„Up ewig ungedeelt!“
„Up ewig ungedeelt!“
Es war in jener Zeit, da Schleswig-Holstein sich zum zweitenmal aufraffte, seine Freiheit, sein gutes altes verbrieftes Recht gegen den dänischen Erbfeind zu verteidigen, verhaßte Bande abzuschütteln.
Jedermann weiß, wie es 1848 ergangen war, wie auf den großen Sturm der Begeisterung der traurige Rückschlag folgte, wie fremdländische Diplomatie diesem Freiheitskampf ein ruhmloses Ende bereitete. Rußland machte die Karten, und Preußen war genötigt, sie auszuspielen – und das Ende war, daß alles schlimmer wurde, wie es je zuvor im Lande gewesen.
Aber es kam eine andere Zeit, es kam das Jahr 1864, und aus dieser besseren siegreichen Zeit gilt es eine kleine Begebenheit zu erzählen, die auf keiner Geschichtstafel eingetragen wurde und es dennoch verdient, festgehalten zu werden, weil sie im kleinen wiederspiegelt, wie Schleswig-Holstein und Preußen sich die Hände reichten – für ewige Zeiten.
Also, um mit dem Anfang zu beginnen – es war einmal ein kleines wildes Eichkätzchen, ein „Katteeker“, wie man im holsteinischen Lande sagt; das wohnte aber nicht bei seinen Eltern draußen im grünen Walde, sondern in einer altmodischen kleinen Stadt, hatte auch keinen buschigen roten Schwanz, sondern zwei dicke kohlschwarze Zöpfe, die es lustig hinter sich her fliegen ließ, wenn es durch den Garten trabte. Daß ich’s nur gestehe: unser Katteeker war ein hübscher kleiner Backfisch mit den lustigsten schwarzen Schelmenaugen, die genau so verschmitzt blicken konnten wie die seines kleinen Namensvetters draußen im Walde.
Zur Zeit, da unsere Geschichte spielt, war das Katteeker zur Erziehung und Verfeinerung von seinen hartherzigen Eltern „ausgethan“ worden und fristete nun sein junges Leben in einem hübschen epheuumsponnenen Hause, bei Onkel und Tante Genthin, in der Gesellschaft zweier kleinen Basen und eines winzigen Vetters, der aber noch ganz ungefährlich war. Das heißt, wenn er schlief. Denn zu anderen Zeiten konnte einem manchmal wohl Hören und Sehen vergehen, wenn der musikalisch veranlagte junge Mann so recht aus vollem Herzen seine Jubelouverture – eigene Komposition! – anstimmte.
[528] Da sagen die Leute nun immer: „Holsatia non cantat“ – „Holstein singt nicht“, aber wer Fränzchen Genthin nur ein einzigesmal singen hörte, mußte sich schnell genug zu der Ansicht bekehren: Holstein kann dat doch!
Im Augenblick freilich herrschte tiefe Stille im ganzen Hause. Onkel Genthin war verreist, war mit den anderen Männern der schleswig-holsteinischen Abordnung nach Frankfurt gegangen, dem Bundestage die Wünsche des schwerbedrängten Landes vorzutragen. Die beiden kleinen Basen waren mit ihren Weihnachtspuppen in Kaffeegesellschaft; der hoffnungsvolle Erbprinz und Hauskomponist ruhte auf seinen Lorbeeren und schlief den Schlaf des Gerechten. Und Tante Hedwig – ach ja, die Tante!
Das Katteeker seufzte gar bitterlich, als es an diese Tante dachte, die in ihres Mannes Abwesenheit auf so furchtbare Irrwege geraten war. Und nicht allein das! Sie selber, Marie Kattein, genannt Katteeker, sie selber stand im Begriff, in die Fußstapfen dieser Tante zu treten!
In dieser Minute zwar stieg sie nur in den großen Holzpantoffeln der Köchin durch den festgefrorenen Schnee und schnitt mit viel Seufzen und heimlichen Gewissensbissen ganze Hände voll Grün von den Buchseinfassungen und den immergrünen Sträuchern ihres pflegeelterlichen Gartens ab, obgleich ein unbefangener Zuschauer durchaus nichts Böses oder Verbotenes an diesem Thun entdeckt haben würde. Höchstens hätte er denken können, das Katteeker wird sich einen gesegneten Schnupfen holen! Dennoch seufzte das Katteeker einmal ums andere. Endlich war der große Korb bis zum Rande gefüllt; das halberfrorene Mädchen zog sein dickes Tuch fester um die schmächtigen Schultern, denn es war ein bitterkalter Januartag, und begab sich auf den Rückweg, langsam und nachdenklich – erstlich, weil man in Stines schweren Holzpantoffeln überhaupt nicht schnell vorwärts kommen konnte, und zweitens, weil sie sich in einem tiefen Konflikt befand, wie siebzehnjährige Mädchen ihn zum Glück nicht oft durchkämpfen müssen. Nämlich in einem Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und der Liebe zu ...
„Aha, schaut’s da heraus?“ wird nun manch einer sagen. „Die alte Geschichte! Das kennen wir, haben es schon oft erlebt!“ Aber diesmal kommt’s doch anders, denn es handelt sich bei dieser Liebe um gar keinen Herrn, sondern um eine Dame und zwar um Katteekers angebetete Tante.
Patriotismus und Liebe miteinander im Zweikampf, und der Schauplatz ein siebzehnjähriges Mädchenherz – wie sollte das enden?
Frau Hedwig Genthin, die der jungen Nichte so große Sorge machte, saß indessen mit leidlicher Gemütsruhe in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Korb mit Tannenzweigen und allerhand Wintergrün, aus dem sie unzählige kleine Sträußchen wand, um sie dann mit schmalem schwarz-weißen Seidenbande zu schmücken. Sie war noch jung, mit dunklem Haar, dunklen Augen und einem ernsthaften Zug um den feingeschnittenen Mund. Das einfache Hauskleid in jener Mode der sechziger Jahre, die von dem jetzigen Geschlecht als geschmacklos belächelt wird, mit dem schmalen schneeweißen Leinwandstreifen um Hals und Hände, hob die eigenartige, fast südliche Schönheit der jungen Frau lebhaft hervor. Mit halber Stimme summte sie bei ihrer Arbeit einen Vers des alten Preußenliedes vor sich hin, unterbrach sich aber, als sie die Thür des Nebenzimmers gehen hörte, und rief hinüber: „Sind die Kleider geplättet, Christine?“
„Ja,“ kam es grollend zurück, „plätt’ sünd se. Awer wat schüllt[1] de oll Lütten doch mit de witten Kledaschen nu in Winter?“
Die alte Köchin breitete die Kinderkleider behutsam auf dem Sofa aus und blickte ihre Herrin vorwurfsvoll an. Die ließ sich indes nicht stören; nur ein Lächeln flog über das dunkle Gesicht, und begütigend sagte sie in etwas fremd klingender Mundart. „Wir zieh’n halt die Kinder recht warm darunter an, Christine. Es ist ja nur für ein Viertelstündchen!“ Dann, sich besinnend, fügte sie hinzu. „Es fehlen noch ein paar Knöpfe an dem einen Kleide; bring’ es zu Jette hinüber – sie soll auch die Schleifen festnähen!“
Kopfschüttelnd und immer noch leise vor sich hinbrummend, trat die Köchin die Reise nach der Kinderstube an, wo „Neihersch“, die „Näherin“, wie das alte Mädchen im ganzen Ort genannt wurde, beim letzten Tagesschein am Fenster saß und emsig stichelte.
Christine richtete ihren Auftrag aus, blieb dann mit untergestemmten Armen neben der kleinen Verwachsenen stehen und entschloß sich endlich zu der schwerwiegenden Frage. „Neihersch – de Preuß’, is dat ’n Fründ oder ’n Fiend?“
„’n Fiend!“ antwortete die kleine Person mit Nachdruck, ohne sich nur eine Sekunde lang zu besinnen. Dabei bohrte sie ihre Nadel so heftig in den zierlichen Perlmutterknopf hinein, als hätte sie den Landesfeind in eigener Person vor sich.
„Un de Fru will em bewillkam’n!“ rief die Köchin in tiefer Entrüstung.
„Neihersch“ nickte und arbeitete eifrig weiter.
„Weet ik. Weet ik allens,“ sprach sie überlegen. „De Herr is mit de grote Deputatschon nah’n Bunnesdag un will de Lüd dar dat bedüden, dat wi hier keen Preußenvulk hebbn wüllt. De freten uns doch man schier arm ...“
„Ja,“ unterbrach Stine hier den politischen Vortrag der Kleinen – „un ’t is so allens all so düer!“
„Neihersch“ biß einen neuen Faden ab, fädelte ihn ein und sagte ärgerlich. „Dar kümmt dat hier nich up an, Stine! Dar reden wi nu nich vun. Ik segg man: de Herr is weg un will Hülp holen gegen de Preußens, un wat de Fru is, de ward sik ünnerdes ’n preuß’sche Fahn neih’n, swart un witt un söß[2] Ehlen lang, vun den besten witten Schirting – vun den swarten Orleang noch ganz to swiegen! – un ward en ganzen Scheepel[3] vull lütte Buketters maken ...“
„Un de oll Lütten de witten Kleeder antrecken – bi düsse Küll[4], Neihersch!“ schob die Köchin grollend ein.
„Ja, Stine. Se hebb je ümmer recht, lütt Stine!“ erwiderte die kleine Verwachsene mit einer gewissen gutmütigen Ironie, die man ihr kaum zugetraut hätte. Sie hielt mit ihrer Arbeit inne und fuhr nachdenklich fort. „Man up een Ort kann ik ehr dat nich verdenken! De Preußens sünd nu doch eenmal ehr Landslüd, un in teihn[5] Johren hett se keen vun ehr to sehn kregen. Kiek, wenn unsereen dat so güng, lütt Stine! Ik will man segg’n, wenn wi buten[6] in’t preuß’sche Lann un unner frömde Lüd weer’n, un wenn denn weck vun unse sleswig-holsteinsche Jungs kamen schüllt – wat, lütt Stine, schüllt wi denn nich ok wul en blag–rod–witte[7] Fahn neih’n un Kräns’ winnen un all so wat?“
Christine blickte in grenzenlosem Staunen auf das alte Mädchen, deren eingefallene Wangen brannten, deren kluge dunkle Augen in jugendlichem Feuer leuchteten. „Herre Jesus, Neihersch! Wat künnt Se doch eenmal klok[8] snaken – jüs as’n Paster!“ rief sie in ehrlicher Bewunderung.
„Ne, dat lat man, Stine!“ wehrte Jette bescheiden ab, hielt das weiße Kleidchen auf Armeslänge von sich und prüfte, ob die Schleifen auch gerade säßen. Sie schien die Unterredung für beendet zu halten, denn sie nickte der Köchin zu und sagte mit Nachdruck: „Wat ik man noch seggn wull, Stine. Wenn de Fru dat deiht, so ward dat doch wul sien Richtigkeit hebb’n un ward nix Unrechtes nich wesen. Un denn geiht dat je ok keen wat an – nich, lütt Stine?“
„Je, dat verstah ik denn wul nich so,“ meinte Stine; jedoch den andern Wink verstand sie und zog sich mit ihrem Groll gegen die Hausfrau in ihre Küche zurück, aber noch im Hinausgehen murmelte sie. „Blot mit de witten Kledaschen – un denn bi düsse Küll!“
Und abermals knarrte drüben neben dem Wohnzimmer eine Thür, und die junge Frau, in der Meinung, daß Stine zurückkäme, fragte. „Wo ist denn Fräulein Marie?“
„Hier ist sie in höchsteigener Person – und verleugnet all ihre Vaterlandsliebe, um ihrer angebeteten Tante den Willen zu thun!“ rief eine pathetische junge Stimme. Unter der Thür stand das Katteeker, in einem leuchtend rot- und blaugestreiften Kleid und einer großen weißen Schürze, denn Fräulein Marie Kattein kleidete sich mit Vorliebe in die schleswig-holsteinischen Landesfarben. Sie schleppte ihren schweren Korb voll Grünkram herbei und setzte ihn mit einem tiefen Seufzer zu den Füßen der Tante nieder.
„So – nun kann’s losgehen! Tante, wenn ich an Papa denke und an den Herzog und an all das andere, kommt es mir ordentlich schlecht vor, daß ich Dir helfe!“ sprudelte sie atemlos hervor und rieb die halberstarrten Finger.
Ein Schatten flog über das Gesicht der jungen Frau, aber sie antwortete nichts, stand schweigend auf und holte eine kleine braune Kanne aus der Ofenröhre.
„So!“ sagte sie dann freundlich, während sie Tassen und Teller zurechtstellte, wärme Dich erst einmal ordentlich, Kind!“
[530] Katteeker ließ es sich schmecken, und während ihre kleinen weißen Zähne herzhaft in den Kuchen bissen, trotz ihres großen patriotischen Kummers, sagte die Tante nachdenklich: „Ich höre, daß wir nächster Tage schon Einquartierung bekommen, Mieze. Da wirst Du wohl Dein Zimmer hergeben und so lange zu mir übersiedeln müssen.“
Marie schlug die Hände zusammen. „Ich soll ausquartiert werden? Tante, das ist doch nicht Dein Ernst! Was soll denn aus dem Kanarienvogel werden, aus dem Buchfinken, aus den Fröschen eins, zwei und drei, aus ...“
Frau Genthin wehrte mit beiden Händen ab. „Um Gotteswillen, Mädel, hör’ auf mit Deinem Unsinn!“
Aber Marie schenkte ihr nichts.
„Aus dem Geiste des seligen Kardinals, den Doktor Karstens mir mitbringen wollte und der unterwegs starb, aus den ausgestopften Vögeln und aus dem Altare meines Herzens?“ rief sie kläglich. Besagter „Altar“ war ein kleines braunes Kästchen mit allerlei verblaßtem Krimskrams, mit Stammbuchblättern, welken Blumen und dergleichen, womit das Katteeker einen großen Kultus trieb.
Tante Hedwig lachte. „Den Altar könntest Du vielleicht so lange an den Nagel hängen, das würde ich sogar sehr ratsam finden,“ bemerkte sie, scheinbar harmlos auf den Scherz eingehend, aber doch mit einer gewissen Betonung.
Katteeker warf kaum merklich den Kopf zurück. „O, das hat keine Gefahr,“ sagte sie hastig. „Die Preußen ...“
Sie unterbrach sich, denn wieder verdunkelte ein Schatten die klare Stirn der jungen Frau.
„Verzeih’, liebste Tante! Ich will Dir ja auch furchtbar fleißig helfen, aus lauter Liebe zu Dir!“
Und mit Eifer machten sich Tante und Nichte an das Sträußchenbinden. Ihre Gedanken mochten wohl verschiedene Wege wandern – tiefe Stille herrschte, nur ab und zu warf Marie einen forschenden Blick auf das heiße Antlitz der jungen Frau. Plötzlich sprang sie auf und lief nach ihrem Nähkorb.
„Ich hab’ noch ein Endchen blau–rot–weißen Bandes,“ rief sie und schon befestigte sie es an einem besonders hübsch geratenen Sträußchen. „Tante Hedwig, wenn ich dieses Epheusträußchen jemals wiedersehe, werde ich es für einen Wink des Schicksals halten!“
Wie eine Seherin stand sie vor ihrer Tante, das Sträußchen hoch in der Hand haltend.
„Nimm einstweilen den Wink von Deiner Tante, die Sträußchen nicht zu groß zu machen, sonst reichen wir nicht,“ lautete die trockene Antwort.
Spät am Abend, als alle Vorbereitungen getroffen und mit Mariens Hilfe der letzte Nagel in die „Preußenfahne“ eingeschlagen war, ging Frau Genthin noch einmal mit sich zu Rate, in tiefem Sinnen saß sie allein in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß gefaltet. Leise lösten sich ihr die Worte von den Lippen. „Lieber Gott, es ist ja sicherlich nichts Böses dabei! Ich freue mich so grenzenlos, wieder preußische Soldaten zu sehen, Landsleute, die heimatliche Musik wieder zu hören, die ich fast elf lange lange Jahre nicht mehr gehört! Und wenn Johannes es wüßte, er würde nicht böse sein, würde es begreifen, daß ich meine Landsleute begrüßen muß, hier im fremden Lande, wo sie nichts finden als verschlossene Thüren und Haß und Mißtrauen. Nein, nein, es kann nichts Unrechtes sein!“ Entschlossen erhob sie sich und begab sich mit ruhigem Gewissen und erwartungsvollem Herzen zur Ruhe. Aber schlafen konnte sie nicht, die Freude hielt sie wach. –
Der wichtige Tag brach an.
Rauhreif auf allen Hecken und Bäumen, welke Blätter und dürre Zweige davon umsponnen, daß sie leuchteten und flimmerten wie eitel Silber. Darüber spannte sich kalt und klar der nordische Winterhimmel, so tiefblau, so dunkel, wie die Maler ihn über der Adria zu malen pflegen. Gleich einem Dornröschenschloß in verzauberter Pracht stand das epheuumrankte Haus da – einsam, fast das letzte im ganzen Ort, jedes Epheublatt, jedes Zweiglein war versilbert und glänzte in der klaren Wintersonne. Auf dem schmalen steinernen Balkon zwischen dem bereiften Blattwerk lugten ein paar rosige Kindergesichter hervor und schauten erwartungsvoll die lange Straße hinunter. Frau Genthin stand in ihrem schwarzen Seidenkleide neben den kleinen Mädchen, eine schlanke vornehme Erscheinung, und wies sie an, wie sie die Sträußchen werfen sollten, wenn die Truppen vorüberziehen würden.
An der Balkonthür lehnte Marie als müßige Zuschauerin, die Arme in die Seiten gestemmt, und betrachtete sich die Scene. In den schwarzen Augen blitzte der Schalk auf.
„Tante Hedwig, wenn Onkel Genthin dies doch bloß ’mal mit anschauen kbnnte!“ rief sie lebhaft. „Er schilt vielleicht gerade jetzt in Frankfurt auf die Preußen, die uns damals so schändlich im Stich gelassen haben. Was der sich wohl verwundern würde, wenn er Dich und die kleinen Gören hier so sehen könnte, wie Ihr alle ganz schwarz und weiß und preußisch auf dem Balkon steht und die Preußen mit Buchs bewerfen wollt! Ob Onkel Johannes das nicht furchtbar komisch finden würde?“
Katteeker war keineswegs bösartig angelegt; sie gehorchte nur, unbedacht und thöricht, wie sie war, dem Antrieb des Augenblicks, der ihr diese Gedanken förmlich aufdrängte. Frau Hedwig zuckte zusammen, als hätte ein Schlag sie getroffen. Sie fühlte das laute stürmische Klopfen ihres Herzens bis an den Hals herauf.
„Jetzt laß mich in Ruh’, Marie!“ sagte sie nervös und hüllte die Kinder fester in die warmen Tücher. „Und wenn Du dies abscheuliche bunte Kleid nicht ablegen willst, so thu’ mir die Liebe und zieh’ Dich wenigstens etwas vom Balkon zurück!“
„Nein, Tante Hedwig, das kannst Du von mir nicht verlangen!“ erwiderte das Katteeker gekränkt. „Ich habe mein Gefühl so wie so schon Dir zu Liebe schrecklich verleugnet. Nein, meine blau–weiß–roten Landesfarben, die trage ich bis zu meiner Todesstunde! Nur über meine Leiche geht der Weg nach Küßnacht, Herr!“ deklamierte sie mit drolligem Pathos und verschwand von der Bildfläche. Gleich darauf tauchte ihr Schelmengesicht droben am Giebelfenster auf, wo sie leise ein Fähnchen von blau–rot–weißem Seidenpapier, ein Wunderwerk nächtlicher Klebekunst, hinaushängte und sich dahinter aufstellte, mit klopfendem Herzen und glänzenden Augen der Preußen wartend.
Und sie kamen.
Die Truppen hielten ihren Durchzug durch die kleine Stadt. Totenstille rings umher. Thüren und Fenster geschlossen, als sei das sonst so betriebsame lustige Städtchen eine aus Schutt und Moder ausgegrabene Totenstadt. Keine Seele ließ sich erblicken, selbst das kleine Volk der Straße war wie von der Erde verschlungen. Fürwahr, ein trauriger Einzug für diese braven Leute, die Weib und Kind und Heimat verließen und gen Norden eilten, um den stammverwandten deutschen Brüdern beizustehen! Ein trauriger Einzug! Kein frisches fröhliches Marschlied – nur der dumpfe Schall der Schritte, das Stampfen der Pferde, das Dröhnen der Räder auf dem hartgefrorenen Boden. Stumm, enttäuscht und müde, hungrig und durchfroren, so zogen die Soldaten durch die ganze Stadt, die lange lange Straße hinab, und bittere Gedanken stiegen wohl in manchem Herzen auf.
Schon lichteten sich die Häuserreihen, vereinzelt, wie Vorposten draußen im Felde, standen die letzten Wohnungen, dahinter zog sich in endloser Linie zwischen beschneiten Hecken die Landstraße hin – und keine Hand hatte sich den Helfern in der Not entgegengestreckt, kein Auge mit freundlichem Blick sie begrüßt, kein Labetrunk sie erquickt! Wie anders hatte manch einer sich diesen Einmarsch geträumt, als einen Triumphzug durch das unglückliche mißhandelte Land, das seinen Erlösern von Schmach und Knechtschaft aus vollem Herzen zujauchzen würde!
„Da soll man noch Lust haben, Blut und Leben für diese schleswig-holsteinischen Querköpfe einzusetzen!“ sagte ein junger Offizier finster zu seinen Kameraden, und ähnlich sprachen oder dachten sie alle.
Nur einer der Offiziere, ein hoher stattlicher Mann, achtete nicht auf die halblaut geflüsterten Bemerkungen um sich her. Weit voraus flog sein Adlerblick in weite Ferne. Schaute er wohl mit Seheraugen die glorreichen Schlachten voraus, in denen das verhaßte Preußenvolk seine verpfändete Ehre so herrlich einlösen würde? Schrieb die Hand, die jetzt so ruhig den stolzen Rappen zügelte, schrieb sie im Geiste schon mit blutigen Zügen jene Worte, die das Andenken dieses Mannes im schleswig-holsteinischen Lande unsterblich machten, die Worte: „Los von Dänemark! Up ewig ungedeelt“? Wer weiß es, wer schaut in die Herzen derer, die auf einsamer Höhe stehen!
In diesem Augenblick machte Prinz Friedrich Karl – denn er war es – eine Bewegung der Ueberraschung – eine kurze Orientierung mit dem Krimstecher, ein schneller Befehl an seinen Adjutanten, und zündend, elektrisierend eilte es durch die Reihen, manch einer richtete sich strammer auf, manches Auge, das müde [531] und unlustig geblickt, bekam neuen Glanz. Brausend schallte es durch die totenstille Straße, jubelnd über die verschlossenen Häuser, die beschneiten Dächer hinaus zum blauen Himmelszelt:
„Heil Dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands,
Heil König Dir!“
Ergreifende Klänge, ergreifend für jedes deutsche Herz, wo immer sie gehört werden, erschütternd für den, der in der Fremde weilt und lange lange Jahre sich nach ihnen sehnte!
Wie leuchtende Goldfunken blitzte es auf; die Trompeten und die blanken Helmspitzen, die Bajonette – wie das glänzte und schimmerte in der hellen Wintersonne! Stolz im Winde blähte sich die altehrwürdige zerschossene Regimentsfahne und grüßte ihre junge Schwester, die bescheidene Preußenfahne am Balkon des epheuumrankten Hauses.
Und von dort oben zwischen den bereiften Epheublättern nickten lachende rosige Kindergesichter herunter, von da flog es aus kleinen weichen Kinderhänden hernieder auf die gewappnete Schar – grüne Sträußchen ohne Zahl, geschmückt mit den Preußenfarben.
Begierig fingen die Soldaten die Sträußchen auf, kein einziges durfte ihnen verloren gehen, sie steckten sie an die Helme, auf die Bajonette, sie nickten und winkten und grüßten hinauf zu den kleinen Spendern. Prinz Friedrich Karl selber senkte im Vorbeireiten den Degen vor der jungen Frau, die, mit dem kleinsten Kinde auf dem Arm, im Hintergrunde stand und ihren Sohn hoch emporhielt, damit auch er die Landsleute seiner Mutter sehen möchte.
Sie selber, die ihr heißes Gesicht hinter dem Lockenköpfchen des Kindes barg, sie sah nichts vor aufquellenden Thränen, hörte nichts als die feierlichen Klänge, die ihrem Herzen so teuer waren, die ihre Seele erschütterten; all ihr Denken und Fühlen war in diesem Augenblick nur ein einziges wortloses inbrünstiges Gebet.
Der scharfe Ostwind hatte Mariens papierene Fahne zerrissen und die bunten Fetzen in tollem Wirbel umhergestreut. Aber das schadete nichts! Sie hatte doch ihre Schuldigkeit gethan und den Preußen bewiesen, daß auch in diesem Hause ein herzogstreues Herz schlug! Mit glühenden Wangen stand das Katteeker am Giebelfenster. Nur eine einzige Minute lang hatte sie der Versuchung nicht widerstehen können, sich hinauszubeugen und neugierig hinabzuspähen. Und just in diesem Augenblick warfen drunten vom Balkon die Kinderhände ein buntgebändertes Sträußchen hinunter, blau–rot–weiße Farben flatterten in der Luft, in weitem Bogen flog es dahin, traf eine blitzende Helmspitze und blieb dort hängen. Ein Augenpaar schaute herauf zu ihr, eine Hand erhob sich wie zum Gruß –
Himmel, dieser Landesfeind würde doch nicht etwa glauben, daß sie ihm das Sträußchen zugeworfen habe? Sie zuckte hastig vom Fenster zurück, sah also auch nicht, wie der blondbärtige Offizier, derselbe, der vorhin über die holsteinischen Querköpfe gemurrt hatte, den Helm herunterriß, die Epheuzweige loslöste und an seine Brust steckte. Aber dann stand sie noch lange droben am Fenster, beugte sich hinaus und schaute den Fortziehenden nach, die wie eine endlose schwarze Linie zwischen den weißen Hecken dahinzogen. Ab und zu blitzte es noch auf von einer Helm- oder Bajonettspitze, ab und zu klang noch ein letzter verhallender Ton der Musik herüber, und dann war alles vorbei und das Städtchen lag wie zuvor einsam, verschneit und lautlos im kalten Glanze der Wintersonne.
Wie war das alles doch so rasch vorübergegangen und entschwunden! Wie eine bunte märchenhafte Vision erschien es dem Katteeker. Vorhin, als die Preußen ihre Nationalhymne anstimmten, da war ihr ganz wunderlich zu Mut geworden, fast so feierlich wie in der Kirche. Atemlos hatte sie gelauscht und unwillkürlich die Hände falten müssen und dabei gedacht: ob sie wohl alle, die hier so frisch und gesund vorübermarschieren, auch ebenso wiederkehren werden, oder ob mancher von ihnen sein junges Leben lassen muß? Und ob ihre großen Brüder wohl auch eines Tages hier so vorüberkommen würden, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel wie diese anderen? Ja, ob sie überhaupt wußten, daß hier wieder Krieg werden sollte, ihr Vater und sie alle, alle, die von dänischer Willkür in die Verbannung getrieben worden waren, ins fremde Land?
Und da war ihr plötzlich wieder eingefallen, was sie in der letzten Stunde fast vergessen hatte, daß „diese Preußen“ doch eigentlich all das bittere Elend verschuldet hätten, das ihre Eltern traf und das den ersten Schatten in ihre fröhliche Kinderzeit warf. Was wußte solch ein kleines thörichtes Katteeker auch von der Diplomatie, die ihre unsichtbaren Fäden hin und her webt, bis das Netz so fein und dicht geworden, daß sich die Menschheit drin verstrickt? Für sie war alles eins – der Preuße, der hier eben mit Sang und Klang vorüberzog, und jener andere, der ihrem Vater dereinst die Waffen der Befreiung aus den Händen gerungen – einer so unzuverlässig und treulos wie der andere!
Wie finster die schwarzen Augen blicken konnten! Der Schatten der Kindheit stieg darin auf und verdunkelte selbst den Sonnenglanz dieses hellen Tages. Sie ballte ihre kleinen Hände und starrte gedankenverloren auf die roten und blauen Papierfetzen drunten im Schnee, die letzten Reste ihrer Fahne. Und endlich rang sich ein schwerer Seufzer über die roten Lippen. Diese Preußen! Was brachten sie einem doch für schrecklich ernsthafte traurige Gedanken! Katteeker schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Zöpfe und die schwarzen Gedanken flogen, zupfte ihre Schürze zurecht und lief die Treppe hinunter, um zu sehen, wie der Tante und den Kindern die Empfangsfeierlichkeiten bekommen waren.
Kaum eine Stunde später kamen ganz unerwartet die Quartiermacher. Es hieß, eine Stafette hätte die Truppen, die vorhin durchgezogen waren, auf halbem Weg erreicht mit dem Befehl, ein Teil der Mannschaften müsse zurück, da in der Nachbarstadt schon alles überfüllt sei mit Sachsen und Hannoveranern.
[542] Im Genthinschen Hause galt es, mit fliegender Eile die Zimmer zum Empfang der preußischen Einquartierung zu rüsten.
Mitten in dem Wirrwarr von umhergestellten Betten und Möbeln wurde Frau Hedwig der Besuch ihres Hausarztes gemeldet.
In einiger Aufregung betrat sie das Wohnzimmer, wußte sie doch, daß man jetzt im Städtchen über sie, die „Preußin“, wegen ihres Vorgehens zu Gericht saß, daß man das Urteil vielleicht schon gesprochen hatte.
Der gute alte Herr, der ihr schon über so manche schwere Stunde klug und liebevoll hinweggeholfen, stand mitten im Zimmer. Die dargereichte Hand übersah er, den angebotenen Stuhl lehnte er mit kurzem Kopfschütteln ab.
„Das hätte ich denn doch nicht von Ihnen geglaubt, Madame!“ begann er heftig und blickte die junge Frau unter seinen buschigen weißen Augenbrauen hervor finster an. „Wenn ich’s mit der ersten besten zu thun hätte, so würde ich sagen: laß sie, sie hat’s in ihrer Dummheit gethan! Aber Sie, eine kluge taktvolle Frau, Sie geraten auf solche Abwege, lassen sich auf solche Hansbunkenstreiche ein! Was? Ihr Mann steht als Vertreter unserer Bürgerschaft in Frankfurt, um den Bund anzueifern, daß er für unsere gute und gerechte Sache eintreten, unsern rechtmäßigen Herrscher zur Anerkennung bringen soll – nicht aber, um die Preußen über unser Recht entscheiden zu lassen! Die brauchen wir hier nicht und wollen wir nicht! Denn, Madame, es bleibt unvergessen, was sie uns angethan haben. Und Sie, die Frau dieses Mannes, unseres Abgesandten, Sie hängen hier in unserer herzogstreuen Stadt eine preußische Fahne heraus, Sie machen Kränze und Sträuße und Gott weiß was für Teufeleien und bereiten den verd .... Preußen einen feierlichen Empfang in dem Lande, wo man sie nicht verlangt hat, wo sie von Gott und Rechtswegen nichts mehr zu suchen haben. Da soll doch ...!“
Hedwig war bis in die Lippen erblaßt; aber sie schaute dem [543] zürnenden alten Mann tapfer in die feindseligen Augen; ihre schlanke Gestalt richtete sich höher auf.
„Sie beleidigen mich mit jedem Wort, Herr Doktor,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „doch darauf kommt es jetzt nicht an. Ich bin nur eine Frau und verstehe nicht viel von Politik; aber das möchte ich Sie doch fragen: wie hat man denn hier zu Lande die Sachsen und Hannoveraner empfangen? Warum denn nur für Preußen den Haß, wenn man den anderen doch dankbar entgegenjubelt? Kommen die Preußen nicht gerade so gut als Schleswig-Holsteins Befreier wie die anderen? Und ist ihr Leben vielleicht weniger wert als das der anderen?“
„Das verstehen Sie nicht, Madame!“ unterbrach er sie barsch. „Sie sind eben keine Schleswig-Holsteinerin – leider Gottes! Sie haben die Zeit von 1848 bis 1852 nicht miterlebt, Sie wissen nicht, wie man uns in jenen Jahren behandelt hat! All unser Können, unser Gut, Blut und Leben hatten wir eingesetzt für unsere heilige Sache. Ganz Deutschland jubelte uns zu und stand auf unserer Seite. Die Preußen kamen und brachten uns die erste Hilfe, und all unser Vertrauen, all unser Hoffen hatten wir auf sie gebaut! Auf den Sand gebaut! Was that Preußen, Madame? Was that es, frage ich Sie? Kaum zwei Jahre später schloß es einen elenden Frieden mit Dänemark – ohne unser Wissen und gegen unsern Willen! Schmachvoll überlieferte es uns dem alten Todfeinde zu neuer Knechtschaft, und diese Knechtschaft war furchtbarer als alles, was wir bisher erlebt! Unser Herzog und die Besten des Landes wurden verjagt, und nach und nach ward jegliches Recht uns genommen. Wie viele von uns, die für Preußens Hilfe mit Rat und That eingetreten waren, kamen damals in die schwerste Bedrängnis! Glauben Sie, daß sich das vergißt?“ fragte der alte Mann mit finsterem Ingrimm.
Die Frau hatte schweigend zugehört. Auch ihr war die Geschichte dieses unglücklichen Landes, dem sie seit elf Jahren angehörte, nicht fremd geblieben. Aber sie konnte die alte Heimat, konnte den Standpunkt ihrer Landsleute nicht verleugnen.
„Preußen wurde durch Rußland und England beeinflußt, wie Sie wohl wissen, Herr Doktor. Es konnte nicht anders handeln,“ sagte sie mit wachsender Wärme. „Und das war die Politik der Staatsmänner. Was aber wußte das Volk davon? Was können die braven Soldaten dafür, die heute wie damals für Schleswig-Holstein in den blutigen Kampf ziehen? Diese zu beschuldigen, diesen zu grollen, ist ungerecht!“
„Ungerecht?“ fragte er höhnisch zurück. „Sollen wir vielleicht nochmals unsere Zukunft von Preußen erwarten?. Sollen wir da glauben und vertrauen, wo wir so schmählich getäuscht wurden? Aber Sie sind eine Frau, und mit Frauen rechte ich nicht. Und um das, wovon Sie hier reden, handelt es sich auch gar nicht! Nicht um Preußen, sondern um Sie. Mir scheint, eine Frau soll auf das Glaubensbekenntnis ihres Mannes schwören – in der Religion wie in der Politik. Oder gilt etwa bei Ihnen zu Lande nicht das Wort: ‚Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott‘? Sollten Mann und Frau nicht eins sein, eine Seele, ein Hassen und ein Lieben? Und nennt Ihr in Preußen das ,eins sein‘, wenn der Mann treu zu seinem angestammten Herrscherhaus steht, wenn er die Interessen des Landes nach Recht und Glauben in der Ferne vertritt – und wenn die Frau unterdessen in der Heimat hinter seinem Rücken den verhaßten Feinden Kränze an den Hals wirft? Ich frage, nennt man das Treue bei Euch in Preußen?“
Totenstille trat ein. Dann entgegnete Hedwig, nach Ruhe ringend, mit seltsam tief klingender Stimme: „Wenn Sie so fortfahren, Doktor Jürgensen, werde ich Sie allein lassen müssen! Sie häufen eine Beleidigung auf die andere, und nur die Achtung und Dankbarkeit für den alten Hausfreund und Hausarzt verbieten mir, Ihnen die gebührende Antwort zu geben.“
Vor innerer Aufregung zitternd, totenblaß, aber furchtlos und stolz stand sie vor dem alten heftigen Mann, und diese einfache und doch so hoheitsvolle Frauenwürde entwaffnete den Leidenschaftlichen.
„Ich sehe ein, daß ich zu weit gegangen bin, Frau Genthin,“ sagte er einlenkend und ließ sich erschöpft in einen Lehnstuhl sinken. „Man soll keinen Menschen ungehört verdammen. Also reden Sie! Sagen Sie in Gottes Namen alles, was Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen haben!“
Hedwig blieb vor ihm stehen, die Hand auf die Tischplatte gestützt. „Sie irren, wenn Sie glauben, ach hätte es hinter meines Mannes Rücken gethan.“ Ihre Stimme klang kalt und beherrscht; allmählich aber, wie sie weiter sprach, machte sich der Sturm in ihrem Innern bemerkbar. „Ich habe ihm alles geschrieben, denn ich bin nicht die treulose, pflichtvergessene Frau, für die Sie mich halten – und Sie vor allen sollten mich doch besser kennen! Meine Handlungsweise mag thöricht und unverständig erscheinen, das geb’ ich zu, aber ich that nur, was mein Herz mir riet, was tausend andere Frauen, was Ihre eigene Frau auch gethan hätte, wäre sie an meiner Stelle gewesen! Sagen Sie doch selbst, Herr Doktor, wenn eine Frau jahrelang in einem Lande lebt, das seinen Sitten und Gebräuchen, fast auch seiner Sprache nach ein fremdes Land für sie ist, wenn sie in all dieser Zeit nie einen Landsmann sah, nie einen heimatlichen Klang hörte, und nun nach Jahren kommt für sie der Tag solchen Wiedersehens; ihre Landsleute ziehen ein, nicht als Feinde, sondern als Befreier, sie schaut die Fahne wieder, in der sie schon als Kind etwas Hohes, Heiliges sah, sie hört die teure Melodie der alten Königshymne, bei deren Klängen ihre Brüder, ihr Vater schon hinausgezogen sind . . .“
Sie brach ab; Thränen erstickten ihre Stimme.
Der alte Hausarzt hatte die Blicke zu Boden gesenkt und starrte nachdenklich auf das Teppichmuster, dann strich er mit der Hand über die Augen. „Frauenlogik!“ murmelte er kopfschüttelnd. „Da läuft das Herz allemal mit dem Verstande davon. Aber man muß Euch nehmen, wie Ihr seid!“ Er richtete sich stramm auf – die klugen Augen unter den buschigen Brauen schauten fast freundlich auf die Preußin. „Ich verstehe Sie, Frau Hedwig, fange an zu begreifen, was alles in einer richtigen preußischen Frauennatur stecken kann. Als Gattin Ihres Mannes haben Sie grundverkehrt gehandelt, aber vom menschlichen Standpunkt aus muß ich Ihnen beinahe recht geben. Wollte, Sie wären eine der Unserigen! Sie haben einen alten bärbeißigen Schleswig-Holsteiner dazu bekehrt, die preußischen Frauen zu respektieren – wenn er mit den Männern auch keine Freundschaft halten möchte. Der Glaube fehlt und das Vertrauen fehlt! Werden sie’s diesmal anders machen als anno dazumal?“
Er zuckte die Achseln und schwieg in finsterem Sinnen. Kein Laut, kein Leben im ganzen Zimmer, nur das einförmige Ticken der Uhr und das Tanzen der Sonnenstäubchen. Der Alte spann seinen schweren Gedankengang fort, endlich aber sagte er laut und ernst: „Von mir also soll Ihnen vergeben sein. Aber die andern! Kind, Kind, da kann ich Ihnen nicht helfen. Man führte den Stephanus hinaus und steinigte ihn. Selbst meine eigene gute Frau – das vergiebt sie Ihnen nicht!“
Er reichte ihr die Hand und drückte die ihrige fest und treu. „Gott befohlen, junge Frau! Halten Sie’s aus, halten Sie den Sturm aus! Die bösen Tage gehen vorüber wie die guten. Wer weiß, es kommt vielleicht eine andere Zeit – wir verstehen sie nur noch nicht!“
Damit schied er.
Und die Frau, die so stolz vor ihm gestanden, wartete nicht ab, bis die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte. Sie legte die Arme auf den Tisch und weinte, weinte – ihr war das Herz zum Sterben schwer.
Aber es war ihr keine Zeit vergönnt, sich ihrem Schmerze zu überlassen.
„Kann ich die gnädige Frau selber sprechen?“ fragte draußen eine laute jugendliche Männerstimme, die der Weinenden seltsam bekannt vorkam.
„Madam’, dar sünd se all!“ mit diesem Schreckensruf kam Stine zur Thür hereingestürzt. „Un wat de Oebberst vun ehr is, de will abs’lut uns’ Madam’ sülwsten spreken!“
Hedwig trocknete ihre Augen – da stand auch schon ihr Besuch auf der Schwelle.
„Hedel! Gott im Himmel, hab’ ich mich gefreut, als ich hörte, daß mein Quartierzettel auf Euern Namen lautete! Ein junger Mensch muß Glück haben, sonderlich im Krieg und in der Liebe, nicht wahr, Kousinchen?“
Er stand vor ihr und streckte ihr beide Hände entgegen – ein großer breitschulteriger Offizier, das offene, von der Kälte gerötete Gesicht von blondem Haar und Bart umgeben.
Frau Hedwig starrte ihn an, als sähe sie einen Geist; willenlos ließ sie’s geschehen, daß er ihre Hände nahm und sie küßte. Dann erst konnte sie reden, ward sie wieder Herr ihres aufgeregten Selbst. Ein Freudenschimmer flog über ihr junges Gesicht und färbte die bleichen Wangen mit schöner heller Röte. „Du, Gerhard!“ rief sie und schaute zu ihm empor mit schwesterlichem Vertrauen. „Wie kommst Du hierher, in den Krieg? Und nun gerade zu uns?“
[546] Und dann siegte die hausfrauliche Fürsorge über jedes andere Gefühl. „Nun setze Dich nur erst und ruhe aus, Du wirst hungrig und müde sein.“
Sie eilte an die Thür und gab der alten Köchin draußen einen Befehl. Als sie zurückkam, trat sie dicht an ihren Gast heran, reichte ihm die schmale Hand, an der der goldene Trauring glänzte, und sagte herzlich. „Willkommen, Gerhard! Dich hat mir der liebe Gott geschickt. Mein Mann ist verreist, und mir bangte vor der fremden Einquartierung.“
„Fremde Einquartierung?“ wiederholte er enttäuscht. „Singst auch Du dasselbe Lied, Hedwig?“
„Nein, Gerhard! Gott weiß, wie ich mich über die Ankunft meiner Landsleute gefreut habe! Aber ich bin noch nicht ehrwürdig genug, Euch jungen Leuten Respekt einzuflößen, und nicht strenge genug, Euch in Rand und Band zu halten,“ erwiderte sie heiter. „Da schneit mir nun urplötzlich ein lieber halb vergessener Vetter . . .“
„Aber Hedel! Halb vergessen!“
Sie lächelte und drehte ihren Ring um den Finger. „Ja, ja, Vetter Gerhard! Solch ein schmaler goldener Reif läßt eine Frau allerlei vergessen, was außer dem Bereich von Mann, Haus und Kindern liegt – und so ist’s auch gut!“ sagte sie, immer mit derselben heiteren Ruhe und Sicherheit.
Er seufzte und betrachtete sie aufmerksam. Diese Frau, die er vor Jahren angebetet hatte, als er ein blutjunger Student war und sie ihre ersten Balltriumphe feierte, kam ihm jetzt nach so langer Zeit fast noch schöner vor denn damals, aber doch zugleich fremder, als weit über ihm stehend. Seine Blicke und seine Gedanken blieben unwillkürlich an dem schmalen Goldreif an ihrer Hand haften.
In diesem Augenblick ging die Thür auf, und drohend wie ein ausbrechendes Ungewitter trat die alte Köchin herein und brachte die befohlene Stärkung – Thee, Wein und kalte Küche. Jedes Stück ward mit einem finsteren Blick auf den Gast und mit jenem unheimlichen Nachdruck, der der Hausfrau die höchste Unzufriedenheit des dienstbaren Geistes ankündigt, auf die weiße Serviette niedergesetzt, die Frau Hedwig ausgebreitet hatte. Mit unverhohlenem Vergnügen betrachtete indes der Preuße die feindselige Miene dieses guten alten Küchendragoners; aber mit Stine war nicht zu spaßen – sie drehte ihm seelenruhig ihren breiten Rücken zu und ließ ihn ihren schönen rot- und grüngestreiften Rock und die verschlissenen Nähte ihrer schwarzen Sammetjacke bewundern, während sie kurz angebunden die Hausfrau fragte: „Schüllt de annern“ – mit einer bezeichnenden Kopf- und Handbewegung nach der Thür – „ok wat hebbn, Madam’?“
Was blieb Frau Genthin anderes übrig, als ihren Vetter sich selbst und seinem Hunger zu überlassen, geduldig dem alten Haustyrannen zu folgen, um auch draußen und für „de annern“ ihre hausfraulichen Pflichten zu erfüllen?
Als dies geschehen war, suchte sie noch rasch ihre Nichte auf. „Denk’ Dir, Marie,“ rief sie in der Freude ihres Herzens dem Katteeker schon von weitem zu, „der Lieutenant, vor dem mir so bangte, ist gar kein Fremder, sondern ein lieber alter Jugendfreund, mein Vetter Gerhard Wien aus Schlesien. Nun bin ich ruhig! Er wird wohl mehrere Tage hierbleiben; vielleicht kommt inzwischen mein Mann auch wieder, und dann sind wir aus aller Not!“
Doch Marie that, als ginge dieser tröstliche Bericht sie nicht im mindesten an. Sie war just damit beschäftigt, ihren zwei- und vierbeinigen Lieblingen einen anderen Aufenthaltsort anzuweisen, und rieb mit großem Eifer an dem Glashafen herum, in dem ihre drei Laubfrösche saßen.
„Sieh’ mal, Tante,“ sagte sie ganz sachlich und unbefangen und zeigte auf zwei von den Wetterpropheten, die faul und behäbig oben auf der Leiter hockten, indes der dritte sich unten im Wasser verlustierte, „siehst Du, es ist doch eigentlich sehr vorteilhaft, wenn man drei Frösche hat. Da kann man sich hübsch nach der Majorität richten, wie Onkel Johannes immer sagt.“
Frau Genthin nahm ihr ruhig das Glas aus der Hand. „Jetzt laß einmal Deine Laubfrösche und denk’ an etwas anderes! Was meinst Du? Die drei gemeinen Soldaten können im Erdgeschoß untergebracht werden. Stine und das Kindermädchen nehmen wir herauf – das ist mir ohnehin lieber. Der Sergeant kommt in Dein Stübchen. Gerhard ins Balkonzimmer.“
„Thu’, was Dir gut dünkt, Tante,“ erwiderte das Backfischchen kühl. „Du weißt, diese Preußen sind meine Feinde, und für Feinde kann ich mich nun einmal grundsätzlich nicht interessieren.“
„Bitte, verschone mich mit Deinen Grillen und Grundsätzen!“ rief die geplagte Hausfrau ungeduldig. „Dazu ist jetzt wirklich keine Zeit! Hilf mir lieber bedenken, womit wir die Leute heute abend satt machen sollen. Die armen Menschen müssen doch bald ’was Warmes haben! Christine ist so eigensinnig und Doris so ungeschickt – Du bist meine einzige Hilfe, Kind!“
Das wirkte.
„Na, das ist denn eine andere Sache!“ sprach das Katteeker würdevoll, überließ Kanarienvogel, Buchfink und Laubfrösche, den Geist des seligen Kardinals und die ausgestopften Vogelbälge ihrem Schicksal und folgte der Tante in die Küche, wo es an diesem ereignisreichen Tage alle Hände voll zu thun gab.
Willig nahm sie dort einen Teil der häuslichen Sorgen auf ihre Schultern, und nach hartem Kampf ergab sich auch Christine in ihr Schicksal, „för dat oll Preußenvulk, de uns doch man schier arm freten“, zu kochen. So konnte Frau Hedwig denn ruhigen Herzens zu ihrem Gast zurückkehren. Sie schickte noch das Kindermädchen zur Aushilfe in die Küche hinunter und nahm die drei Kinder mit sich ins Wohnzimmer.
Als sie eintrat, mit ihrem Jüngsten auf dem Arm, während die beiden kleinen Mädchen ängstlich an ihren Rockfalten hingen, sprang der Vetter auf, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief. „Herrgott, wie ist mir denn! Ich hatte die Gedanken so voll von dem Wiedersehen mit Dir, daß ich bis jetzt noch gar nicht daran dachte! Das ist ja das Haus, das epheuumrankte, wo wir heute morgen so freundlich begrüßt worden sind!“
Er hob das kleinere Mädchen auf den Arm, rieb ihre weiche Kinderhand an seinem bärtigen Gesicht und sagte fast gerührt: „Das sind also Deine Händchen, kleine Maus, die den armen müden Soldaten die hübschen Sträußchen hinuntergeworfen haben? Und Du hast sie gebunden, Hedel, und hast die schwarzeweiße Fahne hinausgehängt, Du altes treues Preußenherz, Du! Das hätt’ ich mir denken können! Freilich, ich hab’ ja kaum gewußt, wie das ungastliche Nest heißt – es waren ihrer schon gar zu viele, die uns ebenso empfingen, in den letzten Tagen! Und die Wahrheit zu sagen, Hedel, ich hatte auch fast vergessen, wohin Dich vor so und soviel Jahren der Herr Baumeister entführte. Aber wo ist denn . . .?“ Er blickte sich wie suchend im Zimmer um.
Doch die Hausfrau schien seine Frage überhört zu haben, und die Kinder nahmen ihn bald so völlig in Beschlag, daß er darüber alles andere vergaß. Für ein Weilchen wenigstens. Er war ein großer Kinderfreund, und diese jugendlichen Schleswig-Holsteinerinnen hatten noch durchaus keine Antipathien gegen den preußischen Lieutenant. Selbst der „Kronprinz“ duldete gnädig, daß der neue Onkel ihn auf den Arm nahm und ihn tanzen ließ – „noch viel höher wie Papa!“ riefen die Schwestern in aufrichtiger Bewunderung. Und Fränzchen benahm sich wunderbar liebenswürdig und widmete dem Gast keinen einzigen Ton seiner so gefürchteten Ouverture.
Während so für Frau Genthin und ihre junge Gesellschaft die Zeit aufs angenehmste verstrich, war Marie Kattein fleißig, sehr fleißig gewesen und hatte weit mehr gethan, als die Tante ihr aufgetragen.
Anfangs half sie der alten Köchin pflichtschuldigst beim Zubereiten der Beefsteaks, wobei Stine ihrem gerechten Grimm nun endlich Luft machen konnte. Mit aller Gewalt ihrer kräftigen roten Arme schlug sie auf dem unschuldigen Ochsenfleisch herum, und zwischendurch kam es ruckweise in dumpfem Groll heraus: „Dat oll Rackertüg[9]! – Möt ik nu um ehrentwillen ut mien Stuw herut, wo ik söben[10] Jahr in slapen hev! Mien Stuw, mien schöne Stuw! – Aewers töwt[11] man – ik hev Ju Arwten[12] in’t Bedd steeken, dar schüllt Ji wul söt[13] up slapen!“ lachte Stine ingrimmig auf. Nach einer Weile fuhr sie leiser und in geheimnisvollem Flüstertone fort: „Frölen, weeten’s, wat Duris seggt? Duris seggt, wenn Frölen uns vielleich een vun ehr Poggen[14] en beten gewen wull, denn künnt wie dat oll Diert Naetschelln ünner de Föt kliestern[15], un dat denn de ganze Nach dorin herümmer spellunken laten. Dar schüllt de Preußens sik wul aewer grugen[16].“
Katteeker horchte hoch auf. Ein prächtiger Gedanke! Aber nein! Es ging nicht, es ging wirklich nicht! Sie konnte sich doch unmöglich mit den beiden Dienstmädchen in eine Verschwörung einlassen, die Tante würde ja außer sich sein, wenn sie’s erführe. [547] Irgend etwas freilich mußte sie „diesen Preußen“ anthun, das stand fest. Aber was? Darüber grübelte sie ernstlich nach, während sie in ihrem Eifer immer mehr Pfeffer und Salz über die Beefsteaks streute.
„Na, lütt Katteeker?“ fragte Stine vertraulich.
Mariechen atmete hastig, die Versuchung war gar zu groß.
„O, Stine, ich möchte wohl,“ gestand sie ehrlich. „Aber nein, ich thu’ es nicht. Das paßt sich nicht für mich.“
„Na, denn nich!“ schrie Christine erbost und hieb von neuem auf das Fleisch los. „Mien Stuw – mien schöne Stuw!“
Das Jammern der alten guten Seele that dem Mädchen leid, und tröstend sagte sie: „Sei doch still, Stine, Du kriegst ja doch eine warme Stube wieder.“
„’n warme Stuw – wat frag ik dornah?“ war die verächtliche Antwort. „Mien Stuw will ik bihol’n, mien eegen, wo ik all söben Johr in slapen hev! Jn’n anner kann ’k aewerall nich in slapen!“
„Warum solltest Du darin nicht schlafen können, Stine! Du schläfst ja wie ein Bär,“ lachte Marie gutmütig. „Ich bin bloß bang, daß Du schnarchst, und dann könnten wir nicht schlafen.“
„Ik un snorken? Oha, Frölen, wo künnt Se mi wul so wat totrugen[17]? Ik hev all mien Lewsdag nich snorkt!“ rief Stine in gerechter Entrüstung.
„I, Stine, das kannst Du ja gar nicht wissen.“
„Nich weeten? Wul weet ik dat.“
„Woher denn?“ fragte Katteeker neugierig.
Christine legte den Fleischklopfer hin, beugte sich über den Tisch und flüsterte geheimnisvoll: „O – ik hev mi all mal sülwst beluert[18].“
Lachend lief das kleine Fräulein davon und überließ Küche, Christine und Beefsteaks ihrem Schicksal. Ihr war plötzlich etwas eingefallen, was wichtiger war.
Als Frau Genthin nach einiger Zeit auf den Flur herauskam, mußte sie gestehen, daß die kleine Patriotin wirklich das Menschenmögliche an Opposition geleistet hatte. Das Katteeker hatte nämlich ihre eigene Stubenthür und jene des Balkonzimmers mit blauer und roter Farbe verziert. Zum Unglück aber wollten die eigensinnigen Wasserfarben auf dem weißlackierten Holz durchaus nicht haften, und der Erfolg war daher in künstlerischer Beziehung recht kläglich ausgefallen. Mit der vaterländischen Dekorierung ihrer kleinen Menagerie hatte sie gleichfalls ihre liebe Not. „Schlau“, der kleine Pinscher, ließ sich freilich zum Besten des Vaterlandes geduldig mit einer breiten blau-rot-weißen Schärpe schmücken, bei dem Buchfinken und dem Kanarienvogel wurde die Sache aber schon schwieriger; doch schließlich hüpften auch diese beklagenswerten Geschöpfe mit patriotischen Halsbändern umher. Nur die Frösche 1, 2 und 3 widersetzten sich nachdrücklich der Anbringung irgendwelcher Hals- oder Leibbinden, so daß Marie den Versuch endlich als nutzlos aufgeben mußte.
Für sämtliches Getier hatte sich im ganzen Hause natürlich keine passendere Unterkunft finden lassen als die Balkonstube, wo der Lieutenant residieren sollte. Marie sann und sann, ob für die Laubfrösche denn gar keine Rolle in diesem Drama möglich zu machen wäre; aber nein, die dummen Kreaturen waren zu unpatriotisch und zu glitschig! Doch halt! Etwas gab es, was dem Preußen sein schreiendes Unrecht aufs deutlichste vor Augen führen konnte!
Das Katteeker lief in des Onkels Zimmer und kehrte nach wenigen Minuten mit einer schleswig-holsteinischen Geschichte zurück. Sie studierte lange darin und endlich fand sie, was sie brauchte. Die Geschichte endete mit dem Jahre 1852, und auf der letzten Seite war mit wenigen harten Worten die Lage der Dinge geschildert. Diese unglückliche letzte Seite wurde von den erbarmungslosen kleinen Fingern ohne weiteres herausgerissen und über das gläserne Gefängnis der Frösche gebunden.
„So, Gerhard Wien, da hast Du’s! Nun lies selbst, was die Preußen damals angerichtet haben!“ sagte Katteeker befriedigt und verhalf den bewußten Stellen mit ein Paar kräftigen Rotstiftstrichen zu noch größerer Deutlichkeit.
[560] Als Gerhard Wien der Nichte des Hauses bei Tisch vorgestellt wurde, streifte er mit einem lächelnden Blick das schreckliche rot und blaue Kleid, das er augenblicklich wieder erkannte. Doch erlaubte er sich nicht die leiseste Anspielung. Frau Genthin mochte ihn schon ein wenig über den Barometerstand belehrt haben. Ob auch die junge Schleswig-Holsteinerin in dem vom Himmel geschneiten „Onkel“ den Empfänger jenes Sträußchens erkannte, das vermochte Gerhard freilich nicht zu entscheiden. Fräulein Kattein besaß eine große Selbstbeherrschung. Kein Mensch, der sie kannte, würde in dieser wortkargen jungen Dame mit dem kalten hochmütigen Blick das ausgelassene Katteeker wiedererkannt haben. Selbst die schwarzen Zöpfe hingen ehrbar und gelangweilt über die Stuhllehne herunter, als lohne es nicht der Mühe, „diesem Preußen“ zu zeigen, wie schwer und glänzend sie seien, wie lustig sie zu wippen und tanzen vermochten, wieviel Uebermut und Lebenslust im Grunde doch in ihnen sich offenbaren könnte.
So vergingen einige Tage. Frau Genthin erfüllte mit der ihr eigenen anmutigen Würde und Freundlichkeit ihre Pflichten gegen jeden ihrer Gäste. Katteeker dagegen war feindselig und unnahbar für alle, ihre schwarzen Augen flammten zuweilen auf wie in Haß oder Zorn, wenn sie sah, wie die Kinder ihrem neuen Onkel mit Leib und Seele anhingen, wie heiter und freundlich die Tante mit dem jungen Offizier verkehrte, der ihrer eigenen kleinen Persönlichkeit anfangs mit höflicher Verwunderung, später in stummer Gelassenheit begegnete.
Mit Christine und deren Pflegebefohlenen stand es nicht besser. Da hatte denn die kluge Hausfrau genug zu thun, unerquickliche Scenen durch ein Scherzwort zu kürzen, heimliche Feindseligkeiten stillschweigend zu übersehen und einen offenen Haßausbruch mit weiblichem Takt zu verhindern.
Für die guten Leute im Städtchen war das epheuumrankte Haus mittlerweile ein Gegenstand höchster Neugier und zugleich des tiefsten Abscheues geworden. Wenn sie des alten Doktors drastisches Wort auch nicht gerade zur That machten und Frau Genthin hinausführten, sie zu steinigen, so thaten sie die „Fremde“ dafür desto kräftiger in Acht und Bann. Keine Seele ließ sich bei ihr blicken, und begegnete ihr auf der Straße eine der bekannten Damen, so wandte diese sicherlich den Kopf und betrachtete so angelegentlich die Messingteller des Barbierladens oder die appetitlichen Leberwürste in Meister Habermanns Schaufenster, als hätte sie in ihrem Leben noch nichts Interessanteres gesehen. Kurz und gut, diese Tage waren sowohl in als außer dem Hause recht unerquicklich für die junge Frau, umsomehr, da sie auch keine Nachricht von ihrem Mann besaß. Die anderen Einwohner von P. waren gut genug unterrichtet; einer oder der andere der Herren hatte je und je geschrieben und den Zurückgebliebenen Bericht erstattet; und all diese Briefe waren im Posthause vorgelesen und besprochen worden. Zu Frau Hedwig aber drang keine Kunde. Man zuckte die Achseln, wenn die Rede darauf kam. Wer hätte der verfemten „Preußin“ wohl die Nachricht von dem Mißerfolge der schleswig-holsteinischen Sache bringen wollen? Oder der „ungetreuen“ Frau die Grüße ihres „hintergangenen“ Gatten? Das that keiner, keiner von allen!
Fremder denn je stand Hedwig ihrer Umgebung gegenüber. Jene alten Vorurteile, die man ihr anfangs entgegengetragen und die das liebenswürdige, feine und heitere Wesen der jungen Frau zum Schweigen gebracht hatte, erwachten aufs neue. Ja, es gab Leute, welche behaupteten, an der ganzen Einquartierung, die sie wie eine widerwillige Last trugen, sei nur allein Frau Genthin schuld. „Denn wenn se nich wesen weer, so harrn[19] de Preußens dat doch wul insehn, dat wi nix vun ehn weeten wüllt un weern uns mit de Inquattierung vun’t Liew bleewen[20]! Dar hett keen anner schuld to as se – un wi wet ok wul, worüm dat se dat dahn hett ...“
Verständnisvolle Blicke und Winke ergänzten das Fehlende, und bald wanderte die schönste Klatschgeschichte von Haus zu Haus, und wenn sie auch nicht von jedem geglaubt wurde – wiedererzählt wurde sie sicher von jedem.
Unterdes saß die geschmähte Frau ruhig in ihrer Kinderstube an der Wiege des „Komponisten“ und gab sich Mühe, den aufgeregten kleinen Kerl in Schlaf zu singen. Aber es war eine undankbare Aufgabe, denn alle fünf Minuten unterbrach er die sanfte mütterliche Stimme mit seinen eigenen ohrzerreißenden Tönen.
In diesen anmutigen Wechselgesang von Mutter und Sohn stürmte eines Tages plötzlich das Katteeker hinein, warf sich vor ihrer Tante nieder und schluchzte zum Erbarmen.
„Mein Gott, was ist denn los?“ fragte diese erschreckt und hielt mit ihrer dreifachen Thätigkeit von Wiegen, Stricken und Singen inne, selbst der „Komponist“ verstummte in der richtigen Erkenntnis, daß das Katteeker ihm „über“ sei.
Statt jeder Antwort schlug Marie die Zipfel ihrer Schürze auseinander – darin lag der geliebte „Schlau“, hatte alle Viere von sich gestreckt und that, als wenn er tot wäre.
„Ist er tot?“ rief Frau Genthin bestürzt und versuchte, den Kopf des Tieres aufzurichten. Da zuckte der Hund zusammen, schaute mit traurigen Augen auf und begann leise zu winseln.
„Der alte scheußliche Schlächterköter hat ihn gebissen,“ schluchzte Marie und streichelte ihres Lieblings weiches Fell. Jetzt erst entdeckte Frau Genthin eine große häßliche Wunde am Hals des Tieres, aus der das Blut tropfenweise auf Maries weiße Schürze niedersickerte.
„Wir müssen die Wunde auswaschen und verbinden,“ sagte sie kurz entschlossen, legte ihr Strickzeug hin und stand auf. Aber so leichten Kaufs sollte sie nicht davonkommen.
Fränzchen fand es empörend, daß er, des Hauses einziger Sohn, über dem dummen Köter vernachlässigt werden sollte. Er war der Kronprinz, das wurde ihm tagtäglich in allen Tonarten vorgesungen, und darum war er berechtigt, die höchsten Ansprüche an Welt und Leben, vor allen Dingen aber an seine Mama zu stellen. So mir nichts dir nichts davonlaufen und ihn hier allein lassen – das wäre noch schöner! Hatte er bis jetzt geschwiegen und seine große weinende Kousine verwundert angestarrt, so hatte jetzt seine Geduld mit einmal ihr Ende erreicht, und er begann just bei den Takten in seine Ouverture einzusetzen, wo ein ungeheures Fortissimo vorgeschrieben und auch im Interesse der Wirkung unbedingt nötig war.
Das half denn auch diesmal. Seine Mutter fuhr herum und gab der Wiege einen kleinen unsanften Ruck.
„Du siehst ja – ich kann jetzt nicht fort,“ seufzte Frau Hedwig. „Laß Dir von Stine helfen.“
„Die ist so grob und herzlos,“ war die Antwort.
„Dann thu’s selber,“ schlug die Tante vor. „Essig und Wasser . . .“
„Ich kann nicht, Tante – das Loch ist so gräßlich tief!“ sagte Marie schaudernd.
„Dann bleib’ Du so lange bei Fränzchen.“
„Nein – er brüllt so fürchterlich!“
Diese Thatsache ließ sich leider nicht leugnen, und die geplagte Mutter war, was ihr nicht oft begegnete, im Begriff, einmal recht ungeduldig zu werden in diesem Dilemma zwischen brüllendem Sohn, [562] schluchzender Nichte und wimmerndem Hund, als es kräftig an die Thür pochte und jemand fragte: „Was giebt’s, Hedel? Kann ich vielleicht helfen? Will der Kronprinz denn gar nicht schlafen?“
Marie vergaß für den Augenblick ihren Kummer, schüttelte ihre Zöpfe und murmelte ärgerlich: „Der Preuße!“ Aber ihre Tante rief mit wahrer Erleichterung: „Ja, ja, komm’ nur herein, Gerhard, wir können Deine Hilfe gerade brauchen.“
„Ist derJunge krank?“ fragte Gerhard, besorgt nähertretend.
Frau Hedwig hielt ihre Nichte, die im Begriff stand, sich selbst und ihren Hund aus der verhaßten Nähe des Lieutenants zu flüchten, kurzer Hand an den Rockfalten fest und entgegnete ruhig: „Nein – der Patient ist hier, Gerhard.“
Marie warf den Kopf zurück, die kleinen scharfen Zähne knirschten aneinander. Das wilde Katteeker stand sprungbereit – am liebsten wäre es dem Offizier mit beiden Händen ins Gesicht gefahren. Aber der ließ sich nicht einschüchtern, trat heran und nahm mit sicherem Griff das verwundete Tier aus der Schürze. Es wimmerte laut, und diesen offenbaren Eingriff in seine Rechte benutzte Fränzchen zu einem neuen Angriff auf die Ohren der Anwesenden. Nun war die mütterliche Langmut aber völlig erschöpft, ärgerlich schüttelte Frau Hedwig dem kleinen Ruhestörer die Decke zurecht und rief über die Schulter zurück: „Thut mir den einzigen Gefallen und geht! Der Junge kommt sonst wahrhaftig nicht zur Ruhe!“
Lachend schritt der Lieutenant hinaus und ins Wohnzimmer hinüber, und nach einigem Zögern folgte Marie ihm nach. Was blieb ihr auch anders übrig? Es wäre doch zu unmenschlich gewesen, das kranke Tier schutzlos den Händen des Feindes zu überlassen! Aber wie rücksichtslos von Tante Hedwig, sie hinunszuschicken!
Zum erstenmal waren die beiden miteinander allein, zum erstenmal auf sich selbst angewiesen. Mißtrauisch überwachte Marie jede Bewegung Gerhards. Man sah es ihren finsteren Blicken an, daß es nur eines einzigen Funkens bedurfte, den lange aufgespeicherten Zündstoff zum Explodieren zu bringen. Und Gerhard selber war so unvorsichtig, diesen Funken ins Pulverfaß zu werfen.
Das erste nämlich, was er that, war, daß er das schmutzige blutbefleckte Band vom Halse des stöhnenden Tieres löste. Marie riß es ihm aus der Hand, es flimmerte in den schwarzen Augen und in jäh ausbrechender Heftigkeit stieß sie hervor. „Sie haben kein Recht, es abzunehmen!“
„Das Recht des Pflegers,“ entgegnete er ruhig. „Das Band würgte den Hund, sehen Sie, jetzt schnauft er lange nicht mehr so.“
„Er wird ein neues Band bekommen.“
„Das steht in Ihrem Belieben, Fräulein Kattein. Darf ich jetzt um etwas lauwarmes Wasser bitten?“
Mit scheuem Erstaunen blickte sie zu ihm auf, wäre er heftig geworden wie sie, so hätte er nichts bei ihr erreicht. Seine ruhige Gelassenheit aber, die sich gar nicht um ihren Zorn zu kümmern schien, machte auf sie einen größeren Eindruck, als sie sagen konnte. Schweigend ging sie hinaus und holte das Verlangte herbei. Die Wunde wurde ausgewaschen und mit leichter geschickter Hand verbunden. Bei alledem hatte das junge Mädchen tapfer und willig Hilfe geleistet – es war, als hätte das wilde Katteeker unwillkürlich zu fühlen begonnen, daß es seinen Herrn und Meister gefunden. Und als die verhaßte Feindeshand den kleinen Patienten in die Sofaecke bettete, da wich auch von dem hübschen Gesichtchen der finstere Trotz, der diesem so fremd und häßlich stand wie eine Maske. Katteeker sah, wie das kranke Tier dankbar die sorgliche Hand des Pflegers leckte, und plötzlich schmolz die starre Eisrinde um ihr junges Herz. Ob sie wollte oder nicht, sie durfte doch nicht undankbarer sein als das unvernünftige Tier dort, sie mußte reden – und so sagte denn auf einmal eine leise unsichere Stimme hinter Gerhards Rücken: „Ich danke Ihnen, Herr . . .“
Das Wort „Lieutenant“ brachte sie aber doch nicht über die Lippen, das erinnerte sie gar zu sehr an den Krieg und an die alte Feindschaft.
Erstaunt wandte er sich um. Es war das erste Mal, daß sie ihn anredete, und der weltgewandte Offizier wußte sich bei diesen überraschenden Worten seiner bisher so erbitterten Feindin nicht sogleich auf eine passende Entgegnung zu besinnen. Aber er sah sie an mit einem langen forschenden Blick und las ihr ohne weiteres die Gedanken vom Gesicht. „Wenn Ihnen der preußische Lieutenant, der übrigens nur ein Reservelieutenant ist, gar zu verhaßt ist, gnädiges Fräulein, so sagen Sie ‚Oberförster‘, denn das bin ich von Haus aus.“
Oberförster – das Wort weckte in Katteekers Herzen heimatliche Erinnerungen an das Elternhaus und den herrlichen grünen Wald und unwillkürlich entfuhr ihr der Ausruf: „Oberförster? O, das war mein Vater auch! Aber bei uns nennt man es Hegereuter,“ fügte sie mit kindlichem Stolz hinzu. „Allein weshalb . . .?“
„Weshalb ich als Offizier hier stehe?“ ergänzte er lächelnd. „O, ganz einfach. Als die Reserve einberufen wurde, gab ich die Hasenjagd auf und nahm den Degen in die Hand, um die ,tapperen Landsoldaten‘ aus Ihrer schönen Heimat zu verjagen, mein Fräulein.“
Die letzten Worte, so harmlos sie auch gesprochen wurden, berührten wieder den wunden Punkt in Maries Seele. „Sie hätten ruhig weiter Hasen schießen sollen. Wir brauchten Sie gar nicht, Sie alle zusammen!“ rief sie mit neu erwachendem Trotz.
„Es ist ja jetzt Schonzeit, weiß die Hegereuterstochter das nicht?“ fragte er mit seinem gelassenen gutherzigen Lächeln. Und da sie schwieg und finster vor sich niedersah, fügte er hinzu: Warum hassen Sie uns denn eigentlich so sehr, Fräulein Kattein? Haben wir Ihnen so Böses gethan?“
„Da fragen Sie auch noch?“ stieß sie heftig hervor. „Wenn Sie’s nicht wissen, nun dann will ich’s Ihnen sagen! Mein Vater war des Herzogs Freund, und als 1848 die neuen Gesetze aufkamen und es so schlimm mit uns wurde, daß kein Mensch es mehr aushalten konnte, da ging mein Vater hin und sagte: ‚Durchlaucht, sollen wir nicht die Preußen bitten, daß sie herkommen und uns helfen?‘ Und der Herzog that es denn auch. Mein Vater und viele, viele andere Schleswig-Holsteiner kämpften bei Idstedt gegen die Dänen, und alles wäre noch gut geworden, wenn uns nicht die Preußen im Stich gelassen hätten. ,So, nun wollen wir nicht mehr! Seht zu, wie Ihr allein fertig werdet!‘ sagten sie. War das nicht schlecht von ihnen? Aber das war noch lange nicht alles. Sie erlaubten nicht einmal, daß wir allein weiterkämpften, sondern, nachdem sie ihren Frieden mit den Dänen gemacht hatten, nahmen sie uns ganz einfach die Waffen weg. Und nachher kamen die Dänen wieder ans Regiment, und es war fürchterlich. Unser guter Herzog mußte fort, und mein Vater und viele, viele andere wurden aus dem Lande gejagt. Wir mußten aus unserm schönen Forsthaus mitten im Walde heraus, der arme Vater mußte mit uns auswandern, und das alles wegen der Preußen, weil sie so falsch und treulos waren. Ja, das ist buchstäblich wahr!“ rief Marie mit Thränen bitteren Zornes in den dunklen Augen.
Es war das zweite Mal binnen weniger Tage, daß Frau Hedwigs freundliches Wohnzimmer der Schauplatz solch heftiger Erörterungen wurde, und keine Aussicht war vorhanden, daß sie diesmal bald unterbrochen würden, denn drüben hörte man immer noch das stoßweise Aufschluchzen der weinenden Kinderstimme.
Gerhard Wien hatte das erregte Mädchen ruhig aussprechen lassen, während seine blauen Augen sie unverwandt und mit steigendem Interesse betrachteten. Und plötzlich schien es ihm, als ob es gar kein kleines thörichtes Backfischchen mehr sei, das da vor ihm stand und sich ereiferte, sonderm ein selbstbewußtes, kluges und stolzes Weib, die Vertreterin schleswig-holsteinischer Eigenart. Dem kindischen Trotz hätte er wohl mit einem Scherzwort geantwortet, so vermochte er nur mit vollem Ernst und dennoch begütigend zu sagen: „Aber, Fräulein Marie, es waren doch die Dänen, die Ihren Herzog, Ihren Vater und viele deutschdenkende Männer vertrieben, nicht wir!“
Doch das Katteeker hatte seine preußenfeindliche Lektion zu gut gelernt und ließ sich nicht so leicht aus dem Text bringen. Sie warf energisch den Kopf zurück. „Die Dänen sind unsere angeborenen Feinde, die hassen wir so wie so,“ gestand sie kaltblütig. „Aber die Preußen waren doch die indirekten Urheber von Vaters Verbannung und von all dem Elend, das seitdem über unser Land gekommen ist. Die Dänen hätten uns ja gar nichts anhaben können, wenn Preußen uns nur ein bißchen beigestanden hätte!“ schloß sie mit vollster Ueberzeugung.
„Wollen wir uns nicht lieber setzen?“ fragte Gerhard ruhig und schob seiner jungen Gegnerin einen Stuhl hin. „Dann will ich mir Mühe geben, Ihnen die Sache einmal in anderem Lichte zu zeigen.“
Ungern folgte Marie der Einladung, doch wurde sie in so ernstem Ton gesprochen, daß es schwer war, zu widerstehen. So drückte sie sich neben den kleinen Hund in die Sofaecke und blieb dort in sich zusammengekauert sitzen, mit scheuen Augen zu dem großen blonden Mann hinübersehend. Gerhard begann nun, in seiner Weise dem Mädchen die Vorgänge von 1848 bis 1852 zu [563] erklären. Er sagte ihr, daß es nicht immer in der Willkür eines Volkes und seines Fürsten liege, so oder so zu handeln, wie das Herz es eben verlange, daß immer eins vom andern abhängig sei, daß ein Volk sich manchmal fügen müsse, selbst gegen seine bessere Einsicht, um größeres Unheil zu verhüten. Er sprach gut, mit jener warmen Begeisterung, die ihren Eindruck auf die Jugend nie verfehlt, die auch zu diesem jungen Herzen sprach, so sehr es sich auch sträubte.
„Und was auch immer gefehlt sein mag,“ so schloß er, „ein gerechtes Herz darf überhaupt das schuldlose Volk nicht entgelten lassen, was die Diplomaten vielleicht gesündigt haben. Bedenken Sie doch einmal, weshalb wir herkommen! Ist das nicht genug, Fräulein Marie?“
Und da sie nicht antwortete, sagte er nachdrücklich: „Es ist doch wahrlich kein Kinderspiel, Blut und Leben einzusetzen, um ein Nachbarvolk aus der Knechtschaft zu erlösen. Können Sie das denn nicht begreifen, Kind?“
Sie schwieg noch immer und starrte hartnäckig zu Boden. Da stieß er seinen Stuhl zurück und rief ungeduldig. „Oder finden Sie das dänische Joch etwa so süß?“
„Ich? Gottbewahre!“ fuhr sie empört auf, und die schwarzen Eichkätzchenaugen funkelten den preußischen Jäger zornig an.
„Nun, was dachten Sie denn dann?“ forschte er mit einem tiefen Blick an diese sprühenden Augen, die ihm besser gefielen als all die sanften Frauenaugen, die er je im Leben gesehen hatte.
„Daß ich eine Schleswig-Holsteinerin bin,“ sprach das junge Mädchen stolz.
„Und daß Sie es bleiben möchten?“ fragte er mit sonderbarer Betonung.
Das Katteeker sah den Offizier verständnislos an. „Ja – natürlich!“ gab sie unbefangen zurück.
Ein leiser ungeduldiger Seufzer, dann eine Pause und endlich die Frage. „Wollen wir Waffenstillstand machen, Fräulein Marie?“
Nach kurzem Besinnen schlug sie in die dargebotene Hand ein, und ein prüfender, aber nicht unfreundlicher Blick streifte sein offenes männliches Antlitz.
„Also Friede?“
„Nein, nein, nur Waffenstillstand!“ rief sie hastig und lief hinaus. Gerhard Wien aber blickte ihr nach, als hätte er seine Freude an diesem Trotz und Stolz.
Von Stund’ an war das Katteeker wieder mit der alten Ausgelassenheit auf dem Posten und niemand im Hause durfte sich über allzu große Ruhe beklagen. –
Frau Genthin stand in ihrer Speisekammer, ganz vertieft in die friedliche Beschäftigung, ein paar Dutzend Butterbrote für ihre großen und kleinen Pflegekinder zu streichen. Da erhob sich nebenan in der Küche ein energischer Widerspruch von seiten der alten Stine.
„Ne, ik dah’t nich, Frölen! Ik bün all to old, üm nu noch Französch to liehrn[21], un wenn Se’t dörchut wüllt, denn stelln Se Duris man darto[22] an!“
Frau Hedwig wollte sich schon nach der französischen Lehrmeisterin umsehen, da wurde ihr der Schlächter gemeldet. Aber die Aufklärung sollte dennoch für sie kommen.
Kurz vor Tisch, als die ganze Familie im Wohnzimmer versammelt war, that sich die Thür auf, und das jugendliche Kindermädchen erschien, sah sehr rot und sehr unglücklich aus und meldete stockend: „Madam’ is Herr Wien.“
Erstaunt blickte die Hausfrau auf. „Was willst Du, Doris?“
„Madam’ – Madam’ is – is Herr Wien,“ stotterte Doris und krümmte sich förmlich vor Verlegenheit.
„Ach, dieses Plattdeutsch!“ seufzte die Hausfrau ratlos. „Das werde ich wohl in Ewigkeit nicht lernen. Sprich deutlich, Doris, ich verstehe kein Wort. „Was soll ich?“
Da war’s vorbei mit aller Fassung; beinahe schluchzend stammelte Doris: „Nix nich, Madam’! Man de Supp is upgewen,[23] un de Terrin’ staht uppen Disch, un uns’ Frölen sä[24] jo ...“
Jetzt tagte Frau Genthin das Verständnis. „Dacht’ ich mir’s doch!“ rief sie, halb lachend, halb ärgerlich und sah sich nach ihrer Nichte um. Aber Katteeker war spurlos von der Bildfläche verschwunden, und auch Doris benutzte die Gelegenheit, sich aus dem Staube zu machen, wurde jedoch von der Hausfrau erwischt und ins Verhör genommen. Lachend kehrte sie zu ihrem Gast zurück.
„Du wolltest ja immer nicht glauben., was für ein Ausbund das Mädel ist – da hast Du nun einen von ihren Streichen,“ sagte sie. „Meine Nichte hat sich in anerkennenswertem Lehreifer abgequält, unserer Doris ein paar französische Brocken beizubringen. Und was ist das Ende vom Liede? Daß meine gute Doris sich das unverständliche ‚Madame, il est servi‘ ganz einfach etwas mundgerechter macht und nun auf gut Plattdeutsch sagt: ,Madam’ is Herr Wien‘. Also bitte zu Tisch, Herr Vetter!“ schloß die Hausfrau in heiterem Ton, rief die Kinder herbei und schritt mit ihrem Gaste ins Eßzimmer.
Es war nur ein Scherz, wie Katteeker sie das Jahr über dutzendweise zu liefern pflegte, aber hätte sie geahnt, wie dieser harmlose Scherz zum geflügelten Wort werden und in hundertfacher Verdrehung seine Runde durch die ganze Stadt machen würde, nie hätte sie sich und Doris mit dem Einstudieren französischer Redensarten gequält.
Die alte Stine kam vom Markt zurück, stellte ihren schwerbeladenen Korb in die Küche und stieg sogleich mit entschlossenen wuchtigen Schritten die Treppe hinauf und geradeswegs ins Kinderzimmer, wo „Neihersch“, wie jeden Sonnabend, über ihrer Arbeit saß. Breitspurig stellte sie sich vor die kleine Verwachsene hin, und da diese nicht sofort Auge und Ohr für sie war, rief sie herrisch: „Jette Hitzfeld!“
„So heet ik,“ gab die Angeredete mit voller Seelenruhe zurück und machte den letzten Stich an einem kunstgerechten Flicken.
Stine sah ein, daß „Neihersch“ durchaus nicht willens war, ihr entgegenzukommen; deshalb trat sie noch dichter heran und fragte in geheimnisvoll vertraulichem Flüsterton: „Neihersch, sall ik nu wohl to’n irsten März künnigen?“
„Worüm nich?“ fragte die Näherin ohne eine Spur von Verwunderung zurück, denn so lange sie hier im Hause nähte, hatte Stine fast jedes Vierteljahr diese Frage an sie gerichtet. Der geringste Anlaß genügte, um die brave alte Person vor einen so folgenschweren Entschluß zu stellen.
„Ik bün ’n anstännig Mäten, Neihersch, un hev ok all mien Dag bi anstännige Lüd deent[25], Neihersch,“ sagte Stine mit schwerem Nachdruck.
„Weet ik. Weet ik allens, lütt Stine.“
„Jo – un mi kann nüms[26] wat nachsegg’n,“ betonte Stine mit wachsendem Groll.
„Blot, dat Se ’n lütt beten wat knurrig un hittlig[27] sünd, Stine,“ bemerkte „Neihersch“, neugierig, wo es heute hinaus sollte.
„Je, dat lat ik gell’n,“ stimmte die Köchin wohlgefällig bei, als hätte „Neihersch“ ihr soeben die größte Schmeichelei gesagt. Dann, nach einer Pause. „Neihersch – weeten’s, wat de Lüd segg’n? De Lüd segg’n: Herr Wien un Fru Genthin! Un kiek, dat paßt mich nich, un darum will ik künnigen.“
„Neihersch“ nahm ein ganzes Bataillon Stecknadeln aus dem Munde, nickte bedächtig und meinte mit dem ihr eigenen Humor: „Süh, also dar kiekt de Voß[28] ut Lock herut! Wo ik mi dat nich gliek dacht hev! Man, dat hett Ji negenkloken[29] Lüd schön gegriesmult[30], Ji alltosam – denn dat’s doch man all dumm Tüg un Snakeri!“
Die lustigen braunen Augen blinzelten der Köchin vergnüglich zu. „Lütt Stine, weeten Se wat? Von so was muß man hochdeutsch snaken, un denn heißt das: Herr Wein un Fräulen Kattein!“
„Wa – at?“ Stine starrte die kleine Person mit offenem Munde an; sollte das nun Scherz oder Ernst sein? Als sie aber sah, daß „Neihersch“ ernsthaft weiter nähte, rieb sie ihre durchfrorenen blauroten Arme und murmelte ratlos und ungewiß: „So herüm? Hm! Weeten’s dat för gewiß, lütt Jette? Na, denn sall’k also nich künnigen?“
Als keine Antwort erfolgte, nur ein schwer zu deutendes Achselzucken, ging Stine in tiefem Bedenken in ihre Küche zurück und sprach zu sich selber: „Dar hev ik de Fru nu Unrech dahn! Na – denn so will ik ok hüt un düssen Dag mien Blankgeschirr mal wedder putzen, dat se dar doch’n Freud’ an hebbn sall!“ Mit diesem redlichen Vorsatz brachte die treue Seele ihr mahnendes Gewissen zum Schweigen.
Als Frau Genthin an diesem Abend der kleinen Näherin ihren Lohn ausbezahlte, ahnte sie nicht, daß Jettchens kluger Sinn wieder einmal die drohende Katastrophe glücklich abgelenkt und daß der europäische Friede im Genthinschen Hause vorläufig keine weitere Störung zu befürchten hatte.
[574] Es war sehr friedlich geworden in dem epheuumrankten Hause, seit die beiden ärgsten Feinde, das Katteeker und der Lieutenant, auf unbestimmte Zeit Waffenstillstand geschlossen hatten. Ein unbefangener Zuschauer hätte die jungen Leute wohl gar für die allerbesten Freunde gehalten, hätte er gesehen, wie angelegentlich und einträchtig sie sich der gemeinsamen Erziehung des Buchfinken und des Kanarienvogels widmeten oder den vergnüglichen Sport der Fliegenjagd für die Frösche eins, zwei und drei betrieben. Selbst die kluge Tante, die ihr Katteeker doch wahrlich besser hätte kennen sollen, verfiel zuletzt in den Irrtum, diesen Waffenstillstand für einen endgültigen und von beiden Parteien unterschriebenen Friedensvertrag zu halten. Sie hatte ein paarmal aus ihres Vetters treuherzigen blauen Augen einen heißen Blick aufgefangen, der dem Katteeker galt und sie lebhaft an jene längstvergessene Zeit erinnerte, wo Vetter Gerhard ihr selber huldigend zu Füßen gelegen. Mit stillem Lächeln mußte sie dabei der Vergänglichkeit alles Irdischen gedenken und nach Frauenart knüpfte sie an diesen Sprung von der Tantenverehrung zur Nichtenanbetung allerlei fröhliche Hoffnungen für die Zukunft. Ja sie war in diesen Hoffnungen so sicher, daß sie eines Morgens in ernstlichem Ueberlegen vor ihrem Kleiderschrank stand und die Frage erwog, ob das blau und schwarz karrierte Seidenkleid wohl noch gut genug sei, oder ob Johannes ihr ein neues spenieren würde, wenn – – –
Inzwischen saß an eben diesem bitterkalten Wintermorgen Herr Johannes Genthin in einem überfüllten schlecht geheizten Coupé des Altona-Kieler Zuges und überließ sich seinen Gedanken, die nicht halb so rosig und hoffnungsvoll waren wie jene seiner lieben Frau.
Die Reise der schleswig-holsteinischen Abgesandten, diese Reise, auf die man daheim alle Hoffnungen gebaut, von deren Erfolg das mißhandelte und gequälte Volk die lange ersehnte Befreiung erwartete, sie war so gut wie vergebens gewesen. Wohin sie kamen, waren sie von den entflammten deutschen Brüdern mit Jubel und Begeisterung empfangen, mit offenen Armen aufgenommen worden. „Los von Dänemark! Up ewig ungedeelt!“ war die Parole, die damals zündend von Land zu Lande flog. Kein noch so weltfernes Städtchen gab es, wohin das Wort nicht wie auf Flügeln des Windes drang. Und so regte und rührte es sich überall, wohin die Abgesandten der Herzogtümer kamen. Man wetteiferte, diesen wackeren Freiheitskämpfern seine Sympathien zu beweisen. Ehrenpforten, weißgekleidete Jungfrauen, Ansprachen und festliche Gastmähler waren an der Tagesordnung – aber der Bund rührte sich nicht! Volksversammlungen und Kammern forderten die Unterstützung der Herzogtümer, aber der Bund rührte sich nicht! Immer noch standen die Bundestruppen unschlüssig und unthätig in Holstein, noch hatte kein gewappneter Fuß die Eider überschritten.
So war denn wieder einmal für die Herzogtümer jegliches Hoffen vergebens, alle Mühe, die sich die Deputation gegeben hatte, umsonst gewesen.
Umsonst, alles umsonst!
Das erwog Johannes Genthin, während er, in seine Ecke gedrückt, sich mühte, die widerspenstige Cigarre in Brand zu setzen, während die laute derbe Unterhaltung seiner Mitreisenden ihn umschwirrte. Er war allein und fremd unter all diesen Menschen. In Hamburg, wo die Wege der zurückkehrenden Deputation ohnehin auseinandergingen, hatte er erst noch eine geschäftliche Angelegenheit erledigen müssen und war auf diese Weise von seiner bisherigen Reisegesellschaft getrennt worden.
Schwer lastete auf seiner Seele das Scheitern aller Hoffnungen seiner unglücklichen Landsleute, aber in dieser Stunde quälte ihn noch ein anderes: die Ungewißheit über das Ergehen der Seinigen, von denen er seit Beginn der Reise ohne Nachricht geblieben war. Daß Hedwigs Briefe ihn einfach verfehlt hatten und von Station zu Station nun getreulich hinter ihm her wanderten, konnte er freilich nicht wissen, und so geriet seine Stimmung allgemach in jene Verfassung, wo das vom Denken und Grübeln zermarterte Hirn dumpfer Verzweiflung anheimfällt.
Plötzlich schlug ein Klang an sein Ohr, der ihn aus seinem Brüten aufschreckte und eine neue Gedankenfolge wachrief. Irgend jemand hatte den Namen seines Heimatstädtchens ausgesprochen, und helle freundliche Bilder von Wiedersehen und Kinderjubel, von der Freude seines jungen Weibes begannen vor ihm aufzusteigen, während der Zug rasselnd und stampfend über die schneebedeckte Ebene dahinjagte.
„P . . .?“ fragte eine grobe Stimme in breitester Mundart. „Da is ja ’n komisches Stückschen passiert, haben Sie da nix von gehört?“
[575] „Ne! Was denn?“ rief und fragte es erwartungsvoll.
Der erste Sprecher lehnte sich mit Behagen zurück. „Ja, meine Herr’n, da passieren männigmal snaksche Dinge auf dieser Welt.“ Ein listiges Schmunzeln überflog das breite rote Gesicht beim Anblick all der gespannt lauschenden Mienen. „Sie wissen doch woll alle von die große Deputatschon nah’n Bundestag? Na, welche von die Bürgers in P. sünd da ja natürlich auch mit bei gewesen, un weildes, daß sie weg sünd, kommen die Preußens. Na, Sie wissen woll, meine Herr’n, wie das unnerwegens zugegangen is: Fenster zu, Thüren zu, un keine menschlich lebennige Seele auf der Straße. So is das denn in P. nu ja auch gewesen, un was die Preußens sünd, die ziehen da denn durch un machen ’n schiefes Maul, von wegen daß sie sich die Sache denn doch ’n bischen pläsierlicher gedacht hatten. Na, ’s is gut! So müssen sie nu also durch ’n ganzen Ohrt in einen Dodesschweigen, bloß wie sie bei ’s letzte Haus vorbeikommen, hängt da ’ne preuß’sche Fahne raus, un lüttje Gören stehen un bewerfen ihnen mit Blumenbuketters. Na, da wird denn ja nu ’n großen Juchhei, un alle fangen an un singen, all was sie können, ,Heil dir in’ Siegerkranz‘ – un was der öbberste General is, der steigt gleich vons Pferd un geht herein un bekukt sich die Madam mal genau, die da wohnen thut un das Ganze anord’niert hat ...“
„Da hab’ ich auch von gehört!“ ries jemand anders dazwischen. „Soll ’ne lütt’ nüdliche Frau gewesen sein!“
„Wie heißt sie denn? Wer is das denn? Wo, Deubel, kann sich ’ne Schleswig-Holsteinerin zu so ’n Stück hergeben?“ fragte und schalt es in lautem Durcheinander.
„Ne, ne! Sie is ja gar keine Hiesige! Is selber so ’ne Eingewanderte aus Preußen oder sonst woher! Un wat dat Dullste is, miene Herrn“ – der Sprecher geriet in seinem Eifer jetzt völlig ins Plattdeutsche – „wat ehr Mann is, de sall sülwst mit bi de Deputatschon wesen. Den Namen hev ik ok wul hürt, hev em man wedder vergeten. Dat weer so wat vun Tarpentien[31] oder so ähnlich. So wat weer dat. – Na, hebb Se denn ok all hürt, wie de Ahrnsböker de Hannoveraner empfangen hebb’n?“
Damit lenkte er die Unterhaltung auf ein anderes Thema über – und die lähmende Spannung, die Johannes Genthin wie ein Bann umfangen hatte, löste sich. Er saß noch immer, ohne sich zu rühren, in seine Ecke gedrückt und starrte auf den blendenden Schneeglanz draußen auf der Heide, und in seinem Hirn klopfte und hämmerte es wie ein Mühlenwerk.
War das, was er gehört, denn wirklich wahr? War’s möglich, daß Hedwig eine so thörichte Demonstration in Scene gesetzt hatte, sie, die so ängstlich selbst den Schein eines außergewöhnlichen Thuns vermied? Er konnte es seiner ruhigen, so vornehm denkenden Frau nicht zutrauen. Und dennoch! Die Schilderung stimmte zu genau; sein Haus, das friedliche, epheuumsponnene, stand ja wirklich unter den letzten an der Landstraße, und Hedwig war die einzige Preußin, die einzige Fremde im ganzen Ort. Und niemand wußte besser als er selbst, welch begeisterte Vaterlandsliebe in dieser Frauenseele lebte, wie tief und fest eingewurzelt das Heimatgefühl in ihr war, wie unvergessen das Land, wo sie ihre frohe Jugendzeit verbracht hatte. Ach nein, für ihn konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß niemand anders mit dieser „Preußin“ gemeint war als sein eigenes Weib! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, er ballte die Faust, in seine Augen kam ein finsterer drohender Blick. O, hier sitzen müssen unter diesen schwatzenden lärmenden Menschen, die jeden Augenblick wieder beginnen konnten, seines Weibes Ehre in den Staub zu ziehen – unthätig, wehrlos, denn was konnte es nützen, sich mit den Leuten in ein widerwärtiges Streiten einzulassen? Hier sitzen und Station um Station gleichmäßig abrufen, abläuten hören, hier sitzen, regungslos, in dieser Aufregung, mit diesem Zorn und dieser heimlich nagenden Angst im Herzen – o das war entsetzlich, das waren die Qualen eines Gefolterten!
Aber die Stunden vergehen, die guten wie die schlimmen, und auch diese Fahrt, die schrecklichste, die Genthin je erlebt, nahm ihr Ende.
Bald lag Kiel vor ihm, die alte Ostseestadt, an der eisbedeckten Föhrde, und über ihr blaute der klare Winterhimmel. Die finsteren Augen des Mannes blickten heller, als er die schleswig-holsteinischen Fahnen schaute, die lange verbannten, die von allen Häusern niedergrüßten, die sich stolz und weithin leuchtend im frischen Seewind entfalteten. In den Straßen wimmelte es von Soldaten aller Sprachen, freudige Erwartung auf allen Gesichtern, neues Hoffen in den Augen von alt und jung. Es war, als ob die Märztage von 1848 wiedergekehrt wären. „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Gott sei gelobt! Hier wenigstens rüttelte und schüttelte man an dem verhaßten Joch, hier wenigstens läuteten die Glocken Tage des Kampfes ein!
Mit vieler Mühe fand Genthin einen Wagen – und nun heim!
In der tiefen Stille, die ihn draußen in Gottes freier Natur umgab, in dem Frieden des sonnigen Wintertages ward es auch in seiner Seele ruhiger. Er lehnte sich zurück und atmete in vollen Zügen die Heimatluft. Die wechselnden wirren Eindrücke klärten, milderten sich. Das frische Kriegsleben in der Hafenstadt hatte die traurigen Reisebilder verdrängt. Ihm war, als wenn er wider alle Hoffnung doch noch hoffen dürfte. Hatte doch der alte Vater Wrangel in seiner volkstümlichen Weise altes Unglück und neue Zukunft mit einem seiner treffenden Schlagworte zusammengefaßt und allen Leuten tröstend zugerufen: „Kinner, dit ward nu better!“ Bei Gott, ja, es mußte besser werden! Die Aufregung in deutschen Landen wuchs ja von Tag zu Tag, und Volkesstimme – Gottesstimme! Endlich würde diese allgewaltige Stimme mit Donnerschall die Säumigen aus ihrem Schlaf wachrufen, wie ein entfesselter Riese würde das deutsche Volk hervorbrechen und den Bruderstamm aus unerträglicher Knechtschaft befreien!
So zogen und jagten die Gedanken durch des einsamen Mannes Seele und in den großen Sorgen und Hoffnungen des Vaterlandes gingen seine eigenen kleinen Sorgen und Kümmernisse unter.
Auf der hartgefrorenen Landstraße rollte der Wagen dahin, der Heimat zu. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur in der Ferne ein einsames altes Botenweib, das sich schon mehrmals sehnsüchtig umgeschaut hatte. Genthin kannte die Alte, die auch für sein Haus schon manchen Weg gegangen war. In angeborener Gutmütigkeit ließ er den Kutscher halten und rief:
„Na, Mudder Kählertsch, smieten[32] Se ehrn Packen man achter[33] up! So, un nu springen Se man hier herup!“ Damit machte er neben sich Platz, denn vorn beim Kutscher stand sein Reisekoffer. Die alte Frau folgte der freundlichen Aufforderung, ohne viel Worte darüber zu verlieren, und drückte sich bescheiden in die andere Ecke des breiten Sitzes.
„Na, Mudder Kählertsch, wo geiht dat denn in P . . .?“ fragte Genthin und legte seine warme Reisedeeke über die dünnen Röcke des armen Weibes.
„O, ’t geiht jo,“ versetzte sie einsilbig.
„Hebb’n Se mien Fru un de Kinner seh’n?“
„Seh’n hev ik ehr grad nich. O, de ward wul nix fehlen,“ kam die zögernde Antwort. Es war, als wenn sich eine Hand erst vorsichtig und heimlich tastend ausstreckt, ehe sie recht zuzugreifen wagt.
Die zugeknöpfte Art der sonst so redseligen Alten befremdete Genthim und er fragte sich, ob auch sie, die aus Frau Hedwigs Händen schon so manche Wohlthat empfangen hatte, von dem allgemeinen Haß gegen „die Preußin“ angesteckt sei. So saßen die beiden Menschen eine geraume Zeit stumm nebeneinander, jedes in seine eigenen Gedanken versunken; nur zuweilen streiften die Blicke der Frau mit heimlichem Forschen das ernste luftgebräunte Antlitz ihres Begleiters. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein, legte ihre arbeitsharte Hand auf Genthins Arm, räusperte sich ein paarmal und that zuletzt die harmlose Fragen „Is de Herr lang’ weg west?“
„Virteihn Dag, Mudder,“ antwortete er, tief in Gedanken, er hatte fast vergessen, daß jemand neben ihm saß.
„Hm, hm! Dat is je nich, dat ik wat gegen Madam’ Genthin segg’n will – man, dat’s doch beter, dat de Herr wedder an’t Hus kümt.“
„Woso dat?“ fragte Genthin, aufmerksam werdend, und blickte sie scharf an.
Die Alte schüttelte bedächtig den Kopf. „O, doch man so! De Lüd snaken veel, Herr, un allens ward je wul nicht wohr wesen,“ erwiderte sie diplomatisch.
Genthin fing an, ungeduldig zu werden. Aber er wußte, daß er durch Heftigkeit nichts erreichen würde, wollte sich auch die Stimmung nicht verderben lassen, deshalb machte er gute Miene zum bösen Spiel.
[576] „Na, nu man to, Mudder Kählertsch,“ sagte er mit einem Anflug von Humor und erwartete in einiger Spannung einen neuen eingehenden Bericht über Hedwigs Verbrechen, den Preußenempfang.
„Je, Herr, wenn Se dat denn so hebb’n wüllt – un Se sünd je ok so fründli mit mi west – je, Madam’ Genthin hett je dunn de ollen Preußens bewillkamt un nahsten hebb’n wi all Inquattierung kregn un se hett so’n preußischen Leut’nant in Quattier. Je, Herr, un nu segg’n de Lüd, de beiden, de sitten nu jümmer tosam un snaken un vertell’n sik wat un hebb’n dat rein so hild[34] mitenanner as ’n poar Leewslüd[35]. Un wat mien Swiegerin is, dat’s n Meddersche[36] to Se ehrn Kutscher Plöhn, Herr; un de sä[37] to mi, Plöhn de seggt: ,Wenn dat mien Herr wüß, denn so würd he dat ganze Preußenvulk mit de Pietsch[38] ut den Hus driewen, dat ol Takeltüg!“ seggt he. Dat sall je noch’n ollen Anbeter vun Madam’ Genthin wesen, seggt mien Swiegerin . . .“
„Un mien Swiegerin seggt un Plöhn seggt ... Gott’s en Dunner, nu hev ik nog[39] vun de Snakeri!“ brauste Genthin auf. „Is dat de Dank, dat mien Fru Jug Godes dahn hett, Ji Rackertüg? Nu hol[40] Dien Muul, Du olle Kretur, süs smiet ik Di vun’n Wagen hendal!“
„Je, Herr, denn smieten Se man to, hier ’s de Wienbarg un hier mutt ik so wie so afstiegen,“ sagte die Alte erbost und kletterte herab.
Ohne ein Wort, in finsterem Schweigen fuhr er weiter. Nicht daß er das dumme Gerede ohne weiteres geglaubt hätte; aber ob er sich’s auch nicht gestehen wollte, ein leiser leiser Zweifel, ein aufkeimendes Mißtrauen gegen sein junges Weib war doch in seiner Seele hängen geblieben. Verhielt sich die Geschichte mit der Preußenbegrüßung wirklich so – und daran konnte er kaum noch zweifeln – wer konnte wissen, was Hedwig in blinder Vorliebe für ihre Landsleute sonst noch für Extravaganzen begangen hatte! War es denn überhaupt etwas so Unerhörtes, Niedagewesenes, wenn eine junge hübsche Frau sich in Abwesenheit ihres Mannes von einem flotten Anbeter den Hof machen ließ? Wenn aber dem so war, wenn Hedwig nun wirklich in seiner Abwesenheit die Huldigungen eines preußischen Offiziers angenommen, wenn sie vielleicht alte Beziehungen wieder angeknüpft hatte – was dann?
Ein alter Anbeter? Er wußte von keinem, der ihr wirklich nahe gestanden, für den auch sie jemals ein tieferes Interesse gefühlt hätte. Und doch – wie hatte er sich vorhin gesagt: Volkesstimme – Gottesstimme! Das Wort lag in der Luft, es summte in seinen Ohren, dumpf wie Grabgeläute klang es in seinem Herzen wieder. Eine Unheil drohende Falte grub sich tief in seine Stirn.
O, nur das nicht, nur das eine nicht! Was fragte er jetzt noch nach der „preußischen“ Kundgebung, deren Hedwig sich schuldig gemacht haben sollte! Ein harmloses Spiel wäre es gegen das, was vielleicht später in seinem Hause geschehen. Wie leicht schien es ihm jetzt, der warmherzigen Frau die enthusiastische Begrüßung ihrer Landsleute zu vergeben, die ja nicht dem Einzelnen, sondern ihrem ganzen Vaterlande galt! Erklärlich, ja entschuldbar und völlig natürlich erschien ihm ihr Thun.
Er lächelte – ein grimmes, bitteres Lächeln! So weit war’s mit ihm gekommen, daß er entschuldigte, wo er anklagen sollte, in Schutz nahm, wo es zu richten galt? Aber so im Kampf zwischen Herz und Vernunft, zwischen Zorn und Liebe, ward ihm doch das eine zur unumstößlichen Gewißheit: mit tausend Freuden wollte er verzeihen, was die Preußin gesündigt, wenn nur das Weib rein geblieben war, rein und sein eigen! – Er hielt’s nicht länger aus vor den anstürmenden Gedanken, hielt’s nicht aus in seinem gemächlich dahinrollenden Wagen.
„Kutscher, kehren Sie in der Post an – ich will hier aussteigen. Will meine Frau überraschen.“
Wieder flog das bittere Lächeln um seinen Mund. Ja, überraschen! Wie wird er sie antreffen, die Frau, die in vierzehn Tagen nicht eine Stunde Zeit fand, an ihren Mann zu schreiben? O, nun verstand er ihr Schweigen!
Schwer und müde wie ein alter Mann legte er die letzte Strecke zurück. Jetzt stand er an seiner Gartenpforte, durchschritt die verschneiten Wege und trat ins Haus.
Lauter Kinderjubel und Gesang einer rauhen Männerstimme tönte ihm aus der Küche entgegen. Er blieb stehen und lauschte. Die Baßstimme sang ein Kinderliedchen, dazwischen klang das helle Aufjauchzen der kleinen Mädchen. Die Thür war nur angelehnt. Durch die Spalte sah er einen biederen Landwehrmann am Herdfeuer sitzen, auf jedem seiner Knie ritt ein kleines wildes Ding, sich krampfhaft an seinen blanken Knöpfen festhaltend.
„Hopp-hopp, Hopp-hopp, Reiterlein!
Wenn die Kinder kleene sein
Reiten sie nach Sach – sen ...“
sang der Mann in unverfälschter Berliner Mundart. Die alte Stine stand daneben mit ihrem Strickzeug und der fidelsten Miene, die ihr Herr je an ihr gesehen, und wehrte dem allzu lauten Kinderjubel.
Noch stand der Vater und lauschte. Er mußte an sich halten, um nicht die Thür aufzustoßen und seine kleinen Mädchen dem fremden Soldaten fort und in seine eigenen Arme zu nehmen. Aber er bezwang sich, er wollte ja seine Frau überraschen und durfte keinen unnötigen Lärm machen. Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen – wie würde er sie finden?
Schon hob er den Fuß, um hinauszugehen, da kam’s mit heiterem Singen die Treppe herab. Das war der leichte Schritt, das war die weiche Stimme seines Weibes.
„Das Roß ist des Königs, der Reiter ist ...“
Jäh brach der Gesang ab, wie versteinert blieb die Frau sekundenlang an der Treppenwendung stehen – im nächsten Augenblick aber hing sie lacheud und weinend zugleich am Halse ihres Gatten. Der aber schob sie stumm zurück, umschloß mit festem Druck ihre beiden Handgelenke und hielt so das junge Weib auf Armeslänge von sich, ihr tief in die klaren Augen schauend.
Sie stand auf der untersten Treppenstufe, ihr schönes dunkles Gesicht war dem seinigen gerade gegenüber, sie brauchte nicht die Augen zu heben, um ihn anzusehen – groß, furchtlos, nur ein wenig erstaunt über sein seltsannes Gebaren.
„Es geht ja ganz lustig bei Euch her!“ sagte er, und seine Stimme klang rauh und spöttisch. Und da sie schwieg, fuhr er erregter fort: „Du hattest wohl keine Zeit, an mich zu schreiben?“
Sie machte sich von seinen Händen los, die wie Klammern um ihr Handgelenk lagen. „Was hast Du, Johannes? Du thust mir weh! Und was redest Du nur – ist das Deine Begrüßung? Ich schrieb Dir dreimal, aber Du hast mir nie geantwortet.“
„Ich brauchte Dir nicht im besonderen zu schreiben. Du wußtest doch alles durch die Bekannten.“
Sie senkte den Kopf und murmelte mit aufquellenden Thränen: „Niemand brachte mir Nachricht.“
Aber er achtete dessen nicht, sondern sprach weiter: „Ich habe keinen einzigen Brief bekommen. Nur durch die Leute habe ich von Dir gehört,“ sagte er mit schwerer Betonung.
Da erblaßte sie jäh, ein unruhig forschender Blick streifte seine Züge, und hastig sagte sie. „Komm’ doch zuerst hinuauf – Du wirst müde und durchfroren sein, Johannes!“
Nicht den Ton besorgter Liebe, nur die Stimme des schuldigen Gewissens hörte er heraus. Noch standen sie auf der kalten Steintreppe, die Küchenthür hatte Genthin rasch und leise geschlossen. Er sah nicht, daß Hedwig im leichten Hauskleide vor ihm stand, er, der sonst so sehr um sie besorgt war, sah nicht, daß die schlanke Gestalt vor Kälte zitterte.
„So ist es doch wahr!“
Das Wort war mehr gedacht als gesprochen; aber sie verstand es, las, was er sagen zu wollen schien, in seinen Augen, von seinen Lippen. Stolz richtete sie sich auf im Bewußtsein ihrer Schuldlosigkeit. Was sie gethan, konnte sie vor jedem Menschen vertreten, auch vor ihm! Sie hatte ihrem Gatten nichts zu verbergen, brauchte seinen forschenden Blick nicht zu scheuen.
„Ja, es ist wahr!“ bekannte sie freimütig. „Ich habe die preußischen Truppen begrüßt, weil es meine Landsleute sind und unsere Befreier. Ich schrieb Dir alles. Es ist nicht meine Schuld, wenn der Brief verloren ging.“
Er nickte. „Also doch!“
Wird sie nun auch das andere so ehrlich eingestehen? fragte er sich, und sein Blick schien ihre Seele bis in die geheimsten Tiefen zu erforschen. Ohne sich zu regen, hielt sie dem Blick stand, nur die Hand preßte sie auf das stürmisch klopfende Herz, als wollte sie die bange Frage zum Schweigen bringen: was meint er nur?
[592] Stumm stand Genthin seiner Frau gegenüber; nur Sekunden dauerte dieses Schweigen und dennoch schien es beiden eine Ewigkeit. Dann seufzte er plötzlich auf, wie von schwerer Last befreit. Nein, diese reinen klaren Frauenaugen wußten nichts von Schuld noch Lüge. Was Hedwig auch gethan haben mochte – es war nichts, worüber sie hätte erröten müssen. Die anklagenden Worte, die ihm auf der Zunge schwebten, verstummten, ehe sie noch ausgesprochen wurden. So legte er den Arm um sie, führte sie langsam die Treppe hinauf und fragte in seinem alten ruhigen Ton: „Du hast Einquartierung, Kind?“
Dabei beobachtete er sie scharf. Sie hielt die Lider gesenkt – kein Erröten, nur ein Lächeln flog über ihre mädchenhaften Züge.
„Ja, Johannes. Drei Gemeine, einen Sergeant und einen Lieutenant,“ zählte sie an den Fingern her. „Und denke Dir, der Lieutenant ...“
Er unterbrach sie: „Du gehst nicht der Rangordnung nach; der Lieutenant hätte der erste sein müssen,“ sagte er herbe. „Jedenfalls hat er Dir die Zeit angenehm vertrieben. An Langerweile und Traurigkeit scheinst Du nicht gelitten zu haben.“
Sie betrachtete ihn mit wachsender Unruhe, antwortete aber nichts, sondern half ihm im Flur, seinen schweren Reisepelz abzulegen. Wie sonderbar er doch war – was konnte er nur meinen? Plötzlich flammte es wie ein Blitz des Verständnisses in ihren braunen Augen auf, mit heißem Erröten legte sie die Arme um seinen Hals. „Haben die Leute sehr viel Böses über Deine arme Frau geredet, Hansemann?“ fragte sie leise und schaute ihn an, schelmisch und traurig zugleich.
Ihm ward ganz unbehaglich zu Sinn bei diesem kindlich treuherzigen Blick, und ausweichend sagte er: „O – allerlei!“
„Und Du glaubtest es, Johannes?“ Sie ließ die Arme sinken, ein schmerzlicher Zug zeichnete sich tief ein um Mund und Augen.
Er schüttelte den Kopf. „Was sangst Du vorhin, Hedwig – ‚Das Roß ist des Königs, der Reiter ist mein?‘ Hieß es nicht so?“
Nun lachte sie hell auf. „Also darum? Ja, so heißt es, und ich lernte das Lied von Marie; an sie dachte ich, als ich vorhin so vergnügt die Treppe hinunterlief.“
„Marie Kattein, der kleine Preußenhasser? Ich meine, die kennt nur ‚Schleswig-Holstein meerumschlungen‘?“ fragte er erstaunt.
„Ja, ja, Preußenhasser! Komm und sieh selbst!“ rief sie fast übermütig und zog den Widerstrebenden durch das leere Eßzimmer an die halbgeöffnete Wohnstubenthür.
Wie sie sich schon im voraus auf ihres Mannes Ueberraschung freute, wenn sie ihm sagen würde, wer der Lieutenant war! O, er sollte ihr Abbitte thun für diesen ganz unglaublichen Verdacht, den er gegen sie gehabt! Warum hatte er sie vorhin so unfreundlich unterbrochen, als sie ihm gerade erzählen wollte, was für einen lieben Jugendfreund und treuherzigen Vetter sie in dem fremden Offizier wiedergefunden!
Drinnen im Wohnzimmer war es schon dämmerig; die Glut im Ofen warf einen schwachen roten Feuerschein über die beiden jungen Menschenkinder, die dort traulich beisammen saßen. Das Katteeker kauerte auf einem niedrigen Schemel, hatte beide Hände um die Knie geschlungen und schaute träumend ins Feuer. Gerhard erzählte ihr von seiner Heimat, und seine tiefe ruhige Stimme war der einzige Laut in dem stillen Gemach.
Doch plötzlich schraken sie beide auf wie aus tiefem Traum.
„Donner!“ rief halblaut, in grenzenlosem Staunen, der Lauscher an der Thür. „Sieh, sieh, das Katteeker ist ja mächtig zahm geworden!“ Und noch etwas anderes fuhr ihm durch den Sinn – er beugte sich nieder und wollte seine Frau küssen; die aber wich ihm blitzschnell aus, stieß die Thür vollends auf und sagte mit feierlichem Ernste „Darf ich vorstellen? Mein Mann – mein lieber Vetter Gerhard Wien, Oberförster und Lieutenant der Reserve ...“
Mit größerer Herzlichkeit ward noch nie ein fremder Vetter begrüßt wie dieser, dem der Hausherr mit kräftigem Händedruck fast die Finger zerbrach.
Dann aber, unbekümmert um die beiden jungen Menschenkinder, zog Genthin seine Frau zu sich heran. „Mit Verlaub, Herr Vetter – meine Frau ist mir noch den Willkommgruß schuldig,“ sagte er und küßte die Errötende herzlich. „Hättest Du mir das nicht gleich sagen können, Du Schelm?“ flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie schob ihn lachend von sich. „Du geruhtest ja, mich zu unterbrechen – bist selber schuld, Hansemann!“ Dann schlug sie plötzlich die Hände zusammen und rief entrüstet: „Aber Mann, Du bist ja der reine Rabenvater geworden! Jetzt hole ich gleich die Kinder!“ Damit eilte sie hinaus.
„Und etwas zu essen, Frau!“ rief der Hausherr mit Stentorstimme hinter ihr her.
Dann lief er im Zimmer auf und ab und rieb sich die erstarrten Hände, blieb vor Marie stehen und kniff sie in die Wangen mit einem vielsagenden „So, so!“ und drückte dem Vetter wieder und immer wieder die Hand.
Eine Centnerlast war ihm von der Seele genommen. Mochten die Leute reden, was sie wollten! Alle patriotischen Sünden waren der kleinen Frau vergeben. Der Friede war geschlossen – Holstein und Preußeu hatten sich die Hände gereicht.
„Mächtig zahm geworden!“ hatte Onkel Genthin zu dem Katteeker gesagt – aber darin irrte er sich gewaltig. Es war immer noch nur ein Waffenstillstand, durchaus kein Friede zwischen den beiden feindlichen Mächten, so schnell ging es denn doch nicht. Ein wildes Eichkätzchen läßt sich nicht binnen so und so viel Tagen zähmen, und ein schleswig-holsteinisches Katteeker, das einem preußischen Jäger in die Hände fällt, erst recht nicht.
Das sollte auch Gerhard Wien erfahren, und daran war niemand anders schuld als Herr Genthin selber, denn als der nun anfing, von seinen Erlebnissen zu berichten, und mit wachsender Bitterkeit von dem unthätigen Zuschauen des Bundes sprach, von nutzlosen Mühen und zerstörtem Hoffen, da erwachte alsbald wieder der schlummernde Haß in Katteekers heißem Herzen. Und da ihr Groll weder den König von Preußen noch den Bundestag erreichen konnte, so richtete er sich naturgemäß gegen den einzigen Vertreter preußischer Nation der ihr zur Hand war – denn der Sergeant und die drei Gemeinen zählten nicht mit! Verschwunden war ihr übermütiger Frohsinn und von Stund’ an ward sie wieder, was sie zu Anfang gewesen, eine von Kopf bis zu Fuß gewappnete Jungfrau, die sich jeden Preußen auf zehn Schritt vom Leibe hielt. Da half kein Zureden von Onkel und Tante, kein bittender Blick aus Gerhards treuherzigen Augen, kalt und stumm ging sie ihrer Wege, und Gott mochte wissen, zu was für neuen Feindseligkeiten sie durch ihren alten Haß noch gebracht worden wäre, wenn nicht der König von Preußen ein Einsehen gehabt und sich glücklicherweise noch rechtzeitig ins Mittel gelegt hätte.
In der Stille ihres Kämmerleins hielt Marie eben Einkehr in sich selbst. Mit den bittersten Vorwürfen gegen ihr eigenes wankelmütiges Herz, das dem angestammten Herrscherhaus untreu geworden und nahezu ins feindliche Lager desertiert war, holte diese junge Patriotin ihr blau- und rotgestreiftes Kleid wieder aus dem Schrank hervor, wohin es verbannt gewesen war – dies Kleid, das Tante Hedwig gar zu gern verschenken wollte und das ihr selbst fast so ehrwürdig erschien wie die herrliche goldene Rüstung der Jungfrau von Orleans.
Gerade stand sie im Begriff, eine weiße Schürze umzubinden, um so wieder an ihrer eigenen kleinen Person die geliebten Landesfarben wie eine stumme Kriegserklärung auf das Schlachtfeld hinauszutragen – da erscholl draußen auf der Straße lautes Trommeln, ein gebieterisch kurzes Hornsignal – und sofort erhob sich in dem stillen Hause ein Rufen und Laufen, daß Katteeker bestürzt innehielt. Sie riß die Thür auf und rief nach dem Kindermädchen, nach Stine – aber niemand kam. So lief sie, mit ihrer Schürze in der Hand, hinaus und begegnete auf der Treppe der alten Köchin, die ganz verstört aussah und, ohne eine Frage abzuwarten ihr entgegenries: „’t geiht nu los, Frölen – se hebb Alarm blosen, se schüllt nu alle weg – un morn fröh[41] geiht de Krieg all los! Herrjeses, wenn se den Scherschanten man blot nich dotscheeten[42]!“
Die Hände zusammenschlagend, blieb die alte Person auf der [594] Treppe stehen und schluchzte laut. Katteeker stürzte an ihr vorbei, wie eine Friedensfahne wehte die weiße Schürze hinter ihr her – und um ein Haar wäre sie dem Lieutenant, der von unten heraufkam, geradeswegs in die Arme gerannt.
Als er sie sah, rief er ihr zu: „Nein, kein Waffenstillstand, kein Friede, Fräulein Kattein – thun Sie die weiße Fahne weg! Es giebt nun Krieg – endlich hat das Nichtsthun ein Ende!“
Sie starrte ihn mit großen erschrockenen Kinderaugen wortlos an, aber er nahm ihr die weiße Schürze aus der Hand, „die Friedensfahne“, griff nach eben dieser kleinen Hand und fragte hastig und in tiefster Erregung: „Werden Sie an mich denken, Fräulein Marie, an den Preußen, der jetzt hinauszieht, um eine kleine Schleswig-Holsteinerin für ewige Zeiten von Dänemark loszureißen?“
Sie antwortete nicht, sondern nickte nur stumm; dann machte sie sich los und floh in ihr Zimmer zurück. Dort kauerte sie in einer Ecke nieder, schlug beide Hände vors Gesicht, und die Angst, der Schrecken, das heiß aufquellende Weh ihres jungen treulosen und doch treuen Herzens machten sich in bitterem Schluchzen Luft.
„Ich bin ein Preuße“ spielte draußen die Musik, und fort zogen die braven Soldaten, ob zum Siege, ob zum Tode – sie wußten es nicht. Sie dachten auch nicht daran. Diese tapferen jungen Herzen schlugen höher bei den Klängen der Musik. Und heute waren die Thüren und Fenster nicht geschlossen – jung und alt stand auf den Straßen und starrte ihnen nach. Mancher Blick aus braunen und blauen Mädchenaugen folgte der stattlichen Schar, den „verhaßten“ Preußen.
Im Giebel des Genthinschen Hauses klirrte leise ein Fenster, aber so leise es auch geschah, es gab doch ein Ohr, das diesen Ton auffing, ein Paar Augen, die hinaufspähten, und andere Augen grüßten – dunkle, traurige, die aus einem seltsam blassen Gesichtchen herniederschauten, lange, lange noch, den Fortziehenden nach, die Landstraße entlang, soweit sie nur sehen konnten.
Heute blaute kein klarer nordischer Winterhimmel über den fern und ferner Ziehenden. Lautlos rieselte es herab aus dichtgeballten grauen Wolken, die vom Wind gepeitscht gen Norden stürmten. Leise verhallten die Klänge des Preußenliedes, ein Ton, ein letzter, wehte herüber, dann war alles still.
Schweigen und Schneegeriesel hüllte das Städtchen ein wie ein Mantel, den Mutterhand sorglich über das schlafende Kind breitet, daß sein Schlummer nicht gestört werde durch bittere Winterkälte und fernen Kriegslärm.
Der erste Februar war vorbei. Die verbündeten Preußen und Oesterreicher hatten die Eider überschritten, und die ersten deutschen Truppen waren in Schleswig eingerückt. Der Druck, der so lange lähmend auf diesem unglücklichen Lande gelegen hatte, war wie durch Zaubermacht gehoben, neue Hoffnung regte sich in den geduldigen, oft enttäuschten Herzen der Schleswiger.
Schlag auf Schlag ging es vorwärts ohne Rast und Ruh’ – Schritt um Schritt drängte man den Feind in blutigem Ringen zurück.
Und allmählich, ganz allmählich schlug die Stimmung in den schleswig-holsteinischen Landen um. Die Sympathien, die man bisher nur den Sachsen und Hannoveranern entgegengebracht hatte, wandten sich nun endlich auch den Preußen zu. Reich und arm, vornehm und gering, Stadt und Land sandte Liebesgaben in das preußische Lager; Bürger und Bauern traten während des Marsches herzu und reichten den wackeren Soldaten die Hände. Alte Sünden, alte Vorurteile wurden vergessen. Ueberall regte sich in diesen zähen mißtrauischen Herzen das stammverwandte Deutschtum, der treue rechtliche Sinn.
Auch in dem kleinen P. schwand bei dem siegreichen Vordringen der Armee der Haß gegen die Preußen, und allmählich hob man auch den Bann auf, den man über Frau Hedwig Genthin verhängt hatte. Der alte Doktor kam und fragte: „Wissen Sie schon?“ und erzählte von den herrlichen Siegen und schüttelte ihr die Hände und sagten „Frau Hedwig, es kommt eine bessere Zeit, und wir – wir fangen an, sie zu begreifen!“
Aber noch ein anderes Ohr, ein anderes Herz hörte diese verheißungsvollen Worte, ein Herz, das angstvoll schlug, so oft von einem neuen Gefecht die Rede war, das die Preußen unter Prinz Friedrich Karl geliefert hatten. Marie Kattein stand oft und lauschte und glaubte in der Ferne Kanonendonner zu hören. Vor ihren Augen wehten preußische Fahnen, hin über die Ebene stürmten preußische Truppen den „tapperen Landsoldaten“ entgegen – jedes Dorf eine Festung, jedes Haus eine neue Schanze. Und deutsche Begeisterung flammte im Herzen der jungen Schleswig-Holsteinerin auf.
Dann, als es schon Frühling geworden war, am 18. April 1864, kam der glorreiche, der herrliche Tag von Düppel, jener Tag, wo banges Hoffen zu tröstlicher Gewißheit wurde, wo bei den Klängen des Hohenfriedberger Marsches schleswig-holsteinische Freiheit durch Ströme preußischen Blutes erkauft ward. Da war für ewige Zeiten das eine Wort zur Wahrheit geworden: „Los von Dänemark!“
Der Waffenstillstand folgte, und einige Kompagnien, die bei dem Düppeler Sturm am schwersten gelitten hatten, kehrten vom Kriegsschauplatz zurück, um in Holstein verpflegt zu werden.
Aber wie anders als vor einem Vierteljahre wurden diesmal die Preußen empfangen! Ihr Marsch durch das befreite Land war ein Triumphzug. Aller Hände streckten sich ihnen hilfsbereit entgegen, die Häuser und die Herzen waren ihnen aufgethan, man wetteiferte in dankerfüllter herzlicher Begrüßung der ruhmgekrönten Sieger von Düppel, als sie nun wiederkehrten zu kurzer Rast – verwundet und pflegebedürftig, mit zerschossenen Gliedern aber mit ungebeugtem Mut.
Auch der Reservelieutenant Gerhard Wien, den ein Streifschuß in den rechten Arm getroffen hatte, war bei den Zurückkehrenden. Seine Verwandten hatten ihn gebeten, sich in ihrem Hause von den Strapazen des Krieges zu erholen.
Herr und Frau Genthiu standen mit den Kindern unter der Thür, als der Wagen vorfuhr. Gerhard sprang herab, den Arm noch in der Binde, er drückte dem Ehepaar in herzlicher Wiedersehensfreude die Hände, küßte die kleinen Mädchen, die ihm in verlegener Scheu ihre Maiglöckchensträuße hinhielten, und – sah sich suchend um.
Genthin fing den Blick auf und sagte kaltblütig: „Sie suchen meine Nichte? Die ist nicht hier.“
„Aber Mann!“ flüsterte Frau Hedwig vorwurfsvoll, als sie sah, wie des Vetters freudestrahlendes Gesicht plötzlich so kalt und ruhig wurde. Doch Genthin hatte diese sichtliche Enttäuschung mit wahrer Genugthuung bemerkt. „Geschieht Ihnen ganz recht, guter Freund! Das ist nur die gerechte Strafe für die Heidenangst, die ich Ihretwegen einmal ausgestanden, mein Herr Vetter,“ sprach er bei sich selber und rieb sich stillvergnügt die Hände.
Dann führten sie den lieben Gast feierlich durch die bekränzte Thür ins Haus hinein. Auf der Treppe – Onkel Johannes schmunzelte, und Vetter Gerhard traute seinen Augen nicht – kam ihnen das Katteeker entgegen, das sich nur durch Zufall ein wenig verspätet hatte. Lächelnd und erglühend wie ein Mairöslein stand Marie in ihrem weißen Kleide dort auf der Treppe, und Gerhard Wien starrte sie an wie verzaubert.
War dies das wilde Katteeker mit den haßfunkelnden schwarzen Augen? Was hatte dieses eine Vierteljahr aus ihr gemacht!
O nein, Herr Gerhard Wien! Nicht dieses eine Vierteljahr und nicht Tante Hedwigs sanfte Hand hatten das wilde übermütige Katteeker gezähmt – der Krieg, der männermordende, war’s, der mit rauher Hand sein Erziehungswerk an diesem jungen Geschöpf gethan; die heimliche Angst um ein geliebtes Leben war’s, die das unbesonnene Kind zu einem anderen Wesen umschuf, zu einem Bilde hold aufblühender Weiblichkeit. Gerhard konnte sich gar nicht satt sehen an dem süßen Gesichtchen und den großen dunklen Augen, in denen die Liebe ihr altes und ewig neues Wunderwerk begonnen hatte.
Wie der verkörperte Genius der meerumschlungenen Schwesterlande, der die Hände ausbreiten möchte, seinem Erlöser aus Schmach und Knechtschaft zu danken – so stand die junge Schleswig-Holsteinerin vor dem verwundeten preußischen Offizier, und bis zu seiner Todesstunde wird er dieses Augenblicks gedenken! – –
In solcher aufgeregten sturmbewegten Zeit bedarf es keiner langen Präliminarien. Die Hände finden sich gar rasch, wenn die Herzen tage-, wochen- und monatelang in Sehnsucht oder in banger Furcht um einander geschlagen haben.
Gerhard Wien hatte auch nicht Zeit zu langem Liebeswerben; die leichte Schußwunde begann zu heilen, bald mußte er wieder gen Norden ziehen. Also warum zögern, wo es galt, sich das [595] Glück seines Lebens zu erringen? Hatten die Tage von Missunde und Düppel ihn nicht gelehrt, wie ein Held vorwärts zu gehen?
Aber wenn nun der Krieg aufs neue begann, wenn er nicht wiederkehrte? Daran dachte er nicht, das überlegte er gar nicht. Er wollte die Gewißheit seines Glücks mitnehmen, wenn er zum zweitenmal hinauszog in den Kampf – und dies junge Glück sollte ihn schützen, sollte ihm Trost und Talisman sein.
An einem warmen köstlichen Juniabend wanderten die beiden jungen Menschenkinder langsam in sinnendem Schweigen durch die ferner liegenden Gartenwege. Rings um sie her duftete und blühte es; die Schwarzdrossel sang im Gebüsch ihr süßes lockendes Liebeslied, und mit tausend Zungen redete die Natur ihre geheimnisvolle Sprache zu den lauschenden Herzen. Vor einem Rosenbäumchen, das seine frühzeitige schwere Blütenpracht fast bis zur Erde beugte, blieb Gerhard stehen und bat, was vor ihm schon Tausende baten und was nach ihm noch Tausende erbitten werden: „Schenken Sie mir eine Rose!“
Marie wandte den Kopf, ihr Erröten zu verbergen, und suchte mit großem Eifer nach einer Blüte, die nicht zu viel und nicht zu wenig sagte. Endlich war diese Auserwählte ihres Geschlechtes gefunden – keine vollerblühte dunkelrote, glühend wie die Liebe; keine farblose weiße, die von Entsagen und Sterben spricht; nein, eine jener zartgefärbten, mit weißen Blättern und rötlichem Kelch, die das Volk so sinnig „Mädchenerröten“ nennt.
Gerhard drückte die Rose an die Lippen, aber sie sah es nicht, ihre kleinen Hände pflückten angelegentlich ein paar welke Blüten von dem übervollen Strauch.
Gerhard zog sein Taschentuch hervor, die duftende Gabe hineinzulegen; da lag schon etwas zwischen den weißen Blättern, ein unansehnliches farbloses Sträußchen – die dürren Epheublätter raschelten in seiner Hand. Er nahm das Sträußchen, das mit einem arg zerdrückten blau-rot-weißen Seidenbande zusammengebunden war, und hielt es schweigend seiner Begleiterin vor Augen.
Verständnislos blickte Marie darauf nieder. Was sollte das ihr, was wollte er damit?
„Kennen Sie es nicht?“ fragte er mit verhaltener Erregung.
Sie schüttelte den Kopf. Wie lange, lange war es auch her, seit das Katteeker in Stines schweren Pantoffeln durch den beschneiten Garten gewandert, um Epheu und Buchs für die „Preußen“ zu schneiden, der Tante Hedwig zulieb – was war seitdem nicht alles geschehen!
„Kennen Sie auch die Schleife nicht, Fräulein Marie?“ fragte er dringender und zog das schmale Band sorgsam glättend durch die Finger.
Da kam ihr plötzlich die Erinnerung und verwirrt stammelte sie: „Das waren Sie ...?“
Er nickte. „Ja, ich war der Glückliche, der dies Sträußchen auffing, den Willkommgruß der Schleswig-Holsteinerin für den preußischen Eroberer.“
Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. „Die Kinder haben’s hinuntergeworfen, nicht ich ...“
Ihr heißes Gesichtchen verriet ihm jedoch mehr, als sie eingestehen wollte.
„Sie haben’s aber gebunden, nicht wahr?“ forschte er siegessicher.
Ein stummes Nicken und dabei fielen dem Katteeker die Worte ein, die sie damals zu Tante Hedwig gesagt hatte: „Für einen Wink des Schicksals werde ich es halten, wenn ich dieses Epheusträußchen jemals wiedersehe!“
Und tiefere Glut überzog ihre Wangen, wie sie in stummer Befangenheit, mit gesenkten Blicken, vor ihm stand, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
„Ich trug es bei mir, immer, immer!“ sprach er in steigender Erregung. „Es war wie ein Talisman, der mich schützte. Ich nehme es auch jetzt mit, wenn wir abermals hinaus müssen. Und wenn ich wiederkehre, Marie, wenn der Krieg vorbei und Schleswig-Holstein frei geworden ist – darf ich dann kommen und die Schleswig-Holsteinerin mit mir nehmen in mein Preußenland?“
Er hatte ihre Hände ergriffen und schaute ihr bittend in das schöne junge Gesicht.
Keine Antwort; aber nach einer Sekunde des Schweigens hob sie die Augen, die von Thränen verdunkelt waren und ihm doch fast noch glänzender schienen als früher, und sah ihn schweigend an – es bedurfte keiner Worte, wo das Herz so laut und verständlich redete. Und Gerhard beugte sich herab und küßte die süßen Lippen seiner jungen Braut.
Holstein und Preußen hatten sich zum zweitenmal die Hände gereicht!
Und wieder Krieg und wieder Waffenstillstand, der endlich den Frieden bringen sollte.
Nicht alle kamen wieder, die einst so hoffnungsfroh fortzogen. Wie vordem die Väter für die Freiheit starben, so folgten ihnen auch die Söhne nach – treu bis zum Tode. Aber Gerhards junges Glück, das er mit hinausgenommen, hatte ihn behütet, daß er zum drittenmal jetzt wiederkehren durfte zu dem epheuumrankten Haus in der guten altmodischen kleinen Stadt.
Anfang August war’s, als sie ihn erwarteten. In Christinens blitzblanker Küche saß die junge Braut und fügte mit zitternden Händen Zweig an Zweig, Blume an Blume für den Kranz, der ihren Liebsten grüßen sollte, wenn er heimkehrte; und immer ungeschickter wurden die kleinen Hände, immer ruheloser das heiße junge Herz. Kopfschüttelnd betrachtete Stine den Kranz, der gar nicht fertig werden wollte und schon zweimal mitten durchgerissen war. „Wenn’t man nix Slimmes to bedüden hett,“ murmelte sie vor sich hin, und endlich ließ sie ihren halbfertig gespickten Kalbsbraten im Stich und ging und nahm ihre Zuflucht zu ihrer Hilfe in allen Bedrängnissen.
„Jette, Se sünd je so geschickt, wüllt Se nich’n beten nach mien Kaek kamen un dat oll lütt Katteeker helpen? Dat quält und quält sik un kämt nich ut de Stell mit dat oll Kränsewinden!“
Und das gute alte Hausgeistchen legte sogleich Nadel und Schere hin, folgte Stine hilfsbereit in die Küche, und ihre flinken geschickten Hände nahmen dem Katteeker die mühsame Arbeit ab. Wie erlöst lief Marie davon, die Treppe hinauf zu ihrem Giebelstübchen, um auszuschauen, ob sie denn noch nicht kamen, und wieder hinab in die Küche, um zu fragen, ob der Kranz nicht bald fertig wäre. Und als sie auf diesen ruhelosen Streifzügen wieder einmal die Treppe hinuntereilte, hörte sie nicht enden wollendes Gelächter, blieb an der Küchenthür stehen und mußte trotz ihrer Aufregung doch selber mitlachen über die beiden närrischen Alten.
„Neihersch“ hatte den ellenlangen Kranz um die dicke Stine herumgewickelt, daß sie die Arme nicht rühren konnte und nun hilflos und kläglich dastand. Und „Neihersch“ stellte sich vor sie hin, knixte einmal übers andere und versuchte mit ihrer feinen hohen Stimme Stines derben Baß nachzuahmen. „Jette, weeten’s wat de Lüd segg’n? De Lüd segg’n: Herr Wien un Fru Genthin ... Nanu, lütt Stine, wer hett nu rech?“
„Was ist denn hier los?“ fragte das Katteeker neugierig, und nun kam die ganze schöne Reimerei, die plattdeutsche und die hochdeutsche, ans Tageslicht.
Marie lachte, daß ihr die Thränen übers Gesicht liefen, nahm die alte Stine mitsamt ihrem Kranz und drehte sie wie toll im Kreise herum. „Ne, Stine, mien lütt Stine,“ rief sie atemlos, „Du hest je doch rech, un en plattdütschen Vers is dat doch, man de heet: Herr Wien – dat’s mien!“
„Se kamt, se kamt!“ schrie der Kutscher, den man zum Ausguck auf die Landstraße geschickt hatte. Und kaum war der Kranz über der Hausthür befestigt, kaum waren Herr und Frau Genthin herbeigerufen und hatten den Kindern ein Blumensträußchen in die Hand gedrückt – da kamen sie wirklich.
„Herrejeses, de Scherschant is ok wedder dor!“ war das einzige, was Marie in dem ganzen Trubel noch hörte. Dann sprang jemand vom Wagen – im nächsten Augenblick lag sie in den Armen ihres Liebsten.
„Mein Eichkatzel!“ rief er jubelnd, „mien lütt söt Katteeker!“ Er sagte es ganz falsch – aber das machte nichts, es klang doch süßer wie die schönste Musik in den Ohren der glücklichen jungen Braut.
Dann hielt er sie bei der Hand und schaute ihr tief und selig in die Augen. „Und nun, mein Lieb, gilt auch für uns beide der Wahlspruch Deines Vaterlandes, das uralte Wort – unser Losungswort fürs ganze Leben:
- ↑ sollen.
- ↑ sechs
- ↑ Scheffel.
- ↑ Kälte.
- ↑ zehn.
- ↑ draußen.
- ↑ blau–rot–weiß.
- ↑ klug.
- ↑ Rackerzeug.
- ↑ sieben.
- ↑ wartet.
- ↑ Erbsen.
- ↑ süß.
- ↑ Frösche.
- ↑ dem alten Tier Nußschalen unter die Füße kleben.
- ↑ grauen, fürchten.
- ↑ zutrauen.
- ↑ belauert.
- ↑ hätten.
- ↑ vom Leib geblieben.
- ↑ lernen.
- ↑ dazu.
- ↑ aufgegeben = angerichtet.
- ↑ sagte.
- ↑ gedient.
- ↑ niemand.
- ↑ hitzig.
- ↑ Fuchs.
- ↑ neunmal klugen
- ↑ angeführt.
- ↑ Terpentin.
- ↑ schmeißen, werfen.
- ↑ hinten.
- ↑ heiß, notwendig.
- ↑ Liebesleute.
- ↑ Eine Verwandte von der Mutterseite.
- ↑ sagte.
- ↑ Peitsche.
- ↑ genug.
- ↑ halte.
- ↑ früh.
- ↑ totschießen.