Die Schneeziege

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Textdaten
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Autor: M.
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Titel: Die Schneeziege
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 337, 338–339
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[337]

Die Schneeziege.
Originalzeichnung von Fr. Specht.

[338] Die Schneeziege. (Mit Abbildung S. 337.) Die Schneeziege (Capra lanigera) gehört zu den charakteristischsten Thiererscheinungen der nordamerikanischen Wildnisse, sie steht so vereinzelt unter ihren Verwandten da, wie die gleichfalls dort hausende Gabelgemse, und wenig Kunde von ihr ist bisher noch zu uns gekommen, ja selbst in unseren Museen ist sie fast noch gar nicht vertreten. Sie wird zu den Halbziegen gezählt, da ihr rundes kantenloses Gehörn sie den Antilopen nähert, aber ihr sonstiger Bau ist ganz ziegenartig. Auch in der Größe kommt sie unserer Hausziege gleich; doch ist die Behaarung anders, denn außer am Vorderkopfe und den Ohren ist das ganze Thier mit einem dichten und langen Pelze bedeckt. Die Färbung ist durchgehends gelblichweiß. Eigenthümlich ist eine vom Nacken bis zum Schwanzende gehende, sehr scharf abgegrenzte Mähne, die dem Thiere ein wildes Aussehen giebt und es auch viel größer erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit ist.

Die Schneeziegen bewohnen den nördlichen Theil des Felsengebirges und sind besonders häufig im Quellgebiete des Columbiaflusses. Hier hausen sie im Sommer in den höchsten Regionen dieser wilden Berge und weiden die spärlich vorkommenden Flechten, Moose und Alpenpflanzen, am liebsten an der Grenze des ewigen Schnees, ab, um bei drohender Gefahr sogleich in der mit ihrem Kleide so gleichfarbigen Schneewildniß zu verschwinden. In kühnen Sätzen geht es dann über Schluchten und Grate, in raschem Galopp oft an den Rändern schauerlich gähnender Abgründe vorbei, indem ein Thier hinter dem andern hergeht, geführt von einem alten Bocke. Sie klettern und springen mit außerordentlicher Gewandtheit und Sicherheit und scheinen dabei kaum den Boden zu berühren. Diese Behendigkeit, verbunden mit großer Vorsicht und sehr scharfen Sinnen, macht es dem Menschen äußerst schwierig, ihr beizukommen, und nur sehr leidenschaftliche Alpenjäger und dann und wann Indianer stellen ihr nach. Letztere auch nicht mehr so, wie früher, da selbst diesen wenig verwöhnten Naturkindern der starke Bockgeschmack des Fleisches nicht zusagt und das Pelzwerk, welches früher viel getragen wurde, aus der Mode gekommen ist und daher schlecht bezahlt wird.

Außer dem Menschen hat die Schneeziege noch Bär, Luchs und Wolf zu fürchten, auch macht ihr zuweilen das weit stärkere Berg- oder Dickhornschaf die Weideplätze streitig. Nur ungern und von der äußersten Noth des strengen Winters gezwungen, verlassen die Trupps ihre sicheren [339] Hochalpen, um sich in die tieferen und gefährlicheren Waldregionen herabzuziehen. Hier werden sie auch am ehesten erlegt, doch ist ihre Jagd auch da noch äußerst schwierig und nur von sehr geübten Jägern mit Erfolg zu betreiben. Gefährlicher als der Mensch werden ihnen hier hungrige Wölfe.

Oft hat ein Trupp Ziegen einen Wald betreten, nachdem die Wachen vorsichtig das Terrain ausgekundschaftet haben. Nichts Verdächtiges zeigt sich ihren Blicken. Weder Ohr noch Nase haben einen Ruhestörer wahrnehmen können. So begeben sich die Thiere an die Stellen, wo unter dichtem Nadeldache noch frei von Schnee das Moos hervorsieht. Immer halten einige Thiere Wache, und selbst die äsenden sehen von Zeit zu Zeit umher.

Doch ihr Feind, der beutehungrige Wolf, ist ebenso vorsichtig wie sie. Weit sind die Vorposten der Wolfsrudel umhergeschweift, viele sind zum Gros zurückgekehrt, ohne günstige Nachrichten bringen zu können, und sind heulend von der hungrigen Gesellschaft empfangen worden. Da wird plötzlich ein Genosse dieser Räuberbande sichtbar, der im eiligen Laufe mit Zeichen freudiger Erregung zurückkehrt. Er hatte auf seinen Streifereien Witterung von der Ziegenheerde bekommen und vorsichtig sich unter dem Winde angeschlichen, bis er durch ein Gebüsch hindurch die Heerde beobachten konnte. Am liebsten hätte er sich gleich auf eines der Thiere geworfen, allein die Ziegen vermeiden es sorgfältig, sich einem Gegenstande zu nähern, hinter welchem ein Feind lauern könnte. Da schien es dem Meister Isegrimm gerathener mit seinen Genossen die Heerde einzuschließen, um sie sicher einander in den Rachen zu jagen. Kaum hatten nun die Wölfe die triumphirenden Geberden ihres Genossen bemerkt, als sie auch alle auf ihn zueilten – und bald war man über den Jagdplan einig.

Der Entdecker voran eilt das Corps der Rache lautlos, aber rasch der Fährte des ersteren nach. Sobald sie Wind von der Heerde bekommen haben, schleichen sie langsamer und entsenden zwei lange Flügel, um die Beute zu umgehen, immer weiter Abstand von derselben haltend, je mehr sie ihr in den Wind kommen könnte. So schleichen sie, stets Deckung suchend, sich lautlos um den Trupp herum, während die zuerst Zurückgebliebenen, hinter Buschwerk ungeduldig die arglos weidenden Thiere beobachten. Nun nähern sich auch die beiden Flügel immer mehr, und kaum erblicken sich die vordersten Räuber, so stürzen sie in rasendem Lauf, in schiefer Linie sich einander nähernd, auf die Heerde zu. Jetzt hat auch diese das verdächtige Geräusch und Wind von ihren Feinden wahrgenommen. Durch die Zeichen ihrer Wachen aufgeschreckt, flieht sie nach der entgegengesetzten Seite, doch hier stürzen ihnen schon die aus ihrer Ungeduld erlösten Räuber entgegen, die ersten Thiere bereits niederreißend. Entsetzt prallen die Ziegen zurück, doch nach welcher Seite hin sie sich auch wenden, überall eilt ihnen das Verderben entgegen. In wilder Verwirrung rennt die Heerde durcheinander, nirgends ist eine Felsspalte oder ein steiler Felsen, über die ihnen die Wölfe nicht folgen könnten, und nur wenigen gelingt es die furchtbare Treiberkette zu durchbrechen. Bald ist auch das letzte Thier geschlagen und dann bezeichnen nur noch Wolle, Blut und Knochenreste den Schauplatz dieser grausamen Schlächterei. M.