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Die Leute von Seldwyla

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Textdaten
Autor: Gottfried Keller
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Titel: Die Leute von Seldwyla
Untertitel:
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Herausgeber:
Auflage: Zweite vermehrte Auflage in vier Bänden
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Göschen
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Band 1–2 Google-USA* = Commons und Band 2–3 Google-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Erstausgabe der Leute von Seldwyla erschien Anfang 1856 in Braunschweig bei Vieweg. Der Band enthielt nebst einer Einleitung die Erzählungen: Pankraz, der Schmoller • Romeo und Julia auf dem Dorfe • Frau Regel Amrain und ihr Jüngster • Die drei gerechten Kammmacher • Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen.

Fast zwanzig Jahre später erfolgte die Herausgabe einer 2. vermehrten Auflage in 4 Bänden. Sie enthielt fünf weitere Erzählungen und erschien beim Göschen-Verlag in Stuttgart.

Die Erstausgabe von 1856 enthält nur die ersten fünf Novellen und ist als Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv zu finden: Deutsches Textarchiv

Inhalt

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Band 1: Einleitung • Pankraz, der Schmoller • Romeo und Julia auf dem Dorfe

Band 2: Frau Regel Amrain und ihr Jüngster • Die drei gerechten Kammmacher • Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen

Band 3: EinleitungKleider machen LeuteDer Schmied seines GlückesDie mißbrauchten Liebesbriefe

Band 4: DietegenDas verlorene Lachen

Band 3

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[1] Seit die erste Hälfte dieser Erzählungen erschienen, streiten sich etwa sieben Städte im Schweizerlande darum, welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint sei; und da nach alter Erfahrung der eitle Mensch lieber für schlimm, glücklich und kurzweilig, als für brav aber unbeholfen und einfältig gelten will, so hat jede dieser Städte dem Verfasser ihr Ehrenbürgerrecht angeboten für den Fall, daß er sich für sie erkläre.

Weil er aber schon eine Heimat besitzt, die hinter keinem jener ehrgeizigen Gemeinwesen zurücksteht, so suchte er sie dadurch zu beschwichtigen, daß er ihnen vorgab, es rage in jeder Stadt und in jedem Thale der Schweiz ein Thürmchen von Seldwyla, und diese Ortschaft sei mithin als eine Zusammenstellung solcher Thürmchen, als eine ideale Stadt zu betrachten, welche nur auf den Bergnebel gemalt sei und mit [2] ihm weiter ziehe, bald über diesen, bald über jenen Gau, und vielleicht da oder dort über die Grenze des lieben Vaterlandes, über den alten Rheinstrom hinaus.

Während aber einige der Städte hartnäckig fortfahren, sich ihres Homers schon bei dessen Lebzeiten versichern zu wollen, hat sich mit dem wirklichen Seldwyla eine solche Veränderung zugetragen, daß sich sein sonst durch Jahrhunderte gleich gebliebener Charakter in weniger als zehn Jahren geändert hat und sich ganz in sein Gegentheil zu verwandeln droht.

Oder, wahrer gesagt, hat sich das allgemeine Leben so gestaltet, daß die besonderen Fähigkeiten und Nücken der wackeren Seldwyler sich herrlicher darin entwickeln können, ein günstiges Fahrwasser, ein dankbares Ackerfeld daran haben, auf welchem gerade sie Meister sind und dadurch zu gelungenen, beruhigten Leuten werden, die sich nicht mehr von der braven übrigen Welt unterscheiden.

Es ist insonderlich die überall verbreitete Spekulationsbethätigung in bekannten und unbekannten Werthen, welche den Seldwylern ein Feld eröffnet hat, das für sie wie seit Urbeginn geschaffen schien und sie mit Einem Schlage tausenden von ernsthaften Geschäftsleuten gleichstellte.

Das gesellschaftliche Besprechen dieser Werthe, das Herumspazieren zum Auftrieb eines Geschäftes, mit [3] welchem keine weitere Arbeit verbunden ist, als das Erdulden mannigfacher Aufregung, das Eröffnen oder Absenden von Depeschen und hundert ähnliche Dinge, die den Tag ausfüllen, sind so recht ihre Sache. Jeder Seldwyler ist nun ein geborener Agent oder dergleichen, und sie wandern als solche förmlich aus, wie die Engadiner Zuckerbäcker, die Tessiner Gypsarbeiter und die savoyischen Kaminfeger.

Statt der ehemaligen dicken Brieftasche mit zerknitterten Schuldscheinen und Bagatellwechseln führen sie nun elegante kleine Notizbücher, in welchen die Aufträge in Aktien, Obligationen, Baumwolle oder Seide kurz notirt werden. Wo irgend eine Unternehmung sich aufthut, sind einige von ihnen bei der Hand, flattern wie die Sperlinge um die Sache herum und helfen sie ausbreiten. Gelingt es Einem, für sich selbst einen Gewinn zu erhaschen, so steuert er stracks damit seitwärts, wie der Karpfen mit dem Regenwurm, und taucht vergnügt an einem andern Lockort wieder auf.

Immer sind sie in Bewegung und kommen mit aller Welt in Berührung. Sie spielen mit den angesehensten Geschäftsmännern Karten und verstehen es vortrefflich, zwischen dem Ausspielen schnelle Antworten auf Geschäftsfragen zu geben oder ein bedeutsames Schweigen zu beobachten.

[4] Dabei sind sie jedoch bereits einsilbiger und trockener geworden; sie lachen weniger als früher und finden fast keine Zeit mehr, auf Schwänke und Lustbarkeiten zu sinnen.

Schon sammelt sich da und dort einiges Vermögen an, welches bei eintretenden Handelskrisen zwar zittert wie Espenlaub, oder sich sogar still wieder auseinander begibt wie eine ungesetzliche Versammlung, wenn die Polizei kommt.

Aber statt der früheren plebejisch-gemüthlichen Concurse und Verlumpungen, die sie unter einander abspielten, gibt es jetzt vornehme Accommodements mit stattlichen auswärtigen Gläubigern, anständig besprochene Schicksalswendungen, welche annäherungsweise wie etwas Rechtes aussehen, sodann Wiederaufrichtungen, und nur selten muß noch Einer vom Schauplatze abtreten.

Von der Politik sind sie beinahe ganz abgekommen, da sie glauben, sie führe immer zum Kriegswesen; als angehende Besitzlustige fürchten und hassen sie aber alle Kriegsmöglichkeiten, wie den baren Teufel, während sie sonst hinter ihren Bierkrügen mit der ganzen alten Pentarchie zumal Krieg führten. So sind sie, ehemals die eifrigsten Kannegießer, dahin gelangt, sich ängstlich vor jedem Urtheil in politischen Dingen zu hüten, um ja kein Geschäft, bewußt oder [5] unbewußt, auf ein solches zu stützen, da sie das blinde Vertrauen auf den Zufall für solider halten.

Aber eben durch alles das verändert sich das Wesen der Seldwyler; sie sehen, wie gesagt, schon aus wie andere Leute; es ereignet sich nichts mehr unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre, und es ist daher an der Zeit, in ihrer Vergangenheit und den guten lustigen Tagen der Stadt noch eine kleine Nachernte zu halten, welcher Thätigkeit die nachfolgenden weiteren fünf Erzählungen ihr Dasein verdanken.