Die Jahnshöhle bei Giebichenstein
[707] Die Jahnshöhle bei Giebichenstein. (Zu dem Bilde S. 705.) Da, wo die vielbesungene Saale unterhalb Halle durch die sogenanntn Trothaer Felsen zu einer scharfen Umbiegung gezwungen wird und dann wenige hundert Schritte stromabwärts über das Kröllwitzer Wehr stürzt, befindet sich in einem von dem Flusse unmittelbar bespülten Felsen eine Höhle von nur geringer Ausdehnung; ein kleiner Vorplatz ist durch eine Aufmauerung aus Quadersteinen hergestellt, ein kunstvoll gearbeitetes eisernes Geländer umgiebt diesen, und über dem Eingang der Höhle ist eine eiserne Gedenktafel mit einem Medaillonbildniß an den Felsen geheftet.
Wie man aus den das Brustbild umgebenden Sinnbildern, dem Eichenkranz und dem vierfachen F, ersieht, ist es die deutsche Turnerschaft, welche dieses historische Stückchen Erde für sich in Anspruch nimmt. Denn hier verbrachte am Ausgange des vorigen Jahrhunderts der „Turnvater Jahn“ als akademischer Bürger der Halleschen Universität einen vollen Sommer. Welche äußere Gründe ihn auch bewogen haben, in diese freiwillige Verbannung zu gehen, für uns hat dieser eigenartige Abschnitt eines vielbewegten Menschenlebens ein ganz besonderes Interesse deshalb, weil er die germanische Urwüchsigkeit des „alten Jahn“ bereits in dem Jünglinge ankündigt. Jahn war ein ausgesprochener Gegner des studentischen Duells und lebte deshalb mit den Landsmannschaften in steter Fehde, bei welcher seine gute Faust und ein tüchtiger „Ziegenhainer“ sein Wehr und Waffen waren. Er wurde endlich von den Verbindungen in Verruf erklärt und wenn er diese akademische Vogelfreiheit auch nicht fürchtete, so sehnte er sich doch, den unausgesetzten Raufereien aus dem Wege zu gehen, und zog sich deshalb in das unwirthsame Felsennest zurück, ohne jedoch auch hier den Belästigungen völlig zu entgehen. Sein Versteck war einer der Landsmannschaften bekannt geworden, mehrere Mitglieder derselben beschlossen, den Geächteten in seiner Höhle aufzusuchen, um ihm „die Reitpeitsche zu geben“, d. h. ihn mit diesem Geräthe zu züchtigen. Jahn hatte sich jedoch in unbestimmter Vorahnung auf Ueberraschungen eingerichtet und auf dem Felsen über seiner Höhle an einzelnen Punkten Steine zusammengehäuft. Sein wachsames Auge entdeckte auch rechtzeitig die heranschleichenden Feinde; er schwang sich unbemerkt um den Felsenvorsprung herum und als jene nun in die Höhle eindrangen, fanden sie dieselbe leer; hoch über dem Eingange aber stand der „wilde Jahn“, der ein wohlgezieltes Feuer auf sie eröffnete und sie derartig in die Enge trieb, daß sie schließlich um freien Abzug förmlich kapituliren mußten.
Nach dieser energischen Abwehr blieb der junge Einsiedler unbelästigt. Er soll dann den ganzen Sommer hindurch so ausschließlich hier gehaust haben, daß er nur zur Beschaffung des Nothwendigsten von Zeit zu Zeit nach Kröllwitz hinüberschwamm, wo er, wie man erzählt, ein kleines Ackergrundstück gepachtet hatte, das ihm seinen Bedarf an Kartoffeln lieferte. Wieviel hiervon auch der Legende angehören mag, jedenfalls steht soviel fest, daß Jahn längere Zeit hindurch in dieser Höhle gewohnt und hier den ersten grundlegenden Gedanken zu seinem werthvollsten Werke, dem „Deutschen Volksthum“, gefaßt hat.
Selbstverständlich wird die „Jahnshöhle“ von den zahlreichen Turnerfahrten, welche die Stadt Halle berühren, mit ähnlicher Pietät wie das Haus und das Grab des Turnvaters in Freiburg a. d. U. aufgesucht. Vor wenigen Wochen erst hielten an Bord einer kleinen Flotille 700 Turner des Nordostthüringischen Turngaues vor der Höhle und veranstalteten an der denkwürdigen Stätte eine eindrucksvolle Gedächtnißfeier. Seit der freundlichen Ausstattung dieses so romantisch gelegenen Punktes ist auch seine Anziehungskraft und das Interesse an ihm mehr und mehr im Wachsen begriffen, so daß man sich schon jetzt mit dem Gedanken trägt, diese Schöpfung der ehrenden Erinnerung mit einem Standbilde des „Vater Jahn“ zu krönen.