Die Socialisten des Ostens

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Autor: Ernst von der Brüggen
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Titel: Die Socialisten des Ostens
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 756-759
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Socialisten des Ostens.

Die Geschichte lehrt uns, daß der menschliche Gedanke da, wo ihm im praktischen Leben am wenigsten Raum zu seiner Bethätigung gelassen wird, sich häufig in die entlegensten Winkel der Geisteswelt flüchtet und sehr oft sich schließlich in die närrischsten, wunderlichsten Träumereien eines idealen Daseins verirrt. Dies geschieht sowohl in der Religion wie in der Politik.

Nun liegt allerdings die Politik dem einfachen Naturmenschen stets ferner, als die Religion, und eben deshalb ist das russische gemeine Volk weit entfernt, politischen Ideen, neuen Gedanken oder Einrichtungen auf diesem Gebiete nachzujagen. Ihm ist alle Politik beschlossen in dem Väterchen Czar, und allenfalls knüpft sich eine politische Empfindung noch an das Mütterchen Moskau. Der politische Gedanke beginnt erst mit dem Zöglinge einer Lehranstalt, dem Officier, dem Beamten, dem Sohne der wohlhabenderen Stände, kurz mit dem sogenannten gebildeten Russen, dessen Bildung jedoch wiederum einer eigenthümlichen Beschränkung unterliegt. Der Russe ist seiner ganzen Naturanlage nach dem harten, andauernden Studium abgeneigt. Er ist begabt: rasch faßt sein Verstand die Dinge auf; nach allen Seiten wendet sich sein Scharfblick; er ist im Ganzen, was man geistvoll nennt. Aber in die Tiefen dringt dieser bewegliche Geist schwer ein, während anderseits das ebenso bewegliche Gefühl des Russen ihn auch wieder zu raschem Wechsel im Seelenleben anstachelt.

So war es von jeher eine Eigenthümlichkeit der studirenden russischen Jugend, daß sie sich mit den verschiedensten Zweigen des Wissens oberflächlich bekannt machte, daß sie sich encyclopädisch [758] ausbildete, ohne ein Fach gründlich kennen zu lernen. Als nun in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts in Europa der Nationalismus alle geistigen Gebiete beherrschte, als das Studium der exacten Wissenschaften, der Mathematik, Physik, der Naturwissenschaften im Allgemeinen auf den Hochschulen zu blühen anfing, da warf sich die Menge russischer Studenten, welche in Ermangelung guter russischer Lehranstalten die deutschen Hochschulen aufsuchte, mit Eifer auf die Anschauungsweise dieser rationalistisch-naturhistorischen Richtung. Büchner und Moleschott wurden die Lehrer vieler junger Russen, die in den materialistischen Gedankenkreisen dieser neuen Propheten die unbegrenzte Freiheit des Denkens fanden, von der sie daheim nicht die Möglichkeit geahnt hatten. Das Freiheitsjahr 1848 that das Seine dazu, um überall in den revolutionären Verbindungen Deutschlands, Oesterreichs, Frankreichs russische Namen auftauchen zu lassen. Hier hörte man auch zuerst von den Bakunin und Tschernischewski. Als dann später die Wasser der Revolution sich verliefen, zogen sich gleich vielen revolutionären Westeuropäern auch diese Russen nach England und vornehmlich nach der Schweiz zurück. Hier wurde dann später der Herd der russischen Demokratie und des russischen Communismus in Genf und Zürich gegründet.

In den Köpfen jener russischen Emigranten und Emigrantinnen gestaltete sich das abenteuerlichste Gebilde von Staatswesen aus, das man ersinnen kann. Oder genauer gesprochen: es entwickelte sich in jenem „Nihilismus“, wie er, von dort ausgehend und dort genährt, bald auch in Rußland um sich griff, ein Staatsidealismus, der an Inhaltsleere seines Gleichen sucht. Der Nihilismus jener Zeit hatte zum eigentlichen Inhalt die Negation alles Bestehenden, zur Aufgabe die Zerstörung aller gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Formen. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 ging durch die Mittelclassen des russischen Volkes ein Gefühl von unbegrenzter Vorwärtsbewegung. Die jungen Leute, welche etwas mit Physik, etwas mit Mill, etwas mit Büchner, etwas mit A. Comte sich beschäftigt hatten, ergriff eine undeutliche Erwartung, daß nun Alles und Jedes im Lande „ganz anders“ werden müsse. Und da es trotz aufmerksamer Beobachtung ihnen schien, daß nichts anders werde, so meinten sie, es sei an ihnen, die Umgestaltung herbeizuführen. Sie versuchten hier anzufassen und da zu ändern, aber überall mußten sie bemerken, daß sie nicht vorwärts kamen. Da bildete sich denn jene Art von Nihilismus heraus, welche sich gänzlich von dieser jammervollen Welt lossagte und nur noch in ihren Idealen lebte. Diese Leute gingen durch’s Leben wie Nachtwandler: sie entsagten allen äußeren Bedürfnissen, verachteten alle Bequemlichkeit des Lebens, gute Kleidung und reine Wäsche, gute Luft und gutes Betragen. Noch in den siebenziger Jahren begegnete ich einmal einem sonst liebenswürdigen, geistvollen und vielbelesenen Nihilisten aus einem der vornehmsten russischen Fürstengeschlechter. Als wir eines Abends, aus dem Theater kommend, uns in höchst angenehmer Weise über das Stück unterhielten, wobei er ebenso scharf wie kenntnißreich urtheilte, wünschten wir das Gespräch bei einem Abendessen fortzusetzen. Er forderte mich auf, in einen zufällig gerade an dem Wege liegender Wirthskeller zu gehen. Wir steigen die Stufen hinab, und wie ich die Thür öffne, dringt mir ein dicker Qualm von Tabak, Branntweinduft und den ekelsten Gerüchen aller Art aus der Schenke entgegen, in welcher das niederste Volk zechte. Ich wandte mich ab mit der Bemerkung, da könnten wir nicht eintreten. Und der Fürst lachte halb ärgerlich, halb höhnisch: „Da sehe man wieder den Aristokraten hier, in solchen Localen, sei ihm am wohlsten.“ Und doch war er ein feiner Kopf, ein feiner Gesellschafter und eine feinfühlende Seele.

Doch ich habe mit diesem Beispiel bereits meiner Schilderung vorgegriffen. So, wie mein Bekannter, waren die Nihilisten vor 1870 noch nicht. Es waren eben Träumer, wandelnde Leichen, die mit der Welt und den Menschen nichts zu thun haben wollten, weil sie beide für dessen unwerth hielten. Natürlich gab es da mancherlei Schattirungen bis zu den Vätern dieser Richtung hin, welche den radicalsten Communismus predigten und für die Revolution in aller Welt Propaganda machten. Eine Aenderung in der Haltung des Nihilismus in Rußland begann 1873, nachdem inzwischen die Zahl seiner Anhänger sich bedeutend vermehrt hatte. Hierzu hatte die Durchführung des Classicismus in den höheren Lehranstalten erheblich beigetragen. Nach langen Kämpfen war die nicht classische Bildung der mittleren Lehranstalten von den Hochschulen ausgeschlossen und damit die Anforderung an die Kenntnisse des zu Aemtern aufstrebenden jungen Mannes bedeutend gesteigert worden. Die Folge war, daß die Jugend schaarenweise die verlangten Prüfungen nicht machen, die Lehrcurse nicht durchlaufen konnte und daher mit halber Bildung und ohne Aussicht auf gutes Fortkommen aus den Lehranstalten trat.

Die russischen Lehranstalten, besonders auch die Universitäten, werden nun zumeist von unbemittelten Söhnen aus den Kreisen der Beamten, der Kaufleute und Priester besucht und etwa vier Fünftel aller Studirenden der russischen Universitäten sind als unbemittelt von der Zahlung der Collegiengelder befreit. Eine große Menge der nun ohne Beendigung ihres Lernplanes und ohne Aussicht auf ein Amt abgehenden Jugend warf sich dem Nihilismus in die Arme. Da wurde denn 1873 von der Oberleitung in Genf der Beschluß gefaßt, nunmehr praktisch an’s Werk zu gehen. Der Umsturz des Bestehenden sollte beginnen und von Genf her wurde der Kampf mit zahlreichen Schriften eröffnet, die heimlich über die Grenze geschafft und dort von Gesinnungsgenossen weiter befördert und verbreitet wurden. Zugleich zogen die Jünger des Nihilismus umher und suchten ihre Lehre dem niederen Volke verständlich zu machen. Die Lehre war einfach genug: die Steuern seien erdrückend; die Lage des Volkes sei unerträglich, woran die Regierung und die oberen Classen schuld seien; daher müsse das Volk aufstehen, Regierung, Adel, Geistliche, Beamte, Kaufleute niedermachen und allgemeine Gleichheit herstellen. Alle staatlichen Einrichtungen sollten aufhören: kein Czar, keine centrale Regierung, kein Heer, kein Erbrecht, kein Sondereigenthum, keine Ehe, keine Kirche sollte mehr sein, gemeinsam Alles, gleich Alles und Jedes. Bald rührte sich aber nun die Regierung. Erst einzeln, dann im Mai 1875 an einem bestimmten Tage zu Tausenden wurden diese Revolutions-Jünglinge und -Jungfrauen von der Polizei gepackt und in’s Gefängniß geworfen. Er folgten lange Voruntersuchungen und weitere Verhaftungen, bis aus der ganzen Zahl einer Schaar von hundertdreiundneunzig Personen der Proceß gemacht wurde. Das war der berühmte Monstreproceß vom October vorigen Jahres, der damals ganz Rußland in Aufregung versetzte. Man wird sich erinnern, welch einen Eindruck dieser Kampf der absoluten Staatsgewalt mit einer Schaar halber Kinder machte. Denn es war ein Kinder-Kreuzzug, der unternommen wurde. Zum weitaus größten Theile sind die verurtheilten Streiter für „Gleichheit und Freiheit“ Jünglinge und Jungfrauen im Alter zwischen sechszehn Jahren und der Mitte der Zwanzig gewesen.

Der heutige Nihilist steht dem Socialdemokraten schon sehr nahe, nur ist sein Weg zu dieser Geistesrichtung ein anderer. Da kommt der Sohn eines Landpredigers aus einem entlegenen Dorfe in die Stadt, in die mittlere Schule, auf die Universität. Mit dürftigen Mitteln sucht er vorwärts zu kommen. Aus einer Welt, in die kein Strahl des modernen Denkens gefallen ist, in der das melancholische Lied des Bauern über die endlose Ebenen ohne Echo dahintönt, wo die einzige Abwechselung des Jahres in dem Kommen und Gehen eines eisigen Winters und eines glühenden Sommers oder in den Träumen besteht, die dem Bauer der Branntwein vorzaubert, wo es ein vielumstauntes Wunder der Culturwelt ist, wenn der heimkehrende Soldat aus Moskau oder Charkow einen Bilderbogen mit bunten Thiergestalten heimbringt, wo in völliger Oede und Bewegungslosigkeit nur der Polizeiunterofficier, der Friedensrichter und der Gutsherr herrschen - aus einer solchen Welt, in welcher der Einzelne niemals zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, wird der Jüngling in die entlegene Stadt versetzt, wo ihm Alles fremd, neu ist und doch Alles mit Recht so anders zu sein scheint. Warum sollte denn nicht auch das Buch Recht haben, welches ihm in die Hand fiel und in dem zu lesen stand, daß Jedermann gleiche Rechte habe mit dem reichen Kaufherrn, der eben drunten unter den Fenstern des Dachstübchens im stattlichen Wagen vorüberrollt, daß es die Schuld der Regierung sei, wenn im heimathlichen Dorf jene schreckliche Oede herrscht, deren Grauen der Student eben in dem Ferienaufenthalt wieder so tief, doppelt und zehnfach so tief wie ehedem, da er noch nichts Anderes kannte, empfunden, daß es Schuld der Regierung sei, wenn der Vater des Studenten, der Bauer im Dorfe, so arm und jener Kaufherr so reich ist?

Und da kommt denn ein Camerad, der draußen in Zürich [759] war, und erzählt, wie dort Alles so herrlich, der Bauer reich, das Leben wechselvoll, die Bildung groß sei, und dies Alles, weil dort Regierung und Volk ganz anders seien. Und darum müsse auch hier Alles anders werden, und es komme nur darauf an, daß sich Männer fänden, es zu wollen – dann werde es anders werden. Warum sollte denn das nicht wahr sein? Und der Student liest Büchner oder die Schriften Tschernichewski’s, und wenn die Zeit des Examens kommt, fällt er durch und muß die Universität verlassen. Wohin soll er sich wenden? Ins Dorf zurück, in die ewige Nacht dieser Einöde? Nein, nimmermehr! Der Kreis ist ja bald gefunden, wo das Höchste an Leistung, an Ruhm, an Thaten geboten wird: mit Gleichgesinnten vereint wird die Umwälzung unternommen, die absolute Umwälzung des Bestehenden. Denn nur die heutige Form ist ja an Allem schuld; das Volk, das Land, warum sollten sie von Natur anders sein, als jene reichen Länder und Völker der Gleichheit und Freiheit? Wie erhebend ist es, so Gewaltiges zu unternehmen, mit Gleichgesinnten Gleiches zu wirken, überall hin den allumfassenden Gedanken zu tragen, Alles zu theilen mit den Genossen für den großen Zweck! Nicht lange besinnt sich der Zwanzigjährige; am kürzesten besinnt sich gerade der Slave, wenn er von einer Empfindung ergriffen wird. Er grübelt nicht, denkt nicht nach über die Ziele seines Thuns; es hat Revolutionen gegeben überall; es hat Freiheit gegeben überall – warum nicht in Rußland? Das Wie mag sich nachher finden, das Was ebenso. Und so wandert er hinaus, als Arbeiter unter die Arbeiter des Dorfes, der Fabrik, als Lehrer in die Volksschule und lehrt seine Revolution. Und Söhne vornehmer Eltern, Töchter aus vornehmen Häusern legen in der That die Sitten und Kleider der Cultur ab und stehen barfuß an der Spule in der Fabrik oder am Bottich in der Brennerei, um nach der Arbeit ihren Mitarbeitern von dem großen Elende des Volkes und der großen Revolution zu erzählen.

Der ungeheuere Gegensatz zwischen dem Leben und Denken des einfachen Russen aus dem Dorfe und dem Leben und den Gedanken Europas, wie eine tausend Jahre alte Geschichte und stete Entwickelung sie herausgebildet haben – das ist es, was hauptsächlich diese Erscheinungen voll weitklaffenden Widerspruchs in Rußland hervorruft. Und wo das Selbstbewußtsein im Einzelnen einmal geweckt ist, da steigert es sich alsbald doppelt und dreifach durch den Gegendruck der Staatsgewalt. Es ist ein pathologisches Interesse, was uns zuerst ergreift bei Betrachtung jener Mädchen und Jünglinge, die im December 1877 vor der Kasaner Kirche in St. Petersburg tumultuirten und von dem Volke der Straße der Polizei überantwortet wurden. Es ist ein pathologisches Interesse, welches uns diese Wera Sassulitsch beobachten läßt, welche vor zehn Jahren der politischen Verbindung mit jenem von der Schweiz an Rußland ausgelieferten und nach Sibirien verbannten Netschajew verdächtigt wurde, welche dann, von einem Gefängnisse zum anderen geschleppt ohne Rechtsspruch, ihre Jugend mit gemeinen Verbrechern zusammen oder in elenden Orten des nordöstlichen Rußlands unter öffentlicher Aufsicht verbringen mußte und welche dann eines Tages von der Nachricht der harten Behandlung eines wegen Nihilismus Verurtheilten so sehr ergriffen wurde, daß sie sich zum Urheber dieser Härte, einem der höchsten Staatsbeamten, durcharbeitete und ihn mit dem Revolver bestrafte.

Gegen diese Kraft des Willens und Fühlens, welcher in der Oeffentlichkeit des russischen Reiches keine ruhige Bethätigung ermöglicht, welche auf die Maulwurfsarbeit unklarer Agitation beschränkt ist, konnte bisher mit allen den alten Gewaltmitteln der Abschreckung und Einschüchterung nichts ausgerichtet werden. Seit der Transportirung Netschajew’s, seit den schweren Verurtheilungen im großen Nihilistenproceß von 1877, und dem genannten Angriffe auf den obersten Polizeichef hat sich die Bewegung vielmehr unter den Wirrungen und Aufregungen des Orientkrieges in fortwährenden Aeußerungen und Explosionen kundgegeben, die unzweideutiges Zeugniß ablegen von dem Vorhandensein einer für den Staat und die persönliche Sicherheit höchst gefährlichen Gährung. Nicht gar lange nachdem Wera Sassulitsch wegen ihres Attentats auf Trepow von den Petersburger Geschworenen freigesprochen worden, endete ein ganz ähnlicher Proceß vor den Geschworenen in Moskau mit demselben Resultat. Und bei den Fällen, die zu gerichtlicher Entscheidung kamen, blieb es nicht. In der Morgenfrühe eines schönen Sommertages wird auf offener Straße ein in Petersburg aus der Kirche heimkehrender hoher Staatsbeamter erstochen, und die vornehm aussehenden Thäter fahren in ihrem bereit stehenden eleganten Fuhrwerk davon, ohne daß bis jetzt eine Spur von ihnen entdeckt wurde. Dabei laufen aus den verschiebenden Theilen des Reiches Berichte von aufrührerischen Bewegungen, gewaltsamen Auflehnungen und Widerspänstigkeiten der Nihilisten und Nihilistenschwärmer ein, und die massenweise Verhaftungen und Bestrafungen scheinen mehr für die Steigerung und Verbreitung des Unheils, als für seine Beseitigung zu wirken. Aus den philosophischen Träumern und düsteren Phantasten sind verzweifelte und entschlossene Rebellen geworden, die das Martyrium nicht fürchten und ihre Zwecke zunächst mit der Waffe des Dolches und Revolvers verfolgen.

Und dies Alles scheint nicht mehr das Werk zufälliger Regungen einzelner exaltirter Köpfe, oder zufällig und gelegentlich sich zusammenfindender Menschenhaufen zu sein. Wie aus Briefen und Decreten eines „Allgemeinen russischen Comités für revolutionäre Propaganda“ hervorgeht, die ganz offen an bestimmte Adressen gerichtet werden, besteht eine lautlos wirkende, bis jetzt unfind- und unfaßbare Organisation, die in jeder größeren Stadt ihre Abtheilungen hat und von welcher die betreffende Bewegungen und Unternehmungen geplant, befohlen und geleitet werden. Einige Uebertreibung in der Vorstellung von der eigenen Macht, etwas renommistisches Flunkern und Klappern wird in diesen Schriftstücken des geheimen Revolutionscomités wohl mit unterlaufen, die als Wappen ein Beil zwischen einem Revolver und Dolch zeigen. Aber eine ganze Reihe unleugbarer Thatsachen läßt gleichwohl die Lage dieser Verhältnisse als eine drohende erkennen. Kein europäisches Land und am wenigsten das benachbarte deutsche Volk hat ein Interesse dabei, in Rußland das Verbrechen als eine öffentliche Gewalt etablirt und solche wüste Krankheitszustände zu ansteckender Ausdehnung gelangen zu sehen, welche bei ihrem ungestörten Fortgange auch für uns eine unangenehme Bedeutung gewinnen könnten. So niedrig nun aber auch der Werth der politischen Ideale wie des politischen Denkens der Nihilisten steht, man kann immerhin nicht leugnen, daß eine gewisse Kraft des Willens und des Fühlens sich in ihnen, in den heutigen Vertretern dieses Namens kundgiebt, wie wir dies ebenso bei den westeuropäischen Genossen des russischen Nihilismus, bei der internationalen Socialdemokratie vor Augen haben. Um so mehr muß verständige Einsicht auf den Wunsch Nachdruck legen, daß man dort auch den Gewaltmaßregeln ernstgemeinte politische und volksthümliche Reformen zur Seite gehen lasse, welche Licht in die Köpfe bringen und jenen so vielfach kraft- und geistvollen Elementen den Weg zu erfolgreichem und ehrenvollem Wirken für das Gemeinwohl zeigen. Für die loyale und eingehende Erörterung dieser großen Fragen sollten die officiösen russischen Federn sich patriotisch die Genehmigung erkämpfen, statt daß sie neuerdings wieder ohne jeden ersichtlichen Grund einem glühenden und sicher dem Beruhigungswerke nicht dienlichen Racenhasse gegen Deutschland Luft zu machen suchen.

E. v. d. Brüggen.