Die Kreuzschau
Die Kreuzschau.
Der Pilger, der die Höhen überstiegen,
Sah jenseits schon das ausgespannte Tal
In Abendglut vor seinen Füßen liegen.
Auf duftges Gras, im milden Sonnenstrahl
Indem er seinem Schöpfer sich befahl.
Ihm fielen zu die matten Augenlider,
Doch seinen wachen Geist enthob ein Traum
Der ird’schen Hülle seiner trägen Glieder.
Zu Gottes Angesicht, das Firmament
Zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum.
„Du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt,
Nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden.
Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden
Auch duldend tragen muß, ich weiß es lange,
Doch sind der Menschen Last und Leid verschieden.
Mein Kreuz ist allzu schwer; sieh’, ich verlange
Ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange.“
Wie er so sprach zum Höchsten kinderhaft,
Kam brausend her der Sturm, und es geschah,
Daß aufwärts er sich fühlte hingerafft.
Sich einsam in der Mitte räum’ger Hallen,
Wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah.
Und eine Stimme hört’ er dröhnend hallen:
Hier aufgespeichert ist das Leid; du hast
Versuchend ging er da, unschlüssig fast,
Von einem Kreuz zum anderen umher,
Sich auszuprüfen die bequemre Last.
Dies Kreuz war ihm zu groß und das zu schwer,
Doch scharf von Kanten, drückt’ es desto mehr,
Das dort, das warf wie Gold ein gleißend Licht,
Das lockt’ ihn, unversucht es nicht zu lassen;
Dem goldnen Glanz entsprach auch das Gewicht.
Zu keinem neigte noch sich seine Wahl,
Es wollte keines, keines für ihn passen.
Durchmustert hatt’ er schon die ganze Zahl –
Verlorene Müh! Vergebens war’s geschehen!
Und nun gewahrt’ er, früher übersehen,
Ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein,
Und bei dem einen blieb er endlich stehen.
Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein
Herr, rief er, so du willst, dies Kreuz sei mein!
Und wie er’s prüfend mit den Augen maß –
Es war dasselbe, das er sonst getragen,
Wogegen er zu murren sich vermaß.