Die Heimath in der neuen Welt/Zweiter Band/Zweiundzwanzigster Brief
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So lieb es mir war, meine Agatha, den Brief vom 12. Juli zu erhalten, der so warm ist von guten, liebreichen Gefühlen, so sehr schmerzt es mich, Dich so schwach und leidend zu sehen, und ich empfinde beinahe eine Gewissensqual darüber, daß ich nicht bei Dir bin und Dir in Allem, was ich kann, helfe, wenigstens bei den Kranken auf dem Land, denn diese Mühe war zu viel für Dich. Und eigne Kränklichkeit verhindert die Krankheit Anderer mit einiger Ruhe hinzunehmen. Ich suche mich damit zu trösten, daß Du jetzt in Marsstrand bist, fern von den Kümmernissen und Sorgen des Tages, und daß Du in den für Dich immer so wohlthätigen Bädern neue Kräfte schöpfst. Ach möchten sie für Dich das werden, was meine siebzehn bis achtzehn Bäder in Cap May für mich waren! Von meiner früheren Krankheit ist mir jetzt immer noch eine Neigung zum Herzklopfen geblieben, aber meine kleinen homöopathischen Pillen haben noch nie ermangelt diesen Anwandlungen abzuhelfen. Was mein Hierbleiben auf einige Monate betrifft, so ist es beinahe eine Nothwendigkeit geworden. Ich habe nicht fortkommen können, habe nicht Alles sehen und betrachten können, was ich sehen und betrachten muß, bevor der Winter kommt. Meine Reise in den Westen liegt als große Aufgabe vor mir. Sie kann mit Nutzen nicht unter 10—12 Wochen gemacht werden, und zieht mich weit in den November hinein; aber von Nordamerika nach Hause zu kommen, ohne den großen Westen und sein wachsendes Leben gesehen zu haben, das wäre für mich, als hätte ich die Oper Gustav Wasa gesehen, ohne die Rolle des Helden darin. Im December könnte ich nach Hause kommen, aber ich gestehe, daß ich die lange Seefahrt während dieser Jahreszeit ein wenig fürchte, obschon sie allerdings wohl gemacht werden könnte, und ich müßte dann Manches ungesehen lassen, was zu sehen und kennen zu lernen für mich unendlich Werth hat, Dinge, denen ich nie wieder nahe zu kommen Gelegenheit haben werde.
In vier bis fünf Monaten, nach dem December hoffe ich mit Allem fertig zu werden, was ich hier sehen muß, und dann, meine liebe Agatha, komme ich und bleibe bei Dir in Marstrand, in Stockholm, in Arsta, wo Du nur willst, und dann wollen wir sprechen und denken und lesen und schreiben und, will’s Gott, das Leben zusammen und mit unserer guten Mama genießen, und wollen das Böse mildern, im Fall wir es nicht gut machen können. Meinetwegen brauchst Du nicht unruhig zu sein, ich habe meinen kleinen Reisekobold bei mir auf dem Wege, und dieser hilft mir bei allen Vorkommnissen. Auch spüre ich nach den guten Seebädern neuen Muth in mir, es mit den Riesen im Osten sowohl als im Westen aufzunehmen. Und wenn ich sie sehe, so glaube ich, daß meine Kraft riesengleich wachsen wird. Könnte ich nur Deinetwegen ruhig sein! …
Dein Brief aus Marstrand! Ach, Gott sei Dank dafür! Er machte mich glücklich. Denn der frühere Brief hatte mir Herzensangst erregt. Wie froh bin ich, daß Du wieder zu Kräften kommst und das Leben wieder genießen kannst! Ich segne die salzigen Bäder, ich danke Gott und hoffe alles Gute für Dich in der Zukunft. Denn im nächsten Jahr werden wir zu vier bemüht sein, Deiner Gesundheit wieder abzuhelfen, ich, Du, das Meer und die Homoöpathie. Und wie angenehm, Dich ein wenig über das eine und andere so gemüthlich und lebhaft plaudern zu hören! Ueber den Einzug der Prinzessin in Stockholm; — wie freut es mich, daß sie so schön empfangen wurde und daß sie so gut sein soll und so anmuthig aussieht! — Ich sehnte mich recht eigentlich etwas von ihr hören zu dürfen. Ich hätte mit unter dem Volk sein mögen, das ihr Blumen zuwarf, und wie gern hätte auch ich ihr mein Willkommen zugerufen!
Und Jenny Lind ist wirklich auf dem Wege nach Amerika! Ein schrecklicher Willkomm erwartet sie hier. Wenn sie mit dem Leben davon kommt, so darf sie von Glück sagen. Das Gerücht von ihrer Wohlthätigkeit[WS 1] und ihrem Charakter öffnet ihr mehr noch als der Ruf ihres Kunstgenies alle Herzen und Arme, und ein Engel vom Himmel ist nicht so vollkommen, wie man sich Jenny Lind denkt, und wäre nicht halb so willkommen. Die Amerikaner sind geborene Enthusiasten, und ich will deßhalb nicht mit ihnen hadern. Kein Mensch und kein Volk bringt es zu etwas Großem, wenn es nicht die überschwellende Kraft besitzt, die sich im Enthusiasmus Luft schafft. Der kritisirende Sinn ist für alte Leute oder für geringe Leute.
Die Briefe von Haus, die ich hier erwartete, bevor ich weiter über meine Reise bestimmte, machten mich so glücklich, daß ich zu Rebekka hinabeilen mußte, um ihr den lieben Inhalt derselben zu erzählen, und wir umarmten einander voll Freude über sie, wie auch über die Aussicht, noch eine Zeit zusammenleben zu können. Und jetzt werde ich mit Springs nach „Cony Island“ gehen, einer Insel in der Nähe von New-York, wo man eine Badanstalt hat und wo ich einige gute Seebäder nehmen kann. Sodann begleiten mich Springs ein Stück weit auf meiner Reise nach dem Westen, den Hudson hinauf bis zu dem Schäker-Staat in Neulibanon, wo die jungen Lowells mit mir zusammentreffen und an den Niagara fahren wollen. Springs können nicht so weit mitkommen, obschon sie sehr gerne möchten. Meine Freunde Downings bekomme ich leider dießmal nicht zu sehen, aber meine letzten Wochen hier zu Land werden ihnen gehören.
In diesem guten und beinahe vollkommenen Haus ist Alles gut, liebreich, friedlich, sich gleich. Um Rosenhütte her reifen Früchte, Pfirsiche, Aprikosen, Pflaumen, Trauben. Ganz Brooklyn und auch New-York ist in diesem Augenblick einer Obstbude gleich voll von Pfirsichen und Aprikosen. Und welche Pfirsiche! Hesperiens Früchte. Und welche Masse von Hesperiens Früchten! Jeder kleine Junge und jedes kleine Mädchen in der Union können sich satt daran essen. Eddy ist glücklich im Grünen mit einem ganzen Schwarm kleiner Kaninchen, und Baby steht mit seinem goldgelockten Köpfchen im Garten und freut sich, wenn Schmetterlinge kommen und sich darauf setzen in der Meinung, daß es eine Blume sei. Der holde Junge ist indeß noch schwächlich, und die Eltern gehen seinetwegen viel an den Meeresstrand.
Ich fand Marcus und Rebekka, wie auch mehrere andere Freunde dahier, betrübt über das neue Gesetz in Betreff geflüchteter Sklaven, das diesen Unglücklichen alle Sicherheit im Land der Vereinigten Staaten raubt. Bereits sind alle Sklavenfänger aus den südlichen Staaten in Bewegung, und Tausende von ehemaligen Sclaven verlassen jetzt ihre Freistätte in den nördlichen Staaten und fliehen nach Canada hinauf oder übers Meer nach England. Erst neuerdings wurde ein entlaufener Sklave in Boston aufgefangen und in die Sklaverei zurückgeführt. Das Volk war in großer Gährung, leistete aber keinen offenen Widerstand. Das Gesetz befahl, und man gehorchte. Aber die Glocken in Boston läuteten wie bei einem Begräbniß. Wie theile ich die Gefühle meiner Freunde über diese Schmach ihres Landes, daß es jetzt kein Stückchen Erde geben soll, das man ein Asyl der Freiheit nennen könnte! Sie sind erbittert, nicht über den Süden, sondern über denjenigen Theil der Bevölkerung des Nordens, der aus Mammons-Interesse oder Baumwollen-Interesse, wie die Phrase lautet, sein edelstes Recht vergibt. Der Süden kämpft für ein alt vererbtes Recht; der Norden hat keine solche Entschuldigung.
Ich verstehe und liebe die Geneigtheit meiner Freunde viel aufzuopfern und viel zu leiden, um dieses unglückselige Sklavereiverhältniß verändern zu können; aber ich kann ihre Ansichten in der Frage nicht volkommen theilen, und ich habe in allen Dingen bessere Hoffnungen als sie. Ich glaube mehr an den Sieg des edleren Südens und des edleren Nordens. In dem großen Kampf zwischen Gott und Mammon ist dieses Sklavengesetz zwar eine verlorene Schlacht, aber noch keine entscheidende. Ich glaube mit Clay und Webster, daß es ein von der Nothwendigkeit des Augenblicks erforderter Rückschritt ist, aber um so größere Fortschritte auf dem Wege der Freiheit vorbereitet. Inzwischen von alledem habe ich von Washington aus mit Dir gesprochen.
Bald nachdem Clay den Congreß verließ, um an die Meeresküste zu fahren, gingen beinahe alle Maßregeln durch, die er in seiner Compromißbill oder Omnibusbill vorgeschlagen, als sie aus dem Omnibusfuhrwerk genommen und über jeden einzelnen Artikel abgestimmt wurde, wobei auch einige von ihnen kleine Veränderungen erlitten. Der große Staatsmann hatte vermuthlich die einzige mögliche Bedingung einer Versöhnung zwischen Norden und Süden gefunden. Einige der südlichen Staaten sind inzwischen noch mißvergnügt, und Südcarolina, sowie Missisippi schreien laut nach Trennung von der Union; Carolina soll sich ernstlich zum Kriege rüsten. Aber dieß ist thöricht und wird dem Palmettostaat schaden, der wohl keine große Unterstützung finden wird, daher er auch allein unter den vielen Nichts bedeutet und Nichts ausrichten kann.
Unter der Redegegenständen steht gegenwärtig das Schlußbekenntniß und der Tod des Mörders Webster obenan. Aber wo in den Vereinigten Staaten ist diese Verbrechergeschichte nicht besprochen worden? In Charleston und Savannah, wie in Boston und New-York war die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Prozeß gerichtet; alte Herrn und junge Mädchen nahmen für oder wider Professor Webster Partei, und ein allerliebstes fünfzehnjähriges Mädchen in Savannah hatte sich in ihr Köpfchen gesetzt, daß ein gewisser Mr. Littlefield, der Hauptankläger, und nicht Webster, der Mörder Parkmans sei, und disputirte für diese Behauptung auf eine ebenso lebhafte als lustige Art. Inzwischen bekannte sich Webster selbst, nachdem er sich lange Zeit mit unzähligen Lügen hinauszuhelfen gesucht, als Mörder; er gestand dieß, wie man sagt, in der Hoffnung auf Begnadigung, da er behauptete, er habe den Mord zu seiner Selbstvertheidigung verübt. Aber so viel bei der Geschichte sprach dagegen, und Webster hatte sich die ganze Zeit als ein so gewissenloser Lügner gezeigt, daß er keinen Glauben fand, sondern von den Richtern von Massachusetts zum Tode verurtheilt wurde. Der unitarische Geistliche, Mr. Pibody, bereitete ihn zum Tode vor, dem er mit ergebungsvoller Fassung entgegen ging. Seine beklagenswerthe Frau und Kinder, die bis in die letzte Zeit an seine Unschuld geglaubt haben, sollen sich vortrefflich benehmen. Sie arbeiten für Geld, und sollen die Geldunterstützung, welche die Wittwe des Ermordeten ihnen edelmüthig angeboten, ausgeschlagen haben. Eine der Töchter ist auf Madeira verheirathet und ansäßig, eine andre ist verlobt, und man sagt, die ganze Familie wolle Amerika verlassen und nach Madeira übersiedeln. Es freut mich, daß sie fortreisen können. Ungeachtet Webster des Mords und einer niederträchtigen Gesinnung[WS 2] überwiesen ist, so spricht sich doch in den nördlichen Staaten das öffentliche Gefühl so stark gegen die Todesstrafe aus, daß es sich auch bei dieser Gelegenheit in mehrfachen Protestationen Luft geschafft hat. Eine Familie, die in einem Haus schief gegenüber dem Gefängniß wohnte, wo Webster hingerichtet werden sollte (die Hinrichtung geschieht im Hof des Gefängnisses) zog um diese Zeit aus dem Hause fort, und schrieb auf dessen Thüre: „Gegen die Todesstrafe.“
Wieder am Meer; wieder ein frischer Athemzug am großen Meer in Gesellschaft meiner trefflichen Freunde. Marcus befindet sich wohl und genießt das Leben hier. Baby wird mit jedem Tag besser. Der Platz ist einsam und wild romantisch. Der Mond glänzt prachtvoll über dem Meer, das stark vom Winde aufgeregt braust. Ich spaziere Abends mit Marcus am Meeresstrand umher, und zu Hause erzählt mir Rebekka in dem klaren Mondschein Ereignisse aus der Geschichte des innern Lebens, welche von dem wunderbaren Leben und der Leitung des inneren Lichtes bei den Seelen zeugen, die in stiller, in sich gekehrter Aufmerksamkeit darauf achten. Kleine Feuer in geraden und in krummen Linien glänzen Abends auf den Sandklippen am Meer und zwischen den Bäumen am Strand. Es sind „Clams“ (eine Art großer Muscheln), die man zum Abendessen bratet, während man über ihnen im Sande Reisig verbrennt. Sie haben einen delikaten Geschmack und kommen mir besser vor, als die Austern. Das Wetter ist frisch, die Bäder erfrischend. Wir sind alle vergnügt, alle glücklich.
Ehe wir von Brooklyn abreisten, hörten wir eines Sonntags den jungen H. Beecher predigen. Er hatte sich in einer Kirchenzeitung, deren Mitarbeiter er ist, scharf über das neue Gesetz gegen die geflüchteten Sklaven ausgesprochen. Viele Mitglieder seiner Kirche hatten dieß sehr übel genommen. Und Beecher sprach jetzt von der Kanzel herab sein Glaubensbekenntniß über die Pflicht des Geistlichen im Verhältnis zu der Gemeinde und zu seinem Gewissen aus. Er that dieß in wenigen, aber kräftigen Worten also: „Wenn Gottes Gesetz und mein Gewissen mir etwas gebieten, und ihr (die Gemeinde) sagt, daß ich nicht ihm, sondern Euch gehorchen müsse, wenn ich länger unter Euch bleiben wolle, wohlan, dann muß ich – gehen! Und ich werde gehen, wenn ich nicht mit gutem Gewissen da bleiben kann.“ Die Kirche war übervoll, die Gemeinde tief ernst wie der Geistliche selbst. Inzwischen hat es keine Gefahr, daß Beecher gehen müßte. Man achtet und liebt ihn zu sehr, um ihm nicht nachzugeben, da man weiß, daß er im Grunde Recht bat, wenigstens in der Sache, wenn auch nicht immer in der Art.
Jetzt, geliebte Agathe, bereite ich mich zur Abreise nach dem großen Westen, der vor mir steht, wie eine Art mythologischer Nebulosa, halb Nebel, halb Glanz, und von dem ich weiter nichts Rechtes weiß, als daß er groß ist, groß, groß. Wie? In was? Auf welche Art? Ob er von Göttern oder Riesen, von Kobolden oder Zaubergeistern, oder von all den alten mythologischen Herrschaften zusammen bevölkert ist, — das gelüstet mich zu sehen. Das Thor und Loke sich noch tüchtig herumkämpfen in diesem märchenhaften Utgard, das ahne ich, und daß auch Zaubergeister hier zu Haus sind, das weiß ich von gewissen spukenden Klopfereien, „spiritual rappings oder knockings“ genannt, von denen ich viel Sonderbares gehört und gelesen habe, seit ich ins Land hier gekommen bin. Geisterklopfereien im Westen sind dermalen ein stehender Artikel in den Zeitungen, und werden theils mit Spott, theils mit Ernst behandelt. Aber Iduna mit den Früchten der Erneuerung, gewiß ist auch sie hier zu finden in dem Eden der untergehenden Sonne! Stehen nicht die Alleghany-Berge und der Niagara gleich Riesenwächtern an seinem Eingang, um die Pforten zu dem Lustgarten der neuen Heimath zu öffnen? Die herrlichen Cherubim verbieten den Eintritt nicht, sie laden ein.
Durch die östlichen Küstenstaaten strömt Amerikas Bevölkerung herein. Sie bilden die Pforten des Vorhofs. Aber der Westen ist der große Lustgarten, wo die großen Flüsse strömen, wo die Bäume des Lebens und des Todes stehen, wo die Zunge der Schlange und Gottes Stimme aufs Neue für neue Menschenpaare vernehmlich sind.
Dieses große räthselhafte Westland mit den Riesenflüssen, den Riesenkatarakten und Riesenseen, mit dem Missisippi-Thal und den Felsbergen und dem Goldland und dem stillen Meer, mit Büffeln und goldnen Kolibris, das Land, das aus sich Staaten erzeugt wie Menschen Kinder, und wo die Städte in einem Mannesalter groß wachsen, wo das Losungswort des Lebens Wachstbum, Fortschritt heißt, dieses räthselhafte land der Verheißung, das Land der Zukunft, das will ich jetzt sehen!
Ich sehne mich darnach als nach dem Orakel, das auf viele Fragen meines Geistes Antwort geben soll.
Mein Körbchen ist voll von Bananas und Pfirsichen; mein Reisekobold ist bei mir und ebenso euer letzter Brief, meine Geliebten! Und jetzt begebe ich mich fröhlich nach dem großen Westen.
Anmerkungen (Wikisource)
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