Die Hochzeitsreise

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Autor: Zoë von Reuß
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Titel: Die Hochzeitsreise
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24–26, S. 381–384, 397–400, 413–419
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[381]
Das alleinige Recht der     
Dramatisierung vorbehalten.

Die Hochzeitsreise.

Humoreske von Zoë von Reuß.

 1.

„Und als der Großvater die Großmutter nahm,
Da war der Großvater ein Bräutigam,
Und sie war eine Braut!“

paukte der gemiethete Clavierspieler und sangbegleitend der sich im Tanzschritte durch alle bewohnbaren und nicht bewohnbaren Räume fortbewegende Chor. Der Bräutigam-Assessor hatte sich mit der Braut pflichtschuldigst an die Spitze gestellt, um die Tour anzuführen. Aber der Schwiegervater-Stadtrath hatte mit Scharfblick das Brautpaar von heute zur Seite geschoben und Großmama mit ihrem Cavalier, dem Rentier-Hausfreund-Erbonkel, an die Tête gedrängt. Die Alten konnten das besser! Was weiß unsere leichtbewegliche, hastige Gegenwart von der würdevollen Grandezza, von dem selbstbewußten und doch so unendlich naiven Genügen, welches unsere Ureltern den Großvatertanz ersinnen ließ? Dazu gehört Zeit, Ruhe, Würde und fingerdicker Brokat und steifleinene, lanzenspitze Vatermörder nebst einer goldenen Tabatière, wie sie der Onkel jetzt hervorzog und im Scherze seiner Dame präsentirte. Ja, es blieb wirklich ein Vergnügen, Großmama an der Seite ihres gemüthlichen Gesellschafts-Entoutcas sich im regelrechten Polonaisenschritte über den Parquetboden fortbewegen zu sehen. Wie sie bei der Sache war! Sie wollte es absichtlich nicht bemerken, daß der Zeiger der Wanduhr während des Umgangs bereits zehn Minuten fortgeschritten war, und daß der Kukuk draußen aus dem Vorzimmer durch seinen Ruf soeben an die schnellere Vergänglichkeit der[WS 1] glücklichen Minuten mahnte –

„Du mußt Dich wirklich nun umkleiden, liebes Kind, Ihr versäumt den Zug!“

Mit diesen Worten trieb der Vater das einzige geliebte Töchterlein selbst aus dem Hause. In Hochzeits- und Weinlaune floß das Wort so leicht von den Lippen, als gäbe es kein Morgen und keine Einsamkeit nach ihrem Scheiden. Tante Bertha, die in der Nähe stand und die Worte gehört hatte, machte ihrem Tänzer, dem alten Major, einen Knix und wandte sich trippelnd zu dem Brautpaare. Sie hatte es einmal übernommen, der lieben Mieze all die schönen und doch so aufregenden und beschwerlichen Tage hindurch behülflich zu sein, und wollte der Braut nun auch noch den letzten Dienst leisten und ihr beim Umkleiden helfen.

Tante und Nichte hatten nämlich ein Komplot geschmiedet, um Mama zu hintergehen. Marie wollte sich heimlich hinwegstehlen, um nicht Abschied nehmen zu müssen. Mama that auch, als wisse sie von nichts, und war nur mit ihren wirthlichen Pflichten beschäftigt. In diesem Augenblicke stand sie drüben in der Ecke und fächelte sich mit dem spitzenbesetzten Taschentuche. Es war wirklich nicht so leicht, eine respectable Brautmutter zu sein. Aber, du lieber Gott, was thut man in der Welt nicht alles um der Ehre willen! Erst hat man sein liebes einziges Töchterlein ohne allzu viel Bedenken dahingegeben. Er ist zwar brav, der Schwiegersohn – wenigstens so wie die Männer heutigen Tages sind. Aber man hätte sie eigentlich doch gern noch ein bis zwei Jahre im Hause behalten. Wenn es nur nicht so hübsch wäre, im Bekanntenkreise die Erste zu sein, die eine Tochter verheirathete. Wirklich, Mieze war rasch an den Mann gekommen, trotzdem sie nur eine mittelmäßige Partie war. Auch ließ sich gegen den Schwiegersohn absolut nichts einwenden. Er würde gewiß dereinst Carrière machen. Und beim Hochzeitsdiner war gleichfalls alles vorzüglich gewesen, vom Sect bis zum Radieschen hinab. –

„Du lieber Gott, wo bleibt aber nur der Kaffee? Selbst als Brautmutter muß man bei jeder Kleinigkeit nachsehen und trotz der Schleppe hinaus in die Küche.“

Die junge Frau war inzwischen in Begleitung von Tante Bertha in ihr kleines stilles Mädchenstübchen getreten. In dem freundlichen wohlgepflegten Raume sah es heute bunt und kraus aus. Da lag noch die heliotropfarbene Seidenrobe und der Hut mit den Orangeblüthen, den sie bei der Civiltrauung getragen hatte. Dazu Mantille und Handschuhe. Und dort in der Ecke hing der feine graue Reise-Anzug. Wie sie sich auf die Reise [382] freute! Sie war noch so wenig gereist. „Warum nur Gustav das Reiseziel noch immer nicht nannte? „Ich werde Dich mit dem herrlichsten Reiseplane überraschen, liebes Herz!“ hatte er noch gestern gesagt. Nun, der Augenblick ist gekommen, wo sie es erfahren mußte. Wenn es nur ein Bischen weit in die Welt hinaus ginge, am liebsten nach der Schweiz, oder gar nach Italien! Alle Freundinnen hatten die Reisetoilette mit Neid betrachtet, und Lili Berger und Frieda Menke hatten sich vorgenommen, wenigstens eine Hochzeitsreise zu machen, falls sie alte Jungfern würden – mit einander.

„Da ist noch ein Brief an Dich, liebe Marie, wohl noch ein verspäteter Glückwunsch,“ sagte Tante Bertha.

„Von Fritz aus Heidelberg? Der gute Junge! So hat er doch an mich gedacht, trotzdem er mitten im Examen steht. – Bitte, Engelstantchen, hilf mir aber jetzt erst den Schleier lösen.“

Tante Bertha vergrub die mageren Finger in die reichen blonden Haarwellen und löste mit Vorsicht und Geschicklichkeit die goldenen Nadeln, die Schleier und Kranz auf Mariens anmuthigem Köpfchen festhielten. Dann faltete Tante das duftige Spinngewebe mit stiller Andacht zusammen und schob es in den Carton. Nachher half sie Mieze aus dem hochzeitlichen Gewande schlüpfen. Bald stand diese im Reise-Anzuge, während sich die Finger der alten Jungfer wieder und wieder nach den abgefallenen Myrthenblüthen wie nach kleinen Reliquienresten bückten, trotzdem die unruhigen Füßchen der aufgeregten Braut achtlos darüber hinweg trippelten. Und dabei konnte es Tante Bertha leider nicht verhindern, daß sich zwei einzige, aber große Thränen aus den sanften, halberloschenen Augen drängten, sich rücksichtslos durch die Fältchen und Krähenfüßchen ihren Weg bahnten und heiß und schwer auf die zertretenen Myrthen niederfielen. Zum Schrecken der Tante hatte es die Nichte bemerkt.

„Tantchen, Du weinst?“ frug diese erstaunt, und nur mit sich beschäftigt. „Wir kehren ja bald zurück, und dann bist Du unser lieber Hausgeist …“

Dann – von einem andern Gedanken überrascht, lag sie plötzlich am Halse der alten Jungfrau und küßte sie mit Zärtlichkeit. Sie erinnerte sich eines Bildnisses über Tantchens Schreibtische, das immer neu mit Immortellen bekränzt war. Es stellte einen Mann dar in feiner, aber altmodischer Kleidung.

„Wenn ich Papst werde, spreche ich Dich heilig!“ setzte sie voll Rührung und Enthusiasmus hinzu.

Die Tante lächelte und schickte sich an, die Schleppe der jungen Frau zu schürzen. Die Reisetoilette war vollendet.

Marie nahm noch die perlgrauen Handschuhe und schnallte sich die kleine Ledertasche um. Sie enthielt Taschentuch, Flacon und das Notizbuch zum Aufzeichnen der zu betrachtenden Merkwürdigkeiten. So – auch das Portemonnaie noch hinein, das Kleingeld darinnen sollte der erste Arme erhalten, welcher ihr auf der Reise begegnete. Nun noch einen Blick in den Spiegel, und sie war fertig.

Plötzlich schien ihr noch etwas einzufallen. Sie trat eilig zum Bauer des Kanarienvogels, um ihm noch einmal sein Futter zu geben.

„Da, Hänschen, zum letzten Male!“

Dann nahm sie die Wasserkaraffe, um den Epheu zu begießen. Die Blätter hingen welk herab.

„Das Kind hat einen liebenden, vorsorglichen Sinn,“ pflegte der Vater zuweilen mit Stolz von dem Töchterlein zu sagen. „Und das ist mehr werth, als das bischen Englisch und Französisch unserer jungen Damen.“

Nun noch einen Blick, halb wehmüthig, halb stolz und freudestrahlend, auf das zurückgelassene Mädchenparadies – und sie stand draußen in dem Vorzimmer, wo der Assessor die Braut erwartete. Den nur flüchtig gelesenen Brief trug sie noch in der Hand.

„Endlich, liebes Herz!“

„Ich ließ wohl lange warten?“

„Ein wenig. Du ziehst mich bei Zeiten.“

„Wann geht der Zug? Haben wir denn überhaupt noch Zeit?“

„Das kommt darauf an, wohin wir uns wenden.“

„So bist Du immer noch nicht einig über den Reiseplan?“ Die Frage klang überrascht, fast ein wenig unfreundlich. „Ich brenne darauf, das Ziel endlich zu erfahren!“

„Vollkommen einig und entschlossen. Das heißt, wenn der Plan auch Deine Zustimmung erhält.“

„Nun?“

„Das Ziel unserer Reise ist das Ziel, nach dem wir Beide überhaupt seit Jahresfrist unausgesetzt strebten: unsere eignen vier Pfähle, das Haus!“

„Was soll das heißen, Gustav?“

„Das heißt, daß wir, anstatt uns selbst zu einem wochenlangen ungemüthlichen Hôtelleben zu verdammen, sogleich die eigne lang ersehnte Häuslichkeit aufsuchen wollen.“

„Wie? Was?“

„Ich muß mich näher erklären; auch Du, liebes Herz, bist ein Kind Deiner Zeit – Gebrauch und Sitte lassen auch Dir das natürlichste Ding von der Welt auffallend und sonderbar erscheinen. Aber giebt es wohl etwas gleich Lächerliches wie die Modethorheit, das lang ersehnte Ziel willkürlich auf Wochen oder Monate hinauszuschieben? Ach, Kind, der Mann, den Beruf und Verhältnisse, wie mich, frühzeitig in die Welt hinausdrängten – wie oft sehnt er sich vergebens nach dem Banne einer eignen glücklichen, friedvollen Häuslichkeit! Seit ich Dich kennen lernte, war es mein bester Trost, wenn ich mir ausmalte, wie wir bald in der Traulichkeit unseres Hauses beisammen sein würden. Und nun, wo mir ein gütiges Geschick die Erfüllung giebt, soll ich einer thörichten Mode zu Gefallen selbst den Zeitpunkt der Entsagung verlängern? Sonderbare Sitte, die uns zwingt, das Gold unserer Liebe in Kreise hinauszutragen, die uns nöthigen, es wie Contrebande zu verstecken! Die Hochzeitsreisen sind ein Gebrauch, der uns von anderen Nationen zugekommen, englischer Spleen und amerikanische Hast haben ihn geschaffen. Auch mögen sie für jene Nationen passen. … Aber der Deutsche mit seinen idealen Begriffen von Haus und Ehe soll die Ehe nur an der gesegneten Stätte beginnen, wo sein Haus steht und sein Glück Wurzel schlagen soll! Unsere Großeltern wußten nichts von Hochzeitsreisen.“

Marie, die den Worten des Gatten überrascht und fast erschrocken gelauscht hatte, mußte jetzt unwillkürlich an Großmama denken. Sie hatte noch vorgestern, durch die ewigen Hochzeitsgespräche angeregt, mit einem entsetzlich treuen Gedächtnisse weitläufig alle kleinsten Umstände bei ihrer eigenen Verheirathung wieder und wieder erzählt. Auch wie sie bereits am ersten Tage das Scepter des Hauses übernommen und dem Gatten das Leibgericht, Rindfleisch mit Pastinaken, gekocht, ja sogar selbst die lange Meerschaumpfeife gestopft habe, mit welcher er zwischen den regelrecht abgezirkelten Ranunkelbeeten des Hausgärtchens nach dem Morgenkaffee spazieren gegangen war.

Mama hingegen hatte natürlich schon ihre Hochzeitsreise gemacht. Und Mama würde es auch niemals dulden, daß es anders sei. Sie hielt streng auf Ordnung und Sitte.

Diese Ueberzeugung gab Marie endlich Muth zu reden.

„Ich hätte wirklich nicht geglaubt, daß Da mit einem so merkwürdigen Verlangen an mich heran trätest, Gustav!“ sagte sie nicht ohne Verdruß. „Ich hatte mich so sehr auf die Reise gefreut.“

„Wenn Du nicht einverstanden bist, so treten wir diese Reise natürlich an. Es gehen noch vier Züge und zwar nach allen vier Himmelsgegenden. Du hast nur zu bestimmen, wohin wir uns wenden wollen, liebes Herz! Verzeihe, wenn Dir meine Bitte zu groß erscheint, aber ich rechnete dabei auf die Stärke und Opferfreudigkeit Deiner – Liebe!“

„Gustav, den Vorwurf verdiene ich nicht!“

„Sieh, liebes Herz, ich dachte es mir so schön, wenn wir gleich in Glück und Weihe im eigenen Hause bei einander wären – Du allein auf mich angewiesen und ich auf Dich. Es giebt eine Kindheit, welche das Gemüth nie verliert: die Kindheit der Liebe! Diese vollbewußte Kindheit würde uns blühen, wenn Du daheim für mich sorgen müßtest und ich für Dich! Später werden die Mutter und die Tanten kommen und Dich das Hauswesen nach allen Regeln und Finessen führen lehren. Uns gegenseitig zu führen, kann uns nur unsere Liebe lehren! Denke Dir einmal, daß wir auf eine einsame Insel verschlagen wären – würden wir, Du mit mir und ich mit Dir, unglücklich sein? Haben wir uns im Scherze solche Robinsonade nicht zuweilen gewünscht?“

Die junge Frau antwortete nicht, aber sie hatte sich schon beim Beginn seiner letzten Worte an seine Brust geschmiegt. Er [383] küßte sie innig, fast weihevoll und streichelte ihr die blonden Haarwellen wie einem Kinde. Dabei bemerkte er den Brief in ihrer Hand und frug:

„Woher?“

„Aus Heidelberg. Vom Vetter Fritz. Noch eines zu den vielen Glückwunschschreiben und Depeschen. Er – hofft uns in Heidelberg zu sehen …“

„So wünschest Du wohl, daß wir uns dorthin wenden?“

„Du lieber Gott, wenn nur die Reisetoilette nicht so hübsch wäre! Steht sie mir nicht reizend?“

„Versteht sich. Aber Du wirst nicht weniger hübsch darin aussehen, wenn wir in den Gerichtsferien eine Erholungsreise machen. Den Plan dazu machen wir daheim mit einander.“

„O, ich möchte ja gern mit Dir zu Hause bleiben – Du hast ja Recht – ich glaube wenigstens. Aber es ist doch zu unmodern, zu unpassend. Es gehört nun einmal zum guten Ton. … Wo wollen wir denn auch die großen Photographien herbekommen, die in ein elegantes Heft gebunden auf dem Sophatische der neuen Einrichtung liegen müssen? So wie bei Lieutenant Wendler’s? Du weißt doch? Auf der Außenseite steht in großen Goldbuchstaben ‚Unsere Hochzeitsreise!‘ Solch ein Album, Gustav, muß ich haben. Es gehört einmal zu jeder neuen und eleganten Einrichtung.“

„Ich kaufe es beim Kunsthändler – viel billiger, und schenke es Dir zum Geburtstag.“

„Und dann – lache mich nur aus! – ich möchte auch gern einmal etwas erleben. Daheim erlebt man nichts.“

Ueber das kluge und ansprechende Gesicht des Assessors glitt jetzt ein schelmisches Lächeln.

„Nun, ist es nicht auch beinahe ein Abenteuer, wenn ich Dich – ganz heimlich – in mein Haus entführe, und dort – gefangen halte? Nicht hinter Kerkermauern und Eisenstäben, aber hinter dicht geschlossenen Gardinen und fest herabgelassenen Rouleaux? Dies Abenteuer hast Du sicher, es ist neu, pikant und – ungefährlich.“

Die junge Frau schien frappirt.

„Wirklich, Du hast Recht,“ sagte sie, ihn aus großen verwunderten Augen liebevoll, fast kindlich anblickend, „wenigstens in Bezug auf das Originelle der Situation. Ich hätte nicht gedacht, daß man ein Abenteuer, und noch dazu ein ganz apartes, so billig haben könnte.“

„Also Du willigst wirklich ein, daß wir unsere Hochzeitsreise zu uns selbst machen?“ frug noch einmal lachend der glückliche Assessor und zog die Geliebte triumphirend an sein Herz.

Ein liebendes Herz ist leicht überzeugt – bittende Blicke sind ihm bestimmende Gründe, und ein zärtlicher Händedruck gilt ihm als vollgültigster Beweis. Darum war auch jetzt ein langer Kuß die einzige wohl verstandene Antwort.

„Halt, ich stelle eine Bedingung!“ fuhr Marie nach einigem Besinnen dennoch plötzlich fort. „Niemand darf von unserem Hierbleiben erfahren! Mama würde außer sich gerathen und Dich vermuthlich einen Tyrannen nennen – der Du allerdings auch bist! Und Lili Berger und Frieda Menke würden sich in’s Fäustchen lachen und meinen, daß ich schon jetzt unter dem Pantoffel stehe –“

„Während man es doch umgekehrt erwartet?“ warf der Assessor lachend ein.

„Still! Hörst Du – Niemand darf ein Sterbenswörtchen erfahren!“

„Wenn ich auch lieber ganz öffentlich zu Hause bliebe, so mag alles Uebrige doch ganz nach Deinem Wunsche geschehen. Auch geht es ohnehin kaum anders – wegen der versprochenen Gefangenschaft! Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß Du so abenteuerlustig wärst. … Immerhin – das Geheimniß wird jedenfalls den Reiz unseres Beisammenseins erhöhen! Eine Entdeckung, wenigstens eine vorzeitige, ist nicht zu fürchten. Unsere Wohnung liegt ja in einem weit entfernten Stadtteil. … Still, Mama!“

„Da sind sie noch! Gott sei Dank!“ trat die Stadträthin hoch echauffirt an das Paar heran. „Ich glaubte schon, Ihr wäret über alle Berge. Papa, Mieze will Dir Adieu sagen! Wo steckt denn Großmama? Ach so, sie sitzt drüben am Kaffeetische. … Schnell, schnell, Papa, der Bräutigam hat es eilig! Ach, diese Männer, sie können nicht rasch genug aus den vier Pfählen herauskommen. Da ist kaum einer, der noch Sinn und Geschmack für Häuslichkeit hat. Ueberall heißt es nur: fort – hinaus. … Und dazu das schlechte Wetter! Es regnet und stürmt ja draußen, als ob heute noch der jüngste Tag anbrechen wollte.“

Es war wirklich ein rechtschaffen schlechtes Wetter. Erbarmungslos rang der Winter mit dem Sommer. Denn noch war der Lenz ein schwacher launenhafter Bube, der mit lautem Sturmhohngelächter der armen Erde die letzten mit Regen untermischten Schneeflocken handvollweise in’s Gesicht streuete, um es ihr zehn Minuten später durch zärtlich warme Sonnenstrahlen wieder abzubitten. … Wie um seine Macht zu beweisen, riß der Aprilsturm soeben den Fensterflügel auf und jagte im Umsehen einen Wirbel Schneeflocken hinein. Tante Bertha, die die große Kunst besaß, immer im rechten Augenblicke zu erscheinen, sprang sogleich zu, um ihn zu schließen. … Aber auch die übrige Hochzeitsgesellschaft hatte die Stimme der Brautmutter aus der behaglich weltverlorenen, etwas duseligen Siestastimmung aufgestört, in welcher man drüben am Kaffeetische beisammen saß. Die halberloschene Cigarre oder die erkaltende Tasse in der Hand, kam man etwas pustend herbei, um sich noch einmal traum- und rührselig um das scheidende Brautpaar zu gruppiren.

„Du bist doch warm angezogen?“ fuhr die Stadträthin in steigendem Eifer fort, indem sie den Anzug der jungen Frau bis zur letzten Stecknadel prüfte. „Die Reisetoilette ist hübsch und könnte in jedem Schaufenster ausgestellt werden! Leider wird sie unterwegs schnell genug verderben.“

„Ihr habt aber auch ausgesucht schlechtes Reisewetter, man möchte keinen Hund hinausjagen!“ meinte der Stadtrath besorglich und wohlmeinend, aber mit jener eigenthümlichen Rauhheit der Stimme, wie sie nach einem Hochzeitsdiner auch bei soliden Leuten sich einzustellen pflegt.

„Darum thun wir besser hier zu bleiben, Papachen,“ wagte der Assessor, vorerst nur sondirend, einzuwerfen.

„Ist die Möglichkeit, nun gar hier bleiben!“ schnitt die Schwiegermutter die Antwort des Vaters ab. „O, diese Männer, wetterwendisch sind sie, einer wie der andere. Nein, das wäre eine neue Mode und gegen jeden guten Ton. Neue Moden fangen wir nicht an, das überlassen wir anderen Leuten. Ihr zieht Euch warm an und reist, und damit Punctum! Aber um Alles in der Welt, gebt uns bald Nachricht. Du lieber Gott, ich werde mich einstweilen zu Tode ängstigen …“

Der eintretende Lukas schnitt das Weitere ab. Er kam, um zu melden, daß der Wagen vorgefahren sei, um den Herrn Assessor und die junge gnädige Frau nach dem Bahnhof zu bringen. Koffer und Hutschachteln habe er schon hinein besorgt. Auch Max, der Obertertianer und einzige beträchtlich jüngere Bruder der jungen Frau, der in seiner „Bude“ oben im Erker seinen ersten privilegirten Rausch ausgeschlafen hatte, war inzwischen herbeigekommen, um Schwester und Schwager Lebewohl zu sagen. Aber er fand plötzlich, daß er doch zur Unzeit gekommen war. Denn die Mutter hatte soeben das Taschentuch vor’s Gesicht gedrückt und auch der Vater wischte und wischte. So blieb es doch jedenfalls auch Schuldigkeit des einzigen Bruders, gerührt zu sein. Auch brachte er mit Hülfe des glücklich beginnenden Katzenjammers wirklich etwas „Scheidewasser“ zu Stande. Bei der jungen Frau brach jetzt aber ernstlich und fast wider eigenes Erwarten das Trennungsgefühl durch. Es war kein Schmerz, aber ein einziges krampfhaftes Weh, was überwunden werden mußte. Sie hätte wenigstens nun nicht mehr, wie sie gewollt, ohne Abschied gehen können. Es würde der Trennung die Weihe gefehlt haben. … Zwei lange, kurze Minuten lag sie am Halse des Vaters, der Mutter, dann legte sie ihren Arm, zutraulich wie ein Kind und fest wie ein Mann, in den Arm ihres Gatten, und schritt mit ihm zur Thür, die Andern nur mit den Augen und einer flüchtigen Handbewegung grüßend.

Als sich die Thür hinter dem Brautpaar geschlossen hatte, stand Tante Bertha hinter ihrer Cousine, der Stadträthin, und wartete auf eine Ohnmacht. Und sie war auch diesmal zu rechter Zeit gekommen.




2.

Die von dem Assessor gemiethete Familienwohnung draußen in der Vorstadt war wirklich das einzige Ziel der langbesprochenen Hochzeitsreise geworden. Die Stadträthin hatte sie noch in der [384] Woche vor der Hochzeit mit jener Sorgfalt und Pünktlichkeit eingerichtet, die ihr den Ruf der besten Hausfrau ihres Bekanntenkreises erworben hatten.

Die glänzende Politur der Möbel, deren eigenthümlicher Duft noch stark ausströmte, der saubere Anstrich des Fußbodens, der Glanzlack von Thüren und Fenstern, die matten und doch still und behaglich leuchtenden Farben der Portièren – Alles stimmte und gab ein Gefühl von Nähe, Sicherheit und Traulichkeit, das das Glück und innige Wohlgefühl der beiden heimlichen Bewohner nur vermehrte. Eine Magd war noch nicht vorhanden, doch hatte der Assessor im Vorgefühl seines Sieges den Stiefelputzer, ein altes Studentenfactotum, nicht abbestellt. Er war am ersten Morgen ganz wie gewöhnlich, mit Bürstentasche und Klopfstock gekommen und hatte gegen ein gutes Trinkgeld die nothwendigen häuslichen Besorgungen übernommen. Dennoch war die junge Frau genöthigt, selbst ein wenig Hand anzulegen. So hatte sie in gehobener Glücksstimmung das erste Feuer in dem hübschen Kamin selbst entzündet. Es war wie ein Dankopfer – auch wollte sie keinen frostigen Anfang. … Und der junge Gatte hatte daneben gestanden, die Hände in einander gelegt, und hatte den Rauch kerzengerade im Kamin aufsteigen sehen, und tausend Wünsche für das Wohl des lieben, ihm anvertrauten Wesens, das sich jetzt so fest und zuversichtlich an sein Herz schmiegte, als wäre der Platz sein Eigenthum nicht für die kurze Erdenpilgerfahrt, sondern auf Ewigkeiten hinaus, waren mit den blauen Ringeln aufgestiegen.

Mittags hatte man in einem Restaurant gegessen, und dann mit einander durch die stilleren und entfernteren Theile des Stadtparkes einen Spaziergang gemacht. Von solchem war man soeben zurückgekehrt. Das Glück strahlte auf Beider Wangen. Die junge Frau erschien größer, äußerlich vollkommener erblüht, sie trat fester auf und dabei war der Ausdruck des Gesichtes doch noch sanfter, hingebender, besonders wenn sie, was gar sehr oft geschah, den Gatten anblickte. Dieser hatte den Ueberrock bald mit einem Schlafrock vertauscht, so neu und elegant und kleidsam, wie ihn nur junge Ehemänner tragen. … So trat er leise an Marie heran, die soeben die Spiritusmaschine entzündete, um den Thee zu bereiten. Hurtig und geschickt hatte sie bereits die Tassen bereit gestellt, dazu zierlichen kalten Aufschnitt, den der schnurrbärtige Hausgeist aus dem nächsten Budikerladen geholt hatte. Es stand Alles wie gewachsen auf dem Tische – nur das Wasser kochte noch nicht.

„Das macht das Hinsehen – wenn man darauf wartet, dauert es noch einmal so lange!“ meinte die junge Frau küchenweisheitsvoll, und sah absichtlich hinweg und überschaute wieder und wieder das trauliche Zimmer mit seinen hübschen neuen Möbeln, bis ihr Blick oben an der Decke hängen blieb, wo die lustigen Halbschatten der antik geformten Lampe ihren Elfenreigen tanzten. … Und so hatte sie es nicht gemerkt, daß der Gatte hinter ihr stand – bis er seinen Arm um sie legte. Da gab es ein minutenlanges Küssen. … Und diesen glücklichen Augenblick benutzte der von hausmütterlicher Aufsicht befreite Kessel, um aufrührerisch zu werden und ungeberdig überzuquellen. …

Die junge Frau löschte den Spiritus und schob dem Gatten die Tasse hin. „Für den Hausherrn“ stand darauf, wie „Für die Hausfrau“ auf der ihrigen. Welche stolze Würde gab das Wort! Und dabei wirkte es mahnend: sie hatten aufgehört Einzelwesen zu sein, waren nun Ganzes geworden und gehörten einem Ganzen – dem Hause – an.

Die junge Frau schnitt das Brod und legte dem Gatten die zierlichen Schnitten auf den Teller.

„Hier auch die Butter, als Ehemann magst Du sie immerhin nun anschneiden!“

Der Gatte lachte und machte auch von diesem Ehestandsprivilegium ausgiebigen Gebrauch.

„Wann wollen wir denn eigentlich zurückkehren von – unserer Hochzeitsreise?“ frug Gustav jetzt lachend, indem er sich bequem in den Sessel zurücklehnte.

[397] „Wann wir zurückkehren wollen von unserer ‚Hochzeitsreise‘?“ erwiderte die junge Frau. „O Du lieber, einziger Mann, nur noch ein Weilchen! … Mir ist zuweilen, als würde ich auf Wolken in den Himmel getragen!“

„So bist Du Deiner Gefangenschaft noch nicht überdrüssig?" scherzte er weiter. „Es ist doch wirklich gruselig hier – festgeschlossene Gardinen und tief herabgelassene Rouleaux … dazu ein Kerkermeister, der Dich keinen Augenblick aus den Augen läßt –“

„Ein Tyrann bist Du freilich. Aber es muß wohl wahr sein, was man sagt: ‚Die Frauen lieben die Tyrannei der Liebe.‘ Sprich selbst: können wir noch glücklicher sein?“ …“ Bei diesen Worten rückte die junge Frau ihr niedriges Kinderstühlchen in beste Plauderdistance und legte den Kopf an die Brust des Gatten. „Kommst Du nicht zu mir, so komme ich zu Dir! … Und was ich gelernt habe in den paar Tagen!“

„Ja, die Liebe ist die beste Lehrmeisterin, wie Du die beste Schülerin!“

„Wie lange ist’s doch her, daß wir verheirathet sind? Acht, nein, neun Tage. Du glaubst gar nicht, was ich in der Zeit schon selbstständig geworden bin! …“

„Aber die Eltern! Wir müssen ihnen doch endlich Nachricht geben. Sie werden sich vermuthlich schon ängstigen. Laß uns einmal überlegen, ob es nicht besser ist, wir treten morgen Mittag bei ihnen an?“

„O, nur noch ein paar einzige, himmlische Tage, lieber – Mann.“ Das große Wort wollte immer noch nicht flüssig über die Lippen. Scheu, Stolz und Schalkhaftigkeit vereinigten sich darin, und sein Aussprechen allein konnte die neugebackene Frauenwürde verrathen. „Sie erwarten uns ja auch noch gar nicht!“ setzte sie mit überzeugender Lebhaftigkeit hinzu. „Allerdings dürfen sie sich auch unsertwegen nicht ängstigen …“

„Wollen wir vielleicht Tante Bertha in’s Geheimniß ziehen? Sie könnte wenigstens auf indirecte Weise Mama’s Sorge beschwichtigen.“

Die junge Frau sann einen Augenblick nach, dann sagte sie:

„Nein, Gustav – Tante Bertha ist ein Engel, aber sie ist eine alte Jungfer und würde uns doch nicht verstehen. Dazu muß man lieben und jung verheirathet sein. Ueberdies könnte sie plaudern, oder sich vielmehr bei ihrer Peinlichkeit wider Willen verrathen. Mir fällt soeben etwas Anderes ein.“

„Nun?“

„Ich muß Vetter Fritz antworten, er hat uns jedenfalls längst in Heidelberg erwartet. Ich schreibe nun gleichzeitig an Mama und füge den Brief bei. Fritz aber giebt ihn in Heidelberg zur Post.“

„Potztausend, Du wirst ja im Ehestande unternehmend und erfinderisch. Von dieser Seite kenne ich Dich noch gar nicht!“

„Du bist aber doch mit mir einverstanden?“

„Aufrichtig gestanden: es würde mir lieber sein, wir stellten uns einfach morgen vor. Ich glaube, es ist besser, wir lüften selbst den Schleier, ehe ein Zufall ihn uns entreißt.“

„Das ist ja ganz unmöglich – wie sollte man uns entdecken? Ich begreife Deine Skrupel nicht … Auch ist es nur recht und billig, daß Du Dich mir jetzt fügst, wie ich mich anfangs Dir gefügt habe.“

„Nun – meinetwegen. Mir selbst ist unsere Zweisamkeit nur erwünscht!“

Die junge Frau hatte bereits die Schreibmappe zur Hand genommen und schrieb:

 „Liebe Eltern!

 Wir sind gesund und amüsiren uns natürlich köstlich auf unserer Hochzeitsreise.“

Bis hierher hatte sie mit flüchtiger Hand geschrieben, die folgenden Sätze sprach sie laut und voll übermüthiger Neckerei, indem sie dieselben aber auch gleichzeitig niederschrieb:

 „Er, mein einziger Mann, will durchaus noch ein tüchtiges Stück in die Weite, und ich gehe mit ihm bis an’s Ende der Welt. Ach, es ist ja himmlisch, verheirathet zu sein! Aengstigt Euch nicht um uns und gedenkt in Liebe
 Eurer überglücklichen Kinder.“

Der Brief wurde couvertirt, adressirt und in ein zweites Couvert gelegt.

In letzterem befand sich gleichzeitig ein Brief Mariens an Fritz, mit der Bitte, die Einlage zurück und an ihre Adresse zu besorgen.

Der junge Ehemann übernahm es, den Brief sofort selbst in den Briefkasten zu legen. Er that es seelenvergnügt, denn die aufrichtige Freude, die Marie an ihrem stillen, häuslichen Alleinsein empfand, schmeichelte seiner Eitelkeit und bezauberte ihn von Neuem. Aber als der Brief still und lautlos der Hand entglitt, konnte er doch nicht umhin, ein gewisses unklares Gefühl von Besorgniß zu empfinden. … Es war ihm unwillkürlich, als ob er ein Geschoß absende, das sausend die Luft durchschnitt, dessen Zielpunkt aber dem Auge unsichtbar blieb.




[398]
3.

Die Hochfluth des Gefühls war im Verebben.

Seit gestern beschäftigte sich der Assessor wieder mit den Pandekten. Er wollte versuchen, wie es sich arbeite, wenn Marie mäuschenstille neben ihm saß, eine Handarbeit in den Händen.

„Hier ist mein Platz – wer will ihn mir rauben?“ hatte sie gesagt. „Wozu hat man denn einen Mann?“

Es dauerte zwar ein Weilchen, ehe er sich daran gewöhnte, sie ohne Gefahr für seine Aufmerksamkeit neben sich zu sehen. Aber man gewöhnt sich zuletzt an Alles und nicht am schwersten an das Gute!

Es fehlte ihm indessen ein Band des justinianischen Rechts, und – wie gewöhnlich – just der, dessen er eben bedurfte. Darum nahm er Hut und Stock, um ihn sich aus der Bibliothek zu holen. Zum ersten Male blieb die junge Frau längere Zeit allein.

Sie putzte und rieb wieder die spiegelblanken Möbel und schürte das Feuer im Kamin, damit er es bei seiner Rückkehr behaglich finde. Da – in das Prickeln und Knistern der wieder auflebenden Flamme, tönte plötzlich von draußen ein Glockenruf.

Die junge Frau erschrak heftig.

Wer mochte es sein? Gustav konnte unmöglich schon zurückkommen, auch trug er einen Schlüssel bei sich, mit dem er selbst die Vorzimmerthür öffnete. Und der schnurrbärtige Hausgeist war gründlich instruirt, nur leise zu klopfen. Er war nicht umsonst lange Jahre Studentenfactotum gewesen, und wußte auf allerlei verfängliche und unverfängliche Dinge mit bewundernswerther Schlauheit und Geistesgewandtheit einzugehen. Besuch aber war bis jetzt nicht gekommen, da Jedermann das Paar auf der Hochzeitsreise wußte.

Und so hatte selbst der Vicewirth, unten in der Hinterstube der Parterrewohnung, keine Ahnung von der freiwilligen Gefangenschaft des liebenden Paares oben im ersten Stock, obgleich er gelegentlich und „von Amtswegen“ wie ein richtiger unverfälschter Hauswirth allenthalben umherzustöbern pflegte. Er war zwar dem Stiefelputzer bei solcher Gelegenheit ein paarmal auf der Treppe begegnet, hatte aber angenommen, daß derselbe nur gekommen sei, um das Lüften der Zimmer zu vollziehen, zu welchem er vermuthlich Auftrag erhalten hatte.

Da – wieder tönte die Glocke, diesmal etwas ungeduldig. Marie nahm all ihren Muth zusammen und ging, um draußen nachzusehen.

Zu ihrer Ueberraschung sah sie durch die Glasfenster der Entréethür draußen auf dem Treppenflur eine junge Dame stehen, und hinter ihr einen mit Gepäck schwer beladenen Dienstmann. Sie öffnete langsam und etwas verblüfft, und hieß das junge Mädchen mehr mit den Augen als mit Worten eintreten. Diese schien eine directe Aufforderung auch kaum zu erwarten, sondern frug kurz und bestimmt:

„Ist Onkel Gustav, Herr Assessor Kerner, zu Hause?“

Marie betrachtete ihren Gast noch immer verwundert von Kopf bis zu Fuß, und hatte dabei die Frage überhört. Die Kleine schien indessen mit dem Zünglein gut zu Fuß zu sein und wiederholte dieselbe schnell, indem sie gleich Weisung gab, das Gepäck im Vorzimmer niederzulegen.

Die junge Frau wurde dafür immer verlegener. Den Fall, daß sie Jemand Auskunft geben müsse über ihren beiderseitigen Verbleib, hatte sie noch gar nicht in Betracht gezogen.

„Ja – nein – er ist eigentlich verreist!“ stotterte sie endlich. „Auf der Hochzeitsreise!“

„Er ist – verreist?“ frug das junge Mädchen hocherschrocken zurück.

Und dabei war das Lachen, was der eigentliche Charakter ihrer Züge zu sein schien, schnell genug aus dem jungen Antlitz verschwunden.

„Ja, verreist – schon seit zwei Wochen.“

„Du lieber Gott, was soll ich denn nun anfangen?“

Der Ton klang klagend und anklagend zugleich. Ja, jetzt tropften sogar zwei Thränen die Wangen herab, die theils wirkliche Sorge, theils anspruchsvoller Eigensinn den Kinderaugen auszupressen schienen. Lachen und Weinen schien dem jungen Gaste gleich lose zu sitzen. Dennoch frug sie dreist weiter:

„Er kehrt aber bald zurück?“

Marie war in neuer Verlegenheit, was sie antworten sollte. Aber – welche Veranlassung hatte sie denn überhaupt, einer in’s Haus Geschneiten Rede zu stehen? Wo hinaus sollte denn das Ding? … Es kam über sie wie Unmuth.

„Ich muß zu ihm, ach Gott, er ist ja mein einziger Schutz! Ich habe Niemand als ihn!“ brach jetzt das junge Mädchen in wirkliche Klage aus.

Plötzlich schien Marie ein Licht aufzugehen. Hatte nicht die Kleine vom „Onkel Gustav“ gesprochen?

„Sie sind?“ frug sie.

„Käte Melzer.“

Die Sache war nun aufgeklärt, wenigstens theilweise. Das junge Mädchen war wirklich die Nichte und Mündel des Assessors, und zwar die hinterlassene Tochter seiner vor zwei Jahren verstorbenen verwittweten Schwester. Der Gatte hatte ihr oft von seinem hübschen Pflegling erzählt und wie er denselben einem renommirten großen Pensionat anvertraut habe.

Herzlich, fast mütterlich, streckte darum die junge Frau dem Gast jetzt die beiden Hände entgegen und zog ihn aus dem dämmerigen Vorzimmer an das milde, aber volle Licht des behaglichen Wohnzimmers.

„Seien Sie uns herzlich willkommen, liebe Käte,“ sprach sie mit Freundlichkeit, „doch ums Himmels willen – wie kommen Sie, wie kommst Du hierher?“

Das junge Mädchen hatte die Augen getrocknet und sah sich neugierig und fast ein wenig mißtrauisch um, bis ihr prüfendes Auge an einer halbverblichenen Photographie ihrer verstorbenen Mutter hängen blieb. … Sie war also wirklich an Ort und Stelle. Aber der Onkel war verreist. Und doch mußte sie zu ihm, dem einzigen Verwandten, um ihm ihr Herz auszuschütten. Wer mochte die junge Dame sein, die sie jetzt so freundlich empfing? Wahrhaftig – ungefähr ebenso hatte sie sich die neue Tante vorgestellt. … Aber das war ja unmöglich – sie waren ja Beide auf der Hochzeitsreise.

„Wann kehrt der – Onkel zurück?“ frug sie von Neuem, indem Besorgniß und Kummer abermals die Oberhand zu gewinnen schienen.

Marie war inzwischen zu raschem Entschluß gekommen. Sei der Zusammenhang wie er wolle: sie mußte ihre neue Verwandte unter allen Umständen jetzt bei sich behalten und Schwester- oder vielmehr Mutterstelle an ihr vertreten. Das Incognito ihres Aufenthaltes mußte ihr gegenüber fallen.

„Der Onkel ist ausgegangen und wird bald zurückkommen – ich bin die neue Tante – wir kennen uns schon par renommée.“

„Also doch!“

„Aber vor allen Dingen, wie kommst Du hierher?“

„Ach, das ist eine schreckliche Geschichte!“ rang es sich schwer aus der jungen Brust.

„Schreckliche Geschichte? Wieso?“

„Ach, ich kann’s nicht sagen – es ist unmöglich.“

In der jungen Frau stieg unwillkürlich ein neues Mißtrauen empor. Aber es schwand gar bald wieder vor der Unschuld und Treuherzigkeit, mit welcher Käte sie aus großen Kinderaugen anblickte. Dennoch – irgend ein kleines, pikantes Abenteuer war immerhin sehr wohl möglich. … Wenn sie auch selbst niemals in einem Pensionat gewesen war, so wußte sie doch durch ihre Freundinnen von allerlei allerliebsten kleinen Geschichten, die sich dicht unter den Augen selbst ganz gewissenhafter Lehrer dort zuzutragen pflegen.

„Irgend Jemand – ein Mann, vielleicht Dein Musiklehrer – hat Dir eine Liebeserklärung gemacht?“ sondirte sie deshalb.

„O nein, nein – wenn’s weiter nichts wäre!“

„So rede doch! Es wird so schlimm nicht sein!“

„Ach nein, ich kann’s nicht sagen. Es ist zu schlimm!“

Marie war mit ihrem Latein zu Ende und sprachlos. Da, zu guter Stunde, trat Gustav zurückkehrend ein, leise und vorsichtig, um nicht gehört zu werden.

Seine Ueberraschung über den unerwarteten Gast war durchaus nicht geringer, als die seiner Frau. Als stellvertretender Untersuchungsrichter verstand er das Inquiriren aber schon besser.

„Du bist ausgekniffen, Käte!“ sagte er mit aufgelegter Amtsmiene.

„Ja, nein – ausgekniffen nicht, aber davon gelaufen – [399] vor der ganzen Schule, ganz öffentlich, und mit Sack und Pack,“ räumte Käte beschämt ein.

„Weshalb, Kind?“

„Weil – weil – ach, es ist zu schrecklich, Onkel Gustav, ich kann’s nicht sagen, was wird die Tante von mir denken?“

Der Assessor runzelte jetzt mit wirklichem Ernste die Stirn.

„Rede, Käte,“ sagte er nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt.

„Ich will Dir’s in’s Ohr sagen, Onkel Gustav.“

„Nun – meinetwegen!“

„Weil, weil – ich immer so großen – Hunger hatte!“

Der Assessor lachte laut.

„Und die Butterbrode waren zu klein?“

Käte nickte nur stumm.

„Das ist freilich in Deinem Alter ein Fehler. Trotzdem bist Du hübsch gewachsen, fast so groß, wie Deine liebe Mama war. Nun, vorerst bleibst Du hier – natürlich! – später werde ich Dich an einen Ort bringen, von dem Du mir nicht wieder davon laufen darfst! Von der Größe und Schwere der Butterbrode werde ich mich zu Deinem Troste indessen vorher überzeugen. Jetzt – hier – schneide sie Dir selbst, nach Deinem Geschmack.“

Auf Kätchen’s hübschem Gesichtchen war allmählich aller Sonnenschein der sechszehn Jahre zurückgekehrt.

„Ich darf also bei Euch bleiben,“ rief sie erfreut. „Ach, es ist so wunderhübsch hier. Aber warum habt Ihr alle Rouleaux herabgelassen? Es sieht ja aus, als ob Ihr nicht zu Hause wäret?“

„Das sind wir auch nicht!“ lachte der Assessor, „wenigstens nur für Dich. Das Andere verstehst Du nicht und brauchst Du nicht zu wissen.“

Mit Hülfe Herrn Ledermann’s, des Stiefelputzers, wurde in einem Hinterstübchen bald Quartier für den Gast geschaffen, woselbst sich Käte mit Cartons und Pappschachteln zu einem längern Besuche einrichtete. Der Assessor legte selbst Hand an, aber er war etwas nachdenklich geworden.

„Wir werden unser Incognito aufgeben müssen, liebe Marie,“ sagte er überlegend. „Der Wildfang schafft uns Unruhe im Hause, und wird uns am Ende verrathen. Spätestens übermorgen wollen wir die Eltern besuchen, auch werde ich mich noch heute dienstlich als wieder eingetroffen melden. … Unsere Zweisamkeit ist ohnehin gestört!“

Marie war zu verständig, um nicht die Ansicht des Gatten zu theilen. Sie sagte nur:

„Du hast Recht, wie immer!“

Wenn der Assessor in Betreff Kätchen’s überhaupt noch einen Zweifel gehegt hätte, so würde ihn der Appetit, mit dem sie beim Thee in das größte Butterbrod hineinbiß, eines Bessern belehrt haben.




4.

Am andern Tage ging der Assessor ganz wie gewöhnlich seinen Geschäften nach. Auf dem Landgericht begrüßten ihn die Collegen natürlich als soeben zurückgekehrt, und da er die Zeit etwas versäumt hatte und die Parteien warteten, so ließ er sich alles ruhig gefallen. Ueberhaupt hatte er nicht die Absicht, sich in irgend welche Erklärungen oder Erörterungen einzulassen. Daß man sich auf einer Hochzeitsreise gut amüsirt, wird stillschweigend angenommen, und die es nicht gethan haben, pflegen es nicht zu sagen.

Mit Kätchen’s Beihülfe hatte Marie einstweilen ihr erstes Kochdebut gegeben. Und obgleich die Suppe aus Uebermaß an Liebe stark versalzen und die Sauce etwas angebrannt war, blieb der Assessor doch liebenswürdig genug es nicht zu bemerken. Später, beim Kaffeetrinken, malte man sich aus, wie man morgen wohl empfangen werden würde. Großmama würde vermuthlich die erste sein, die dem Entschluß des Zuhausebleibens Anerkennung zollte. … Morgen! So nah der morgende Tag, daß er uns fast die Stirn berührt, und doch kann jede einzelne Minute des spannlangen Zeitraumes ein Hinderniß bringen! Denn nur die kurze, gegenwärtige Minute ist ja unser Eigenthum! Schon über der allernächsten Zukunft schwebt eine dunkle Wolke, aus deren Schatten all die kleinen neckischen Zufallskobolde hervortauchen können, die uns ärgern und uns hohnlachend Steine zwischen die Füße rollen. Diese kleinen Zufälligkeiten sind die dienenden Geister und Helfershelfer des Weltenschicksals, aber die Tyrannen des Einzelnen, und kommen in mannigfachster Gestalt, unscheinbar und harmlos …

„Wird nicht schon wieder draußen geklingelt?“ frug die junge Frau, indem sie die hübsche, kleidsame Straßentoilette vor dem Pfeilerspiegel beendete.

Gustav war schon gegangen, um draußen nachzusehen, und kehrte alsbald mit – Vetter Fritz zurück. Seit gestern war er nach glücklich absolvirtem Examen von Heidelberg eingetroffen und wohnte wie immer im Hause seines Onkels, des Stadtraths, bei welchem er erzogen war. Cousin und Cousine waren wie Geschwister aufgewachsen und hatten sich vor Jahren, als Marie eben ihre Puppen in die Ecke gestellt hatte, natürlich sterblich in einander verliebt. Darüber war nun aber viel Wasser geflossen. Marie hatte Gustav kennen gelernt, und der Vetter war Student und ein flotter Bursch geworden, und damit nach seiner augenblicklichen Meinung das Höchste, wozu es ein Mann bringen kann. Was über diesen Gipfelpunkt des Lebens hinauslag, dünkte ihm schon Niedergang, Verfall. Dennoch war er selbst auf diesem Höhepunkte des Lebens mit der kleinen Cousine in verwandtschaftlicher, fast geschwisterlicher Liebe innig verbunden geblieben und kam, um sie wiederzusehen. Und zwar als neugebackener Doctor.

„Du hast uns doch nicht etwa verrathen, Fritz?“ frug Marie nach der ersten herzlichen Begrüßung.

„Zum Kukuk, ich werde doch nicht! Ueberdem ist die Idee classisch und nachahmungswürdig. Apropos, wer ist die junge Dame? Wollt Ihr nicht die Güte haben, mich vorzustellen?“

„Herr Studiosus med., wollte sagen: Herr Doctor Fritz Ruprecht, Fräulein Käte Melzer – unser erster Gast!“ stellte der Assessor das Paar einander mit Feierlichkeit vor.

„Laß ich mir gefallen – solch erster Gast ist glückbringend!“ meinte der neugebackene Doctor, indem er sich gegen die junge Dame verneigte.

Käte machte einen regelrechten Tanzstundenknix und erröthete bis zu den Simpelfransen herauf, die wie leichtgeschwungene dunkle Pinselstriche auf der hübschen Stirn lagen und sie reizend kleideten, indem sie ihre Bestimmung, „zu versimpeln“, dabei allerdings leider verfehlten. Unwillkürlich schlug sie mädchenhaft die blitzenden Augen nieder, denn die bebrillten Augen des jungen Doctors waren wie zwei scharfzielende Gewehrläufe minutenlang und fest auf sie gerichtet – sie fühlte fast den Blick.

„Doch ehe ich’s vergesse, Miezchen,“ wandte er sich endlich wieder an die Cousine, „ich habe nach Eurem Beispiel Eure Alten natürlich gleichfalls tapfer angelogen – hoffentlich werdet Ihr mit mir zufrieden sein!“

„Wie so?“ frug etwas beängstigt Marie.

„Nun, die Tante machte große Augen, als ich ihr erzählte, daß Ihr schwerlich vor sechs Wochen zurück wäret. Ich glaube, ich habe es ihr leidlich plausibel zu machen gewußt, daß Ihr Euch auch einmal den italienischen Frühling ansehen wolltet. … Nach Sicilien sind sie bestimmt, eulenspiegelte ich weiter, und der Merkwürdigkeit wegen vermuthlich auch auf kurze Zeit nach Algier hinüber –“

„Welcher Unsinn!“ warf Marie verdrießlich ein.

„‚Wenn man heutigen Tages nur einigermaßen mit Auszeichnung reisen will, so darf man sich eben kein nahes Ziel wählen, beste Tante‘, gab ich selbst dazu meine unmaßgebliche Ansicht, mit der sie indessen keineswegs einverstanden schien,“ fuhr Vetter Fritz unbeirrt fort. „Ihr braucht Euch also mit der Rückkehr keineswegs zu übereilen – Niemand erwartet Euch jetzt …“

„Sie werden also um so freudiger überrascht sein, wenn wir morgen antreten,“ sagte Gustav. „Es drängt mich jetzt fast dazu. … Jetzt, denke ich, machen wir aber unsern gewöhnlichen Spaziergang – die Damen sind ja bereits in Toilette.“

Draußen athmete Alles hochaufschlagende Frühlingslust. Es hat von jeher eine von allen Dichtern ausgebeutete Wechselwirkung zwischen Lenz und Liebe bestanden: auch Gustav und Marie vermochten sich ihr nicht zu entziehen. Der kleine Verdruß, den die Eulenspiegeleien des Vetters bei der jungen Frau hervorgerufen hatten, war schnell genug vergessen. Beide sehnten sich aus den Häusermassen der Vorstadt hinweg und schlugen gleich am Anfang der Promenade einen Nebenweg ein, der die Gärten und Häuser, welche sich an jener in ununterbrochener Reihe entlang ziehen, [400] seitwärts liegen läßt. Bald wurde es ein einfacher Feldweg. Zwei Wagen konnten einander nur ausbiegen, wenn jeder mit einem Rade empor holpernd den Ackerrand streifte … Dafür stieg aber die Lerche dort jubilirend und in unmittelbarster Nähe der Spaziergänger zum Himmel auf, als sei sie eine Botin der jungen Ehegatten und von ihnen abgesandt, dem Schöpfer ihren Dank zu bringen.

Am Wege lagen große Steine verstreut und Marie setzte sich darauf nieder, um die Veilchen zu ordnen, die sie unterwegs gesammelt hatte. Noch standen die blauen Frühlingsblümchen einzeln und frierend und sorgsam in schützendes Grün gehüllt am Rasenrain, aber Marie besaß das scharfe, echt weibliche Auge für das Kleine und hatte sie dennoch zu finden gewußt … Und da der Stein just eben für zwei groß genug war, so saß der Assessor bald neben ihr.

Aber auch das andere Paar, das vorausgeschritten war, hatte bald einen Platz gefunden, auf dem es mit einander ausruhen konnte.

Zuerst hatte der Vetter gemeint, daß ihn Cousine Marie unverantwortlich vernachlässige, noch mehr als bei seinen verschiedenen Ferienbesuchen während ihres Brautstandes. Aber schon nach einer Viertelstunde war ihm die Vernachlässigung sehr angenehm. Käte plauderte so allerliebst und sah dabei noch allerliebster aus. Auch war es nur seine Schuldigkeit, dem armen Kinde, das niemals „Dritte im Bunde“ war, die Zeit etwas zu vertreiben. … Er erzählte von der lustigen Heidelberger Studienzeit, und der junge Doctor, der mindestens zur Hälfte noch in den Burschenstiefeln steckte, sprach gewohnheitsmäßig dabei ganz commentmäßig, ohne zu bedenken, daß man sich auf solche Weise eben nicht mit jungen Damen zu unterhalten pflegt. … Aber Käte begriff ihn vollkommen. Sie wußte sofort, was „ochsen“ und „Silentium“ heiße, und daß das „Kameel“, von dem ihr Begleiter redete, zweibeinig sei, und verstand ihn überhaupt wie ein „Commilitone“.

„Wo sind die Kinder? Erst haben sie’s so eilig und laufen eine Meile voraus, und nun gehen sie wieder so langsam, daß sie zurückbleiben,“ frug Marie auf dem Nachhausewege. „Sie haben sich doch nicht etwa verkrümelt?“

„Dort sind sie ja – kaum zehn Schritt. Käte strahlt vor Vergnügen über den ersten Courmacher. Ich hoffe wenigstens, daß es der erste ist. … Wenn ich übrigens nur erst wüßte, was ich eigentlich mit dem Wildfang anfangen soll!“

Marie, die sich umgesehen und die Aufmerksamkeit bemerkt hatte, mit welcher der junge Mann seine Partnerin unterhielt, sagte lächelnd:

„Frag den Vetter, der ‚Doctor‘ wird Rath wissen!“

„Treffe ich Dich auf der Fährte?“ lachte laut der Gatte. „Willst Du Heirathen stiften? … Erst jetzt weiß ich bestimmt, daß Du glücklich bist,“ setzte er mit einem verstohlenen Händedruck hinzu. „Was meinst Du dazu, wenn ich das Kind Tante Bertha übergebe?“

„Der Gedanke ist vortrefflich!“

„So läßt sich die Sache vielleicht schon morgen arrangiren?“

„Ich zweifle nicht daran,“ entgegnete Marie mit Ueberzeugung. „Ich werde schon morgen mit Tante Bertha sprechen.“

Mittlerweile war man wieder in die Stadt gelangt. Vor einem stattlichen Kaufladen blieb der Assessor einen Augenblick stehen und frug:

„Wollen wir nicht Fritzens ‚Doctor‘ heute Abend durch eine Maibowle feiern?“

„Gern!“

„Nun, so werde ich ganz hausväterlich selbst Waldmeister und Apfelsinen hier einkaufen. Gehe Du einstweilen mit dem Pärchen dort voraus, um die Gläser zurecht zu stellen.“




5.

„Ich sage Dir, Alter, es sind Ratten zwischen dem Gebälk.“

„Nein, es sind keine Ratten!“

„Was soll’s denn sonst sein?“

„Weiß ich’s? Ratten und Mäuse sind’s aber nicht, wenigstens keine vierbeinigen.“

„Schon seit einigen Tagen hab’ ich’s gehört. Noch erst gestern Abend – Du schnarchtest schon wie eine Baßgeige – hört’ ich deutlich Spectakel von oben herab – es schleppte etwas über den Dielenboden der Zimmer im ersten Stocke. Ich schrie laut auf – Du aber schnarchtest weiter. … Da lief mir die Gänsehaut über den Rücken, und ich steckte den Kopf unter die Decke. Wenn’s keine Ratten und Mäuse sind, so – spukt’s!“

„Unsinn! – Gegen Gespenster, die mit Stiefeln und derb wie Unsereiner umhergehen – hörst Du’s, Alte? wie jetzt eben wieder – hilft am besten die – Polizei.“

„Willst Du sie holen?“

„Erst will ich selbst nachsehen. Warte mit dem Schlafengehen, bis ich zurückkomme, vielleicht muß ich wirklich noch zur Polizei.“

Dabei hatte der würdige Herr Nährkorn, Vicewirth der großen Miethscaserne, in welcher Assessor Kerner seine Familienwohnung gemiethet hatte, die kleine scharfleuchtende Handlaterne angezündet und einen derben Krückstock zur Hand genommen. Der Stock war ursprünglich der handfeste Stiel eines armen, von Wind und Wetter zerzausten Parapluies, denn Herr Nährkorn war eigentlich seines Zeichens ein ehrsamer Schirmmacher und gewissermaßen selbst ein Entoutcas, der es vortrefflich verstand, den Hausbewohnern gegen klingendes Douceur allerlei kleine Dienste zu leisten und sie vor Unannehmlichkeiten und Gefahren, als da sind: Bettler und Vagabonden etc., „zu beschirmen“ … Und so that er auch jetzt nur seine Schuldigkeit, wenn er dem wiederholten unerkärlichen Lärme oben in der Wohnung des neuen, aber abwesenden Herrn Miethers nachzuspüren ging. Selbst der vorsorglichen Gattin, der mit einem Male wieder ganz „gruselig“ wurde, würde es schwerlich gelungen sein, ihn von dem Wagnisse abzuhalten.

[413] Als der Vicewirth, Herr Nährkorn, die Stubenthür hinter sich zugezogen hatte, nahm Frau Nährkorn das rothblaugewürfelte Regendach der Apfelhökerin von drüben zur Hand. Diese hatte es nämlich heute Abend beim Nachhausegehen zur schleunigen Ausbesserung abgegeben. Denn es hatte der Oeffnungen mancherlei, durch welche Sonne, Mond und Sterne auf die Apfelkörbe schienen, wenigstens scheinen konnten, wenn sie nämlich zur Regenzeit nicht gewöhnlich mit Wolken bedeckt wären. … Nach einer Viertelstunde war die Arbeit beendet, aber Frau Nährkorn noch immer harrend allein. Die Untersuchung des Geheimnisses oben nahm den Gatten über Erwarten lange in Anspruch. Um sich das Warten zu versüßen, sah Frau Nährkorn in die „Anzeigen“. Weil aber das Lesen eine gar mühselige und langwierige Beschäftigung ist, so ward die würdige Frau bald müde – wie Alles im kleinen Hinterstübchen: der Kater, der leise auf’s Sopha geschlichen war und Herrn Nährkorn’s Platz eingenommen hatte, der Vogel im Bauer, der das goldgelbe Köpfchen zwischen die Federn duckte, und die Flamme im Ofen, die ihr Prasseln und Zanken eingestellt hatte und ganz friedfertig geworden war. Nur die Wanduhr war noch mobil, ihr ebenmäßiges Ticktack klang in der allgemeinen Stille [414] eine Weile lang sogar lauter – endlich schlief die Unermüdliche aber auch ein, wenigstens hörte Frau Nährkorn nichts mehr … denn sie war weit weg in einem andern Lande. Auch war dort gut sein. Es regnete daselbst alle Tage und dazu schien allezeit die Sonne. Die aufgespannten Regenschirme aber, mit denen die Leute gingen, waren große runde Holzschüsseln, weiß wie Schinkenteller. Und darauf lagen herrliche, flachgerollte Kuchen, so wie sie die Dienstmägde in der Festwoche in’s Backhaus tragen. Die Regentropfen aber, die auf die Schirme niederfielen, waren eitel Mandeln und Rosinen. …

„Wach’ auf, Alte, wir wollen zu Bette gehen!“ hörte die Träumende jetzt wie aus weiter Ferne sagen. Sie beantwortete die Aufforderung vorläufig nur mit einem Gähnen.

„Wenn ich wüßte, daß sie derweil einmal herum schlief, so blieb ich noch,“ lachte der zurückgekehrte Herr Nährkorn seelenvergnügt. „Köstlicher Spaß das – solch ein Weinchen! Wirklich nette Leute, die neuen Miether – besonders der junge – wie nannten sie ihn doch? ‚Doctor, Doctor Fritz‘, der immer mit mir anstieß – wie gesagt: ausgezeichnet,“ setzte er zungenschnalzend hinzu.

Frau Nährkorn hatte sich endlich ermuntert. Ihr erster Blick traf die Schwarzwälder Uhr, die just eben wieder erwacht war und ihr Ticktack hören ließ und eine vorgerückte Stunde zeigte.

„Wo hast Du denn eigentlich so lange gesteckt, Alter?“ frug sie. „Was Wunder, wenn man müde wird – mutterseelenallein! Aber was war’s denn mit dem Lärm oben – doch nichts Schlimmes?“

„Nein, gar nichts Schlimmes – gar nicht, Alte,“ lachte Herr Nährkorn wieder voll Vergnügen – „ganz contrair im Gegentheil. …“

„Hör mal, Du kommst mir ganz curios vor – ich glaube fast, Du hast einen – Haarbeutel?“

„Meinst Du? Nun, ’s kann schon ein bischen sein! Mit den Wölfen muß man heulen, wie in der Kirche mitsingen!“

„Ich verstehe Dich nicht – was schwatzt Du eigentlich für dummes Zeug?“

„Schilt nicht mehr, Alte, ’s ist alleweil Feierabend! Ich sage Dir, das war ein Weinchen, wie ihn Dein Alter all sein Lebtag noch nicht getrunken hat. Der Herr Assessor hatte den Maitrank aber auch selbst gebraut, und die junge Frau präsentirte mir selbst das erste Glas. Charmantes Weibchen, noble Familie … Du mußt nämlich wissen, sie feierten irgend etwas, wahrscheinlich, daß sie nun wieder zu Hause sind. …“

„Sie sind wieder da, hier im Hause?“ frug die würdige Dame, indem ihr vor Erstaunen der Mund spannweit offen blieb. „Du träumst wohl, Alter, oder siehst doppelt?“

„Freilich sind sie da, oben in ihrem Quartier. Ganz heimlich sind sie gekommen – gestern oder vorgestern – ich glaube es wenigstens, hier sind sie jedenfalls!“

Die Nachricht klang der ehrenwerthen Frau Nährkorn wie ein Märchen. Ja, bunter als ein Märchen! Riesen und Zwerge, von denen die Märchen erzählen, giebt’s zuweilen noch in der Welt, ja vielleicht findet sich irgendwo in einem Winkel versteckt auch noch ein respectables Gespenst, dem die Polizei nichts anhaben kann. … Aber daß sich in einem Hause, dem sie und ihr Alter gegen halben Miethzins als Vicewirth respective Aufseher vorgesetzt waren, etwas Derartiges zutragen konnte, ging über alle Märchen und Märchenbücher hinaus. … Wußte sie nicht allezeit alles haarklein, was bei den verschiedenen Miethern geschah? Sie kannte alle Kinder beim Namen, und dazu die Geburtstage, wenigstens wenn, was häufig geschah, der Storch, hier im Hause geklappert hatte. Sie wußte fast allemal, was die Köchinnen der ersten Etagen ihren Herrschaften anrichteten, und daß die arme Zimmermannsfamilie im Hinterhause während der arbeitslosen Wintermonate ihr Mittagessen aus dem Suppenvereine geholt hatte. Sie kannte selbst beinahe alle Ein- und Ausgehenden bis auf die beiden stämmigen Artilleristen und den schmucken flinken Fünfunddreißiger der Dienstmädchen herab. … Und nun sollte der Assessor und die Frau Assessorin, die sie als Bewohner der ersten Etage unter ihre besondere Obhut zu nehmen gesonnen war, ohne Sang und Klang eingezogen sein und ohne „Willkommen“ und Bekränzung, wie es sich schickt, wenn ein junges Ehepaar einzieht und von der Hochzeitsreise eintrifft! Was mochte die Frau Assessorin gedacht haben? Sie war aus einem der besten Häuser der Stadt, und sie, Frau Nährkorn, kannte die ganze hochrespectable Familie, den Herrn Stadtrath, die Frau Stadträthin, die zu ihrer langjährigen Kundschaft gehörten, selbst der junge Herr Sohn war ihr bekannt, er hatte ihr nach der letzten Ferienreise noch eigenhändig den entenpfotenfarbenen Touristenschirm zur Ausbesserung überbracht. … Sonderbar blieb die ganze Geschichte jedenfalls – sonderbar und unerklärlich … es konnte fast nicht sein!

Alle diese vernünftigen Gedanken schossen blitzschnell durch den Kopf der würdigen Dame. Aber dem „es kann nicht sein!“ stellte sich alsbald die eben vernommene Thatsache gegenüber. Und wieder als Beweis dieser Thatsache der – Spitz ihres Alten! …

Nun – sie würde sich morgen von allem selbst überzeugen und das Geheimniß jedenfalls ergründen. Denn irgend etwas Wunderbares, Geheimnißvolles war dabei im Spiele: das sich abstreiten zu lassen, war sie, Frau Nährkorn, viel zu schlau! Bis morgen mußte sie freilich Geduld haben, vielleicht gab’s wieder eine schlaflose Nacht, wie gestern, wo ihr, von dem sonderbaren Lärm oben, die Gänsehaut über den Rücken lief. … Denn von dem Alten war heute Abend schwerlich noch etwas herauszupressen. Man hatte eben die Rollen getauscht. Von ihr war jede Müdigkeit gewichen, während der Herr Gemahl den schnurrenden Kater vom Sopha gescheucht und seinen Platz eingenommen hatte. Und bald darauf waren ihm die Augen zugefallen, nur das stillvergnügte Lächeln, mit dem er von seinem Besuche in der ersten Etage erzählt hatte, lag noch über den Lippen.




6.

Am andern Tage machte sich Frau Nährkorn allerlei auf den Haus- und Treppenfluren zu thun. Vermuthlich sah sie „der Ordnung wegen“ nach, ob die verschiedenen Dienstmägde das Fegen und Säubern ordentlich besorgten.

Plötzlich kam ihr von oben herab der Assessor entgegen. Er trug ein leichtes Aktenstück unter dem Arm und eilte spornstreichs zur Hausthür hinaus.

„Also doch!“ kopfschüttelte Frau Nährkorn und wollte schon wieder in ihr Hinterstübchen zurückkehren, als ihr noch zu guter Stunde einfiel, doch wenigstens der jungen Frau ihre unterthänige Gratulation zum neuangetretenen Ehestande zu überbringen. Das war doch das Mindeste, was man thun konnte. Dabei wollte sie natürlich auch um die geehrte Kundschaft bitten: die Frau Assessorin gebrauchte gewiß bald einen neuen Sonnenschirm.

Sie stieg vollends die Treppe hinan. Die Thür zum Vorzimmer war offen geblieben, der Assessor hatte es eilig gehabt. So trat Frau Nährkorn ungehindert ein.

Es war Niemand anwesend – wenn ihr nicht der Miether soeben im Hausflur begegnet wäre, so würde sie die ganze Geschichte von Neuem angezweifelt haben. Doch – die Flügelthüren zum anstoßenden Eßzimmer standen offen, und drinnen vor dem Büffetschranke stand eine junge Dame im Morgenhäubchen mit Rosaschleifen, so wie es junge vornehme Frauen zu tragen pflegen. Sie hatte der Eintretenden den Rücken zugekehrt und war beschäftigt, hellglänzende, feingeschliffene Krystallgläser wieder in die Fächer zu räumen, vermuthlich waren sie gestern Abend gebraucht worden. Ja, die Frau Stadträthin Wegner, die als vorzügliche Hausfrau stadtbekannt war, hatte das einzige Töchterchen gleichfalls häuslich und wirthschaftlich erzogen, mit der wurde kein Mann betrogen!

„Erlauben die Frau Assessor, daß ich mir die Freiheit nehme, Ihnen bestens zum angetretenen heiligen Ehestande zu gratuliren!“ begann Frau Nährkorn mit einem wohlgelungenen Knix. „Du lieber Gott, was werden Sie nur gedacht haben! Keine Guirlanden und Kränze um die Thüren – nehmen Sie’s nur nicht übel!“

Käte, die am Morgen von Marie beauftragt worden war, an ihrer Stelle das Aufräumen des Speisezimmers zu besorgen (die junge Frau selbst hatte auswärts einige Besorgungen zu machen), ließ sich vorläufig nicht in ihrer Arbeit stören und dachte mit schelmischem Wohlbehagen:

„Man hält mich für die Tante! … Nun, warum könnte ich nicht auch eine Frau Assessorin sein, oder noch lieber – eine Frau Doctorin?“

[415] Nur langsam wandte sie darum endlich den Kopf und sah mit einiger Befremdung eine fremde, sauber gekleidete Frau vor sich stehen, behäbig und mit ziemlichem Embonpoint ausgestattet – vermuthlich eine Vermiethsfrau oder Wäscherin, oder sonst etwas dergleichen. Es schien fast, als ob der Besuch mit naiver Selbstschätzung auf eine Einladung zum Niedersitzen warte. Das aber war keineswegs nach Kätchens Geschmack. Sich eine halbe Stunde von der besten Waschmethode und den Vorzügen des Bleichens unterhalten zu lassen, wenn man den Kopf bis obenhin voll interessanterer Dinge hat, das war zu viel verlangt. Erwartete sie doch jeden Augenblick den neuen Vetter Fritz wieder, und es war ihr aus diesem Grunde eigentlich sehr angenehm gewesen, daß die Tante auf den Wochenmarkt gegangen war. Der neugebackene Doctor und Vetter hatte ihr nämlich versprochen, ihr heute Morgen seine hübschesten Studentenlieder vorzusingen, sie aber wollte ihn selbst dazu auf dem Piano begleiten. Die junge Dame blickte darum sehr von oben herab und frug recht unfreundlich:

„Wen suchen Sie denn eigentlich?“

„Die junge Frau Assessor – ach Gott, Sie sind’s ja nicht!“

„Die Frau Assessor ist nicht hier,“ beschied Käte kurz.

„Wo ist sie denn?“

„Sie sehen ja – fort!“ antwortete die junge Dame noch kürzer und voll steigenden Verdrusses über die auffallende Beharrlichkeit, „was weiß ich’s!“

„Ist sie denn nicht – angekommen?“

Käte, die das Incognito ihrer Verwandten noch nicht preisgeben wollte (erst heute Nachmittag sollte es ja fallen), antwortete schnell entschlossen:

„Nein, sie ist nicht angekommen!“

„Nicht?“ frug Frau Nährkorn sehr erstaunt und wußte nicht, was sie eigentlich denken sollte.

„Nein – weshalb auch?“

„Der Herr Gemahl ist aber doch angekommen!“

„Wieso?“ machte Käte – „durchaus nicht!“

„Wie sie lügen kann!“ dachte entrüstet Frau Nährkorn, und sagte:

„Ich bin ihm doch eben auf der Treppe begegnet.“

„Nun – dann muß er freilich wohl zurück sein,“ lachte Kätchen laut.

„Gestern – nein vorgestern ist er schon gekommen,“ triumphirte Frau Nährkorn weiter.

„Aber dann wissen Sie’s ja – weshalb fragen Sie denn noch? Die Frau Assessor ist aber jedenfalls noch nicht hier!“ triumphirte jetzt wieder Käte, der das letzte Endchen ihres schwachen Geduldfadens riß und die den sonderbaren Besuch um jeden Preis los zu werden wünschte.

Aber Frau Nährkorn ließ sich nicht mehr einschüchtern, sondern frug mit einem ihren Gedanken verrathenden Blicke auf Käte’s wiederaufgenommene häusliche Thätigkeit:

„Und dafür sind Sie wohl hier?“

„Wie Sie sehen!“ spottete Käte, indem sie die Fächer des Buffetschrankes abschloß und den Schlüsselbund hausfraulich, aber ein wenig kokett in den Gürtel steckte.

„Und – Sie sind gestern auch angekommen?“

„Vorgestern, wenn Sie erlauben,“ hohnlachte Käte.

„Richtig, vorgestern. Und Sie wollen – hier bleiben?“ frug Frau Nährkorn, einen Schritt zurückweichend, zum letzten Male, und dabei rasch, zornflammend, aber mit stockendem Athem. Denn vor ihrem Geiste stand plötzlich nebelhaft das entsetzlichste Geheimniß! …

Käte wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Aus dem Felde schlagen, von einer beliebigen Unbekannten, ließ sie sich denn aber doch nicht. Deshalb sagte sie trotzig:

„Natürlich bleib’ ich hier – immer! – wenigstens so lange er’s haben will!“ setzte sie plötzlich timide hinzu. „Was geht übrigens Sie mein Hierbleiben an? Sie – unverschämte Person!“

„So, so, das geht mich sehr viel an! Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin die Frau des Vicewirths und eine ordentliche reputirliche Frau und habe auf Ordnung im Hause zu sehen, und darum werde ich nicht leiden, daß, daß –“

„Was?“ frug Käthchen unschuldig.

Aber Frau Nährkorn hörte nicht mehr. Zornflammend hatte sie sich gewandt, um diese – Mördergrube zu verlassen. Denn immer klarer trat vor ihre erschreckte Seele ein grausiger Zusammenhang, irgend eine Geschichte, wie sie jetzt in allen Blättern zu lesen war. … Wo war die arme junge Frau? – Die Sache mußte schleunigst klar werden! Da – nahe der Thür, flog der aufgeregten Dame, die in lebhafter Gesticulation die Arme ausgebreitet hatte, plötzlich Jemand gegen Kopf und Brust. Es war ein langer Junge, mit einem Paket Bücher und Heften unter dem Arme, und einer hellblauen, silberumränderten Mütze. Der junge Herr schien fast über die Gebühr aufgeschossen, hatte dazu ein weiches Kindergesicht mit Augen wie „Vergißmeinnicht in Milch gekocht“, und lange semmelblonde Haare, und sogar schon einige gleichfarbige hoffnungsvolle Bartsprossen.

„So – haben Sie schon gehört, junger Herr?“ fragte stockend und athemlos Frau Nährkorn, die trotz ihrer Aufregung, oder vielleicht just durch dieselbe, sofort den jungen Herrn Wegner erkannt. Hatte sie sich nicht soeben auf’s Lebhafteste mit der hochachtbaren Familie beschäftigt und sich dabei mit Kummer und Schmerz der armen Eltern erinnert?

„Was?“ fragte Max, der eben nur an die „Schwarte“ des Ovid dachte, die er aus der Bibliothek des Schwagers heimlich holen wollte. Er hatte das ersehnte Buch vor einigen Wochen bei einem Besuche zufällig bemerkt und bedurfte dringend desselben, als Ultimus von Obertertia.

„Er ist wieder da, der Herr Assessor Kerner, der unsere erste Etage gemiethet hatte – nicht lange vor der Hochzeit …“ berichtete Frau Nährkorn in unverminderter Aufregung weiter.

„Sie sind wieder da? Wirklich? Du liebe Zeit, und die Guirlanden, die Mama bestellt hat, sind noch nicht einmal fertig, und auch mein Transparent nicht, ich male es nämlich selbst, mit Tuschfarben! Was wird Mama sagen! Wo sind sie denn?“

„Entschuldigen Sie nur – nehmen Sie’s nur nicht übel, junger Herr – du lieber Gott, wie soll ich’s denn nur ausdrücken? … Sehen Sie, der Herr Assessar ist zwar angekommen, aber er hat die junge Frau nicht wieder mitgebracht.“

Auch andere Leute als der semmelblonde hoffnungsvolle Obertertianer hätten sich vermuthlich auf solche Kunde keinen passenden Vers zu machen gewußt. Max versuchte es gar nicht einmal. Mund und Nase standen ihm vor Verwunderung offen: er war sprachlos.

„Wo ist – er denn?“ ermannte er sich endlich. Denn, daß die Portierfrau die Wahrheit sage, wenigstens in Betreff seines Schwagers, war ihm – leider! unzweifelhaft. … Dort lag ja der ansehnliche Aktenstoß, den der erwartete Gerichtsdiener allmorgendlich abzutragen pflegte, und da in der Ecke am Kleiderständer hing Rock und Mütze des Schwagers, daneben der Stock. Wer konnte wissen, ob es ihm unter solchen Umständen nun noch gelingen würde, die Ovid-Schwarte heimlich zu acquiriren. Und er brauchte sie so nothwendig, wie das liebe – Butterbrod, und war darum gleich aus der Schule hierher gelaufen, um sie zu holen, in der sicheren Hoffnung, durch Vermittelung des ihm wohlbekannten Vicewirthes oder des Stiefelputzers in das leere Quartier zu gelangen. … Sollte er denn wirklich wieder wegen mangelhafter Präparation mit seinem alten Pech hereinfallen – heute Nachmittag?

„Der Herr Assessor sind ausgegangen – auf’s Gericht, glaube ich – wenigstens mit Acten.“

Trotz des drohenden Verlustes der Schwester gab diese Nachricht dem Bruder das Leben zurück. Der Ausdruck der Züge verlor etwas von seiner gewöhnlichen ausdruckslosen Starrheit, um sogleich einer affenartigen Geschwindigkeit der Glieder Platz zu machen. Noch war ja Hoffnung vorhanden. … Dort lag ja das Zimmer des Schwagers und gleich rechts an der Thür im Bücherbrette stand in einem verlorenen Winkel der verdeutschte Ovidius Naso. Mit zwei langen Sätzen war er an der Frau vorüber und drinnen im Zimmer, und ehe sich die würdige Dame vollständig von ihrem Schrecken erholt hatte, war er auch schon wieder zurück, das bestäubte Buch hoch in der Hand.

„Sie haben’s wohl nicht recht verstanden, vorhin – was ich Ihnen erzählt habe, junger Herr,“ sagte Frau Nährkorn mit starker Betonung, da ihr das Benehmen des Bruders schlechterdings unverständlich blieb.

„Doch, doch, ja so - Marie - wo ist sie denn?“ erwiderte Max, den der Besitz der „Schwarte“ fast wider Willen in solch triumphirend glückliche Seelenstimmung versetzt hatte, daß er bei der besten Absicht nicht gleich „außer sich sein“ konnte.

[418] „Ja, wo ist sie denn? Das ist ja eben der Haken! … O, o, es ist zu gräßlich! …“ Dabei zog die Frau den jungen Mann zur Thür hinaus und warf sie hinter sich zu. Denn es drängte sie, endlich aus der Mörderhöhle zu entkommen.

„Mein Schwager ist also wirklich – allein zurückgekommen?“ stotterte Max.

„Ja! – Nein! – Die dort ist mitgekommen! – Vorgestern.“ Mit diesen Worten deutete Frau Nährkorn durch die Glasthür in’s Vorzimmer zurück, in welchem Käte soeben wieder erschienen war, um nachzusehen, ob der Vetter endlich komme. Sie hatte nämlich im Wohnzimmer das Zuwerfen der Thür draußen gehört.

Max stand mit aufgerissenen Augen und starr.

„Ich will nur gleich zu den Eltern laufen und es ihnen melden!“ sagte er endlich mit anerkennenswerther Geistesgegenwart.

„Versteht sich – gleich! Ach, die armen Eltern!“

„Ja, ja, gleich!“

Damit war Max die Treppe hinab, als ob ihm plötzlich der Kopf brenne. – –

Die weite Entfernung vom Westende bis zum Elternhause hatte vor allem anderen dazu beigetragen, das stille Glück der Liebenden zu verbergen. Jetzt ward sie leider verhängnißvoll! Max, nachdem er mit berechtigter Selbstliebe für sich oder vielmehr für die nächste Censur gesorgt hatte, beschäftigte sich nun noch allein mit der Schwester.

Wo war Mieze?

Mieze, die nicht nur das beste Vesperbrod schnitt, sondern ihm auch mit unendlicher Geduld englische und französische Vocabeln eingepaukt hatte, sodaß er Ostern „versuchsweise“ nach Obertertia versetzt war. …

Daß die Wohnung der Geschwister wirklich bewohnt war, hatte er ja deutlich wahrgenommen. Glaubte er doch trotz seiner Aufregung und Eile im Zimmer des Schwagers starken Cigarrendampf gerochen zu haben. Er glaubte sogar die Sorte wieder zu erkennen, die Cigarrentasche des Schwagers hatte ihm hinter dem Rücken des Vaters allezeit offen gestanden, und er hatte von dieser verwandtschaftlichen Annehmlichkeit auch ausgiebigsten Gebrauch gemacht.

Auch versicherte Frau Nährkorn, dem „Herrn Assessor“ auf der Treppe begegnet zu sein – Frau Nährkorn, die seine Mama noch kürzlich in seiner Gegenwart eine zuverlässige Person genannt hatte.

Man hatte all die Tage her daheim natürlich fast nur von den Neuvermählten gesprochen. Und zwar kopfschüttelnd von allen Seiten! Wenigstens nach den Grüßen und letzten Nachrichten, die Vetter Fritz, der sie in Heidelberg gesprochen, von ihnen zurückgebracht hatte.

„Nach Italien lasse ich mir noch gefallen,“ hatte der Vater gesagt, „man muß die Feste feiern wie sie fallen! Aber bis nach Sicilien? Nun, meinetwegen auch dies, wenn nämlich der Geldbeutel reicht. Aber nach Algier? Zum Kukuk, was wollen sie denn in Algier?“

Sonderbar! Unwillkürlich mußte sich Max plötzlich eines wunderschönen lehrreichen Buches aus der Quarta-Bibliothek erinnerin. Es war eine Seeräubergeschichte, und das mit bunten Tondruckbildern versehene Buch berichtete von zwei sich zärtlich liebenden Geschwistern, die zusammen eine Reise über das Mittelländische Meer machten und daselbst von einem Piratenschiff angefallen wurden. Der Bruder, der die Schwester natürlich heldenmüthig vertheidigt, fiel im blutigen Kampfe, während das arme Mädchen von einem Corsaren geraubt und auf den Sclavenmarkt nach Algier geschleppt wurde.

Und wie man hienieden nicht ungestraft unter Palmen wandelt, so liest man auch nicht umsonst solch schöne Räubergeschichten. Es schien sich mit einem Male ein erneuter innerer Contact zwischen dem Buche in der Quarta-Bibliothek und dem semmelblonden Kopfe des glücklichen Obertertianers zu entspinnen, und weil das Contagium vermuthlich nicht allzu viel Gehirnmasse fand, so hatte es dafür um so mehr Platz sich auszubreiten. Wie – wenn Miezen ebenso geschehen wäre? Sie konnte doch unmöglich verloren sein wie ein Paket?

Der Schwager aber hatte sich vorsorglich gleich eine Andere mitgebracht und schnell geheirathet. Wo er die nur so schnell herbekommen hatte? Sie schien noch jung zu sein, ungefähr so, Wie die „Damen“ in der Tanzstunde und auf den „Lämmerbällen“ und hätte eigentlich besser für ihn selbst gepaßt.

Ungefähr soweit war Max mit seinen Reflexionen gekommen, und es war ihn, dabei ganz wirbelig geworden, ähnlich wie vorhin, als er gegen Frau Nährkorn angerannt war. Da stand er am Marktplatz vor dem Giebelhause der Eltern.




7.

„Daß Du ein Dummkopf seiest, habe ich leider schon lange gewußt, daß Du aber auch ein halber Tollhäusler bist, entdecke ich erst heute!“

Mit solchen Kernworten suchte der Stadtrath das sich weiter und gefährlich ausbreitende giftige Contagium zu verflüchtigen. Wie eine wohlthätige kalte Douche fiel es auf vier erhitzte Köpfe herab.

Dennoch saßen die Anwesenden, wenigstens die weiblichen – Großmama-Medicinalräthin, Tante Bertha und die Stadträthin – noch immer wie erstarrt bei einander, während Max mit dem Rücken die Thür suchte, theils um einem zweiten, vielleicht noch kälteren Bade zu entgehen, theils um den phantasiereichsten und productivsten römischen Dichter, welchen er noch immer krampfhaft in der Hand hielt, vorerst in seiner „Bude“ in Sicherheit zu bringen.

„Bitte, liebe Frau, laß doch die Suppe herein bringen! Ich habe tüchtigen Appetit diesen Mittag,“ fuhr der Stadtrath in gleicher, glücklicher, kühler Tonart fort. „Willst Du nicht so gut sein und klingeln,“ wiederholte er lauter, als die Stadträthin sich noch immer nicht erhob. „Großmama und Tante Bertha, die mit uns essen werden, wünschen die Eßstunde nicht hinauszuschieben –“

„Mann – ich begreife Dich nicht!“ stöhnte die Stadträthin.

„Und ich Dich noch weniger – so wenig, daß ich gar nicht über die Sache reden mag! Doch verspreche ich dafür Dir binnen zwei Stunden Aufklärung des – Mißverständnisses zu bringen! Jetzt, wie gesagt, wollen wir zu Tische gehen! Liebe Mama, darf ich bitten? … Nach der Suppe muß ich schon selbst klingeln. …“

Damit war die Stadträthin dem Gatten indessen doch gewohnheitsmäßig zuvor gekommen. Auch hatte sie ihren Platz wie sonst eingenommen. Das Vorlegen mußte aber der Gatte über nehmen, dazu war sie vollkommen unfähig. Auch im Essen bestrebte er sich mit gutem Beispiele voranzugehen, wenigstens anfangs, später schien er gleichfalls zu erlahmen. Nur Max, der den Ovidius Naso glücklich in Sicherheit gebracht hatte, leistete das Seinige. Beim Dessert war der Stadtrath plötzlich verschwunden. Und Jeder ahnte, wußte, wohin er die Schritte gelenkt hatte.

Fünfzehn Minuten später war er draußen im Westend und stand im Hause des jungen Ehepaares. Bevor er die Treppe hinanstieg, trocknete er sich den Schweiß von der Stirn, den ihm die rasche Bewegung oder die – Angst ausgepreßt hatte. … Jetzt zog er die Glocke. Ein leichter flüchtiger Schritt tönte von drinnen an sein Ohr. Er lauschte gespannt, athemlos … jetzt öffnete man innen, und eine schlanke Frauengestalt flog ihm entgegen und lag an seiner Brust.

„Väterchen, liebes Herzensväterchen!“




„Thörichte Kinder, weshalb seid Ihr nicht öffentlich zu Hause geblieben? – Die ganze Geschichte hört sich an wie ein Lustspiel und hat mir dennoch, jetzt will ich’s gestehen, heimlichen Angstschweiß ausgepreßt!“ sagte eine Viertelstunde später der Stadtrath, wie erlöst, als er trotz vielfachen Zwischen- und Durcheinandersprechens endlich den Sachverhalt kennen gelernt hatte.

„Ich trage eigentlich die Schuld!“ sagte Marie beschämt.

„Oder ich – wenigstens will ich sie nur gleich auf mich nehmen – Einer muß doch der Sündenbock sein!“ sagte Fritz, der über die Studentenlieder und Käte das rechtzeitige Weggehen vergessen hatte und über Mittag geblieben war. „Ich stieß die rollende Kugel vollends den Abhang hinab.“

„Um des glücklichen Endes willen sei Euch verziehen, kommt aber nun eilig, damit auch Mama aus ihrer Sorge befreit wird.“ –

„Und einen ganzen Selectacursus im Haushalten habe ich durchgemacht, liebe Mama!“ sagte Marie mit stolzer Würde, als [419] man eine Stunde später daheim im Elternhause beim Kaffeetrinken überglücklich beisammen saß. „Man lernt erst, wenn man etwas allein thut und die Verantwortung dafür trägt. … Unsere zukünftige Küchenfee wird sich wundern, wenn ihre junge Frau schon Bescheid weiß.“

Die Stadträthin schüttelte indessen immer noch den Kopf.

„Ich kann’s noch gar nicht fassen – curiose Flitterwochen das!“

„Freilich – Deine Erfahrung und Dein unersetzbarer Beistand hat uns überall gefehlt, beste Mama,“ sagte jetzt der Assessor voll Anerkennung und Galanterie, und indem er sich der versalzenen Suppe erinnerte. „Aber – wer ist nicht einmal über seine Ideale gestolpert?“

Die Stadträthin schmunzelte zwar, konnte sich aber immer noch nicht ganz beruhigen und sagte:

„Also gar keine Hochzeitsreise – wollt Ihr denn durchaus selbst die Mode machen?“

„Warum nicht? Ist es nicht das Allernatürlichste von der Welt, mit seinem jungen Glücke das heißersehnte eigene Nest aufzusuchen, anstatt sich beliebig umherhetzen zu lassen? Wer thut mir’s nach?“

Fritz, der neben Käte stand, flüsterte dieser etwas in’s Ohr, was sie bis zu den Simpelfransen herauf erröthen machte. Niemand der Anwesenden hatte die Worte gehört; das feine Geistesohr des geehrten Lesers hat sie aber doch verstanden!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ver