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In Straßburg vor hundert Jahren

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Textdaten
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Autor: Dr. Emil Rechert
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Titel: In Straßburg vor hundert Jahren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 608–610
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[608]

In Straßburg vor hundert Jahren.

Von Dr. Emil Rechert.

Das Straßburger Münster.

Unlängst hat Graf Friedrich Schönborn, der frühere österreichische Justizminister, in einem lesenswerten Aufsatz das Loblied alter Baukunst gesungen und sehr richtig bemerkt, daß die kleinen Gegenstände heute vor Vernichtung weit besser gesichert sind als große Bauwerke älterer Zeit. „Alte Gläser, Hausschlüssel, Tische deshalb sammeln, weil sie alt sind, und die alten Häuser, aus denen diese Dinge stammen, zerstören, ebenfalls weil sie alt sind – das ist ein Vorgang, dessen Wiederholung wir täglich beobachten können. Werden unsere Nachkommen den Widerspruch verstehen?“

Ich glaube, sie werden ihn verstehen. Unsere Nachkommen werden noch weit mehr praktische, nüchtern denkende Leute sein als wir und es vollständig billigen, daß der Weg rastlosen Fortschrittes auch über die stolzesten Trümmer der Vergangenheit geht. Uns blutet ja doch wenigstens noch das Herz, wenn solch ein alter Bau dem Drachengebiß der Zeit zum Opfer fällt. Denn wir lieben die malerischen Reste städtischer Vergangenheit, die engen Gassen und stillen Plätze, wo die alte Physiognomie unserer Stadt uns mit all ihren liebgewordenen Runzeln ansieht. Wenn auch das Neue, das überall aus dem Boden emporwächst, stattlich und glänzend ist, so hat es sich doch noch nicht an unsere Herzen anwachsen können. Um so eher mag es freundlichem Interesse begegnen, wenn wir im folgenden in knappen Zügen ein Bild aus städtischer Vergangenheit – vor hundert Jahren – zu entwerfen versuchen.

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Manches war damals schon so wie heute oder richtiger: manches ist heute noch so wie damals. Kommunale Schmerzen scheinen noch älter als der Weltschmerz zu sein. Die tröstliche Gewißheit, daß die Durchführung städtischer Projekte in der guten alten Zeit doch noch etwas länger als heutigestages währte, giebt uns die Geschichte Straßburgs. Seit dem Jahre 1663 hat eine wohldenkende Bürgerschaft die nächtliche Straßenbeleuchtung geplant, aber erst 1779 kommt das große Werk zur Ausführung. Von nun an wird die genaue Stunde des Anzündens und Auslöschens als eine Thatsache von Bedeutung ständig im Wochenblatte bekannt gegeben, mit der Bitte: „Wann einige Laternen später angezunden würden oder früher auslöschten als hier angezeigt, oder auch etwas dunkel brennen sollten, so ersucht man diejenigen, welche solches wahrgenommen, Nachricht davon zu geben, nebst Anzeige der Nummer solcher vernachlässigter Laternen“. Aber das Unternehmen hat, da eine Mehrbelastung des Säckels die Folge ist, eine Partei gegen sich, welche, eine gemeinderätliche Opposition, ihr Mißvergnügen sogar in gebundener [609] Rede, nämlich in einem Scheltgedicht, äußert, das ans Rathaus angeschlagen wird und ergreifend anhebt:

„Als unsere Stadt im Wohlstand saß,
Da war es finster auf der Straß’,
Doch als das Unglück angefangen,
Hat man Laternen aufgehangen.“

Man sieht, Kommunalpolitik und Beleuchtungsfragen waren von jeher verschwistert. Die Polizei der Stadt leidet an dem prinzipiellen Mangel, daß ihr ein Viertel der Einwohner, die sogenannten „Bevorrechteten“, Adel, Geistlichkeit, Beamte und Besatzung, nicht unterstehen. Desto größer ist dafür auf der andern Seite die Zahl polizeilicher „Ordnungen“, welche das Dasein des Bürgers von seinem Eintritte in das mühenreiche Leben bis zum seligen Ende, ja selbst vor- und nachher regeln. Kindtaufe, Erziehung, Dienstbotenwesen, Kleider, Essen und Trinken, Hochzeiten, Almosen, Leichenbestattung, Fluchen, „wucherliche Handlungen“ – kurz jeder rechtliche und widerrechtliche Schritt unterliegt irgend einer polizeilichen Bestimmung. Sogar die ersten öffentlichen Luftschiffahrtsversuche, die unter fieberhafter Teilnahme des Publikums im Jahre 1784 stattfinden, haben, da die Montgolfiere beim Niederfallen ein Holzmagazin anzündet, eine „Polizeiordnung“ zur Folge, „wodurch künftighin verbotten, Luftkugeln, welche durch Feuer aufgetrieben werden, in die Höhe zu schicken“. Auch Goethe, der 1770 in Straßburg studierte, hat uns ein Beispiel davon überliefert; in „Wahrheit und Dichtung“ erwähnt er die strengen Bauverordnungen, welche den damals geplanten Umbau der Stadt hemmten. Im Vergleiche mit dieser Masse von Verordnungen erscheint die mit ihrer Durchführung betraute Macht sehr gering, denn sie zählt bloß zwölf Schutzleute (von denen 1787 kaum fünf ihren Pflichten nachkommen können) und einige Wächter. Trotzdem gilt die, nebenbei bemerkt, schon in einem Gedichte des 15. Jahrhunderts gerühmte „gute Policey“ Straßburgs anderen Städten als Muster.

Gleich der Polizei ist die Feuerordnung, welche auf dem Löschdienst der Zünfte beruht, ein Stolz der Stadt. Als Ergänzung erscheint jährlich eine Instruktion, wie die 40 Löschmänner „zu denen vorfallenden Feuersbrünsten, die Gott in Gnaden lange abwenden wolle, sich zu verhalten, und was jeder insonderheit darbei zu verrichten habe“.

Unter den Neuerungen, welche die Stadt am Ausgange des Jahrhunderts erlebt, figuriert auch die Aufstellung von numerierten „Fiacres“ an bestimmten Plätzen, deren Zahl, selbstverständlich durch eine polizeiliche „Ordnung“, auf zwölf festgesetzt ist und welche wie ihre heutigen Standesgenossen bereits einen Fahrtarif „ausschließlich Trinkgeld“ mit erhöhten Preisen für die Nachtzeit haben. Daneben vermitteln, nicht minder polizeilich geregelt, zwanzig Droschken den Verkehr; aber auch die Sattler und die vornehmsten Gastwirte dürfen ein Gefährt und bis zu drei Pferden „zum Behuf des Publici und zur Bequemlichkeit der bei ihnen logirenden Fremden“ halten. Dem Verkehr nach auswärts dient die teuere, aber bequeme Diligence, welche nach Paris dreimal wöchentlich abgeht, und die fürchterliche Landpostkutsche, die trotz acht Pferden Vorspann zu der Strecke von Straßburg nach Paris, die der Schnellzug heute in sechs Stunden zurücklegt, volle elf Tage braucht. Der deutschen „Postschnecke“, diesem echten Wahrzeichen der „guten alten Zeit“, hat Börne eine Satire gewidmet. Weniger bekannt dürfte sein, daß auch Rückert in der „Weisheit des Brahmanen“ leidvoll ihrer gedenkt:

„Weh’ aber dem, der, wenn Geld oder Kraft versiecht,
Um fortzukommen nur, in Postlandkutschen kriecht;
Wo mit viel andern er liegt schichtweis aufgestoppelt,
Und mit der Fracht ein Paar von dürren Mähren hoppelt.“

Wie zum Teil in den öffentlichen Einrichtungen regt sich im bürgerlichen Leben etwas von einem neuen Geiste, während gleichzeitig der französische Einfluß auf die Sitten der im Kerne, wie Jakob Grimm sagt, noch „recht teutschen“ Stadt wächst, um schließlich durch die Revolution den Sieg davonzutragen. Die Mode erscheint auch hier als Barometer des politischen Luftdrucks. Da ist neben einer französischen Mädchenpartei, welche immer mehr Proselyten macht, in der Stadt eine andere, welche die sogenannte deutsche Tracht trägt, in welcher auch Friederike Brion im Sesenheimer Pfarrhaus einherging: kurzen Rock, knappes, weißes Mieder, schwarzes Taffetschürzchen – sehr klug gewählte Toilettestücke, um die von gleichzeitigen deutschen und französischen Reisenden am meisten gerühmten Reize der hübschen Straßburgerinnen, feine Taillen und zierliche Füßchen, ins günstigste Licht zu setzen. Dazu schwere, dreiteilige Zöpfe bei den Mädchen, bei den Frauen die goldenen „Schneppenhauben“, über welche sich ein Wiener im Jahre 1781 in seinem Reiseberichte äußert: „Die Weiber tragen hier ein kleines Häubchen von Gold, das einer Krone ähnlich ist und nicht übel bildet. Als ich das erste Mal mit einigen schönen Frauen speiste, glaubte ich mich zwischen Kaiserinnen und Königinnen des 15. Jahrhunderts versetzt.“ Schließlich fällt die deutsche Tracht, über deren malerische Wirkung Goethe so Schönes gesagt hat, als Opfer des französischen Revolutionstribunales, das am 15. November 1793 das Edikt erläßt: „Die Bürgerinnen Straßburgs sind eingeladen, die deutsche Tracht abzulegen, da ihre Herzen fränkisch gesinnt sind.“ Die Frauen legen auf dem „Altar des Vaterlandes“ Hunderte von gold- und silbergestickten Schneppenhauben nieder, deren Verkauf der „Nation“ 2544 Livres einbringt.

Daß manche Uebel, die man als moderne betrachten möchte, schon in der „guten alten Zeit“ nicht fehlten, lehrt uns das Gezeter gegen stundenlanges Klavierklimpern, „ohne etwas dabey zu fühlen“, und die Romanleserei. Hört es sich nicht wie ein Klageruf von heute an, wenn ein Hagestolz in einem Blatte über die Gründe seiner Ehescheu sich vernehmen läßt: „Wie die Mademoisellen [610] jetzt sind, welch’ ehrlicher Mann würde es wagen, an eine eheliche Verbindung zu denken? Wie groß muß nicht sein Vermögen sein, bis er es für hinreichend halten darf, die Madame in dem Putz und der Kleiderpracht zu erhalten, welche die Mode eingeführt hat? Nur die Namen der Kleidungsstücke machen schon einen wackeren Hausvater in Gänsehaut ausgehen.“ Unter den geselligen Vergnügungen bevorzugt man den Tanz, an den, wie Goethe sagt, das Ohr, so wie das Auge an das Münster, jeden Tag, jede Stunde, in Straßburg erinnert wird. Goethe mußte ja sogar dieser Richtung Zugeständnisse machen und seine aus dem väterlichen Hause in Frankfurt mitgebrachte Kunst bei einem französischen Tanzmeister vervollkommnen. Neben Picknicks, Kränzchen und Kinderbällen, die durch Subskription unter Freunden und Bekannten veranstaltet werden, vergnügt man sich besonders mit häuslichen Theateraufführungen, zumal in den altväterischen Familien der Besuch des Schauspiels noch strenge verpönt ist, und bei Gesellschaftsspielen, die eine weit größere Verbreitung als heute hatten. Der junge Herzog Carl August verzeichnet während seines Aufenthaltes in Straßburg den ebenso harmlosen als nach heutiger Anschauung unfürstlichen Genuß: „Wir spielten einige Stunden Sprichwörter“. Bei solcher Gelegenheit, und vielleicht ist das die Hauptsache, findet sich auch, was sich liebt, zusammen, zum Aergernis der Sittenrichter, die in den öffentlichen Blättern gegen den „tobenden“ Walzer predigen und die moralischen Nachteile des „Küssens bei Pfänderspielen“ beleuchten. Zu den „Vergnügungen“ der wohlhabenden Bürger zählt bereits die Badereise. – Zwar schleppen sich die alternden Formen des Zunftwesens kraft des historischen Beharrungsvermögens wie eine „ewige Krankheit“ fort, aber die „Zunftstuben“ dienen hauptsächlich nur noch geselligen Zwecken, Theater und Liebhaberkonzerten; in einer verklingt im Jahre 1780 der letzte deutsche Meistersang. Hier auch wird im Kreise der Genossen beim Glase Wein Austausch der Meinung gepflogen, gemäß der „Neigung reichsstädtischer Bürger zu tadelnder Beurtheilung der Obrigkeit“, wie sie Goethe in dem klassischen: „Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister!“ so köstlich persifliert hat.

Aller Fortschritt hindert aber nicht, daß sich noch mancher Aberglaube, selbst im Schoße eines ehrenfesten Magistrates, erhält. Abergläubische Furcht in weiten Kreisen erregt die Vorhersagung eines Superintendenten über drohende Erderschütterungen, Während die vornehme Gesellschaft Mesmer mit seinen magnetischen Kuren und die „dritte Welt“ beschäftigen. Doch spukt nicht in unseren spiritistischen Tagen, bloß unter neuem Namen, der nämliche Irrgeist wie in der „guten alten Zeit“?