellung dem Arbeiter vielfach selbst überlassen bleibt. Für diese Figuren werden kleine Löchelchen hergestellt durch Ueberhängen der einen Masche auf die andere mit Hilfe einer auf die Träger k zu legenden Vorrichtung (Petinet-Maschine), welche der unter l sichtbaren, auf unserem Bilde jetzt außer Thätigkeit befindlichen Mindermaschine ähnlich ist. Der Mann muß dabei alle Aufmerksamkeit seiner Arbeit widmen; denn ein einziger Fehlgriff verdirbt ihm zwei paar Anfänge und beraubt ihn des sechsten Teiles seines Tagesverdienstes. Ja, er hat Ursache, sehr fleißig zu sein, wenn er täglich ein Dutzend Paare derartiger Anfänge mittlerer Länge vollenden will.
Mit den Füßen bewegt der Wirker die Tritte a, wodurch sich die Welle b um die eigene Achse dreht und zum Werden der Masche die eigenartig geformten, senkrecht stehenden Stahlplättchen c, sog. Platinen, niederdrückt. Den Faden dazu holen sich diese von den oben auf den Galgen d befindlichen Spulen durch die herüber und hinüber laufenden Fadenführer e. Das Treten des Teiles f bringt vermittelst der Holzschiene g die eiserne Presse h auf die Nadeln, was mit dem durch die Druckstange i gleichzeitig erfolgenden Herüberziehen des Werkes die neugewonnene Masche zu der auf den Nadeln schon hängenden Ware reiht. So geht das weiter, bis diese bis zum Daumen fertig ist. Nachdem sie abgesprengt worden, sind noch vier Paar Längen auf gleiche Art dazu zu machen. Alle sechs Paare werden dann an der Daumenstelle in der Breite des Daumens wieder an die Nadeln gestoßen. Das Wirken beginnt nun von neuem, bis schließlich bei der Fingerkoppe unter Inanspruchnahme der auf die Träger k gelegten Mindermaschine l das Verschrägen der Fingerspitze durch Zusammenlegen der Maschen bewirkt wird. Seit einigen Jahren verstärkt man auch die Fingerkoppe durch Hinzufügen eines weiteren Fadens, wodurch die sogenannte Doppelspitze entsteht Das jetzt fertig gewordene Stück wird in Daumenbreite mit Längsschnitten versehen und damit sind die 12 Daumen für ein halbes Dutzend Paar Handschuhe fertig. Bei der Abendarbeit wird an der Seite des Stuhles in die Oese m ein Leuchter mit Lichtkugel n gestellt, eine mit ganz klarem Wasser gefüllte Glaskugel, eine sogenannte „Schusterkugel“, die den Schein der dahinter befindlichen Lampe auf die Nadeln wirft.
Bei einer vom frühen Morgen bis zum späten Abend dauernden Arbeit, die Füße, Arme und Hände und nicht zum wenigsten die Augen in Anspruch nimmt, bringt ein geübter Wirker, wie gesagt, zwölf Paar Handschuhe zu stande. Viel hat ihm das nicht eingebracht, höchstens 2 Mark 20 Pfg., und dabei muß er noch Stuhlzins und Auslagen für Bruch von Nadeln und Platinen bestreiten. Diejenigen jedoch, welche nicht im Besitze eines solch breiten und guten Stuhles sind und daher keine Handschuhe mit verschrägten Fingerkoppen machen können, erschwingen nur reichlich die Hälfte jenes kleinen Betrages. Bloß tüchtige und fleißige Wirker von durchbrochenen seidenen Anfängen bringen es bei anhaltender Beschäftigung auf 13 bis 14 Mark in der Woche. Auch können nur Leute, die noch gute und scharfe Augen haben, die Arbeit verrichten. Die Feinheit der Maschen kann man sich erst vorstellen, wenn man erfährt, daß 23 Nadeln auf einen Leipziger Zoll kommen und mithin beispielsweise an dem oben beschriebenen Stuhle 23 Nadeln x 33 Zoll (= 78 cm), also 759 Nadeln unausgesetzt beobachtet werden müssen. Man muß wahrhaftig staunen über die Ausdauer und die Genügsamkeit dieses fleißigen Völkchens.
Jede Wirkerstube hat ihr Spulrad. Sehr oft müht sich ein schulpflichtiges Kind mit dem Spulen des feinen Flors für den Wirker, den dieser ebenso wie die Seide vom Fabrikanten in Strähnen zum Verarbeiten erhält.
Ist der Handschuh auf dem Stuhle fertig, so bekommt ihn das Wirkerkind zum Fädeln. Es reiht von den Fingerkoppen die Maschenhenkel mit der Nähnadel an einen Faden, zieht solchen zusammen und verknüpft ihn. Nun erst kann die Frau des Arbeiters den Handschuh auf der Nähmaschine zuaammennähen. Dann fehlen zur schließlichen Vollendung bloß noch die seidenen Nähte oben auf der Hand. Diese Arbeit wird ebenfalls zum größten Teile in der Wirkerstube verrichtet, indem der Handschuh in kleine Maschinen eingespannt und der Zwickel mit der Hand aufgenäht wird.
So ist in der Regel die ganze Familie in der Handschuh-Erzeugung beschäftigt: der Mann am Wirkstuhl, die Frau an der Nähmaschine, zum Wirken nicht Fähige am Spulrad, kleinere Kinder beim Fädeln, größere in der Zwickelei. Oftmals aber kommt es vor, daß die Frau das Wirken ebenso erlernt hat und betreibt wie der Mann.
Wir begleiten jetzt unseren Freund zu seinem Arbeitgeber; er will die fertige Ware abliefern und sich frische Beschäftigung holen. [574] Es ist ein gut Stück Wegs bis dahin, nicht selten haben die Leute stundenweit zu gehen. In der Lieferstube warten schon mehrere Arbeiter, denen der Fabrikant selbst oder seine Gehilfen das Material zu neuer Arbeit bereit machen. Es ist das immer ein schwieriges Geschäft, denn die Kundschaft ist anspruchsvoll und will unter hunderterlei Farben die Wahl haben. Ist das Aussuchen der Farben beendet, dann geht es an das Abteilen des Flors und der Seide; denn vom Material soll der Arbeiter nicht zu viel und auch nicht zu wenig erhalten. Einem anderen fehlt noch Flor und Seide zu einer Fingerkoppe, bei einem dritten ist der Flor nicht rein gefärbt gewesen. Dazwischen hinein kehrt ein Bote von einem Arbeiter zurück, der dort fertige Ware abholen sollte. Er kommt mit leeren Händen: die Handschuhe waren zwar bis heute versprochen, indessen noch gar nicht angefangen, denn schwere Krankheit ist bei jenem eingezogen. Kinder holen sich Handschuhe zum Fädeln, wieder andere bringen solche von der Näherin und so geht das weiter. Kommt die Ware fertig von dem einen Arbeiter, so muß sie vielfach noch 5 bis 6 mal und noch öfter ausgegeben werden, bevor die letzte Hand angelegt werden kann.
In der Appretur werden die Handschuhe zur Erzielung eines gefälligen Aussehens über heiße Formen gebracht, nach Fehlern untersucht, gestempelt, geheftet und schließlich gepackt, womit sie endlich zum Verschicken bereit sind.
Wie aus der oben geschilderten Herstellungsweise ersichtlich ist, erhält der Finger nur eine Seitennaht. Die große Dehnbarkeit des Handschuhes ist der gewirkten Ware eigentümlich und auch nur durch das Wirken zu erzielen.
Auf die Handschuh-Stuhlwirkerei sind etwa 1500 Männer, darunter vielleicht 1200 Familienväter, insgesamt ungefähr 6000 Menschen im ganzen Bezirke angewiesen. Ein Teil der Arbeiter sucht sich während der Sommermonate eine lohnendere Beschäftigung als Handlanger, Maurer, Ziegler, Bergarbeiter etc. und kehrt erst im Winter an den Wirkstuhl zurück. Fast zwei Millionen Paar Handschuhe werden jetzt im Jahre hergestellt, jedoch ließe sich diese Zahl leicht auf das Doppelte erhöhen.
Erfüllt von unseren Einblicken in das Leben und Treiben einer in hartem Dasein doch zufriedenen Bevölkerung, schicken wir uns zur Rückkehr an. Ohne daß wir es besonders bemerkt haben, sind wir ziemlich weit im Thale hinaufgekommen; wir verlassen dasselbe aber nicht, ohne es zuvor nochmals von der nahen Anhöhe aus überschaut zu haben. Unsere Schritte nach dem den ganzen Bergrücken bedeckenden Hochwald hinüberlenkend, erklimmen wir einen steilen Fußpfad. Bald befinden wir uns auf einem freien Platze mit abgeplatteten Steinkolossen, auf dem sogenannten „Totensteine“, wohl einer alten Richt- oder Opferstätte, rings umgeben von mächtigen Tannen und Fichten. Hier an dieser sagenumwobenen Stelle hat der rührige Erzgebirgszweigverein Rabenstein in Gemeinschaft mit dem Limbacher Bruderverein einen eisernen Aussichtsturm errichtet. Wir besteigen diesen „Maria Josepha-Turm“ und mit einem Male sehen wir die ganze Handschuhwirkergegend vor uns liegen: Wüstenbrand, Oberlungwitz, Grüna, Mittelbach, Reichenbrand, Siegmar, Rabenstein. Aus dem sanft ansteigenden Gebirge blicken noch viele freundliche Ortschaften hervor; im Osten breitet sich mit seinen Türmen und unzähligen Dampfessen das emsig schaffende Chemnitz aus und nach Südwesten zeigen sich im Oelsnitz-Lugauer Reviere verschiedenw Kohlenwerke. Den Hintergrund bildet im Süden die Kette des Gebirges. Darüber hinweg aber sendet der Keilberg, der Riese des Erzgebirges, uns seine Grüße aus dem beachbarten Kaiserstaate.