Die Photographie des Vogels mitten im Fluge
[356] Die Photographie des Vogels mitten im Fluge ist dem französischen Physiologen Prof. Marey, wie er am 13. März der Pariser Akademie der Wissenschaften mittheilte, vollständig gelungen, und zwar so, daß jede einzelne Bewegung des Fluges im „Tausendstelsekundenbilde“ festgehalten wird. Wie wir in Nr. 25 der „Gartenlaube“ von 1878 mitgetheilt, war es damals dem Photographen Muybridge in San Francisco gelungen, durch Aufnahmen, deren jede nur 1/500 Secunde dauerte, die einzelnen Stellungen eines trabenden Pferdes darzustellen, wie es ihm auch geglückt, aus einem Taubenschwarme einzelne Tauben in vollkommen klarer Flügelstellung zu photographieren. Die Sache ist insofern von Interesse, als man darüber noch nicht völlig im Klaren ist, aus welchen einzelnen Bewegungen sich der Flug eines Vogels zusammensetzt; wenigstens bestanden hierüber zwischen den beiden besten Kennern des Problems, dem Prof. Marey und dem Dr. J. Bell Pettigrew, bisher erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Um dieselben zu beseitigen, genügt es aber nicht, eine einzelne Stellung festzuhalten, sondern man muß, wie Muybridge in Bezug auf die Bewegungen der Pferde gethan hat, eine ganze Reihe auf einander folgender Flügelstellungen im Fluge erhaschen und dabei zugleich ihre Zeitdauer feststellen können. Es gelang dies Marey nach mehreren vergeblichen Versuchen, und zwar mit Hülfe eines mit Revolvermechanismus versehenen Apparates, der die Form eines Jagdgewehres hat, und mit dem man nach dem Vogel zielt. Man erhält mittelst desselben in der Secunde zwölf Bilder, von denen jedes zu seiner Aufnahme nur 1/700 Secunde Zeit erfordert. Bei Anwendung von Bromsilbergelatineplatten reicht diese mit dem Chronographen gemessene Zeitdauer (1/700 Secunde) selbst für bedeckten Himmel aus; bei Sonnenschein genügt 1/1500 Secunde zur Aufnahme des Einzelbildes. Indem man eine Reihe dieser Flugbilder auf einer stroboskopischen Scheibe, die bekanntlich auch Wunderscheibe genannt wird, befestigt, kann man Vogelflug und Pferdetrab aus den einzelnen Momenten zusammensetzen und, wenn man die Scheibe langsam dreht, mit aller Gemächlichkeit im Spiegel studiren.
Angesichts dieser Revolver-Photographen ist offenbar nichts mehr auf der Welt vor dem Photographirtwerden sicher, weder der Gauner, der sich gegen seine Portraitirung sträubt, noch die verdächtige Persönlichkeit oder die weibliche Schönheit auf der Straße und im Ballsaal, auf die sich ein unschuldiges Opernglas richtet. Ja, schließlich sind nicht einmal die Grimassen eines Possenreißers oder die Finger eines Taschenspielers davor geschützt, dingfest gemacht zu werden, um hernach im Zootrop, jenem Spielzeug für Alt und Jung, weiter „arbeiten“ zu müssen.