Die Schlangenfrau

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Textdaten
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Autor: Fr. Richter
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Titel: Die Schlangenfrau
Untertitel:
aus: Lithauische Märchen I, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, S. 92–93
Herausgeber: Edmund Veckenstedt
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Alfred Dörffel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Schlangenfrau.

Ein hochbetagter Bauer dachte daran, sein Haus und Erbe einem von seinen drei Söhnen zu übergeben. Deshalb liess er sie zu sich kommen und sagte: „Jetzt mögt Ihr in die Fremde ziehen und Euer Glück versuchen. In Jahr und Tag erwarte ich Euch zurück. Wer mir alsdann das beste Brot heimbringt, der soll das Haus haben und mein Erbe sein.“

Die beiden ältesten Brüder machten sich auf den Weg und nahmen im nächsten Dorfe Dienste an, der jüngste aber ging seines Weges, bis er in einen Wald kam. Endlich gelangte er an eine Hütte, deren Thür offen stand. Der junge Mann trat ein. Da sah er, wie mitten in der Stube auf einem Tische eine Schüssel stand; in der Schüssel lag eine Schlange. Die Schlange erhob das Haupt und fragte ihn nach seinem Begehr. „Ich suche einen Dienst,“ sprach der junge Mann. „Wenn das ist, so kannst Du bei mir bleiben,“ erwiederte die Schlange, „und meine Wohnung in Ordnung halten.“

Der junge Mann trat den Dienst an und verrichtete ihn ein Jahr in aller Treue. Darauf trat er zur Schlange und sagte ihr, dass er jetzt heimkehren wolle. Die Schlange fragte, welchen Lohn er für seine Dienste fordere. „Nichts,“ entgegnete der junge Mann, „doch sagte mein Vater, dass er demjenigen von uns Brüdern sein Haus geben wolle, der ihm das beste Brot heimbringen werde.“ „Wenn das der Fall ist, so backe Brot in dem Ofen,“ sagte ihm die Schlange. „Nimm dann von dem Brote, so viel Du willst, das übrige lass für mich zurück. Ausserdem kannst Du Dir, wenn Du fortgehst, aus der Kammer so viel schöne Kleider und prächtige Tücher holen, als Du willst.“

Sogleich machte sich der junge Mann an das Werk. Das Brot geriet ganz ausgezeichnet, er nahm davon einen Sack voll, das übrige liess er der Schlange. Die Kleider und Tücher waren kostbar und mit Gold durchwirkt: auch von diesen nahm er, so viel er tragen konnte, nachdem er selbst gleichfalls kostbare Kleidung angelegt hatte. Dann dankte er der Schlange, darauf trat er den Heimweg an. Unterwegs sah er einen Krug am Wege stehen. Er kehrte ein, um sich darin für die letzte Strecke des Heimwegs zu stärken. In dem Kruge befanden sich auch die beiden Brüder, welche gleichfalls auf ihrem Heimwege hier eingekehrt waren. Sie erkannten ihren Bruder nicht, lachten und spotteten über denselben und rühmten sich des Geldes, welches sie verdient hatten. Als sie sich auf den Weg machen wollten, kaufte jeder von ihnen ein Brot für den Vater zu Hause.

Darauf, nachdem sie aufgebrochen waren, folgte ihnen der [93] jüngere Bruder. Bald hatte er sie eingeholt. Diese kannten ihn immer noch nicht wieder, sondern hielten ihn für einen vornehmen Herrn. Der jüngste Bruder liess nun scheinbar aus Versehen ein golddurchwirktes Tuch fallen. Sogleich hob der älteste Bruder dasselbe auf und steckte es ein. Kurze Zeit darauf liess der jüngste Bruder ein zweites Tuch fallen. Kaum hatte der zweite Bruder das gesehen, so nahm er das Tuch an sich. Endlich kamen die drei zu Hause an. Hier gab sich der jüngste Bruder zu erkennen, und obgleich er die vielen kostbaren Kleider und golddurchwirkten Tücher hatte und das feinste Brot von der Welt heimbrachte, so klagten ihn doch seine Brüder des Betruges an. Deshalb sagte der Vater: „Ich will mich diesmal nicht entscheiden. Zieht wieder aus und wer dann in Jahr und Tag die schönste Frau heimbringt, der soll das Haus haben und mein Erbe sein.“

Die beiden Brüder nahmen wieder Dienste in dem Hofe, in welchem sie das Jahr zuvor gewesen waren; der jüngste aber kehrte zur Schlange in der Waldhütte zurück. Nachdem er derselben wieder ein Jahr gedient hatte, schickte er sich an heimzukehren. Die Schlange fragte ihn, was er an Lohn haben wolle. „Gar nichts,“ sagte der junge Mann, „nur hat mein Vater gesagt, dass derjenige das Haus haben und sein Erbe sein soll, welcher die schönste Frau heimbringt.“

„Bevor Du gehst,“ bat die Schlange, „thue mir noch einen grossen Gefallen. Heize den Ofen neunmal, dann wirf mich in denselben hinein. Darauf maure den Ofen zu. Dann wird ein furchtbares Geschrei darin entstehen, Du darfst den Ofen aber nicht öffnen. Erst wenn Dich eine freundliche Stimme ersucht zu öffnen, so schlage den Teil des Ofens ein, welchen Du zugemauert hast.“

Der junge Mann that alles, wie es ihm gesagt war. Wohl hörte er ein jammervolles Schreien im Ofen, aber er achtete nicht darauf und erst als eine zarte Stimme ihn bat: „Oeffne, bitte, den Ofen,“ da brach er die Vorderseite desselben ein. Kaum war dies geschehen, so kam aus dem Ofen eine prächtige Kutsche angefahren, welche von zwei feurigen Rappen gezogen wurde. In der Kutsche sass eine wunderholde Prinzessin. Diese begrüsste den jungen, schönen Mann und dankte ihm, dass er ihre Erlösung vollbracht habe. Dann forderte sie ihn auf, sogleich kostbare Kleidung anzulegen und sich zu ihr in die Kutsche zo setzen. Kaum war dies geschehen, so zogen die Rappen an und die Kutsche rollte dem Vaterhause des jungen Mannes zu. Dort waren schon die beiden ältern Brüder mit ihren hässlichen Weibern. Als der jüngste Bruder mit seiner holdseligen Prinzessin das Zimmer betrat, war des Staunens ob ihrer Schönheit kein Ende. Aber das schöne, junge Paar begrüsste nur den alten Vater, dann bestieg es wieder die Kutsche und fuhr zum Vater der Prinzessin, welcher ein mächtiger König war. Bald wurde die Hochzeit des jungen Paares mit grosser Pracht gefeiert.