Die Reichswaisenhäuser

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Autor: Johannes Freudenberg
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Titel: Die Reichswaisenhäuser
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 607–608
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Reichswaisenhäuser.

Von Johannes Freudenberg.

Sechzehn Jahre sind ins Land gegangen, seitdem die „Gartenlaube“ in einem Artikel „Das deutsche Reichswaisenhaus zu Lahr“ die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein noch in den Kinderschuhen steckendes Wohlthätigkeitsunternehmen lenkte und ihm eine gesegnete Entwicklung verhieß. Damals hat wohl kaum einer geahnt, daß aus jenen schwachen Anfängen die vielbewunderte und vielbespöttelte Vereinigung hervorgehen sollte, die sich heute eines Sammelergebnisses von 1½ Millionen Mark rühmen und vier reich ausgestattete Waisenhäuser ihr eigen nennen darf; wir meinen die „Deutsche Reichsfechtschule“ mit ihren zahlreichen Zweigverbänden wie Köln, München, Frankfurt a. M. („Waisenfreund“), Kassel („Waisenschutz“), Berlin („Waisenhort“), Charlottenburg („Waisenfreund“) u. a.

Tausendfältige Frucht hat das unscheinbare Samenkorn getragen, das Albert Bürklin in Gemeinschaft mit dem Herausgeber des Lahrer „Hinkenden Boten“, Moritz Schauenburg, in die Seele unseres Volkes senkte, als er im Jahre 1876 die Anregung gab, abgeschnittene Cigarrenspitzen zu sammeln und an Tabakfabriken zu verkaufen, um aus dem Erlös ein Waisenhaus zu erbauen. War es auch dem weitschauenden Blick und dem Organisationstalent eines anderen Menschenfreundes vorbehalten, dem Werke zur Vollendung zu verhelfen, so gebührt doch jenen beiden Männern ein ehrendes Gedenken schon um deswillen, weil sie zuerst das rechte Wort gefunden haben, um Herzen zu erwärmen und Hände willig zu machen für die deutschen Waisen. Das kleine Waisenmädchen, das seinen grausamen Pflegeeltern entläuft, und mit einigen kalten Kartoffeln in der Tasche den meilenweiten Weg nach Lahr zu Fuß zurücklegt, um den Mann aufzusuchen, der den Waisen ein Vater sein will, – der edle Greis, der das halberstarrte Kind vor der Thür seines Häuschens findet und es mit liebevoller Sorgfalt pflegt: das waren lebenswahre und für das Waisenelend typische Gestalten, die ihre Wirkung auf das Volksgemüt nicht verfehlen konnten. Die zwingende Gewalt jener schmucklosen Darstellung war es, die den elternlosen Kindern einen Helfer erweckte in der Person des Generalagenten Heinrich Radermann in Magdeburg.

Auf seine Anregung entstand 1881 zur Unterstützung des Lahrer Unternehmens ein Verein, der sich die Aufgabe stellte, unter dem Motto:

„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel“

in fröhlichem Kreise wacker zu fechten, d. h. zu betteln für die deutschen Waisen. Der praktische „Fechtvater“ hatte den glücklichen Einfall, die neue Vereinigung – ihr Anfangskapital betrug 9 Mark 82 Pfennig – auf humoristischer Grundlage aufzubauen. Für einen jährlichen Beitrag von 30 Pfennig konnte man die Mitgliedschaft der „Deutschen Reichsfechtschule“, wie er sie nannte, erwerben. Wer ihr 20 Mitglieder zugeführt hatte, durfte sich „Fechtmeister“ nennen und gründete damit [608] eine „Fechtschule“; wer aber 200 Jahreskarten untergebracht hatte, empfing die Würde eines „Oberfechtmeisters“, und so konnte er, je nach seinen Leistungen für den Verein, emporsteigen zum „Hauptfechtmeister“ und „Generalfechtmeister“, bis ihm endlich im „Fechtrat“ die höchste Würde erblühte – nicht zu reden von den geschmackvollen lustigen Orden und Ehrenzeichen, die dem eifrigen Fechter verlockend winkten. Mag mancher Unkundige sich eines Lächelns über solche Scherze nicht erwehren können – thatsächlich war bald ganz Deutschland übersät von Zweigverbänden der Deutschen Reichsfechtschule, und innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren konnten 46 000 Mark nach Lahr abgeliefert werden; die Gründung des ersten Waisenhauses war damit gesichert. Aber noch immer flossen, wie aus verborgenen Quellen, die Beiträge von allen Seiten so reichlich, daß man sich entschließen durfte, den beabsichtigten Zweck zu erweitern und noch zwei weitere Waisenhäuser zu errichten; auch hierzu genügte ein kurzer Zeitraum – schon im Jahre 1885 konnten die drei Reichswaisenhäuser in Lahr, Magdeburg und Schwabach eröffnet werden.

Da schwiegen die Zweifler, die vorher achselzuckend gefragt hatten, ob die Spielerei der Deutschen Reichsfechtschule wohl deutscher Männer würdig sei; da wurde es ihnen klar, daß sich eine nationale That vor ihren Augen vollzogen hatte, ja daß die Kräfte, die sich stark genug erwiesen hatten, so bedeutende Summen groschenweise zusammenzubringen und Cigarrenspitzen, Cigarrenbänder, Flaschenkapseln, Staniol und sonstige scheinbar wertlose Abfälle in Stein und Kalk umzusetzen, um daraus drei Denkmäler deutscher Liebesthätigkeit zu errichten, nicht einer Laune entsprungen sein konnten, sondern daß sich in solchen Erfolgen eine tiefgehende Volksbewegung offenbarte als Spiegelbild deutschnationalen Empfindens. Heute, nachdem am 16. Juli 1899 auch das vierte Reichswaisenhaus in Salzwedel feierlich eingeweiht worden ist, wird niemand mehr bezweifeln, daß die Deutsche Reichsfechtschule in ihrem Ursprung und Fortgang durchaus ernsthaft zu nehmen ist als eine Kraft im Volke, und daß sie nicht nur die humanitäre und sociale Bedeutung eines segensreich wirkenden Wohlthätigkeitsunternehmens beanspruchen kann, sondern auch als ein beachtenswerter Faktor im deutschnationalen Leben der Gegenwart und Zukunft gelten darf.

Würdig wie ihr Werden und Wachsen ist auch ihr Wirken in der Gegenwart. In Magdeburg, wo die Wiege des Vereins stand, laufen auch heute noch die Fäden zusammen, mit denen ein wohldurchdachtes System das weitverzweigte Gebilde umsponnen hat. Hier versammeln sich alljährlich die Abgesandten der über ganz Deutschland verbreiteten Zweigverbände, um für den verflossenen Zeitraum Rechenschaft zu fordern und in ernster Beratung den von der „Oberfechtschule“ aufgestellten Haushaltsplan für das nächste Jahr festzustellen, der beispielsweise für das Magdeburger Haus in Einnahme und Ausgabe mit 15000 Mark abschließt; das gesamte Sammelergebnis eines Jahres beträgt etwa 70000 Mark. Unter der Oberhoheit dieser Hauptversammlung vollzieht sich die dem staatlichen Organismus trefflich nachgebildete Verwaltung mit einer Sicherheit, daß man nicht weiß, was man mehr bewundern soll, die Geschicklichkeit, mit der so viele Köpfe unter einen Hut gebracht werden, oder die Uneigennützigkeit der Männer, die jahrein, jahraus in den zum Teil sehr umfangreichen Verbänden die Mühe und Last ihrer Aemter ohne jede Entschädigung und ohne Aussicht auf irgend eine äußere Anerkennung willig tragen. Die Worte, welche der Verfasser dieser Zeilen einstmals von dem Magdeburger Reichswaisenhause schrieb, gelten sinngemäß für das Gesamtgebiet der Deutschen Reichsfechtschule: Kein König hat es protegiert, kein Fürst die Schatulle zu seinen Gunsten geöffnet, kein Millionär den Säckel dazu aufgethan, kein Reiseprediger hat Beiträge dafür gesammelt – jeder Stein hat einen anderen Geber. Das Scherflein der Witwe, der Groschen des armen Mannes, die Beiträge derer, die nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet sind, haben jene Mauern errichtet, und nun klingt in des Hauses Festraum aus fröhlichen Kinderkehlen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.

Fröhliche Geber waren die Gründer der Deutschen Reichsfechtschule, in fröhlichen Kreisen hat sie ihre Förderer gefunden – Frohsinn und ungebundene Jugendlust sind auch das Kennzeichen der Kinderschar, die unter der treuen Obhut erprobter Hauseltern in den Reichswaisenhäusern aufwächst. Man kann diese Heimstätten mit Fug und Recht als Musteranstalten bezeichnen, nicht allein nach ihrer inneren Einrichtung, sondern vor allem nach der Art der in ihnen herrschenden Erziehungsmethode. Es sind Heimstätten, wo Verwaiste wohnen und erzogen werden, ohne sich als Almosenempfänger zu fühlen, ohne von der Welt abgeschlossen zu sein. Die Kinder besuchen mit ihren Altersgenossen die öffentlichen Schulen und Gottesdienste; unter Aufsicht eines geprüften Lehrers machen sie ihre Schularbeiten, in glücklichem Jugendübermut tummeln sie sich auf dem weiten Turn- und Spielplatze umher oder stärken den Körper bei gesunder Arbeit im Obstgarten und auf dem Ackerfelde. Die große Symphonie der Weltschöpfung mit dem Waldesrauschen und dem Säuseln im Korn, der helle Lerchenjubel und das stumme Mene Tekel der untergehenden Sonne, der Abendzauber und der Gruß des erwachenden Morgens, das alles sind Eindrücke, die schon frühe ihre kindliche Seele füllen und die sonst im gewöhnlichen Leben selbst bei zärtlichster Elternfürsorge den Kindern der Städte nur unter besonders günstigen Umständen geboten werden.

So wachsen die Zöglinge unter strenger, aber liebevoller Leitung heran zu geistig und körperlich gesunden Knaben und Mädchen, erfüllt mit Liebe zu den Menschen, die ihnen Gutes gethan haben, mit Achtung vor der Obrigkeit und mit Ehrfurcht vor der hohen Macht, die über ihnen waltet; denn daß ihnen neben dem „Heil Dir im Siegerkranz“ auch das „Lobe den Herrn“ kein fremder Klang ist, bedarf kaum der Erwähnung. Nach erfolgter Konfirmation aber werden sie tüchtigen Handwerksmeistern oder zuverlässigen Haushaltungen als Lehrlinge und Dienstboten übergeben, und die Erfahrung hat gezeigt, daß sie sich im Leben bewähren.

Nach der bisherigen Entwicklung der Deutschen Reichsfechtschule ist mit Sicherheit zu erwarten, daß sie unter fernerer Mitarbeit der weitesten Kreise unseres Volkes dereinst ihr Ziel erreichen wird: in allen Teilen des deutschen Vaterlandes, insbesondere auch in den östlichen Provinzen, ihre Heimstätten zu errichten als Stützpunkte deutscher Gesinnung und staatserhaltender Bürgertugend.